Der Versuch, eine eigenständige „ökonomische Gerechtigkeit“ zu umreißen, muß scheitern, weil „Gerechtigkeit“ eine umfassende sozial-ethische Kategorie ist. Im folgenden soll Gerechtigkeit zwar aus ökonomischer Perspektive erörtert werden und damit eine gewisse einengende Berachtung erfolgen, aber die Gerechtigkeitsfrage setzt immer grundsätzlicher, d. h. über den wirtschaftlichen Bereich hinausgreifend, an. Andererseits aber stellt das Ökonomische die materielle Grundlage der Gesellschaft dar. haben wirtschaftliche Faktoren für die historische Entwicklung seit der industriellen Revolution des 18. /19. Jahrhunderts so überragende Bedeutung erlangt, daß Gerechtigkeit in der Wirtschaft als ein zentraler Teilbereich der modernen Gerechtigkeitsdiskussion charakterisiert werden darf.
Das Gerechtigkeitsproblem ist im Verlauf der Jahrhunderte bzw. Jahrtausende unterschiedlich gesehen worden und hat verschiedene Antworten gefunden Trotz der geschichtlichen Verschiebungen im Gerechtigkeitsdenken bestehen jedoch auch deutliche Kontinuitäten, so daß man besser von Modifikationen und Schwerpunktverlagerungen in der Gerechtigkeitsdiskussion spricht als von fundamentalen Brüchen. Die von der europäischen Kultur seit der Antike entfaltete Gerechtigkeitslehre, die von Anfang an die ökonomische Seite des politischen Systems mit in den Vordergrund rückte, bildet somit notwendiges Hintergrundwissen für das Verständnis auch der neueren Gerechtigkeitsdiskussion. Daher folgt der kurzen Einleitung eine Übersichtsskizze zur Entwicklung der europäischen Gerechtigkeitsidee, ehe auf die jüngere Diskussion eingegangen wird.
I. Einleitende Bemerkung: Gerechtigkeit als sozialer Grundwert
Gerechtigkeit umfaßt die Gesamtheit menschlichen Verhaltens, soweit es bewußt oder unbewußt auf Mitmenschen bezogen ist und somit soziale Wirkung hat. Da die Wirtschaft bzw. die Sozialökonomie die Grundlage menschlicher Existenz, die materielle Basis jeder Gemeinschaft bildet, muß jede Gerechtigkeitslehre eine Antwort auf die Frage nach der richtigen sozialökonomischen Ordnung beinhalten. Im Unterschied zu einer rein beschreibenden und einer mit Rückgriff auf theoretische Annahmen erklärenden Betrachtung von Produktion, Verteilung und Konsum zwingt die Gerechtigkeitsfrage zu normativen Antworten. Die wirtschaftlichen Vorgänge von Produktion, Verteilung und Konsum werden wertenden Urteilen unterworfen.
Die Politische Ökonomie im traditionellen Sinn, wie sie die klassischen Nationalökonomen und der Marxismus verstehen, bezieht Wechselwirkungen zwischen Produktionsverhältnissen und normativen Vorstellungen (d. h. Kritik und Rechtfertigung) über diese Strukturen mit ein. Damit ist die Politische Ökonomie gezwungen, sich auch mit der Gerechtigkeitsfrage zu befassen. Es gilt Gustav Schmöllers Feststellung, daß es sich um einen „kindlichen Einwurf“ handelt, „der Begriff des Gerechten lasse sich auf volkswirtschaftliche Dinge nicht anwenden“
Das Gerechtigkeitsproblem wird konventionell als ein philosophisches und/oder theologisches Problem betrachtet. Genauer: Es handelt sich um praktische Philosophie, die Antwort auf die Fragen zu geben bemüht ist, was man tun soll und warum. Das Gerechtigkeitsproblem verbindet somit Philosophie (Theologie) und Politische Ökonomie. Anders ausgedrückt: Politische Ökonomie als Analyse sozialökonomischer Ordnungen kann sich nicht von Werturteilen befreien, sondern muß sich argumentativ mit normativen Urteilen befassen.
Eine gerechte sozialökonomische Ordnung wird vor allem „Verteilungsgerechtigkeit“ gewährleisten müssen, was immer dies konkret bedeutet. Ein Spezifikum des europäischen Gerechtigkeitsdenkens liegt in der engen Verbindung von Gerechtigkeit und Gleichheitsprinzip, also jenem Grundwert, auf dem auch die politische Ordnung der Demokratie basiert. Die Idee der Gleichheit (der Menschen) gebiert das Postulat einer grundsätzlichen Gleichverteilung sowohl von ökonomischen Gütern als auch von nichtökonomischen Lebenschancen (z. B.der Meinungsfreiheit). Die faktischen Ungleichheiten sind damit als ungerecht zu verurteilen bzw. es bedarf einer (akzeptierten) Begründung, warum welche Ungleichheiten doch als mit der Gerechtigkeitsidee vereinbar zu erachten sind. Für die moderne normative Ökonomie stellt sich in diesem Zusammenhang etwa die Frage, ob Ungleichheit dadurch gerechtfertigt werden kann, daß sie dazu beiträgt, höhere (ökonomische) Leistungen zu erreichen, die dann allen zugute kommt bzw. kommen muß. Hier wird das Problem eines möglichen Gegensatzes von Gleichverteilung und Effizienz oder von — in der gebräuchlichen angelsächsischen Terminologie — equity versus efficiency angesprochen.
II. Gerechtigkeit als grundlegende Tugend: das gerechte Subjekt
Für die antiken Philosophen Sokrates. Platon und die Stoiker gehörte die Gerechtigkeit zu den vier Kardinaltugenden, also den sittlichen Grundprinzipien subjektiven Handelns. Gerechtigkeit ist jedoch gegenüber den anderen Kardinaltugenden höherrangig, da sie als fundamentaler Grundwert sozialen Zusammenlebens allen anderen Tugenden erst ihre richtige Praxis ermöglicht.
Der Katalog der Kardinaltugenden weist bei den genannten Schulen gewisse Variationen auf, aber gemeinsam ist ihnen die Gerechtigkeit als Grundtugend (neben der Gerechtigkeit bei Sokrates: Gottesfurcht, Enthaltsamkeit, Tapferkeit; bei Platon: Weisheit, Mäßigung, Tapferkeit; bei den Stoikern: Geschicklichkeit, Bescheidenheit, Tapferkeit). Von der christlichen Ethik wurden die antiken Kardinaltugenden als „natürliche“ Tugenden übernommen und um die „übernatürlichen“ Kardinaltugenden Glaube, Hoffnung und Liebe ergänzt.
Philosophische und theologische Reflexion des tugendhaften Lebens thematisierte seit der Antike eine als Widerspruch deklarierte Gegenläufigkeit von einer an den Tugenden, insbesondere der Gerechtigkeit, orientierten Lebensweise und dem Streben nach materiellem Reichtum. Platon läßt Sokrates in der „Apologie“ mit der Forderung an seine ungerechten Richter schließen, die Gerechtigkeit vor dem Mammon zu schützen: „Soviel jedoch erbitte ich von ihnen: An meinen Söhnen, wenn sie erwachsen sind, nehmt eure Rache, ihr Männer, quält sie ebenso, wie ich euch gequält habe, wenn euch dünkt, daß sie sich um Reichtum oder um sonst irgend etwas eher bemühen als um die Tugend; und wenn sie sich dünken, etwas zu sein, sind aber nichts: so verweist es ihnen wie ich euch, daß sie nicht sorgen, wofür sie sollten, und sich einbilden, etwas zu sein, daß sie doch nichts wert sind. Und wenn ihr das tut. werde ich Billiges von euch erfahren haben, ich selbst und meine Söhne.“
Die platonische Gerechtigkeit richtet sich an die einzelne Person, die sich auf sich selbst besinnen soll und dadurch der Gerechtigkeit genügt. Jeder solle das „Seinige“ tun und sich nicht im Vielerlei verlieren. Die Konzentration auf das „Seinige“ meint die philosophische Lebenshaltung, die sich in der Beschäftigung mit der Philosophie entwickelt, also nicht einfach im voraus exakt definiert werden kann.
III, Gerechtigkeit im Gemeinwesen
Das individuelle Subjekt als Adressat der Gerechtigkeitsforderung ist existentiell auf die Gemeinschaft angewiesen; es bedarf deshalb einer politischen, die sozialökonomischen Verhältnisse einbeziehenden Gerechtigkeitslehre. Der subjektive Wille zur Gerechtigkeit bildet sich erst im sozialen Zusammenhang. Im sozialen Umfeld, d. h. in der Kollektivität, erwachsen die normativen Orientierungen, auf deren Verwirklichung der subjektive Gerechtigkeitswille zielt. Damit wird eine Lehre der „objektiven Gerechtigkeit“, also der übersubjektiv geltenden Werte, notwendig. Nach Aristoteles basierte die politische Gerechtigkeit in diesem Sinne auf dem Gleichheitsprinzip. Gerechtigkeit nach Maßgabe der Gleichheit begründet das Postulat, daß jeder das ihm Zukommende erhält, und zwar nach den Regeln des Gesetzes. Die Verknüpfung von Gerechtigkeit, Gleichheit und gesetztem Recht als zentrale Idee juristischen Denkens wird von dem römischen Rechtswissenschaftler Domitius Ulpianus in den klassischen Grundsatz gegossen: „Gerechtigkeit ist der feste und dauernde Wille, jedem sein Recht zuzuteilen.“ Das „suum cuique“ (Jedem das Seine) erhält in der ökonomischen Verteilungsdiskussion die kaum weniger vage Fassung: „Jedem nach seiner Leistung“
Gerechtigkeit und Gleichheitsprinzip stehen also seit der europäischen Antike in komplementärer Beziehung. Jede Staats-und Gesellschaftstheorie mußte und muß sich mit jener Komplementarität befassen und Kriterien als auch Maßstäbe geben, um Gerechtigkeit von Ungerechtigkeit scheiden und das Gleichheitsprinzip konkretisieren zu können. Für die abendländische Sozialphilosophie und die christliche Sozialethik wurden die beiden aristotelischen Spezifizierungen der „ausgleichenden Gerechtigkeit“ (iustitia commutativa) und der „austeilenden Gerechtigkeit“ (iustitia distributiva) zu leitenden Vorstellungen. Die ausgleichende Gerechtigkeit bezieht sich auf vertragliche Vereinbarungen, ökonomisch gewendet auf den gerechten Tausch zwischen freien Wirtschaftssubjekten. Hierbei geht es um quantitative Äquivalenzen, wie sie sich in einem tauschwirtschaftlichen Prozeß einstellen („Tauschgerechtigkeit“). Der Prozeß der Verrechnung von Leistung und Gegenleistung auf der Tauschebene abstrahiert von allen Unterschieden der Tauschpartner und bemißt die Äquivalente nach der (marktwirtschaftlichen) Leistung („arithmetische Gerechtigkeit“). Die austeilende Gerechtigkeit sucht Lasten und Vorteile, die den einzelnen Gesellschaftsmitgliedern von der Gemeinschaft zugewiesen werden, „gerecht“ zu bemessen. Sie abstrahiert gerade nicht von den subjektiven Unterschieden; sie muß Billigkeitsgesichtspunkte erwägen und dabei Gleiches gleich, aber Ungleiches ungleich behandeln („geometrische Gerechtigkeit“ der Proportionen).
Thomas von Aquin übernimmt die aristotelischen Gerechtigkeitsvorstellungen und erläutert Gerechtigkeit als Ausfluß und Vollzug göttlichen Willens. Die austeilende Gerechtigkeit gewinnt instrumentellen Charakter für den Vollzug des göttlichen Willens.der stets auch von Güte und Barmherzigkeit erfüllt ist. Gerechtigkeit erfährt aus dieser Perspektive eine Anreicherung: Das gerechte Verhalten zum Mitmenschen kann nicht (mehr) ohne Gnade, Güte und Liebe gedacht werden Nächstenliebe mit dem, was als gerecht gilt, zu verbinden, weist voraus auf die „Brüderlichkeit“ der Französischen Revolution, auf die sozialistische Solidaritätsethik und das soziale Gerechtigkeitsdenken des 19. und 20. Jahrhunderts.
Im Rahmen der ausgleichenden Gerechtigkeit entwickelte die Scholastik die unmittelbar auf wirtschaftliche Vorgänge bezogene Lehre vom „gerechten Preis“ Das iustum pretium sei an Kosten und Aufwendungen zu bemessen, bringe also „objektive“ Wertgrößen zum Ausdruck. Die Rechtfertigung von Preisen mit den in der wirtschaftlichen Leistung (Sachgüter und Dienste) enthaltenen Kosten. insbesondere den aufgewandten Arbeitsmengen, kehrte in der Werttheorie der klassischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo wieder (Arbeitswertlehre; objektive Wertlehre) und wurde zu einer zentralen Idee der sozialistischen Wirtschaftstheorie, insbesondere der Marxschen Mehrwerttheorie.
IV. Soziale Gerechtigkeit
Die aristotelische bzw. scholastische Differenzierung der ausgleichenden und verteilenden Gerechtigkeit fand eine scheinbar eigenständige Ergänzung im Industriezeitalter durch die Kategorie „soziale Gerechtigkeit“, die den Anspruch auf radikale Durchsetzung des Gleichheitsprinzips in den sozialökonomischen Verhältnissen bezeichnet. Die krassen Einkommens-und Vermögensunterschiede der kapitalistischen Gesellschaft — mochten sie sich auch von gleichen Ausgangschancen her ergeben haben — standen dem Gleichheitsgedanken, der postulierten Würde des Menschen und der Humanitätsidee entgegen. Soziale Gerechtigkeit fordert keine Gleichmacherei, keinen ökonomischen Egalitarismus, wohl aber die „sozial angemessene“ Beteiligung aller (Gesellschaftsmitglieder) am gemeinsamen. arbeitsteilig produzierten Wohlstand. In dem Maße, in dem Verteilungsfragen Machtfragen sind, stellt das Postulat sozialer Gerechtigkeit zugleich einen Anspruch auf „gerechte“ Machtverhältnisse dar. Aus dieser Perspektive ließe sich soziale Gerechtigkeit mit der von Helmut Coing geforderten „schützenden Gerechtigkeit“ (iustitia protectiva) verbinden: „Alle Macht von Menschen über Menschen muß begrenzt sein.“
Der Kerngedanke der schützenden Gerechtigkeit ließe sich auch im sozialistischen Sinn deuten, daß die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zutiefst ungerecht ist, somit ausbeuterische Produktionsverhältnisse inhuman sind und der Gerechtigkeit halber bekämpft werden müssen (sollen). Frei-lieh wird sich der Meinungsstreit nicht an solchen Postulaten entzünden, sondern am Begriff und der konkreten Bestimmung von „Ausbeutung“ und „ausbeuterischen“ Produktionsverhältnissen.
Soziale Gerechtigkeit kann aber auch als Radikalisierung der alten austeilenden Gerechtigkeit verstanden werden. Demnach wäre sie nur dann vollständig realisiert, wenn sie die ausgleichende Gerechtigkeit, also die Gerechtigkeit zwischen privaten Tauschpartnern, weitgehend ablöst. Von Gustav Radbruch wurde dieser Interpretationsmodus gewählt, um der mißverständlichen Marx’schen Formel vom „Absterben des Rechts“ in der Zukunftsgesellschaft entgegenzutreten: „Mit dem Heraustreten aus dem . engen Horizont des bürgerlichen Rechts* (Marx) und der ausgleichenden Gerechtigkeit würde also nur die ausschließliche Herrschaft einer andersartigen, der austeilenden, öffentlich-rechtlichen Gerechtigkeit, oder, mit anderen Worten, die Publizierung des gesamten Rechts, das Aufgehen des individualistischen in einem sozialen Recht (Hervorhebung v. V.) eintreten. Auch das sozialistische Gemeinwesen wird also ein Rechtsstaat sein, ein Rechtsstaat freilich, der statt von der ausgleichenden von der austeilenden Gerechtigkeit beherrscht wird.“
Wenn an die Stelle vertraglicher Vereinbarungen individueller Tauschpartner Kollektivverträge treten, die definitionsgemäß nicht durch individuelltauschwirtschaftliches Handeln, sondern durch kollektive Aktion entstehen, so wird ausgleichende durch austeilende Gerechtigkeit verdrängt. Dann gelten nicht mehr vornehmlich die Maßstäbe tauschwirtschaftlicher Wertäquivalenz (arithmetische Gerechtigkeit), sondern die der aus-bzw. zuteilenden Gerechtigkeit nach Proportionalitätskriterien, deren inhaltliche Konkretisierung — so ja auch die umgangssprachlich geführte Debatte — auf soziale Gerechtigkeitsvorstellungen zurückgreift. In der Konfliktrelation von Arbeit und Kapital, von Lohn und Gewinn spielen beispielsweise heute auch Vorstellungen und Argumente eine Rolle, die sich auf den austeilenden, sozialen Gerechtigkeitsmodus berufen.
Die Entwürfe der „sozial gerechten“ Gesellschaft im Sinne der institutionell abgesicherten Dominanz austeilender Gerechtigkeit sind bekanntlich — soweit es um das Abendland geht — von dem sozialökonomischen Umbruch vom Mittelalter zur Neuzeit provoziert worden. Thomas Morus’ „Utopia“ erschien am Ende der Umbruchphase, in der die sozialrevolutionäre (Bauem-) Bewegung des 14. /15. Jahrhunderts — erfolglos — um ihre neue sozialökonomische Ordnung, um „göttliches Recht“ gekämpft hatte.
Die allmähliche, wenn auch nie vollständige Verdrängung der ausgleichenden Gerechtigkeit zwischen „Privatpersonen“ durch die austeilende Gerechtigkeit des arbeitsteilig verflochtenen Gemeinwesens charakterisierte Gustav Schmöller, das „Oberhaupt“ der jüngeren Historischen Schule der deutschen Nationalökonomie, als quasi-historische Fortschrittstendenz: „. . . gewiß wird auch die Zukunft neue Fortschritte in dieser Richtung (gerechterer Verteilung, d. V.) verzeichnen, so gewiß werden die Institutionen kommender Jahrhunderte gerechter sein, als die heutigen. Die dabei maßgebenden Idealvorstellungen werden nicht ausschließlich, aber immer doch wesentlich von der verteilenden Gerechtigkeit beeinflußt sein.“
V. Verfahrensgerechtigkeit: die Gesellschaft als Marktmodell
In der dominant auf das private Individuum und das private Produktionsmittelmonopol gegründeten Gesellschafts-bzw. Wirtschaftstheorie stellt die austeilende/soziale Gerechtigkeitsmaxime ein Stör-moment dar, das nur am Rande gebilligt wird. Dieser Logik entsprechend stellt sich die Gerechtigkeitsproblematik für die tauschwirtschaftliche Theorie, d. h. für den klassischen Wirtschaftsliberalismus, nicht als Frage nach Beurteilungsnormen für die konkrete Lebenslage jedes einzelnen Menschen. Vielmehr geht es um den Entwurf bzw. die normative Begründung eines als gerecht erachteten sozialökonomischen Mechanismus. Es geht also um Verfahrensgerechtigkeit. Ist sie gewährleistet, so mögen beliebige Ergebnisse zustande kommen; sie sind implizit gerechtfertigt, wenn nur das postulierte Verfahren korrekt eingehalten wurde.
Bekanntlich wird die Verfahrensgerechtigkeit des Wirtschaftsliberalismus, also der klassischen Nationalökonomie und der neoklassischen bzw. neoliberalen Sozialökonomie, durch die freie Konkurrenz der privaten Eigentümer (von Faktoren, d. h. von Arbeit und Kapital) gewährleistet. Soweit der Wirtschaftsliberalismus radikal formuliert wird, fordert er auch radikale Gleichheit der Ausgangschancen; aber niemals Gleichheit — welcher Art auch immer — der Ergebnisse des „gerechten“ Konkurrenzprozesses. Im Hinblick auf die Forderung nach radikal gleichen (sozialökonomischen) Ausgangs-chancen der Individuen (was etwa die Abschaffung der erbrechtlichen Privilegierung einschließt) war der klassische Liberalismus noch „gerechter“ als seine jüngeren Epigonen, die sich konservativ auf die Wahrung von bestehenden Eigentumsrechten versteifen (wie etwa Nozick -Adam Smith fand für das von ihm vertretene Konzept der Verfahrens-gerechtigkeit den einprägsamen Vergleich mit der Grammatik, die als allgemeines Regelsystem die Richtigkeit/Gerechtigkeit der Einzelakte der agierenden Subjekte bestimmt
Die normative Rechtfertigung des Konkurrenzsystems als eines „Systems der natürlichen Freiheit“ (Adam Smith) beruft sich auf die Vorstellung einer naturgegebenen, quasi göttlich sanktionierten Wirtschaftsordnung, die „Naturgesetzen“ folge. Die Natur wird als harmonisch wahrgenommen; und die „natürliche“ Konkurrenzordnung bringe daher einen harmonischen gesellschaftlichen Zustand hervor. Er gilt zugleich in dem Sinne als optimal, als er allen Gesellschaftsmitgliedern mehr Vorteile einbringe als jede andere alternativ denkbare Ordnung.
VI. Glückvoller Genuß als höchster moralischer Wert: die utilitaristische Ethik
In theoriegeschichtlicher Parallelität zur klassischen Ökonomie und auf den gleichen gesellschaftsphilosophischen Grundlagen (John Locke, Thomas Hobbes) aufbauend, entwickelte sich im 18. Jahrhundert der Utilitarismus (Hutcheson, Priestley. Bentham) als eine teleologische Handlungslehre, d. h. eine Lehre der Zweck-Mittel-Rationalität, ebenfalls auf britischem Boden Benthams handliche Formel, daß der beste und zugleich gerechteste sozialökonomische Zustand durch „das größte Glück der größten Zahl“ charakterisiert ist, gibt dem individuellen Handeln und der auf das soziale Ganze gerichteten Politik eine scheinbar klare Zielvorgabe: Es gelte, alle Mittel auf jenen Zweck hin zu prüfen und einzusetzen. Die Folgen des Handelns rechtfertigen das instrumentelle Tun. Die durch die Handlung bewirkten Zustände werden gemäß jener Glücksformel verglichen, und der beste Zustand wird anhand des „Glückskriteriums“ ausgewählt.
Das klassische Harmonietheorem läßt sich auf den ersten Blick recht einfach mit der utilitaristischen Glücksvorstellung verknüpfen. Das System freier Konkurrenz erscheint als der zur Realisierung der Maxime des größten Glücks der größten Zahl adäquate Mechanismus. Bei näherem Hinsehen handelt es sich jedoch um eine rein tautologische Vorstellung. Gefragt, wie denn das größte Glück der größten Zahl aussieht, wie es zu erreichen ist, lautet die Antwort: es ist die harmonische Marktgesellschaft. Die utilitaristische Gerechtigkeitsphilosophie des höchstmöglichen Glücks der Gesellschaft bietet zwar Stoff für die Ideologisierung des Utilitarismus im Sinne des Wirtschaftsliberalismus, aber Bentham selbst läßt sich dies nur sehr bedingt anlasten. Sein Gesamtentwurf, der Gerechtigkeit als Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Wohlstands-lehre enthält, die unter anderem auch das Strafrecht utilitaristisch zu begründen sucht, erweist sich in seinen Details und seiner Logik eher als Kritik an der pauschalierenden Harmonietheorie des natur-rechtlichen Wirtschaftsliberalismus. Bentham tendiert zum Egalitarismus und gibt dem Staat weitreichende Rechte zur glücksfördemden Intervention, so daß Talcott Parsons den Benthamschen Utilitarismus als den „demokratischen Flügel“ der Nützlichkeitsphilosophie und Bentham als Vorläufer des englischen Sozialismus qualifizieren kann
Der Benthamsche Egalitarismus wird dort — mit harter Konsequenz für die ökonomische Verteilung — am deutlichsten, wo es um die Frage nach der gleichen oder ungleichen „Glücksfähigkeit“ der Menschen geht: Sind die Bedürfnisse verschieden, so daß sich eine Ungleichverteilung von „Glücksgütern“ zwischen den Individuen rechtfertigen läßt, um die Benthamsche Glücksformel zu erfüllen, oder sind die Menschen (prinzipiell) gleich? Die Bentham-Schule neigt zur Gleichheitsprämisse. Die alten Utilitaristen meinten sogar, der Nutzen, das Glück, der Wohlstand etc., der dem Individuum durch Güter beschert wird, lasse sich exakt messen, so daß dann auch der intersubjektive Vergleich der jeweiligen Glücks-bzw. Wohlstands-niveaus keine Unmöglichkeit darstellt. Diese Annahme hat sich (bisher) nicht bestätigt. Aber: Wenn schon keine empirisch einwandfreie Glücksmessung möglich ist und eine Prämisse bezüglich gleicher/ungleicher Glücksfähigkeit gewählt werden muß, so erscheint die Annahme der Gleichheit und damit der gleichen Glücksfähigkeit plausibler.
Von den drei miteinander verbundenen Grundprinzipien des Utilitarismus, die Amartya Sen unterscheidet, Wohlfahrtskonzept. Summierungs-bzw. Additionsprinzip und teleologisches Prinzip der Handlungskonsequenz erscheint das letztgenannte insofern uneingeschränkt plausibel, als die Beurteilung von Handlungen nach den jeweiligen Konsequenzen, sofern diese nur genau überschaubar und in ihrer Wohlfahrts-bzw. Glückswirkung exakt bestimmbar sind, scheinbar keinen „vernünftigen“ Einwand hervorrufen können. Wenn ein Individuum sich „frei“ für die Ausführung einer Handlung unter Berücksichtigung des Prinzips der Handlungskonsequenz entscheidet, so sollte ihm das gestattet sein und als moralisch gerechtfertigt („gerecht“ i. S.des Utilitarismus) gelten. Doch wie steht es etwa für den Fall, daß sich jemand selbst in die Sklaverei verkauft, wenn dadurch sein Lebens-niveau (Nutzen) gesteigert wird? Betrug. Irrtum über die tatsächlich in Zukunft eintretenden Folgen etc. ausgeschlossen, ließe sich also im beschriebenen Fall feststellen, daß sich eine Wohlstandssteige-rung ergeben hat. Das „tauschwirtschaftlich“ hergestellte Ergebnis genügt der Benthamschen Glücksformel. Offenkundig widerspricht eine solche „Lösung“ aber unserem, d. h.dem gegenwärtig vorherrschenden Gerechtigkeitsverständnis. Wir würden u. a. einwenden, daß eine gesellschaftliche/historische Situation, in der es überhaupt Sklaverei gibt, grundsätzlich nicht als gerecht zu charakterisieren ist. An die Stelle von „Sklaverei“ lassen sich andere sozialökonomische Strukturen und ihre auf Menschen wirkenden Zwänge setzen. Das umrissene Problem betrifft also recht verschiedene Produktionsverhältnisse. Es dürfte nicht allzu schwer fallen, das Sklaverei-Exempel auf die globale Struktur der heutigen Weltwirtschaft zu übertragen.
Daraus läßt sich folgern, daß Gerechtigkeit nicht befriedigend durch utilitaristische Argumentation begründet werden kann. Welche Alternativen sind vorhanden? Hier sei nur auf eine Position eingegangen. die gegenwärtig breite Beachtung findet — nämlich Rawls Gerechtigkeitstheorie —, ohne daß damit allerdings das Gerechtigkeitsproblem als gelöst gelten kann. Der Satz Carl Welckers aus dem vorigen Jahrhundert bleibt (noch) gültig: „Über das Wesen und den richtigen Begriff der Gerechtigkeit ist Streit.“
VII. Gerechtigkeit als absoluter Wert
Wenn Gerechtigkeit als Absolutum verstanden wird, so lassen sich Handlungen nicht schon deshalb als gerecht begründen, weil sie opportun oder zweckmäßig im Sinn einer utilitaristischen oder anders begründeten Zweck-Mittel-Rationalität sind. Vielmehr basiert Gerechtigkeit auf unabdingbaren Axiomen, die — das ist ihre Eigenart — nicht weiter begründet werden können. Sie sind als transzendental zu qualifizieren, stellen also metaphysische Setzungen bzw. Glaubenswahrheiten dar.
Die historische Geltung, die sozialökonomische Akzeptanz und Plausibilität solcher Axiome können jedoch als — vernünftige — Kriterien dafür genommen werden, ob sie Relevanz besitzen oder nicht, d. h. ganz trivial, ob es sich lohnt, ihnen Aufmerksamkeit zu schenken. Ohne Zweifel erfüllt das Gleichheitsprinzip vorstehendes Relevanzkriterium. Daß die Menschen von „Natur aus“ gleich sind, gleichen Anspruch auf Glück, auf Wahrung der Menschenwürde, auf Freiheit haben, ist eine weit akzeptierte Vorstellung. Die Beschränkungen dieser Rechte ergeben sich nur aus dem Gleichheitsprinzip selbst: Das eigene Recht wird durch das gleiche Recht des anderen begrenzt. Der Kantsehe kategorische Imperativ formuliert das auf dem radikalen Gleichheitsaxiom gegründete Gerechtigkeitspostulat in der überzeugendsten Weise. Seine Verwirklichung schafft jenen Zustand, den Kant „öffentliche Gerechtigkeit“ nennt: „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann, und das formale Prinzip der Möglichkeit desselben, nach der Idee eines allgemein gesetzgebenden Willens betrachtet, heißt die öffentliche Gerechtigkeit“ (Metaphysik der Sitten) Gerechtigkeit ist hier nicht eine (individuelle) Tugend, sondern ein gesellschaftlicher Zustand.
Für die philosophische Gerechtigkeitsdiskussion der Gegenwart sind die Arbeiten des Amerikaners John Rawls zentral geworden, so daß sie hier als repräsentativ für die Berufung auf die Idee unabdingbarer Grundrechte betrachtet werden sollen Rawls formuliert zwei Gerechtigkeitsgrundsätze. Der erste hat in jedem Fall Vorrang, d. h. er kann nicht durch Opportunitäts-und Zweckmäßigkeitsüberlegungen, die aus dem zweiten folgen, eingeschränkt oder modifiziert werden. Der zweite Grundsatz läßt hingegen gewisse Spielräume der Gestaltung sozialökonomischer Verhältnisse zu, wobei die jeweiligen Konkretisierungen nicht logisch auf die grundlegenden Prinzipien zurückgeführt werden können, sondern durch „Intuition“, z. B. durch den „gesunden Menschenverstand“ (common sense), an sie geknüpft sind. Die beiden Grundsätze lauten
„ 1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2, Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist. daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offenstehen.“
Der zweite Grundsatz läßt also die Möglichkeit der Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen zu, aber Ungleichheit muß stets besonders gerechtfertigt werden. Hierbei gilt, daß Ungleichheit zu „jedermanns Vorteil“ gereichen muß. Der „lexikalische“ Vorrang des ersten Grundsatzes impliziert. daß „Verletzungen der vom ersten Grundsatz geschützten gleichen Grundfreiheiten nicht durch größere gesellschaftliche oder wirtschaftliche Vorteile gerechtfertigt oder ausgeglichen werden können“ Rawls konzediert, daß die Präzisierung der Grundfreiheiten gewisse Variationen aufweisen mag, die durch die jeweiligen historischen Umstände bedingt sind. Aber stets muß gelten, daß das Gesellschaftssystem allen gleiche Bedingungen gewährt. Andererseits lasse sich der Katalog von Grundfreiheiten so genau angeben, daß darauf die spezifische Gerechtigkeitsvorstellung (des ersten Grundprinzips) gegründet werden kann. „Freiheiten. die nicht in der Liste enthalten sind, etwa das Recht aufbestimmte Arten des Eigentums (z. B. an Produktionsmitteln) oder die Vertragsfreiheit im Sinn der Theorie des Laissez-faire, sind eben keine Grundfreiheiten und genießen nicht den Schutz, den der Vorrang des ersten Grundsatzes gewährt.“
Im Katalog der Grundfreiheiten (auch: primäre Güter), zu denen u. a. Freiheit. Chancen (opportunity), Einkommen, Vermögen und die sozialen Grundlagen der Selbstachtung zählen, mißt Rawls vor allem letztgenannter besonderen Wert zu Die sozialökonomischen und politischen Umfeld-bedingungen, die der Selbstachtung dienen — man könnte hier auch von der absoluten Garantie der Menschenwürde reden —, lassen Gerechtigkeitsbzw. Ungerechtigkeits-Urteile der Art zu, daß extreme soziale Armut in reichen Gesellschaften, psychisch und physisch ruinierende Arbeitsverhältnisse oder die in gleicher Weise wirkende (Dauer-) Arbeitslosigkeit der Gerechtigkeit unabdingbar widersprechen, d. h. nicht durch theoretisch-philosophische bzw. ökonomisch-ideologische „Erklärungen“ als den Menschenrechten gemäß qualifiziert werden können.
Um die im Rahmen des zweiten Grundsatzes möglichen Ungleichheiten als zulässig bzw. unzulässig beurteilen zu können, führt Rawls das „Unterschiedsprinzip“ (Differenzprinzip) ein Das Unterschiedsprinzip ermöglicht, zwischen verschiedenen pareto-optimalen Zuständen zu differenzieren: „Geht man von den Institutionen aus, wie sie von der gleichen Freiheit für alle und der fairen Chancengleichheit gefordert werden (= Prämisse; d. V.), so sind die besseren Aussichten der Begünstigten genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen. Der intuitive Gedanke ist der, daß die Gesellschaftsordnung nur dann günstigere Aussichten für die Bevorzugten einrichten und sichern darf, wenn das den weniger Begünstigten zum Vorteil gereicht.“
VIII. Gerechtigkeitstheorie und historischer Kampf um Gerechtigkeit
Das Gerechtigkeitsproblem ist weder durch Theorie (allein) lösbar, noch hat die Gerechtigkeitstheorie bei der historischen Entwicklung zur Gerechtigkeit, d. h. zu Verhältnissen, die von allen, zumindest aber von der Mehrheit der Menschen als gerecht wahrgenommen und empfunden werden, mehr als eine begleitende Hilfsfunktion ausgeübt. Gerechtigkeit setzt sich in politischen Konflikten durch, und in der Regel spielt dabei der Kampf gegen Ungerechtigkeit eine wichtigere Rolle als das Streben nach einer explizit formulierten Gerechtigkeitsvorstellung. „Beseitigung von Ungerechtigkeit schafft Gerechtigkeit“, könnte die passende Faustregel lauten.
Gustav Schmöller hat die geschichtliche Durchsetzung von Gerechtigkeit als Kampf sozialer Klassen interpretiert — in diesem Punkt analog zum Marxismus — und geschichtlichen Fortschritt als Durchsetzung von (mehr) Gerechtigkeit qualifiziert, womit er zugleich eine fortschreitende Fried-lichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse verknüpft sieht. Damit wäre Gerechtigkeit eine Voraussetzung von Frieden Die historische Analyse des Gerechtigkeitsproblems erhellt den Umstand, daß Gerechtigkeit auch im Gefühl verankert sein muß, daß Gerechtigkeitsvorstellungen aus Unrechtserfahrung und der Empörung gegen sie hervorgehen. Gerechtigkeitstheorie und -philosophie mögen dann „historische Stimmungen“ präzise und intellektuell anspruchsvoll formulieren; Durchsetzungskraft gegen jeweils bestehende Machtstrukturen gewinnt die Gerechtigkeitsidee aber nur. wenn sie von breiten Massen getragen wird und damit auch Emotionen im Spiel sind: „Was das Herz im Innersten bewegt, das bezwingt den Willen, den Egoismus, das schafft Taten, das reißt den Einzelnen und die Millionen zu Leistungen und Opfern fort.“