„Die Rückkehr der deutschen Ausgewiesenen und Flüchtlinge in ihrefrüheren Anwesen liegt im Bereich der Theorie. Das amerikanische Volk, das für den Frieden betet und arbeitet, weist strikt alle Vorschläge -auch wenn sie mehr geflüstert als ausgesprochen werden — zurück, die Lösungen vorsehen, die ohne Gewaltanwendung nicht erreicht werden können.
Ebenso erscheint die Rückkehr der deutschen Ausgewiesenen und Vertriebenen zu ihren früheren Wohnorten in Osteuropa auch nach einer Ablösung des Sowjetregimes, das sich jetzt in den früheren unabhängigen Staaten gebildet hat, höchst unwahrscheinlich . . . Auch ein Wechsel des Regimes würde kaum die Haltung der Völker der europäischen Länder gegenüber den Deutschen ändern, die in ihrer Mitte leben. Die ängstigende Erinnerung an die Haltung einiger von ihnen während der Nazi-Herrschaft — und in manchen Fällen schon vor dieser tragischen Periode — würde kein Anreiz sein, die Rückkehrenden friedlich aufzunehmen. “
Selten sind die historischen Voraussetzungen und politischen Perspektiven für die Haltung gegenüber den Vertriebenen und Flüchtlingen in Westdeutschland so eindeutig formuliert worden wie in den hier zitierten Schlußfolgerungen des sogenannten „Walter-Berichts“. benannt nach dem Vorsitzenden einer Sonderkommission des Rechtsausschusses des Abgeordnetenhauses der Vereinigten Staaten, Francis F. Walter, die nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Westdeutschland ihre Vorschläge am 24. März 1950 vorlegte. Bereits im Mai 1950 wurde der Bericht ohne Kommentar vom Bonner Bundesministerium für Vertriebene in deutscher Übersetzung veröffentlicht
In Rückblicken hat dieser Bericht bisher wenig Beachtung gefunden, obwohl hier die westdeutsche und westliche Flüchtlingspolitik in mancher Hinsicht vorgezeichnet wurde: So ist die Bewältigung des Flüchtlingsproblems vor allem eine westdeutsche Angelegenheit geblieben und nicht, wie es manchen Interessenvertretern, aber auch manchen Autochthonen recht gewesen wäre, ein internationales Problem geworden Das Ausland sollte den Vorstellungen zufolge, die u. a. im Walter-Bericht Ausdruck fanden, nur in der Weise an der Lösung des Problems beteiligt werden, daß Westdeutsch-land Hilfe zur Selbsthilfe erhalten sollte. Wesentliche Hilfe konnte damals nur aus den USA kommen, und es hat sie in verschiedenen Formen gegeben; so fanden bis 1952 ca. 100 000 Vertriebene und Flüchtlinge als Einwanderer im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ Aufnahme Die wichtigste Hilfe für die schließlich wohl als gelungen zu bewertende Eingliederung leistete allerdings das allgemeine „Wirtschaftswunder“, das der Bundesrepublik widerfuhr und das zu einem guten Teil mit dem Korea-Krieg erklärt werden kann. Der unvorhergesehen lange anhaltende Boom schuf jenen wirtschaftlichen Rahmen, in dem die Vertriebenen nicht nur Platz fanden, sondern sogar dringend benötigt wurden. Selbst das durch sie verstärkte Arbeitskräftepotential war Mitte der fünfziger Jahre in Westdeutschland bereits erschöpft. Die bis 1961 andauernde starke Zuwanderung aus der DDR — dabei viele Flüchtlinge der „zweiten Generation“ —, erste „Gastarbeiter“ und die Ende der fünfziger Jahre einsetzende „Mitarbeit“ der Ehefrauen und Mütter half die neuartige Knappheit mildern.
Diesen Sachverhalt, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen kaum lange ein Belastungsfaktor für die westdeutsche Volkswirtschaft waren, wird man zweckmäßigerweise wohl als Rahmen auch für die historische Analyse wählen; jedenfalls soll hier so verfahren werden. Dies hat einige methodische Konsequenzen für die Beurteilung der Forschungsperspektiven, die hier diskutiert werden sollen. Um ein Beispiel zu geben: Die bis in die achtziger Jahre hinein auch im Ausland gelegentlich mit Besorgnis registrierten Querverbindungen zwischen Vertrie-benen-Organisationen und dem politischen Rechtsradikalismus wird man historisch auch als eine Begleiterscheinung der Integration in eine Gesellschaft begreifen müssen, die mehr oder weniger zahlreiche Protestpotentiale ausbildet, wenn sie mit wachsendem Wohlstand zugleich den Anspruch auf demokratischen Pluralismus verwirklicht. Auf die Motive und Verhaltensmuster, die hier zu berücksichtigen sind, und auf die Kalküle, die bei der politischen Integration der Vertriebenen wirksam wurden, ist noch einzugehen. Zuvor soll in groben Zü-gen ein Überblick über den Stand der Flüchtlings-forschung gegeben werden. Die Form einer forschungsgeschichtlichen Erzählung soll dabei helfen, die Zeitgebundenheit hervortreten zu lassen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Die Fragerichtungen haben sich seit 40 Jahren kaum verändert; zu berichten ist jedoch über sich wandelnde Fragemotive und Akzentuierungen, über methodische Verfeinerungen und auch über einige politische Entscheidungen, die erst nach der Öffnung der Archive für Historiker bekannt wurden.
I. 1945 — 1950: Impressionen — Erkundungen — Visionen
„Die ersten Flüchtlingsbücher beruhen auf Schau und Analogie“, schrieb die Soziologin Elisabeth Pfeil 1950 und meinte damit nicht zuletzt ihre eigenen Impressionen, die sie 1948 unter dem Titel „Der Flüchtling. Gestalt einer Zeitenwende“ veröffentlich hatte. Das Stichwort „Analogie“ bezog sich dabei vor allem auf Gegenwartsphänomene, denn die Zahl der durch den Zweiten Weltkrieg . verschobenen'Menschen sei so groß, daß es an „weltgeschichtlicher Erfahrung“ fehle, mit den dabei auftretenden Problemen fertig zu werden. Als Elisabeth Pfeil dies schrieb, war der größte Teil der später als „Vertriebene“ bezeichneten Personen in Westdeutschland angelangt Allerdings wuchs die Zahl der „Vertriebenen“ zunächst noch aus drei Gründen: Zum einen kamen immer noch vereinzelt Deutsche vor allem aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches — oft nach jahrelangen Bemühungen der bereits in Westdeutschland ansässigen Verwandten um „Familienzusammenführung“ (sie bildeten die Vorläufer des seit den siebziger Jahren besonders starken Stroms der „Spätaussiedler“ zum anderen wanderten Ostpreußen, Schlesier usw. zu, die zunächst im Gebiet der DDR geblieben waren, und erhielten ebenfalls den „Vertriebenen-Status“ einschließlich der damit verbundenen Vergünstigungen zum dritten ließen gesetzliche Bestimmungen auch die nach 1945 geborenen Kinder von Vertriebenen zu „Vertriebenen“ werden
Die ersten Anlässe zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit den „Flüchtlingen“ boten die Volkszählung 1946 und die von deutschen und Besatzungsbehörden befohlenen statistischen Erhebungen über Herkunft, Zusammensetzung und Lage der Vertriebenen; viele dieser Erhebungen sollten helfen, die Belastung, die die Flüchtlinge im hungernden und frierenden westlichen Nachkriegsdeutschland zweifellos waren, gerechter zu verteilen Erstmals 1948/49 wurde eine solche Erhebung in Bayern auch mit einer Meinungsbefragung auf der Grundlage eines repräsentativen Befragtenkreises verbunden. Zugleich fanden in einer Reihe hessischer Dörfer teilnehmende Beobachtungen statt, und so wurde ein sozialwissenschaftliches Forschungsfeld vorbereitet, das in den folgenden Jahren intensiv gepflügt werden konnte und von dem 1959/60 in einer großen dreibändigen Bilanz dann gewissermaßen die Ernte eingefahren wurde
Interessant sind die Ergebnisse dieser allerersten Studien vor allem deshalb, weil sie über das Befinden der Flüchtlinge Auskunft geben, bevor in der Bundesrepublik recht intensive Anstrengungen zur regionalen Umverteilung wirksam wurden und bevor sich die Vertriebenenverbände mit ihren meinungsprägenden Zielsetzungen entfalteten. Deut-lieh erkennbar ist in diesen Studien das Interesse an der Integration. „Die Entstehung eines neuen Volkes von Binnendeutschen und Ostvertriebenen“ lautete der Titel der Sammlung der Zustands-Beschreibungen in den hessischen Dörfern Gelegentlich wurde hier sogar zu pädagogischen Zwekken eine historisch-politische Argumentation empfohlen, die die Vertriebenen als Rückkehrer in ihre vor Jahrhunderten verlassenen Stammlande beschrieb
Aus der Vielzahl der Ende der vierziger Jahre erhobenen Daten seien vier Ermittlungsergebnisse herausgestellt
— Ein Drittel der Befragten wohnte in Verhältnissen. die bescheidenen Ansprüchen, wie sie damals alle Westdeutschen nur stellen konnten, genügten; d. h. sie verfügten über eine eigene Küche und — mit ihren Angehörigen — über mindestens einen weiteren Raum.
— 50 bis 60 Prozent der Befragten zeigten eher Neigungen, sich auf Dauer’ auf das Leben in Westdeutschland einzustellen, als daß sie hofften, bald in ihre alten Wohnorte zurückkehren zu können. Diese Neigungen zur Eingliederung war bei älteren Befragten niedriger als bei jüngeren.
— Ungefähr die Hälfte der Befragten hatte bereits gesellige Beziehungen zu den einheimischen Alt-bürgern aufgenommen: Die Hälfte aller Flüchtlinge, die 1948 geheiratet hatten, waren eine Ehe mit westdeutschen Partnern eingegangen. Bemerkenswert scheint die Beobachtung, daß die Flüchtlinge aus dem ehemaligen preußischen Nordostdeutschland anpassungswilliger schienen als die Sudetendeutschen, von denen ein sehr großer Teil nach Bayern gelangt war — ein Problem, das im Zusammenhang mit anderen Besonderheiten gerade dieser Vertriebenengruppe noch zu diskutieren sein wird.
Zuvor jedoch einige Hinweise auf einige veränderte Umstände auch für die Flüchtlingsforschung seit 1950. In diesem Jahr entstand mit der „Charta der Heimatvertriebenen“ eine programmatische Plattform, in der für die Vertriebenen „ernst und heilig“ auf „Rache und Vergeltung“ verzichtet und eine Vision vom „freien und geeinten Europa“ formuliert wurde, die erst heute im Bild vom „europäischen Haus“ wieder Leuchtkraft gewinnt. Das damals gleichzeitig verlangte „Recht auf Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte“ wurde in Osteuropa meistens als Mittel zur „Revanche“ und als Zeichen des Willens zur Veränderung der 1945 gezogenen Grenzen gedeutet — eine Sicht, die sich an manchen publizistischen Versuchen, dem „Recht auf Heimat“ durch die Konstruktion genauer Zukunftsmodelle zur Popularität unter den Vertriebenen und zur praktischen Geltung zu verhelfen, entzündete und in einem Staats-und Völkerrechtsverständnis begründet wurde, das sich am Nationalstaatsprinzip des 19. Jahrhunderts orientierte. Während sich der in der Charta auch geforderte „sinnvolle Einbau . . .der Heimatvertriebenen in das Leben des (west) deutschen Volkes“ nahezu unspektakulär in Millionen Einzelfällen vollzog, wurden jetzt zudem mit amtlicher Unterstützung Flucht und Vertreibung erforscht die politische und rechtliche Qualität der Grenze Deutschlands im Osten erörtert sowie die Erinnerung an die „alte Heimat“ gepflegt und versucht, diese Erinnerungen zum Gemeingut der gesamten westdeutschen Bevölkerung zu machen, indem man „Ostkunde“ als Lehrgebiet des Schulunterrichts durchsetzte . Aktiv in dieser Arbeit waren vor allem Intellektuelle und Wissenschaftler, die vor 1945 in Schlesien, Pommern, Ost-und Westpreußen, in der Tschechoslowakei und auch in den baltischen Staaten im Dienst des Deutschen Reiches gestanden hatten. Nicht wenige seit den fünfziger Jahren tonangebende Historiker, Soziologen und Kulturwissenschaftler hatten ihre Berufskarrieren dort begonnen, und manchen gelang es, ihre wissenschaftlichen Interessen ohne spektakuläre Brüche weiterzuverfolgen — zunächst oft in Einrichtungen und Organisationen, die den Charakter von Selbsthilfe-Initiativen hatten, bald aber auch mit vielfältiger staatlicher Förderung. Die sogenannte „Ostforschung“ in der Bundesrepublik hat hier eine ihrer stärksten Wurzeln Von den Arbeitsfeldern, die dabei für die Flüchtlingspolitik besonders wichtig waren, seien die kulturgeschichtlichen hervorgehoben, besonders die Nachzeichnung der Kolonisationsleistungen der Deutschen seit dem 12. Jahrhundert Politisch sollten und konnten diese Bemühungen in zwei Richtungen wirken: Mindestens vor dem deutschen Publikum wurden so besonders die polnischen Anstrengungen, die Geschichte der ehemaligen Reichsgebiete zu „polonisieren", zurückgewiesen — eine außenpolitische Dimension —, und den ostdeutschen Landsleuten wurde so eine geschichtlich begründete Stärkung ihrer Selbstwertschätzung zuteil — eine innenpolitische Dimension. Daß dies bei der Popularisierung zu Übersteigerungen führte, die uns heute irritieren, lag angesichts personeller Kontinuitäten und fortbestehender Lehrtraditionen nahe. Wie sich an einzelnen Biographien von Historikern, Germanisten oder Volkskundlern nachvollziehen läßt, war es nur ein schmaler Grat, der „völkisches“ Gedankengut von engagierter „Volkstums“ -Forschung, die z. B.den schrumpfenden deutschen „Sprachinseln“ in polnischer Umgebung galt, trennte
Der politische Wirkungszusammenhang, in dem sich dieser Nationalismus mit dem Antisowjetismus und Antikommunismus verband, den man wohl als stärkste Integrationsideologie der jungen Bundesrepublik ansehen kann, ist noch nicht in seinen Verästelungen erforscht Die sich formierenden Interessen-Verbände der Vertriebenen, seit 1950 auch eine an Mitgliedern und Wählern vergleichsweise starke politische Partei, der „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) haben sich jedenfalls dem antikommunistischen und antisowjetischen außenpolitischen Hauptkonsensus Westdeutschlands eingefügt, und es ist wohl als außerordentliche Steuerungsleistung nicht zuletzt Konrad Adenauers zu würdigen, daß die Vertriebe-nenpolitiker, die er zur Stützung seiner Kanzlerschaft benötigte, seinem Kurs folgten Bekanntermaßen zielte dieser Kurs mittel-und langfristig auf die Westintegration der Bundesrepublik. Die Forderungen nach Wiedervereinigung mit der DDR oder gar nach Wiedergewinnung der 1945 unter polnische und sowjetische Verwaltung gelangten Gebiete gehörten als politische Programm-formeln eher zur politischen Kultur der Bundesrepublik. als daß damit unmittelbare Handlungsziele westdeutscher Regierungspolitik umschrieben wurden. Besonders für die Sudetendeutschen war eine Rückkehr in ihre Herkunftsgebiete nur bei einer Änderung der weltpolitischen Ordnung vorstellbar. Eugen Lemberg, der wohl im akademisch-politischen Bereich einflußreichste Anwalt sudetendeutscher und allgemeiner Vertriebeneninteressen, hat diesen Wirkungszusammenhang 1959 einmal so formuliert Die Austreibung der Deutschen habe den Polen und Tschechen ein Höchstmaß an „völkischer Expansion“ verschaffen sollen, sie einem rigorosen totalitären System ausgeliefert und ihr Ansehen in der westlichen Welt schwer getroffen. „Dagegen haben die Vertreibung und die entschlossenen Ansätze zur Lösung des Vertriebenenproblems in Deutschland indirekt dazu beigetragen, die moralische Stellung der Deutschen in der Welt von neuem zu begründen“ — eine Meinung, der einmal prüfend nachzugehen sich lohnen würde.
II. Politische Hilfe zur wirtschaftlichen Eingliederung: „Lastenausgleich“
„Entschlossene Ansätze zur Lösung des Vertriebenenproblems" — hat es sie wirklich gegeben? Wer war wozu entschlossen? Das Stichwort, das in diesem Zusammenhang fallen muß, heißt: „Lastenausgleich“. Der Begriff kam bald nach dem Kriege auf und meinte ursprünglich die möglichst gerechte Verteilung der Leistungen, die die Deutschen erbringen mußten, um die von ihnen angerichteten Schäden gegenüber dem Ausland wiedergutzumachen und die bei ihnen selbst entstandenen Schäden auszubessern. Sozialisten verknüpften damit die Vorstellung einer allgemeinen Umverteilung des volkswirtschaftlichen Vermögens im Sinne ihres Ziels der sozialökonomischen Transformation der deutschen Gesellschaft. Vor allem die allseits (des Geldüberhangs wegen) für unumgänglich angesehene Währungsreform war als ein Mittel dieser Transformation betrachtet worden.
Bekanntermaßen begünstigte der 1948 dann durchgeführte Währungsschnitt jedoch vor allem die Sachwertbesitzer; die Lage der Flüchtlinge änderte sich unmittelbar kaum. Es dauerte noch über drei Jahre, bis im Lastenausgleichsgesetz der Bundesrepublik Regelungen gefunden wurden, die die Vertriebenen formal in den Kreis der Sachwertbesitzer einbezogen, soweit sie ihr Eigentum vor ihrer Westwanderung glaubhaft machen konnten. Bis dahin behalf man sich mit Soforthilfe-Maßnahmen zur Linderung der größten Not. Es ist hier nicht der Platz, die komplizierten Regelungen des Lastenausgleichsgesetzes von 1952 und seiner zahlreichen Änderungen zu referieren. Eingeleitet wurden komplizierte Verfahren der Schadensfeststellung und der Mittelaufbringung, die weder alle Vertriebenen in ihren früheren Vermögensstand versetzten, noch denjenigen Deutschen, die vermögend geblieben waren, nachhaltig spürbare Solidarleistungen abverlangten. Nichtsdestoweniger wurden lange vor Abschluß der Schadensfeststellungen aus dem als Sondervermögen gebildeten Lastenausgleichsfonds Unterstützungen gewährt, die einzelnen Vertriebenenfamilien die wirtschaftliche Eingliederung erleichterten. Zu diesen Beihilfen gehörten z. B. Entschädigungen für verlorenen Hausrat. Zuschüsse zu den Baukostenanteilen bei Neubauwohnungen, die Mieter damals oft übernehmen mußten; dazu gehörten auch Startkredite für Vertriebene, die sich wieder einen eigenen Wirtschaftsbetrieb aufbauen wollten, und nicht zuletzt Ausbildungsbeihilfen und Renten.
Die Entstehung der Lastenausgleichsgesetzgebung ist inzwischen geschichtswissenschaftlich breiter untersucht Auf die Analyse der Durchführung der Regelungen und ihrer Wirkungen wird man wohl noch einige Zeit warten müssen, weil dazu private Massendaten ausgewertet werden müssen, die seit kurzem besonderem Schutz unterliegen. So bleibt hier nur zu berichten, daß insgesamt bis Ende der siebziger Jahre über 110 Mrd. DM an Lastenausgleichsmitteln verteilt wurden, daß aber die bereits in den fünfziger Jahren erhobenen Klagen über die Unzulänglichkeit und schleppende Abwicklung des Verfahrens auch später nicht abrissen.
Ein erster kritisch vergleichender Rückblick auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen den Flüchtlings-und Einheimischen-Familien bis 1971 hebt vermutlich mit Recht hervor, daß von einer schnellen Integration im Sinne einer Angleichung der Lebensbedingungen beider Gruppen nur bedingt gesprochen werden kann Prognosen von Helmut Schelsky zu Beginn der fünfziger Jahre, die das Bild einer künftig gleichermaßen von Flüchtlingen und Einheimischen gebildeten „nivellierten Mittelstandgesellschaft“ — unter den Flüchtlingen war der Anteil der gegenüber der Vorkriegszeit Deklassierten, d. h.der sozial Abgestiegenen, mehr als doppelt so hoch wie bei den Einheimischen — haben sich jedenfalls kurzfristig nicht bewahrheitet Langzeituntersuchungen, die die Flüchtlingsgeschichten über mehrere Generationen hinweg verfolgen, also über 1970 hinausgreifen, sind noch nicht angestellt worden.
III. Aspekte gesellschaftlicher Eingliederung
Entsprechende Förschungen können auf eine Vielzahl zeitgenössischer Studien zurückgreifen, die Mitte der fünfziger bis Mitte der sechziger Jahre entstanden. Hervorgehoben seien hier besonders die einschlägigen Schriften des Vereins für Sozialpolitik, die in ihrer seit den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts bewährten Tradition der Enqueten über einzelne Schichten und Gruppen der Bevölkerung das Problem der Flüchtlingsintegration auf-griffen Vor allem in statistischer Hinsicht läßt sich aus diesen damaligen Gegenwartserkundungen eine recht dichte Bildfolge von den unterschiedlichen Situationen rekonstruieren, die durch die zweite Welle der Flüchtlingswanderung im Zuge des Wiederaufbaus der traditionellen Wirtschaftsregionen und auch des Aufbaus neuer Industriezentren entstanden.
Die Ankurbelung des Wohnungsbaus nach der Währungsreform war dafür die entscheidende Voraussetzung. Sie sorgte dafür, daß die Anfangsprobleme der Aufnahme der Flüchtlinge, mit denen die Einheimischen ja den knappen Wohnraum und die spärliche Nahrung teilen mußten, sich jetzt entschärften. Die Lager, in denen Flüchtlinge bisher z. T. gelebt hatten, schwanden mehr und mehr. Überdies zogen die Flüchtlinge jetzt vor allem in Städte, wo die dort üblichere Anonymität und Mobilität das Zusammenleben einander fremder Gruppen erleichterten.
Fragen, die jetzt aufkamen, richteten sich vor allem darauf, ob die Flüchtlinge in geschlossenen Siedlungen untergebracht werden sollten und ob man dabei die landsmannschaftliche Gliederung (Schlesier, Pommern usw.) berücksichtigen sollte, oder ob die Mischung mit Beziehern neuer Siedlungen aus Westdeutschland zweckmäßiger sei. sind nicht einhellig entschieden worden In stark zerstörten Großstädten mit vielen Evakuierten wie z. B. Hamburg, das sich erst 1949 dem unkontrollierten Zuzug öffnete, wurde offenbar das Mischungskonzept bevorzugt; in Klein-und Mittelstädten, besonders wenn sie den Krieg unversehrt überstanden hatten, ergab sich die Konzentration von Flüchtlingen in Neubauanlagen von selbst. Besonders in Reihenhaus-Siedlungen und in Siedlungs-Kolonien, in denen landwirtschaftlicher Nebenerwerb betrieben werden sollte, fanden sich viele Flüchtlinge, die ja überwiegend aus ländlichem oder kleinstädtischem Milieu stammten. Straßennamen wie „Ostpreußen-weg“ zeugen noch heute in zahlreichen Vorstädten von dieser Form der Eingliederung. Die Gründung neuer Dörfer oder Städte allein für Flüchtlinge war selten; Ennepetal-Milspe in Nordrhein-Westfalen ist eine solche Flüchtlingsstadt, Neu-Gablonz beim bayrischen Kaufbeuren ein Beispiel für eine Flüchtlingsdorf-Gründung. Neu-Gablonz mit seiner aus der Tschechoslowakei mitgebrachten Glasherstellung und -Schleiferei ist auch eines der wenigen Beispiele für die erfolgreiche Niederlassung von sogenannten „Flüchtlingsindustrien“, auf die unmittelbar nach dem Krieg sowohl Flüchtlinge selbst als auch die Aufnahmegemeinden zuweilen große Hoffnung setzten, die aber angesichts der Stagnation der westdeutschen Wirtschaft bis 1948 kaum an Boden gewannen Unverkennbar ist jedoch, daß bald nach Beginn der fünfziger Jahre die Flüchtlinge nicht länger nur als Belastung, sondern auch als Gewinn für die westdeutsche Volkswirtschaft angesehen wurden, wenn eine eindeutige Bilanz auch nicht gezogen werden kann Dazu bedürfte es nicht zuletzt einer branchenspezifischen Wirtschaftsgeschichte besonders im Blick auf die Konsumgüterindustrie und das Baugewerbe, die bisher aussteht.
Aber schon häufige zeitgenössische Beobachtungen deuten darauf hin, daß die These vom Gewinn für die westdeutsche Volkswirtschaft wohl nicht ganz unberechtigt ist. Da ist zum einen der sprichwörtliche Fleiß, der den Vertriebenen nachgesagt und mit unterschiedlichen Motiven erklärt wurde: dem Streben nach einem Status, den die Flüchtlinge vor ihrer Zuwanderung gehabt hatten; auch berufsspezifische Traditionen besonders bei gewerblichen Arbeitnehmern, die in ländliche Gebiete kamen usf. Hinzu kommt die geringe Konfliktbereitschaft dieser Arbeitnehmer im Vergleich zu den westdeutschen mindestens in der Industrie, bei denen in stärkerem Maße gewerkschaftliche Traditionen vorhanden waren, auf die zurückgegriffen wurde. Die Vertriebenen waren jedenfalls besonders in für sie neuen Berufen als „Angelernte“ allgemein geschätzt. Die beobachtete Tendenz zur Besserung der materiellen Situation auch unter Opfern und zum individuellen (Wieder-) Aufstieg ver-band sich zudem mit einer überdurchschnittlichen Förderung der Ausbildung der Kinder, über deren Ergebnisse allerdings erst Vermutungen vorliegen
Mit der Bildungsorientierung ist zugleich das soziokulturelle Verhalten der Vertriebenen angesprochen, das weder damals zureichend erfaßt wurde noch bis heute angemessen gedeutet ist. Zwar gibt es zahlreiche zeitgenössische Darstellungen über die Vertriebenen-Kultur im engeren Sinne, d. h. über Vereinigungen zur Pflege der landsmannschaftlich gebundenen kulturellen Bräuche, der heimatbezogenen Literatur und des entsprechenden Theaters, Tanzes und Liedgutes; auch die künstlerische Produktion der Flüchtlinge selbst wurde dokumentiert Doch haben sie nicht prägend auf die westdeutsche Kultur eingewirkt, die ohnehin ab etwa Mitte der fünfziger Jahre eine durchgreifende Modernisierung und Internationalisierung durchlief, während der die gruppenspezifische Kulturpflege gewissermaßen umgeschichtet wurde
Von dieser heimatbezogenen Kulturpflege abzusetzen sind einzelne Künstler und Künstlergruppen, denen der Durchbruch in die Spitzengruppen westdeutscher Künstler gelang. Neben heute bekannten Schriftstellern wie Günter Grass und Siegfried Lenz, die das Thema der „alten Heimat“ in neuer Weise aufbereiteten, sind hier nicht zuletzt die Bamberger Symphoniker zu nennen, die — ohne im Namen daran zu erinnern — die Tradition der Deutschen Prager Philharmoniker fortsetzten, und zwar unter deren letztem Leiter Josef Keilberth. Sie eröffneten schon 1949 ihre glanzvolle Laufbahn mit einem Konzert, das sie bei Kriegsende 1945 vorbereitet. aber nicht mehr aufgeführt hatten, und begründeten so die Pflege speziell böhmischer Musik in Westdeutschland, die besonders auch tschechische Komponisten wie Smetana und Dvorak einschloß Vor allem im kleinstädtischen und ländlichen Raum eroberten sich „Egerländer“ Blaskapellen einen ähnlichen Rang. Wieweit spezielles religiöses Brauchtum, dessen Verpflanzung oder Neuschöpfung in die „neue Heimat“ anfangs durch-aus beobachtet wurde — bestimmte Wallfahrten z. B. — sich erhalten haben, ist nicht bekannt. Der allgemeine Rückgang aktiver kirchlicher Gebundenheit war bei den Vertriebenen offensichtlich stärker als bei den Westdeutschen Nichtsdestoweniger ist die Rolle der Kirchen bei der Eingliederung der Flüchtlinge in Westdeutschland kaum zu überschätzen. Genauer erkundet ist allerdings erst die institutionelle Seite des kirchlichen Wirkens, in Ansätzen auch die auf politische Entscheidungen bezogene Fest steht auch die Verstärkung der Tendenz zur konfessionellen Mischung der Bevölkerung durch die Flüchtlingsansiedlungen. In nicht wenigen rein protestantischen Dörfern wurde oft nach dem Krieg eine zweite, eine katholische Kirche gebaut, und in katholischen Gegenden wurden protestantische Kirchen eingerichtet Von großem Interesse wäre auch eine Darstellung der Integrationsleistung der in Deutschland zahlenmäßig nicht sonderlich starken Freikirchen; eine zeitnahe Sozialgeschichte der Kirchen generell ist ein großes Forschungsdesiderat.
Am schwierigsten wird es sein, die Eingliederung auf dem Felde der Alltagskultur nachzuzeichnen. Erste Erkundungen z. B. zu den Veränderungen der Nahrungsgewohnheiten deuten darauf hin, daß nicht nur eine Zahl landsmannschaftlich gebundener Gerichte aufgegeben wurde, sondern auch der Rhythmus einzelner Mahlzeiten Diese Erkundungen dürften aber erst dann zu genauen Erkenntnissen über das Maß der Anpassung führen, wenn die gleichzeitigen Änderungen in Nahrungsgewohnheiten und Mahlzeitenfolgen auch der einheimischen Westdeutschen ermittelt sind. Der Rückgang der Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten, die Verlängerung der Arbeitswege mit der Zunahme der „Berufspendler“, die Änderung der Arbeitszeiten im Zuge des Trends zum Großbetrieb und schließlich der Anstieg der Berufstätigkeit auch der Ehefrauen und Mütter (seit etwa 1960) — all dies hat den Alltag fast der gesamten Bevölkerung gerade in jenen Jahren erheblich verändert, in denen die hier angesprochenen Forschungen entstanden
IV. Die sechziger Jahre: Vertriebenenpolitik — Forschung
In den sechziger Jahren trat in der westdeutschen Flüchtlingsforschung eine Ruhepause ein. Inzwischen war der „Heimat" -Begriff ersten ideologie-kritischen Reflexionen unterzogen worden überdies begann sich ein Generationswechsel bei den Forschern abzuzeichnen. Es erwies sich, daß es den ostdeutschen Wissenschaftlern nur bedingt gelungen war, ihre Zielsetzungen und Fragestellungen in wissenschaftlich-politischen Traditionen zu verankern. Zwar erhielten die sie z. T. leitenden Studien von vor 1945 nur zum Teil „Klassiker" -Charakter doch das damals aktuelle sozialwissenschaftliche Forschungsinteresse, das sich u. a. mit den Tendenzen zur Entspannungs-und „Neuen Ostpolitik“ verband, richtete sich eher auf die Vertriebenen selbst als auf die von ihren Vertretern empfohlenen Forschungsgegenstände. Erste Studien über den BHE entstanden und auch den Funktionen der Vertriebenenverbände und -Politikern in der bundesrepublikanischen Politik wurde zunehmend kritische Aufmerksamkeit zuteil Die umfangreichsten Untersuchungen zu dieser Fragestellung entstanden in den Niederlanden und in den USA (Hiddo M. Jolies und Hans W. Schoenberg doch gelang es auch einem westdeutschen Soziologen in einem Maße das Vertrauen von Vertriebenenverbänden und damit Einblick in die Binnenkommunikation zu erhalten, wie es seither kaum wieder gelungen ist Immerhin konnte durch die Studie von Manfred Wambach zur politischen und Verbandssoziologie der Vertriebenen der Rahmen für eine politikwissenschaftlichzeitgeschichtliche Analyse der Vertriebenenpolitik abgesteckt werden, den zu füllen heutigen Forschern in Ansätzen möglich ist. Wie schwierig lange Zeit der Zugang zu Vertriebenenverbänden war, läßt sich an einer 1978 veröffentlichten Dissertation ablesen, deren Verfasser sich nur mit „Wallraff-Methoden“ Zugang zu einschlägigem Material über die innerverbandliche Willensbildung in Fragen des „Ostkunde“ -Unterrichts verschaffen konnte
So hat die systematische Erkundung der Rolle der Vertriebenen in der bundesrepublikanischen Politik auch in der Geschichtsforschung noch kaum begonnen. Fest steht allein der nicht mehr bestrittene Rückgang des Einflusses der Vertriebenenverbände und die hohe Zahl von Vertriebenen unter den Berufspolitikern besonders in der SPD Am Beispiel des zunächst der Deutschen Partei, dann der CDU angehörigen langjährigen Bundesministers für Verkehr Hans-Christoph Seebohm, der lange Jahre durch seine „Sonntagsreden“ bei Vertriebenen-Verbandstreffen Aufsehen erregte — er selbst war Sudetendeutscher —, ließe sich die Rolle eines westdeutschen Vertriebenenpolitikers in ihrer alltäglichen Wahrnehmung gut nachzeichnen, symbolisierte das von Seebohm geleitete Ressort doch besonders nachhaltig den wirtschaftlichen Aufstieg Westdeutschlands im westlichen Verbund, während er besonders in Osteuropa als Spitzenrepräsentant des (west) deutschen „Revanchismus“ galt und entsprechende Reaktionen hervorrief.
V. Zeitgeschichtliche Eingliederungsforschung
Die neuere zeitgeschichtliche Forschung wandte sich bisher vor allem den Ausgangsinteressen der Flüchtlingsforschung nach 1945 zu. Eine der (wieder) aufgenommenen Leitfragen war, warum die nach dem Krieg erwartete oder befürchtete Radikalisierung der Flüchtlinge ausgeblieben sei Das am breitesten in einer Lokalstudie (über Kiel) untersuchte Problem konnte zwar nicht abschließend geklärt werden, die dabei zutage geförderten Informationen über die Flüchtlingsverwaltung und die Verhältnisse, unter denen die Flüchtlinge zunächst lebten, lassen zusammen mit anderen Lokal-und Regionaldarstellungen jedoch allmählich ein facettenreicheres, konkreteres Bild von der Ankunft, der (oft abweisenden) Aufnahme, der Hilfe und Selbsthilfe entstehen, als es zeitgenössisch gezeichnet wurde.
Besonders über Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Bayern sind entsprechende Kenntnisse in den letzten zehn Jahren erheblich verbreitert worden. Erinnerungsfreudige Beamte, deren Karrieren sich mit der Flüchtlings-eingliederungverknüpften, haben geholfen, hier tiefere Fundamente zu legen Besonders für Bayern, wo auf die Betonung des Rechtsstandpunktes, daß Deutschland in den Grenzen von 1937 fortbestehe, viel Wert gelegt wird, wurde herausgestellt, daß sich die bayerische Politik von vornherein darauf einstellte, die hier vor allem einströmenden Sudetendeutschen auf Dauer aufzunehmen. Sie wurden den Franken, Schwaben und Bayern als „vierter Stamm“ des bayerischen Staatsvolkes gewissermaßen ans Herz gelegt. Solche Quellen erinnern daran, daß sich nicht nur Vertriebenenpolitiker, sondern auch die Eingliederungsinstanzen an politisch-kulturellen Mustern orientierten, die man im industriegesellschaftlichen Deutschland nicht vorschnell als anachronistisch abtun sollte. Allerdings haben Bemühungen einer an ethnologischen Akkulturationstheorien orientierten Volkskunde bisher m. E. in der deutschen Flüchtlingsforschung keine spektakulären Ergebnisse hervorgebracht
Weiterführender scheinen dagegen Hinweise auf besondere Erfahrungen der Flüchtlingsbetreuung, die in Deutschland vorhanden waren, als der Krieg zu Ende war Denn der Flüchtlingsstrom aus dem Osten setzte ja schon Anfang 1945 ein, und in den Jahren zuvor waren die Evakuierungen der Bevölkerung aus den zerbombten Städten zu organisieren. Das Personal, das Betreuungsaufgaben wahrnahm, war vor allem auf unterer Ebene vor und nach Kriegsende größtenteils dasselbe; es war an sozialpolitische und „sozialhygienische“ Normen des „Dritten Reiches“ gewöhnt. Hier zeichnet sich eine mögliche Diskussion über die Fortgeltung solcher Normen auch bei der Flüchtlingsaufnahme ab. In einer solchen Diskussion lassen sich auch neue Perspektiven zur Verknüpfung der Flüchtlingsgeschichte zu der anderer Fremdgruppen in der (west-) deutschen Gesellschaft gewinnen, die bisher vor allem durch die Gemeinsamkeit der Wanderung hergestellt wurde: zur Geschichte der Fremdarbeiter der Displaced Persons (DPs), der Gastarbeiter und neuerdings der Aussiedler
Neuigkeitswert haben die zeitgeschichtlichen Forschungen wohl vor allem für die nachgewachsenen Generationen, für die das Thema Flucht und Vertreibung lange Jahre unbesetzt oder negativ besetzt war, weil sie die Vertriebenenpolitik und die dabei immer wieder mobilisierten Erinnerungen als Hemmschuhe der gerade von ihnen breit unterstützten „neuen Ost-und Entspannungspolitik“ aufgefaßt hatten Diese Generationen entdekken die Flüchtlingsgeschichte im Zuge eines neu aufkommenden Geschichtsinteresses, bei dem Herkunft und Identität („roots“) offenbar mit im Spiel sind, das aber keine politisch-programmatische Wirkung entfaltet, wie sie mit der „Ostkunde“ beabsichtigt war. Eher lassen sich Gemeinsamkeiten zu kulturpflegerischen Vorstellungen eines Günter Grass Ende der sechzigerJahre aufweisen. Bezeichnend für dieses Interesse scheint der sozial-und lebensgeschichtliche Zugriff, der nicht allein auf die Flucht-und Vertreibungsvorgänge konzentriert ist Zwar wurde in den vergangenen Jahren nicht selten — besonders im Anschluß an die Publikationen von Alfred de Zayas, der sich seit Ende der siebziger Jahre als US-Bürger dieses Themas intensiv annahm — auch daran erinnert, doch die politischen Wirkungen solcher Mobilisierung scheinen mir sehr begrenzt. Selbst autobiographische Aufzeichnungen ehedem „verschleppter“ junger Frauen sind versöhnlich gehalten
Solche Berichte lassen erkennen, wie Menschen den Druck des Leidens abgebaut haben, der ihnen durch Flucht und Vertreibung entstand Die Erforschung dieses ermutigenden Abbaus des Leidensdrucks in seinen vielfältigen Ausprägungen und Begleiterscheinungen hat kaum schon begonnen. Es könnte eine bisher ungenutzte Perspektive für die Darstellung der deutschen Gesellschaftsgeschichte nach 1945 sein, die bis in die Gegenwart trägt. Konkrete Handlungsanweisungen aus der Vergangenheitsanalyse für die Bewältigung der Zukunft zu ziehen, wie gelegentlich im Blick auf die aktuelle Zuwandererintegration in der Bundesrepublik gefordert wird, ist wohl angesichts der Unterschiede zwischen der Situation eines kriegszerstörten Landes mit einer politisch noch weithin des-orientierten Bevölkerung nach 1945 und einer mit Wohlstandsfolgeproblemen beschäftigten Gesellschaft heute kaum angemessen. Aber sensibel oder sensibler zu werden für die Verhaltensmuster, die den mitmenschlichen Umgang in dieser Gesellschaft geprägt haben und noch mitprägen — dazu könnte eine solche Forschung wohl beitragen. Erste theoretische Konzepte liegen seit Jahren vor