Ursprünge, Programmatik, Perspektiven
Der radikale politische Umbruch in der DDR und Osteuropa hat nicht nur die Vertreter des westlichen politischen Establishment, sondern auch Politik-und Sozialwissenschaftler weitgehend unvorbereitet getroffen. Das Ausmaß gesellschaftlicher Unzufriedenheit in der DDR, der Grad der Instabilität des politischen Systems, die Anzeichen für die Entstehung oppositioneller Gegenkräfte sind von der DDR-Forschung offensichtlich unterschätzt worden. Unabhängig von den dadurch aktivierten generellen Zweifeln an der Prognosefähigkeit der Sozialwissenschaften steht deshalb auch die Forschung in gewisser Weise vor der Notwendigkeit einer Erneuerung sowie einer Aufarbeitung ihrer Versäumnisse. Sie hat die Chance und die Aufgabe, ihre eigenen Prämissen und Methoden kritisch zu überprüfen, ihre langjährige Orientierung am Status quo zu überwinden und — gemeinsam mit den Kollegen aus der DDR — die zahlreichen Forschungslücken zu schließen.
Eines der dringlich aufzuarbeitenden Defizite besteht bei der wissenschaftlichen Analyse politischer Oppositionsströmungen in der DDR -Während die DDR-und Osteuropaforschung die kritischen Organisationen, Gruppierungen und Einzelpersonen in den Staaten des Warschauer Paktes wegen ihrer marginalisierten Stellung im politischen System bis in die Gegenwart hinein als weitgehend irrelevante Größen betrachtete, sind sie durch den offenen Ausbruch der Krise gleichsam über Nacht in eine Schlüsselrolle geraten: Der rapide Legitimitätsverlust der herrschenden Kommunisten und der Bedarf an unbelasteten, glaubwürdigen politischen Kräften haben die Oppositionsbewegungen — oftmals zu ihrer eigenen Überraschung — zur entscheidenden politischen Kraft gemacht, die vor der Aufgabe steht, spätestens bei den angekündigten freien Wahlen die Macht ganz oder teilweise zu übernehmen. In einer ersten, vorläufigen Analyse soll deshalb im Folgenden untersucht werden, woher in der DDR die neuen Akteure auf der politischen Bühne kommen, welche programmatischen Vorstellungen sie mitbringen und welche Rolle sie in der weiteren Entwicklung spielen könnten.
Schwierigkeiten ergeben sich dabei zunächst auf der begrifflichen Ebene: Was bedeutet im Kontext der DDR „politische Opposition“? Ohne an dieser Stelle den politikwissenschaftlichen Definitionsversuchen der Begriffe „Dissens“, „Protest“, „Opposition“ oder „Widerstand“ nachgehen zu wollen, ist im Zusammenhang mit der DDR hervorzuheben, daß sich dort — im Gegensatz zu Polen oder Ungarn — Gegnerschaft zur herrschenden Politik lange Zeit bewußt nicht als Opposition definiert hat. Insbesondere die informellen Gruppen der Friedens-und Umweltbewegung, aber auch führende Vertreter der evangelischen Kirchen haben sich in den achtziger Jahren wiederholt dagegen gewandt, kritisches gesellschaftliches Engagement mit diesem Begriff zu belegen — und es damit aus dem Spektrum legaler Artikulationsmöglichkeiten auszugrenzen.
Erst die Zuspitzung der innenpolitischen Krise in der DDR und die dadurch vergrößerten Spannungen zwischen Kirche, Staat und Gruppen haben dazu geführt, daß der Begriff „Opposition“ seit etwa 1988 in das Selbstverständnis der kritischen Gruppen stärker Eingang gefunden hat Die systematische Abdrängung innergesellschaftlicher politischer Konflikte in die Freiräume der evangelischen Kirchen und der Versuch der SED-Führung, sie dort mit Restriktionen und polizeilichen Mitteln zu bekämpfen, hat im Sommer 1989 schließlich auch führende Kirchenvertreter zu der Forderung veranlaßt, in der DDR eine legale Opposition zuzulassen, um damit die Kirchen von ihrer politischen Stellvertreterrolle zu entlasten
Seit der Ablösung Erich Honeckers als Generalsekretär der SED, mit der die Tolerierung unabhängiger politischer Gruppierungen und die Emanzipation der bislang gleichgeschalteten „alten“ Organisationen eingeleitet wurde, ist der Begriff der „Opposition“ erneut unscharf geworden. Die neuen Organisationen verstehen sich bislang zum überwiegenden Teil nicht als Gegner des sozialistischen Systems; andere — wie unabhängige Berufsver-bände oder Interessenverbände — sind hinzugekommen, die in traditionellen politischen und sozialen Milieus wurzeln. Die „befreundeten Parteien“ LDPD, NDPD, CDU und DBD versuchen, sich ebenfalls als kritisches Korrektiv zu profilieren, und auch die radikalreformerischen Strömungen in der SED haben für sich wiederholt die Bezeichnung „Opposition“ in Anspruch genommen.
Wenn im Folgenden von einem Oppositionsbegriff ausgegangen wird, der sich auf die neuen, aus den informellen Gruppen hervorgegangenen Organisationen beschränkt, dann hegt darin die Gefahr, daß dieses Herangehen schon in kurzer Zeit von der weiteren Dynamik der Ereignisse und den sich neu ausbildenden Konfliktlinien widerlegt wird. Auf der anderen Seite stützt sich diese Definition auf den bisherigen Entwicklungsprozeß und spiegelt im großen und ganzen auch die gesellschaftliche Wahrnehmung wider. Die Erfahrung in Ländern, in denen der Reformprozeß bereits früher eingeleitet wurde, zeigt überdies, daß zumindest in der Periode des Übergangs vom Parteistaat zur Demokratie die Unterscheidung zwischen den etablierten und den oppositionellen Kräften die bestimmende ist.
I. Ursprünge
Die politisch bedeutsamsten oder mitgliederstärksten neuen Gruppierungen in der DDR — das „Neue Forum“ (NF), die „Sozialdemokratische Partei“ (SDP), die Partei „Demokratischer Aufbruch“ (DA), die „Grüne Partei“, die „Bürgerbewegung . Demokratie Jetzt*“ sowie die Sammlungsbewegung „Vereinigte Linke“ — wurzeln in einer marginalisierten politischen Gegen-oder Subkultur, die sich in den achtziger Jahren mangels anderer Artikulationsmöglichkeiten vor allem unter dem Dach der evangelischen Kirchen formierte. Dieses Potential setzt sich aus durchaus unterschiedlichen Segmenten zusammen, die im Verlauf von politischen Umbruchprozessen und individuellen Lebensentwicklungen zueinander fanden: Pazifisten, die mit der Politik der Wiederbewaffnung und Militarisierung in Konflikt kamen; unzufriedene und nach Selbstverwirklichung suchende Jugendliche; gesellschaftspolitisch engagierte Christen; Träger neuer postmaterieller oder emanzipatorischer Orientierungen; Marxisten, die mit der Politik der SED nicht einverstanden waren, etc.
Diese politischen Kräfte organisierten sich vor allem in Form von informellen Gruppen, die zumeist im Schutzraum der Kirchen arbeiteten und sich in erster Linie nur an eine innerkirchliche Öffentlichkeit richten konnten Seit Mitte der achtziger Jahre entstand darüber hinaus — ähnlich wie in anderen sozialistischen Staaten — eine „zweite Öffentlichkeit“ aus selbstverlegten innerkirchlichen oder unabhängigen Zeitschriften, anderen Publikationen sowie Veranstaltungen
Auffällig ist, daß es nahezu keinerlei personelle oder ideologische Kontinuität gibt zwischen den informellen Gruppen der achtziger Jahre und den früheren, traditionellen Ansätzen politischer Opposition in der DDR wie der Kritik an Bodenreform und Kollektivierung, dem Arbeiterwiderstand, den sozialdemokratischen und bürgerlichen Strömungen oder den Oppositionsgruppen in der SED. Traditionsbildend wirken in erster Linie nur jene Aktivitäten, die innerhalb der evangelischen Kirchen angesiedelt waren: die Erfahrungen des Kirchenkampfes seit den frühen fünfziger Jahren, die Proteste von Wehrdienstverweigerern in den sechziger Jahren, die Formierung einer unabhängigen Friedensbewegung in den siebziger Jahren und die Entstehung eines ganzen Netzes von Friedens-, Menschenrechts-, Ökologie-, Frauen-, Homosexuellen-und Zwei-Drittel-Welt-Gruppen in den achtziger Jahren.
Ein zweiter, schwächerer Impuls ging von marxistisch orientierten Zirkeln aus, die in den sechziger und siebziger Jahren — zumeist in konspirativer Form — alternative Gesellschaftskonzepte diskutierten und erst in den achtziger Jahren zunehmend die Freiräume nutzten, die die evangelischen Kirchen für ein offenes politisches Engagement boten. Die kritischen Kräfte im kulturellen Sektor hielten sich dagegen bis auf wenige Ausnahmen weitgehend fern von diesem kirchlich-oppositionellen Milieu und nutzten die Kirchen bestenfalls als „host institution".
Identitätsbildend wirkte diese Entwicklungsgeschichte der kritischen Gruppierungen in der DDR vor allem in zweierlei Hinsicht: Zum einen hat die dominante Rolle der evangelischen Kirchen starken Einfluß auf Bewußtsein und Gestalt der Opposition genommen; christliche Überzeugungen, religiöse Handlungsmuster sowie nicht zuletzt die materiellen und personellen Ressourcen der Kirchen spielen eine bedeutende Rolle. So ist es kein Zufall, daß die Oppositionsparteien SDP und DA vornehmlich von kirchlichen Mitarbeitern gegründet wurden, und ohne die regelmäßigen Friedensgebete in Leipzig wäre es wahrscheinlich nie zur Entstehung der Demonstrationsbewegung vom Herbst 1989 gekommen. Auch die strikte Gewaltfreiheit der Massenproteste und die starke Akzentuierung sozialethischer Orientierungen dürften in christlich-kirchlichen Prägungen wurzeln.
Zum anderen ist die DDR-Opposition gekennzeichnet von einem Selbstverständnis, das man mit dem ungarischen Romancier György Konrad als „Anji-Politik“ bezeichnen könnte und das für die informellen Gruppen der neuen sozialen Bewegungen insgesamt kennzeichnend ist: Sie sind kulturorientiert statt machtorientiert, basisdemokratisch statt zentralistisch, reaktiv statt offensiv; sie thematisieren eher Einzelthemen und -konflikte als globale Politikstrategien. Hier wurzelt ein Großteil der Schwierigkeiten der DDR-Opposition, das von den zerfallenden politischen Institutionen hinterlassene Machtvakuum zu füllen.
Die allmähliche Transformation dieser „single is-sue“ -Bewegung in eine politische Opposition setzte in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ein und wurde durch die Politik der damaligen SED-Führung beschleunigt. Nach dem Machtantritt von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion und den großen Veränderungen in Polen und Ungarn kristallisierte sie sich vor allem an der Forderung nach grundlegenden politischen Reformen auch in der DDR, die gegenüber den früheren Themen wie Umweltschutz, Friedenspolitik oder Dritte Welt eine neue Qualität besaß. Einzelne Gruppen wie die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ gin-gen in diesem Prozeß voran, indem sie Kontakte zur osteuropäischen Opposition knüpften und Forderungen erhoben, die explizit auf eine Veränderung des politischen Systems zielten: Rechtsstaatlichkeit, Meinungsund Pressefreiheit, Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit, Streikrecht, Aufstellung unabhängiger Kandidaten zu Kommunalund Volkskammerwahlen, Erweiterung der Reisefreiheit, gesellschaftliche Selbstorganisation. Dezentralisierung, Demokratisierung und Anerkennung des in der Gesellschaft existierenden Pluralismus
Vorläufer der Reformdiskussion finden sich auch in den Bemühungen der evangelischen Kirchen um die Gleichberechtigung der Christen, die zunehmend das gesamte Verhältnis zwischen Bürger und Staat in der DDR thematisierten. Das Werben für einen Dialog zwischen Christentum und Marxismus und um die Anerkennung eines eigenständigen Beitrages der Christen bei der Lösung gesellschaftlieher und politischer Probleme — zum Beispiel bei der Friedenssicherung — zielten ebenso in diese Richtung wie das Aufgreifen der Menschenrechtsproblematik durch die Kirchen und die Forderung nach mehr Information und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger zum Beispiel im Umweltschutz. Die Kirchen setzten damit dem konservativen, auf Sicherung der Machtstrukturen fixierten Konzept der SED eine Strategie politischer Stabilität durch Partizipation und Wandel entgegen, wie es auch die kommunistischen Reformpolitiker vertreten. „Was der Einzelne an Rechten wahrnehmen und an Möglichkeiten nutzen kann“, erklärte etwa die Synode des DDR-Kirchenbundes 1985, „bestimmt das Maß seiner schöpferischen Mitwirkung an der Gestaltung seines Landes und trägt zu dessen Stabilität bei. Ein Staat und eine Gesellschaftsordnung sind umso stabiler, je mehr sie auf die Loyalität und verantwortliche Mitarbeit ihrer Bürger zählen können.“
Daß die Reformdiskussion und der Demokratisierungsprozeß in der Sowjetunion, Polen und Ungarn die diesbezüglichen Erwartungen in der DDR ermutigten — nicht zuletzt weil sie konkrete Verfahren und Strukturen des Übergangs zu einem plura-len, demokratischen System vor Augen führten —. läßt sich deutlich zurückverfolgen. Insbesondere der Generalsekretär der KPdSU. Michail Gorbatschow, erschien vielerorts als Hoffnungsträger, dessen Schriften mit großem Interesse rezipiert wurden und dessen Bild auf selbstgefertigten Plaketten und Fotos verbreitet wurde.
Die ersten positiven Reaktionen auf die Veränderungen in der Sowjetunion erfolgten im Zusammenhang mit den Abrüstungsvorschlägen Gorbatschows vom Januar 1986, die von den Kirchen in verschiedenen Erklärungen als eine Bestätigung ihrer Friedensvorstellungen bezeichnet wurden und Hoffnungen auf einen allgemeinen politischen Umdenkungsprozeß weckten. Im Verlauf der Herbstsynoden des Jahres 1986 griffen die evangelischen Kirchen in der DDR die Forderung des sowjetischen Genralsekretärs nach einem „neuen Den-ken“ mit großer Zustimmung auf und gaben der Hoffnung Ausdruck. daß dieses in Form einer wirklich mündigen Mitwirkung aller Bürger „auch in unserer Gesellschaft ein tragfähiges Fundament findet“
Die Anzeichen eines vorsichtigen Wandels im Zeichen der sowjetischen Reformpolitik auch in der DDR, als deren Höhepunkt der von offiziellen und kirchlichen Gruppen gemeinsam ausgerichtete Olof-Palme-Friedensmarsch im September 1987 betrachtet werden kann, nährten in den Kirchen die Hoffnung, daß die „Ansätze der Öffnung in unserer Gesellschaft“ in eine umfassendere Reformpolitik münden könnten. Die Erweiterung der Reise-möglichkeiten, die Veröffentlichung des gemeinsamen Dialog-Papiers von SED und SPD im August 1987 sowie der Besuch Erich Honeckers in Bonn im Oktober 1987 wurden als Ermutigung aufgefaßt. Die größeren Spielräume für die Kirchenzeitungen, die sich ausweitenden Aktivitäten der Gruppen, die vielversprechenden Ansätze eines offenen christlich-marxistischen Dialoges sowie die spürbar zunehmende kirchliche Berichterstattung in den staatlichen Medien erweckten den Eindruck, als ob die Kirchen zum Experimentierfeld für eine politische Öffnung gemacht werden sollten.
Die Kirchen dankten für diese Klima-Veränderung und bekannten sich mit gewachsenem Selbstbewußtsein zu ihrem „begrenzten politischen Mandat“ und zum Engagement der Gruppen „Offenheit“ und „Öffentlichkeit“, die Übersetzungen des russischen Wortes „Glasnost“, aber auch Begriffe wie „Dialog“, „Streitkultur“ oder der des „gemeinsamen europäischen Hauses“ wurden zu wichtigen Stichworten der kirchlichen Diskussion. Zugleich wurde die Erwartung artikuliert, daß es zu weitergehenden Veränderungen komme; insbesondere setzten sich die Kirchen im Zusammenhang mit den Reiseerleichterungen — wie 1989 eingeführt — für klare gesetzliche Regelungen mit einem Einspruchsrecht der Bürger ein
Skeptischer reagierten demgegenüber die informellen Gruppen, die nach wie vor die Erfahrung machen mußten, in der DDR nicht als Dialogpartner anerkannt und für ihre Aktivitäten — zum Beispiel durch Ordnungsstrafen oder Ungam-Reiseverbote — sogar bestraft zu werden. „Selbst das, was wohlwollende Beobachter als Ansätze zu Veränderungen auffassen möchten“, hieß es in einer Erklärung von Vertretern der Initiative „Frieden und Menschenrechte“ vom August 1987, „erscheint oft als unbeständige Lockerung, die nicht eingefordert werden kann, oder als reine Kosmetik“
Diese Einschätzung bestätigte sich kurz darauf, als die SED-Führung mit der Durchsuchung der Räume der Ost-Berliner Umweltbibliothek im November 1987 und den Verhaftungen im Gefolge der Liebknecht/Luxemburg-Demonstration im Januar 1988 deutlich machte, daß sie die Grenzen der Liberalisierung bereits für überschritten hielt und die Formierung unabhängiger politischer Kräfte unter dem Dach der Kirche nicht zulassen wollte. Sie löste damit jedoch erstmals massenhaften Widerstand durch Mahnwachen und Fürbittgottesdienste aus, der immerhin durchsetzte, daß alle Verhafteten auf freien Fuß gesetzt wurden, wenngleich manche in den Westen abgeschoben wurden. Die Führung reagierte mit einer kirchenpolitischen Grundsatzerklärung, die Politbüro-Mitglied Werner Jarowinsky im Februar 1988 gegenüber dem Vorsitzenden des DDR-Kirchenbundes, Bischof Leich, abgab und der mit der Zensur der Kirchenpresse und einer demonstrativen Polizeikontrolle vor einem Gottesdienst von Bischof Forck in der OstBerliner Sophienkirche Nachdruck verliehen wurde. Die zunehmend demonstrative Absage der DDR-Führung an jegliche Reformpolitik und die sich weiter vergrößernde Kluft zur Entwicklung in anderen sozialistischen Staaten ließ die Reformdiskussion jedoch nicht verstummen, sondern eher nüchterner und fordernder werden — mit Blick auf die Entwicklungen in der Sowjetunion, Polen und Ungarn auch konkreter und radikaler.
Nunmehr wurden auch auf den Synoden mit zunehmender Deutlichkeit grundlegende gesellschaftliche Veränderungen verlangt, die insbesondere zu größerer Offenheit, Rechtssicherheit und Mitbestimmung führen müßten. Im April 1988 begrüßte die Berlin-Brandenburgische Synode ausdrücklich „den Prozeß der sozialistischen Umgestaltung auf dem Wege der Offenheit und der Demokratisierung in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern“ und äußerte die Hoffnung „auf einen entsprechenden Prozeß der Demokratisierung und Offenheit auch in der DDR“ Auch der bis dahin als eher moderat geltende Kirchenbund-Vorsitzende, Bischof Werner Leich, legte Erich Honecker die diesbezüglichen Erwartungen der Kirchen in einem Gespräch im März 1988 mit großer Deutlichkeit dar und spielte im September vor der Bundes-synode sogar auf die tschechoslowakische Formulierung vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ an, als er sagte: „Wir brauchen eine Gesellschaft, die im täglichen Erleben ein menschliches Angesicht hat.“ Informelle Gruppen legten währenddessen das er-ste in einem längeren Diskussionsprozeß von verschiedenen Vertretern erarbeitete politische Reformkonzept in Form von 20 Thesen zur gesellschaftlichen Erneuerung vor, die der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer im Juni 1988 auf dem Kirchentag in Halle vortrug und die in einem deutlichen Bezug zu den Thesen der KPdSU zur Vorbereitung der Parteikonferenz standen Eine umfassende Demokratisierung forderten auch verschiedene Basisgruppen in einem „Brief an die Christen in der DDR und ihre Gem Thesen zur gesellschaftlichen Erneuerung vor, die der Wittenberger Pfarrer Friedrich Schorlemmer im Juni 1988 auf dem Kirchentag in Halle vortrug und die in einem deutlichen Bezug zu den Thesen der KPdSU zur Vorbereitung der Parteikonferenz standen 16). Eine umfassende Demokratisierung forderten auch verschiedene Basisgruppen in einem „Brief an die Christen in der DDR und ihre Gemeindevertretungen — Neues Handeln“, der am Rande des Görlit-zer Kirchentages vorgelegt wurde und in dem es u. a. hieß: „Nicht zuletzt die Veränderungen in der Sowjetunion regen uns an, über prinzipielle Fragen der gesellschaftspolitischen Erneuerung nachzudenken. Eine Reform des politischen Systems der Mitverantwortung einschließlich des Wahlsystems und der Wahlverfahren, die Herausbildung eines öffentlichen Meinungspluralismus zu den drängenden Lebensproblemen im Land — etwa durch Gründung von Bürgerinitiativen, Zeitschriften u. a. — erscheinen uns unumgänglich.“ 17)
Wie groß der Diskussionsbedarf über grundlegende Alternativen zur starren Politik der DDR-Führung geworden war, zeigten auch die „ökumenischen Versammlungen“ in Dresden und Magdeburg, die — ursprünglich auf das Thema „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ ausgerichtet — trotz einer persönlichen Intervention des Staatssekretärs für Kirchenfragen einen umfassenden Katalog von Reformvorschlägen vorlegten 18).
Die Schaffung von Verhältnissen, „in denen niemand mehr Ausbürgerungsanträge stellen will“ 19), erschien auch aufgrund des wachsenden Ausreisedrucks immer dringlicher, mit dem die Kirchen und die Gruppen in ihrer Arbeit schon seit Jahren unmittelbar konfrontiert waren. Da sich die Bleibe-Appelle und seelsorgerliche Begleitung der Kirchen als untauglich erwiesen hatten, das Problem zu entschärfen, wurden verstärkt Diskussionen geführt über die Ursachen des Weggangs und der darin spürbar werdenden gesellschaftlichen Depression. „Weil sich in der Gesellschaft Gleichgültigkeit. Resignation und Stagnation ausbreiten, und sich die Zahl der Menschen erhöht, die sich deshalb zurückziehen oder hier nicht mehr leben wollen“, hieß es dazu in den 20 auf dem Kirchentag in Halle vorgelegten Thesen, „halten wir es für nötig, darüber offen zu reden und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so umzugestalten, daß mehr Bürger gesellschaftliche Mitarbeit als sinnvoll erleben.“ 20)
Während es bis zu diesem Zeitpunkt der SED noch weitgehend gelungen war, die kritischen Gruppen zu isolieren und die Bevölkerung stillzuhalten, so machten die Kommunalwahlen im Mai 1989 erstmals deutlich, daß die Unzufriedenheit immer breitere Kreise erfaßte und die Menschen allmählich ihre Angst verloren. Bei den früher kaum beachteten Nominierungsversammlungen kam es zu heftigen Diskussionen, vielfach wurden sie gar nicht erst öffentlich bekanntgegeben, damit sie nicht außer Kontrolle geraten konnten. Kirchliche Gruppen riefen daraufhin dazu auf, den Wahlen fernzubleiben oder mit „Nein“ zu stimmen, und organisierten in verschiedenen Städten eine möglichst flächendeckende Beobachtung der Auszählung. Dabei ergaben sich erhebliche Differenzen zwischen den offiziell mitgeteilten und den vom jeweiligen Leiter der Wahlbüros tatsächlich gezählten Stimmenergebnissen, insbesondere bei den Nein-Stimmen und bei der Wahlbeteiligung: Während Egon Krenz als Vorsitzender der Wahlkommission noch am Abend der Wahl von 98, 85 Prozent Zustimmung zum „Gemeinsamen Wahlvorschlag der Nationalen Front“ sprach, wurden in vielen Wahlbüros rund 20 Prozent Nein-Stimmen oder Nicht-Wähler gezählt. In einem Fall hatte das „Neue Deutschland“ die Ergebnisse im Berliner Bezirk Weißensee mit 43 042 abgegebenen Stimmen angegeben, davon 24 ungültig, 42 007 für und 1 011 gegen den Wahlvorschlag der Nationalen Front; Vertreter kirchlicher Gruppen. die der Auszählung in 66 von 67 Wahllokalen beigewohnt hatten, hatten dagegen nur 27 680 abgegebene. davon 46 ungültige, 25 410 Jaund 2 224 Nein-Stimmen registriert Zahlreiche Personen erstatteten daraufhin Anzeige wegen Wahlfälschung, und die Kirchen baten um Aufklärung — beides ohne Erfolg.
Eine Politisierung lösten auch die Veränderungen in der außenpolitischen Orientierung der DDR aus. Während die SED unmißverständlich ihre Ablehnung des Aufbruchs in Polen und Ungarn zum Ausdruck brachte, verbündete sie sich demonstrativ mit den ultrakonservativen Kommunisten in Prag, Peking und Bukarest. War die feierliche Verleihung des Karl-Marx-Ordens an den rumänischen Diktator Nicolae Ceauescu im November 1988 für viele schon ein zynischer Akt angesichts der gerade be-kannt gewordenen Dorfvernichtungspläne, so erfüllte die feierliche Erklärung der Volkskammer vom Juni 1989, in der die DDR die Urheber des Massenmordes in Peking in Schutz nahm, die Bevölkerung mit Scham — und Egon Krenz lieferte bei seinem China-Besuch Anfang Oktober weitere Solidaritätsbeweise. Böse Erinnerungen weckte auch der Bericht des Politbüros vom Juni 1989 gegenüber dem Zentralkomitee, in dem es — wie im Jahre 1968 — hieß: „Unter der Fahne der Erneuerung des Sozialismus sind Kräfte am Werke, die die Beseitigung des Sozialismus anstreben. In diesem Zusammenhang erfüllt uns die Entwicklung in Ungarn mit großer Sorge.“
Die Kommunalwahlen, der Druck des Staates auf die Kirchen, die unter ihrem Dach wirkenden Gruppen zu disziplinieren, sowie negative Erfahrungen mit den kirchenleitenden Gremien in aktuellen Konfliktsituationen bestärkten Bestrebungen in den informellen Gruppen, sich von der Kirche zu emanzipieren und sich als eine unabhängige politische Plattform in der DDR zu konstituieren. Es verbreitete sich die Überzeugung, daß es — ähnlich wie in anderen sozialistischen Ländern — auch in der DDR einer organisierten Opposition bedürfe, die außerhalb der Kirche angesiedelt ist und alle kritischen Kräfte zusammenführt. Um die fatale Alternative „Instabilität oder Fortführung des Bisherigen“ zu überwinden, bedürfe es einer konstruktiven Alternative zur Politik der SED-Führung, deren Herausbildung durch die gesetzliche Festschreibung der führenden Rolle der Partei und die Fiktion von der politisch-moralischen Einheit von Partei und Volk verhindert worden sei
Die Zuspitzung der Ausreise-Problematik im Sommer 1989 durch den Abbau der Sperranlagen an der österreichisch-ungarischen Grenze sowie durch die Botschaftsbesetzungen bildete den Auslöser dafür, daß der Initiativkreis „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ Mitte August zur Gründung einer DDR-weiten Sammlungsbewegung für die Erneuerung aufrief, die bei den Volkskammerwahlen 1991 eine „identifizierbare Alternative“ bilden sollte Wenige Tage später gründete sich eine Initiativgruppe mit dem Ziel, in der DDR eine sozialdemokratische Partei aufzubauen und die Voraussetzungen „einer legalen Parteigründung und ihre Vorbereitung“ zu erarbeiten In kurzer Zeit formierte sich dann in der DDR ein halbes Dutzend neuer Organisationen und Vereinigungen, deren separates Auftreten jedoch weniger auf unterschiedliche politische Programme als vielmehr auf Differenzen zwischen Personen, Gruppen und Regionen zurückging. Lediglich einmal — am 4. Oktober 1989 — traten diese Oppositionsgruppen mit einem gemeinsamen Aufruf an die Öffentlichkeit, in dem sie eine demokratische Umgestaltung von Staat und Gesellschaft und demokratische Wahlen unter Kontrolle der UNO forderten Durch die späteren Verhandlungen am „runden Tisch“ wuchs jedoch der Druck auf die Opposition, gemeinsame Positionen zu formulieren.
Das Neue Forum (NF) ist bisher die zahlenmäßig stärkste Oppositionsgruppe; sie wurde am 9. September 1989 von 30 Vertretern aus elf DDR-Bezirken in Grünheide, dem früheren Wohnsitz von Robert Havemann, gegründet. Zu den Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufes gehörten die Ost-Berliner Malerin Bärbel Bohley, der Physiker Martin Böttger, die Havemann-Witwe Katja, der aus der SED ausgeschlossene und mit Berufsverbot belegte Rechtsanwalt Rolf Henrich, der Physiker Sebastian Pflugbeil, der Molekularbiologe Professor Jens Reich, der Maurer Reinhard Schult sowie der Direktor der Evangelischen Akademie Magdeburg, Hans-Jochen Tschiche. Das NF setzte sich in seinem ersten Aufruf lediglich zum Ziel, eine politische Plattform für die ganze DDR zu bilden, „die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen“. Das NF verstand sich — bis Manuskriptabschluß Mitte Dezember — dementsprechend nicht als Partei, sondern als breite Sammlungsbewegung ohne Programm, deren Programmatik erst erarbeitet werden soll, obgleich die Initiatorengruppe wiederholt zu aktuellen Entwicklungen Stellung bezogen hat.
Im September wurde der Antrag des NF auf Registrierung als „Vereinigung“ vom Innenministerium abgelehnt; zunächst mit der Begründung, es handele sich um eine staatsfeindliche Organisation, dann, weil dafür keine „gesellschaftliche Notwendigkeit“ bestehe. Nach ersten Gesprächen auf lokaler Ebene zwischen Vertretern des NF und der SED Mitte Oktober zeichnete sich eine Tolerierung ab, später revidierte das Ministerium seine Entscheidung und ließ den Antrag auf Registrierung zu. Anfang Dezember erhielt das NF nach einer Wohnungsbesetzung erstmals staatliche Räume in Berlin zugewiesen. Zu diesem Zeitpunkt hatten über 200 000 Menschen den Gründungsaufruf unterzeichnet, und in der ganzen DDR konstituierten sich lokale, zum Teil auch betriebliche Gruppen des NF. Inzwischen haben diese Gruppen auf örtlicher, bezirklicher und Landesebene demokratische Vertretungen gewählt. Daneben ist eine Struktur aus Fachgruppen im Aufbau, die sich mit Themen wie Volksbildung, Wirtschaft, DDR-Geschichte oder Umwelt beschäftigen.
Der Demokratische Aufbruch — sozial, ökologisch (DA) geht auf eine im Juni 1989 gegründete Initiativgruppe zurück, die überwiegend von kirchlichen Mitarbeitern ins Leben gerufen wurde. Nach einer von der Polizei behinderten Gründungsversammlung am 2. Oktober 1989, auf der der Entwurf einer „Programmatischen Erklärung“ vorgelegt wurde, hat sich der DA am 30. Oktober 1989 bei einer Delegiertenversammlung mit Vertretern aus allen DDR-Bezirken als Partei vorläufig konstituiert. Die endgültige Parteigründung erfolgte auf einem Parteitag Mitte Dezember. Vorsitzender ist der Rostocker Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, Presse-sprecherin die 22 Jahre alte Leipzigerin Christiane Ziller. Zu den Mitbegründern zählen der Ost-Berliner Pfarrer Reiner Eppelmann, der Weimarer Theologe Edelbert Richter und der wissenschaftliche Mitarbeiter des DDR-Kirchenbundes Erhart Neubert. Auch andere bekannte Wortführer in den evangelischen Kirchen wie der Wittenberger Theologe Friedrich Schorlemmer und der Erfurter Probst Heino Falcke sind Mitglieder des DA. Wie bei den anderen Oppositionsbewegungen nimmt die Mitgliederzahl rasch zu, Ende November waren es zwischen 10 000 und 20 000.
Die Sozialdemokratische Partei (SDP) hat sich am 7. Oktober 1989 formell als Partei gegründet. Zuvor hatten vier Pastoren und ein Historiker Ende Juli 1989 eine Initiativgruppe ins Leben gerufen, die Ende August mit einem Aufruf in der Öffentlichkeit um Unterstützung bat. Die Partei wird von einem elfköpfigen Vorstand geführt, Geschäftsführer ist Ibrahim Böhme. Zu ihrer Gründung legte die SDP eine Gründungsurkunde vor. ein Statut mit angehängten Grundpositionen zur Erarbeitung des Parteiprogramms sowie einen „Programmatischen Vortrag“ der Initiativgruppe mit Aussagen zu Politik, Wirtschaft, Landwirtschaft, Energiepolitik, Sozialpolitik und Außenpolitik. Ende November hatte die Partei etwa 10 000 Mitglieder, ihre Zentren liegen vor allem im sächsischen Raum und in Berlin. Wie das „Neue Forum“ sucht auch die SDP ausdrücklich die Zusammenarbeit mit allen demokratischen Initiativen, Gruppen und Personen in der DDR. ungeachtet ihrer weltanschaulichen und sozialen Bindung. Sie genießt weitgehende Unterstützung der SPD.
Die Bürgerbewegung Demokratie Jetzt geht auf einen Aufruf und „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“ vom 12. September 1989 zurück, den Mitglieder der oppositionellen „Initiative Frieden und Menschenrechte“, der „Initiative für Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ und einige weitere Ost-Berliner Intellektuelle verfaßt hatten. Ihre Sprecher sind der Physiker und Synodale Hans-Jürgen Fischbeck, die Mitbegründerin von „Frauen für den Frieden“. Ulrike Poppe, der Regisseur Konrad Weiß und der theologische Dozent Wolfgang Ullmann. Die Initiative wird getragen von einem kleinen Kreis der (hauptsächlich Berliner) Erstunterzeichner, in den meisten größeren Städten haben sich inzwischen jedoch eigene Gruppen gebildet. „Demokratie Jetzt“ versteht sich als ein informeller Arbeitszusammenhang ohne feste Mitglieder.
In verschiedenen Erklärungen hat die Initiativgruppe mit Forderungen von sich reden gemacht, die wenig später in die politische Praxis umgesetzt wurden. So machte „Demokratie Jetzt“ frühzeitig den Vorschlag, einen vierseitigen Tisch aus Vertretern der SED.der „befreundeten“ Parteien, der Kirchen und der Reform-und Oppositionsbewegungen zu bilden sowie über die Beibehaltung des Artikel 1 der DDR-Verfassung — in dem die führende Rolle der Partei festgelegt war — eine Volksabstimmung zu initiieren.
Die Vereinigte Linke ist ein lockerer Zusammenschluß von kommunistisch orientierten Gruppen und Einzelpersonen; sie umfaßte nach eigenen Angaben im September 1989 ein Potential von 300 bis 500 Personen. Ihr haben sich Vertreter oppositioneller Initiativen wie von der Gruppe „Gegenstimmen“ oder der Anti-IWF-Kampagne in der DDR angeschlossen. Die ihr angehörenden Zirkel hatten sich zum Teil konspirativ organisiert, manche davon im Gewerkschaftsbund FDGB. Im September 1989 legten die Gruppen ein umfangreiches programmatisches Papier, die „Böhlener Plattform“, vor, das in Stil und Inhalt einen linken Traditionalismus widerspiegelt.
Im November 1989 ist eine Initiative zur Gründung einer Grünen Partei in der DDR mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit getreten, in dem die Bevölkerung aufgefordert wird, sich aus Sorge um die katastrophale Entwicklung der Umwelt zu Basisgruppen einer Grünen Partei zusammenzuschließen. Zu den Initiatoren der Parteigründung zählen insbesondere das unabhängige grüne Netzwerk „Arche“, aber auch Umweltengagierte aus anderen kirchlichen Umweltgruppen, aus dem Schriftstellerverband und aus der offiziellen „Gesellschaft für Natur und Umwelt“. Die Ende November gegründete Partei soll für Christen, Kommunisten und andere Positionen offen sein, aber als eigene politische Kraft und als Teil der europäischen grünen Bewegung auch in den Parlamenten wirken.
Darüber hinaus haben sich verschiedene Initiativen gebildet zur Gründung unabhängiger Vereinigungen wie die Grüne Liga, der Unabhängige Frauen-verband, die Allgemeine Studentenunion (ASU), die Gesellschaft für kulturelle Erneuerung in der DDR oder die unabhängige Gewerkschaft Reform. Neben der FDJ sind ein Sozialistischer Studentenbund (SSB) entstanden sowie ein christlicher und ein liberaler Jugendverband (Linksliberale Alternative), die den DDR-Parteien CDU und LDPD nahestehen. Ein Teil dieser Gruppen hat erklärt, auch zur Wahl der DDR-Volkskammer am 6. Mai 1990 kandidieren zu wollen. Weitere Neugründungen sind zu erwarten.
II. Programmatik
Die Entwicklungsgeschichte der DDR-Opposition prägt auch ihre programmatischen Vorstellungen, die sich deutlich von denen der Oppositionsbewegungen in anderen Warschauer-Pakt-Staaten unterscheiden. Das wichtigste Spezifikum ist die positive Rezeption marxistischer Denkansätze, die man durch die Praxis des „real existierenden Sozialismus“ keineswegs als erledigt betrachtet, sondern von den stalinistischen Deformationen befreien will. Während in Polen oder Ungarn die Diskussion über einen „anderen“ Sozialismus oder einen „dritten Weg“ spätestens Ende der siebziger Jahre zunehmend verebbte, spielt diese in der DDR bis in die heutige Zeit hinein eine große Rolle. Nach der positiven Rezeption des Prager Frühlings, des Eurokommunismus und des Buches „Die Alternative“ von Rudolf Bahro fanden diese Überlegungen in den programmatischen Äußerungen von Michail Gorbatschow einen neuen Anhaltspunkt. Theologen und andere Intellektuelle kritisierten nicht den Sozialismus als solchen, sondern seine Auslegung im Staats-und Gesellschaftsverständnis der SED, an dem sie vor allem bemängelten:
— die Aufhebung des Unterschiedes zwischen Staat und Gesellschaft sowie zwischen Staat und Partei im real existierenden Sozialismus;
— die marxistische These vom Herrschaftscharakter und zukünftigen Absterben von Staat und Recht;
— das leninistische Prinzip der administrativ durchgesetzten „führenden Rolle der Partei“;
— den Anspruch des sozialistischen Staates, einen marxistischen Konsens der Gesellschaft zu erzeugen; — das Glücks-und Wohlstandsversprechen des sozialistischen Staates und die unerfüllbare Utopie der kommunistischen Überflußgesellschaft.
Die Verknüpfung dieser Sozialismus-Diskussion mit den „single issues“ aus den Themenfeldern der informellen Gruppen und anderen gesellschaftlichen Erfahrungsbereichen führte seit den Hallenser Thesen vom Juni 1988 immer deutlicher zur Herausbildung von Konturen einer positiven Reform
Strategie zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft, auf die sich auch die Programme der im Herbst 1989 entstandenen Oppositionsgruppierungen gründeten. Den Schwerpunkt bildeten dabei politische Reformen, doch durch den rasanten Zerfall der etablierten politischen Kräfte beschleunigte und radikalisierte sich die Programmbildung der Opposition, die nunmehr für die verschiedensten Politikfelder Alternativen zur bisherigen Politik entwickeln mußte. Da sich die Opposition noch in der Konstituierungsphase befindet, müssen ihre bisherigen Äußerungen allerdings als vorläufig erscheinen und als weitgehend unbeeinflußt von realpolitischen Zwängen, fachlich fundierten Strategien der Problembewältigung und den sich erst allmählich formierenden politischen Positionen in der Bevölkerung.
Auffällig ist die hohe programmatische Überein-stimmung nicht nur zwischen den Oppositionsgruppen, sondern auch zwischen der Opposition und den erneuerten etablierten politischen Kräften. Jene Grundvorstellung der Opposition, daß eine durch verschiedene Parteien ausgedrückte Pluralisierung des politischen Systems erforderlich sei, um überhaupt unterschiedliche Problemlösungskonzepte identifizierbar zu machen, konnte bislang in keiner Weise eingelöst werden, weil der gesellschaftliche Differenzierungsprozeß und die Diskussion über verschiedene politische Wege in der DDR gerade erst einsetzt. Die Rekonstruktion der „civil society“ — das zeigt auch die Entwicklung in Polen und Ungarn — ist in den sozial und politisch homogenisierten Staaten ein langer und mühseliger Prozeß. Die Progammatik der Opposition die sie in ihren Gründungsdokumenten und ersten Äußerungen formuliert hat, läßt sich wie folgt zusammenfassen: 1. Die Orientierung auf eine sozialistische Alternative zur kapitalistischen Konsumgesellschaft in der Bundesrepublik. Allen programmatischen Äuße-rungen gemeinsam ist eine starke sozial-ethische Perspektive, die von utopischen, sozialistischen und anti-kapitalistischen Momenten bestimmt wird. Das „Neue Forum“ hat in seinem Gründungsaufruf den Begriff „Sozialismus“ zwar nicht ausdrücklich genannt, doch aus späteren Äußerungen von Gründungsmitgliedern geht hervor, daß diese sich zum Sozialismus bekennen als einer „Gesellschaft, die sich auf dem Gemeineigentum an den entscheidenden Produktionsmitteln begründet“ In der vorläufigen Grundsatzerklärung des „Demokratischen Aufbruch“ heißt es, daß die kritische Haltung zum real existierenden Sozialismus keine Absage bedeute an die Vision einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Ähnlich argumentiert der Aufruf von „Demokratie Jetzt“: „Der Sozialismus muß nun seine eigentliche, demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verloren gehen soll. Er darf nicht verloren gehen, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muß.“ Auch die SDP will ihren Erklärungen zufolge „genau das, was in der Vision des Sozialismus ausgesprochen ist: ein gerechtes und soziales Gemeinwesen“ 2. Die Schaffung eines demokratisch strukturierten politischen Systems und eines Rechtsstaates. Dazu gehören die Möglichkeit der Teilhabe aller Bürger an den Entscheidungsprozessen, die klare Trennung von Staat und Gesellschaft sowie von Staat und Partei(en), die Teilung der Gewalten, ein Mehrparteiensystem und die Ausübung politischer Macht durch die dem Parlament verantwortliche Regierung, die Stärkung der Selbständigkeit der Gemeinden und der Bezirke bzw.der wiederherzustellenden Länder, die Garantie der Versamm-lungs-, Vereinigungs-und Meinungsfreiheit, die Aufhebung der Zensur und die ungehinderte Entfaltung einer gesellschaftlichen Öffentlichkeit, die Abschaffung der vormilitärischen Ausbildung und des Staatssicherheitsdienstes, die Zulassung eines zivilen Wehrersatzdienstes, die Herstellung voller Freizügigkeit für Reisen und Wahl des Wohnsitzes, die Schaffung einer Verwaltungsgerichtsbarkeit und eines Verfassungsgerichtes, die Schaffung eines Rechtsstaates mit einer unabhängigen Justiz, Begründungspflicht für die Behörden und einem revidierten Strafgesetzbuch. Über die meisten dieser Forderungen besteht inzwischen Konsens zwischen der Opposition und den etablierten politischen Kräften, einige wurden bereits in die Praxis umgesetzt. Spezifische Züge einer sozialistischen Demokratie werden lediglich von der Oppositionsgruppe „Vereinigte Linke“ benannt, die eine „starke basisdemokratische Verankerung der staatlichen Gewalt mittels Volksabstimmungen sowie politischer Rechte für Betriebsräte und Wohnbezirksräte“, die „Selbstverwaltung aller territorialen politischen Gemeinschaften (Gemeinden, Kreise usw.) einschließlich der Bildung ihrer Rechtspflege-und Polizeiorgane durch sie selbst bei ausschließlich gerichtlicher Kontrolle ihrer von staatlicher Aufsicht freien Tätigkeit“ sowie das „Recht von Gesetzesinitiativen und geregelte Vetorechte für demokratische Massenorganisationen (Gewerkschaften usw.)“ vorschlägt 3. Die Herstellung von effektiven, demokratisch kontrollierten sowie ökologisch und sozial orientierten Wirtschaftsstrukturen. „Auf der einen Seite“, heißt es im Gründungsaufruf des „Neuen Forum“, „wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebotes und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökologische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft.“ Der „Demokratische Aufbruch“ tritt in seinen ersten Äußerungen ein für die öffentliche und betriebliche Kontrolle der Großindustrie, die stärkere Zulassung von genossenschaftlichem und privatem Eigentum sowie für die Beschränkung des Planes zugunsten marktwirtschaftlicher Prinzipien und fordert wirtschaftliche Effektivität, soziale Gerechtigkeit und den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft.
Auch die SDP verlangt eine Dezentralisierung und Demokratisierung des Wirtschaftslebens, eine ökologisch orientierte soziale Marktwirtschaft, die Förderung von Gemeinwirtschaft und Genossenschaften sowie gleichberechtigte Privatwirtschaft. Die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ will, daß der bestehende Staatsplandirigismus durch eine staatliche Rahmenplanung abgelöst wird, in der nur solche Aufsichts-und Lenkungskomponenten bestehen bleiben, die für die Bindung jeglicher Wirtschaftstätigkeit an das Gemeinwohl erforderlich sind (Umwelt-und Sozialverträglichkeit). Die „Vereinigte Linke“ bezeichnet als die wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen ihres Gesellschaftsmodells: „Öffentliches Eigentum an den Hauptproduktionsmitteln in demokratischer Mitbestimmung und Selbstverwaltung durch die Arbeitenden, konsequente Anwendung des Leistungsprinzips bei der Verteilung der Einkommen, kollektive Kontrolle der Arbeitenden über den Produktionsprozeß in Betrieb und Gesellschaft, Verbot der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen (Aneignung fremder Arbeit)“.
Insgesamt wirken die wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Opposition noch allgemein und un-ausgereift; an einer Konkretisierung und Neubestimmung wird gegenwärtig gearbeitet. 4. Die Förderung von Gleichberechtigung, Eigenverantwortung und Kreativität in Kultur, Erziehung und den sozialen Beziehungen. „Notwendig ist der Übergang zu Unabhängigkeit und Selbständigkeit im Kultur-und Geistesleben, in Wissenschaft, Presse und Publikationswesen sowie der Aufbruch der Volksbildung aus Disziplin und Langeweile“, heißt es in einem „offenen Problemkatalog“ des „Neuen Forum“ vom Oktober 1989 33). Die SDP tritt in ihren Grundpositionen für die „Gleichberechtigung und geschlechtsspezifische Förderung von Mann und Frau“ ein sowie für die „Verbesserung der Lage der Kinder (Kindeswohl)“ als übergeordneter Entscheidungsfaktor auf allen Ebenen.
In den Thesen der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ heißt es: „Die Schulen, Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen dürfen nicht länger Instrument ideologischer Ausrichtung und der Indoktrination einer Partei bleiben, auch wenn sie die Regierung stellt. Die Schule und die bisherige Kinder-und Jugendorganisation sollten entflochten werden. Neue Kinder-und Jugendorganisationen müssen möglich sein. Eltern sollten das Recht erhalten, über Lehrpläne und -methoden mitzube-stimmen . . . Wissenschaft, Kunst und Kultur müssen bei Selbstverwaltung ihrer Institutionen gemäß der Verfassung die Möglichkeit erhalten, sich frei und ohne ideologische Gängelung zu entfalten.“ 34)
5. Die Entwicklung einer Außenpolitik, die der Abrüstung, der weltweiten Gerechtigkeit, dem europäischen Einigungsprozeß und einer deutschen Zwei-staatlichkeit verpflichtet ist. Obwohl im Gründungsaufruf des „Neuen Forum“ weder außenpolitische Fragen noch die Zukunft der beiden deutschen Staaten thematisiert werden, haben sich einzelne Gründungsmitglieder wiederholt dazu geäußert. Ende September 1989 erklärte Bärbel Bohley, für die Oppositionsgruppen sei die Wiedervereinigung kein Thema Rolf Henrich vertrat die Auffassung, die DDR müsse zunächst ihre eigene Identität auf sozialistischer Grundlage entwickeln, so daß sie sich auch künftig von der Bundesrepublik „in gewisser Weise unterscheiden“ werde, was aber keine Abgrenzung bedeute Reinhard Schult schrieb Ende November 1989, „als Verursacher von zwei Weltkriegen sollten die Deutschen die nationale Trommel in der Rumpelkammer stehenlassen, die Nachkriegsgrenzen endlich anerkennen und den Heimatvertriebenenverbänden den Status der Gemeinnützigkeit entziehen . . . Wir wollen also keinen Anschluß etwa als zwölftes Bundesland.“
Die SDP bekennt sich in ihren frühen programmatischen Erklärungen zur „derzeitigen Zweistaatlichkeit Deutschlands als Folge der schuldhaften Vergangenheit“, ohne damit künftige Veränderungen im Rahmen einer europäischen Friedensordnung auszuschließen. Sie bejaht jedoch „besondere Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland aufgrund der gemeinsamen Nation, Geschichte und der sich daraus ergebenden Verantwortung, insbesondere für den Frieden in Europa“. Darüber hinaus tritt sie für eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung, für Solidarität mit entrechteten und unterdrückten Völkern sowie für die Auflösung der Militärbündnisse ein.
Auch der „Demokratische Aufbruch“ ging in seinen ersten programmatischen Erklärungen von der deutschen Zweistaatlichkeit aus, unterstützte aber ein aktives Aufeinanderzugehen der beiden deutschen Staaten im Rahmen einer europäischen Friedensordnung. In dem Mitte Dezember 1989 vom Gründungsparteitag verabschiedeten Programm wird demgegenüber gefordert, das Recht der Deutschen zur Einheit in die DDR-Verfassung aufzunehmen. Die Deutschen sollten von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat im Rahmen einer europäischen Friedensordnung gelangen bei Anerkennung der polnischen Westgrenze.
Die Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ schrieb in ihren Gründungsthesen zu diesem Komplex: „Als Deutsche haben wir eine besondere Verantwortung. Sie gebietet, daß das Verhältnis der deutschen Staaten beiderseits von ideologischen Vorurteilen befreit und im Geist und Praxis ehrlicher und gleichberechtigter Nachbarschaft gestaltet wird . . . Beide Staaten sollten um der Einheit willen aufeinander zu reformieren.“ Mitte Dezember legte die Gruppe einen Dreistufenplan zur deutschen Einigung vor.
III. Perspektiven
Die Frage, welche Rolle die DDR-Opposition in Zukunft spielen und welche politischen Konzepte sie präferieren wird, ist in einer akuten Krisensituation wie der gegenwärtigen, in der sich gesellschaftliche Strukturen und Kräfteverhältnisse in Tagen oder Stunden verschieben können, außerordentlich schwer zu beantworten. Gleichwohl lassen sich aus der Entstehungsgeschichte und der programmatischen Entwicklung der Oppositionsgruppierungen schon heute einige analytische Überlegungen über ihre Entwicklungsperspektiven ableiten.
Für die zukünftige Rolle der Opposition von außerordentlicher Bedeutung ist die Lösung des Widerspruchs zwischen dem durch den Zerfall der etablierten politischen Kräfte entstandenen Machtvakuum und den fehlenden personellen, materiellen und politischen Voraussetzungen der Opposition, dieses Vakuum zu füllen. Während in Polen die Opposition schon vor der Übernahme von Regierungsverantwortung zusammen mit der katholischen Kirche umfassende Strukturen einer „Gegengesellschaft“ entwickeln konnte, während in Ungarn die politische Emanzipation der fachlichen Apparate schon vor dem Umbruch weit gediehen war und die Opposition für ihre Konstituierung vergleichsweise viel Zeit besaß, ist die DDR-Opposition mit der gleichsam über Nacht notwendig werdenden Ausübung politischer Macht offenkundig überfordert.
Ihrer Herkunft nach entstammt sie einem alternativen, subkulturellen Milieu, das auf positive Politik-strategien und ihre Umsetzung in die politische Praxis kaum vorbereitet ist. Es fehlt an Fachkompetenz (die meisten Fachleute gehörten der SED an), an Organisationserfahrungen, an materiellen Ressourcen, an Führungspersönlichkeiten und auch am Willen, sich überhaupt an der Machtausübung zu beteiligen oder — wie beim „Neuen Forum“ und der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“ — sich nur als Partei zu organisieren. Das von der SED hinterlassene Vakuum kann nur gefüllt werden entweder durch die erneuerten traditionellen Parteien oder durch eine rasche Organisierung und Professionalisierung der Oppositionsparteien unter Einbeziehung der Fachleute aus dem Apparat oder durch stabilisierende Kräfte aus der Bundesrepublik. Es liegt auf der Hand, daß die zukünftige Rolle der DDR-Opposition entscheidend davon abhängt, welche dieser Optionen sich durchsetzt.
Profil und Bedeutung der Opposition werden darüber hinaus davon bestimmt werden, wie die Differenz zwischen der Breite des realen gesellschaftlichen Bewußtseins und der Enge von Programmen und Rekrutierungsklientel der Oppositionsgruppierungen aufgelöst wird. Die Analyse von Herkunft und Programmatik der Opposition macht deutlich, daß diese zunächst nur ein schmales gesellschaftliches Spektrum abdeckt, auch wenn sie sich in verschiedenen Parteien und Gruppierungen organisiert hat. Während die Oppositionsgruppen beim Ausbruch der Krise von weiten Teilen der Gesellschaft als Sprachrohr und Hoffnungsträger anerkannt wurden und vorübergehend eine hohe Identität zwischen Opposition und Gesellschaft herrschte, machten sich in den Wochen danach in wachsendem Maße bestehende oder sich neu entwickelnde Differenzen bemerkbar. Auf programmatischer Ebene bestehen diese insbesondere in der Betonung der sozialistischen Entwicklungsperspektive und der deutschen Zweistaatlichkeit. Widersprüche sind auch in der ökologischen Orientierung angelegt, die in Gegensatz zu den materiellen Erwartungen der Bevölkerung geraten könnte, sowie in den wirtschaftspolitischen Vorstellungen der Opposition, die einen eigenen, dritten Weg der DDR mit bestenfalls nur flankierender Hilfe aus der Bundesrepublik vorsehen.
Die gesellschaftliche Akzeptanz für diese programmatischen Orientierungen sinkt allem Anschein nach und dürfte noch weiter nachlassen, je mehr das ganze Ausmaß der ökonomischen und politischen Krise der DDR deutlich wird, so daß weder der Spielraum noch die Bereitschaft in der Bevölkerung für ein solches gesellschaftspolitisches Experiment vorhanden sein wird. 'In einer solchen Situation sind verschiedene Entwicklungsszenarien denkbar. Erstens: Die Oppositionsparteien verlieren ihre Schlüsselrolle an andere — neue oder alte — Organisationen, weil diese die unabgedeckten Orientierungen besser zu vertreten scheinen. LDPD, NDPD und CDU zeigen bereits deutliche Bereitschaft für eine Umprofilierung, im Norden und im Süden der DDR häufen sich die Hinweise auf die Gründung gänzlich neuer Organisationen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, daß sich die oppositionellen Führungskader programmatisch umorientieren und damit die Identität mit den in der Gesellschaft virulenten Stimmungen wieder herstellen, wofür es insbesondere beim „Demokratischen Aufbruch“ und der SDP Anzeichen gibt. Wie stark der gesellschaftliche Druck in dieser Hinsicht bereits ist, zeigt die Tatsache, daß ganze Ortsgruppen ihren Austritt ankündigen oder sogar schon vollzogen haben, weil sie mit der Vorstellung eines dritten Weges nicht einverstanden sind. Die dritte Entwicklungsvariante ist. daß es im Zuge des rapiden Mitgliederzuwachses.des weiteren Organisationsaufbaus und der damit einhergehenden Schaffung von demokratisch legitimierten Sprechergremien zu einer Ablösung der Gründergeneration kommt. Eine solche Ent31 Wicklung zeichnet sich nicht nur beim „Demokratischen Aufbruch“ ab, sondern auch beim „Neuen Forum“, wo die Differenzen zwischen dem Kreis der Initiatoren und dem neu gebildeten Sprecherrat — insbesondere in der Frage der Zweistaatlichkeit — deutlich zu Tage treten. Je näher der Wahltermin ruckt, desto mehr müssen sich alle politischen Kräfte darum bemühen, die Stimmungen in der Bevölkerung einzufangen, wobei auch regionale Unterschiede an Bedeutung gewinnen.
Angesichts dieser unbekannten Variablen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt kaum vorauszusagen, welche Rolle und welches Profil die DDR-Opposition letztendlich ausfüllen wird. Angesichts ihrer eigenen Schwäche ist sie auf die Kooperation mit den etablierten politischen Kräften angewiesen, die ihrerseits die Opposition benötigen, um ihren eigenen Glaubwürdigkeitsverlust auszugleichen. Den organisatorischen Rahmen dieser „Koalition der Vernunft“ bildet bis zu den Wahlen im Mai 1990 der „runde Tisch“, der der Opposition einerseits Einfluß, andererseits aber auch politische Mitverantwortung für die krisenhafte Lage einträgt. Entscheidend wird sein, ob es der Opposition gelingt, den Vertrauensvorschuß der Bevölkerung zu bewahren und durch konkrete politische Strategien zu rechtfertigen. Nimmt man ihre Programme zum Ausgangspunkt, sind die Voraussetzungen — insbesondere bei der SDP — dafür nicht schlecht, weil die konkreten Vorschläge für die einzelnen Politikfelder offener angelegt sind, als es die in den Vordergrund gerückte Orientierung auf einen dritten, sozialistischen Weg zunächst scheinen läßt. Auch die gegenwärtige Enge des sozialen und politischen Rekrutierungsmilieus sowie der Mangel an personellen und materiellen Ressourcen könnten durch den raschen Mitgliederzustrom und den Verfall der etablierten politischen Kräfte in der weiteren Entwicklung aufgehoben werden.
Der Zustand der gegenseitigen Schwächung der Oppositionsgruppen durch ihre hohe programmatische Übereinstimmung könnte sich schließlich durch einen organisatorischen Zusammenschluß, durch eine politische Differenzierung oder durch den unvermeidlichen Selektionsprozeß allmählich auflösen. Anzeichen dafür lassen sich bereits heute erkennen. Gelingt es der Opposition nicht, die gesellschaftlichen Erwartungen auf diesem Wege zu erfüllen, werden andere politische Kräfte ihren Platz einnehmen.