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SPD und Katholizismus in den fünfziger und sechziger Jahren | APuZ 49/1989 | bpb.de

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APuZ 49/1989 Artikel 1 Zur sozialen und politischen Rolle der katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland Professionalisierung als Risiko Zum Berufsethos des Religionslehrers Professionalisierung als Risiko Zum Berufsethos des Religionslehrers SPD und Katholizismus in den fünfziger und sechziger Jahren

SPD und Katholizismus in den fünfziger und sechziger Jahren

Thomas Brehm

/ 41 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Das Verhältnis zwischen SPD und Katholizismus war über Jahrzehnte hinweg von weltanschaulich begründeter Gegnerschaft, ja Feindschaft bestimmt, die durch ein ausgeprägtes Milieubewußtsein auf beiden Seiten gestützt wurde. Angesichts des Desasters, welches NS-Diktatur und Krieg hinterlassen hatten, schien 1945 vielen diese Frontstellung als ein Relikt der Vergangenheit, das für den Neuaufbau Deutschlands keine Rolle mehr spielen dürfe. Je mehr sich jedoch die Tendenzen durchsetzten, die — orientiert an den Traditionen der Zeit vor 1933 — einen Wiederaufbau forcierten, je stärker die Polarisierungen des sich entfaltenden Kalten Krieges auch die deutsche Innenpolitik bestimmten, desto mehr mußten auch zwischen SPD und Katholizismus die alten Gegensätze wieder aufbrechen. Im Zuge eines allgemeinen politischen und gesellschaftlichen Wandels Ende der fünfziger Jahre änderte sich die Lage, begannen Jahre einer Annäherung. In der von Anfang an auf Pluralismus gegründeten Bundesrepublik war es dem Katholizismus nicht gelungen, im festen Bündnis mit der Union die beabsichtigte Rechristianisierung der Gesellschaft zu erreichen. Dies führte zu einem „katholischen Unbehagen an der Union“, welches fast automatisch eine gewisse Annäherung an die Sozialdemokraten mit sich brachte. Die SPD erleichterte diesen Prozeß durch ihren fundamentalen Wandel, für den das Godesberger Programm (1959) sowie die Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. Juni 1960 stehen. Durch eine Anpassung an die bestehenden Verhältnisse in der Bundesrepublik hoffte sie, nicht länger von der Macht im Bund ausgeschlossen zu sein. Eine ähnliche Anpassung, wenn auch auf anderer Ebene, unternahm die katholische Kirche unter Führung von Johannes XXIII. Mit den Erklärungen vor allem des Zweiten Vatikanischen Konzils wollte sie sich in die bestehende pluralistische Gesellschaft integrieren und somit den Einfluß zurückgewinnen, der ihr in den Wohlstandsgesellschaften des Westens verlorengegangen war. Dialog und Annäherung zwischen Katholizismus und Sozialdemokratie wurden vor allem durch zwei Tatsachen begünstigt: Zum einen wurde der Kalte Krieg zunehmend von Entspannungsbemühungen abgelöst, wodurch sich allgemein Polarisierungen abzubauen begannen; zum anderen wurden demokratischer Sozialismus und Katholizismus im wachsenden Maß in die pluralistische Gesellschaft integriert.

I.

In einer Zeit, in der sich die SPD anschickt, mit einem neuen Grundsatzprogramm ihren Kurs für das Jahr 2000 festzulegen, in einer Zeit, in der im deutschen Katholizismus die Auseinandersetzungen zwischen neokonservativen Kräften und denen, die die Orientierungen des Zweiten Vatikanischen Konzils fortentwickeln möchten, immer heftiger werden, mag es angebracht sein, jene Jahre näher zu betrachten, in denen sich demokratischer Sozialismus und Katholizismus aus einer geschichtlich überkommenen Freund-Feind-Position zu lösen begannen und ihren Ort im politischen und gesellschaftlichen System der Bundesrepublik neu bestimmten. Das Verhältnis zwischen Sozialismus und Katholizismus zählt ohnehin zu den spannendsten Kapiteln der neueren deutschen Geschichte, wird in ihm doch vieles von dem sichtbar, was für die politische Kultur Deutschlands prägend war und ist. Als „Reichsfeinde“ im Bismarck-Deutschland verfemt, entwickelten Sozialdemokraten und gesellschaftspolitisch engagierte Katholiken eigenständige Konzeptionen von einer besseren Welt, die sie den Realitäten der sich entwickelnden Industriegesellschaft entgegenstellten. Beide einer angeblichen nationalen Unzuverlässigkeit wegen beargwöhnt, eines klerikalen Ultramontanismus bzw. eines umstürzlerischen Internationalismus beschuldigt, blieben sie doch die einzigen nationalen Bewegungen von Bestand. Oftmals wegen ihrer ausgeprägten Milieugebundenheit einer spießigen Engstirnigkeit geziehen, vermochten Katholizismus und Sozialismus dem nationalsozialistischen Gedankengut gegenüber eine stärkere Resistenz als andere zu behaupten, wenngleich auch sie keineswegs eine völlige Immunität bewahren konnten. Aufgrund ihrer geistigen Traditionen schließlich — hier die Erbin der bürgerlichen Aufklärung, deren Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sie für alle Schichten verwirklicht sehen wollte, dort die Erben der Gegenrevolution, die eine natürliche, von Gott gegebene Ordnung gegen Autonomiebestrebungen des Menschen verteidigten — verhielten sie sich über ein halbes Jahrhundert lang, einer Formulierung August Bebels folgend, zueinander wie Feuer und Wasser.

Wenn sich in den fünfziger und sechziger Jahren das Verhältnis zwischen diesen beiden gesellschaftlichen Kräften, die in ihrem politischen Charakter so viel verband, wie sie in ihren weltanschaulichen Fundamenten trennte, zu wandeln begann, mußte dies das bundesrepublikanische Binnenklima in einem starken Maße beeinflussen. Dieser Wandel ist gleichzeitig selbst Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen.

Das Forschungsinteresse konzentrierte sich bisher vorrangig auf die Darstellung des bewußten programmatischen und politischen Aufeinanderzugehens beider Seiten, als deren Ergebnis die zunehmenden Wahlerfolge der SPD bei Katholiken erklärt werden konnten -Dabei unterstellte man einen gewissen Automatismus zwischen einer kirchenfreundlichen Politik der SPD, dem — in Reaktion — abnehmenden katholischen Engagement für die Union und den Wahlerfolgen der Sozialdemokratie. Spätestens Gerhard Schmidtchens umfangreiche, sich auf die Auswertung einer Unzahl empirischer Daten stützende Analyse konfessioneller Kultur hat gezeigt, daß diese Theorie entschieden zu kurz greift, und gerade das Verhältnis zwischen Konfessionszugehörigkeit und Parteipräferenz wesentlich differenzierter gesehen werden muß.

II.

„So viel Anfang war nie“ — dieser Titel einer Ausstellung über die Jahre 1945 bis 1949, ein in mancherlei Hinsicht beachtenswerter Beitrag zum vierzigjährigen Jubiläum der Bundesrepublik, verweist auf das Klima jener „Stunde Null“, die, sowenig sie historische Realität sein konnte, so sehr dem vorherrschenden Gefühl in Deutschland entsprach. Das materielle und geistige Desaster, welches der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, schien 1945 einen radikalen Neubeginn nicht nur zuzulassen, sondern ihn geradezu zu erzwingen. „Nie wieder!“ war die einhellige Meinung gegenüber der Vergangenheit, „Gründe finden! Festen Boden suchen! Neu beginnen!“ lauteten die Forderungen an die Gegenwart

Festen Boden suchte und fand man vor allem in einer Hinwendung zum christlichen Glauben und zu sozialistischen Gesellschaftsvorstellungen. Eine Wiederholung der schrecklichen Vergangenheit schien damit am ehesten gebannt werden zu können, waren doch das sozialistische wie auch das katholische Milieu noch am wenigsten dem nationalsozialistischen Kollektivrausch erlegen. Die Selbstverständlichkeit, mit der man nach 1945 christliche Wertorientierungen und sozialistische Gesellschaftsgestaltung als Fundament des Neubeginns ansah, förderte in einigen katholischen Kreisen sogar Überlegungen, beides in einer Art deutscher Labour Party als politische Kraft der Zukunft miteinander zu verbinden

Schon bald jedoch wich die allgemeine Aufbruchstimmung einem „restaurativen Geist“, den Walter Dirks bereits 1950 in einer kritischen Betrachtung der Nachkriegszeit als das neue Grundgefühl ausmachte Die revolutionäre Umgestaltung war ausgeblieben, war verhindert worden durch die auf Ruhe und Ordnung bedachten Besatzungsmächte und eine kollektive Mutlosigkeit gegenüber neuen Wagnissen. Nicht neues Denken beherrschte die Szene, sondern der Rückgriff auf Organisationsformen, Denkmuster und Traditionen vor allem in der Zeit vor 1933. Für Walter Dirks wurde dabei das wichtigste Signal von der Linken, von SPD und KPD gegeben, die sich unverwandelt aus den Kellern erhoben um ihren Führungsanspruch auf die Gestaltung Deutschlands anzumelden.

Die Sozialdemokratie sah sich darin durch ihren Widerstand gegen die NS-Diktatur in der Vergangenheit und gegen die Forderungen der Kommunisten in der Gegenwart legitimiert. Ihr gesellschaftspolitisches Konzept setzte auf eine radikale Demokratisierung, die durch eine sozialistische Wirtschaftsform abgesichert werden sollte. Damit zog die SPD ihre Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik, denn daß der freiheitlichen politischen Verfassung seinerzeit keine ebensolche freiheitliche Verfassung der Gesellschaft entsprochen hatte, war der ersten deutschen Demokratie letztendlich zum Verhängnis geworden. Vor diesem Hintergrund lehnte man hach 1945 alle nicht demokratisch legitimierten Forderungen gesellschaftlicher Gruppen zuallererst als eine Bedrohung der angestrebten umfassenden Demokratie ab. Auf die Kirchen bezogen hieß das, Anerkennung ihres religiösen Auftrags bei entschlossener Zurückweisung aller daraus abgeleiteten Ansprüche auf die Gestaltung des politischen Lebens.

Im Katholizismus folgte die Ursachenerforschung des Nationalsozialismus anderen Denkmustern. Nicht die freiheitliche und demokratische Verfassung einer Gesellschaft stand dabei im Mittelpunkt der Überlegungen, sondern die den Menschen von Gott anempfohlene natürliche Ordnung der Welt. So sah man im Nationalsozialismus in erster Linie die Traditionen, die sich seit der Aufklärung und der Französischen Revolution kontinuierlich aus dem Wert-und Ordnungsgefüge des christlichen Glaubens wegbewegten, an einem grausamen aber in gewisser Weise logischen Endpunkt angelangt. Die Schlußfolgerungen, die daraus zu ziehen waren, konnten sich nicht bloß in einer Rückbesinnung auf christliche Werte für den privaten Bereich beschränken. Als „Lebensprinzip der menschlichen Gemeinschaft“ wollte die Kirche dem Übel an der Wurzel begegnen und schrieb die Rechristianisierung der Gesellschaft auf ihre Fahnen.

Damit waren die Positionen bezogen, die fast zwangsläufig zur Konfrontation führen mußten und vor allem einen erbitterten Streit um die Konfessionsschule zur Folge hatten. Von der Kirche als das wichtigste Element angesehen, mit dem eine christliche Orientierung der Gesellschaft gesichert wer-den konnte, war die konfessionell geschlossene Erziehung für Sozialdemokraten ein Hort der Intoleranz und geistigen Unfreiheit.

Die Konfrontationen entwickelten sich aber nicht nur aufgrund alter Denktraditionen und unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Intentionen, sie waren ebenso ein Ergebnis der außenpolitischen Konstellationen des sich entfaltenden Kalten Krieges. Die entschiedene Haltung Papst Pius’ XII., der sich verhielt, „als ob die Vereinigten Staaten mehr und mehr die Funktion des mittelalterlichen Kaiser-reichs übernehmen sollten, . . , während der Papst die Rolle des Feldkuraten der westlichen Allianz spielte“ förderte jenes feste Bündnis zwischen katholisch-konservativen und neoliberalen Kräften, das die einzige Gewähr für einen erfolgreichen Widerstand gegen die kommunistische Bedrohung zu bieten schien — ein Bündnis, welches mit den Protagonisten Konrad Adenauer und Ludwig Erhard auch kennzeichnend für die Union der fünfziger und frühen sechziger Jahre wurde. Hieraus mußte sich fast automatisch die Gegnerschaft zu einer SPD ergeben, die marxistischem Denken in ihren Reihen nach wie vor Platz einräumte und darüber hinaus nicht bereit war, den Erfordernissen der westlichen Allianz ihre primär an der Wiedervereinigung Deutschlands orientierte außenpolitische Konzeption unterzuordnen. Angesichts eines scheinbar unausweichlichen Entscheidungszwangs zwischen Freiheit, Kapitalismus und christlichem Glauben auf der einen und Kollektivismus und Glaubensunterdrückung auf der anderen Seite, mußten allerdings die katholisch-sozialen Kräfte ins Hintertreffen geraten, die — den antikapitalistischen Intentionen der katholischen Soziallehre folgend — einen Sozialismus aus christlicher Verantwortung propagierten. Differenzierte Betrachtungsweisen dieser Art paßten schlecht in eine Zeit, in der in Freund-Feind-Schablonen gedacht wurde.

Die Bundestagswahlkämpfe der Jahre 1949 und 1953 markierten Höhepunkte in der Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokratie und politischem Katholizismus, die in ihrer polemischen Härte an längst vergangen geglaubte Zeiten erinnerten. Das Ringen um die innen-und vor allem außenpolitischen Grundsatzentscheidungen für die Bundesrepublik wurde zum Weltanschauungskampf stilisiert. Was dem Katholizismus bei seiner kaum kaschierten Parteinahme für die Union der Kampf gegen die Unfreiheit sozialistischer Staatsbevormundung war, war der SPD die Agitation gegen klerikale Machtansprüche. Oft genug vermittelten beide den Eindruck, als müsse der Antichrist auf der einen oder der Klerikalfaschist auf der anderen Seite endgültig niedergerungen werden. Selbst die seit den vierziger Jahren bestehenden Kontakte zwischen maßgeblichen SPD-Politikern und der katholischen Kirchen-und Verbandsführung, die über das Dominikanerkloster Walberberg bei Köln vermittelt wurden, konnten die Eskalation nicht verhindern.

Bei allem feindlichen Getöse dürfen aber die ersten, in die Zukunft weisenden Signale nicht übersehen werden. Unter dem Eindruck, daß die westlichen Demokratien der faschistischen und kommunistischen Gefahr am besten widerstanden hatten, war Pius XII. bereit, Demokratie für den staatlichen Bereich zu akzeptieren, wenngleich er ständische Ordnungsformen und die Existenz „wahrer Autorität“ für deren Funktionieren als unerläßlich erachtete. Auf der anderen Seite begann die SPD unter der Führung Kurt Schumachers bereits in den vierziger Jahren, sich von ihrer marxistischen Pro-grammatik zu lösen und einem weltanschaulichen Pluralismus anzunähern. Die humanistischen Ideale der Arbeiterbewegung, nicht deren dogmatisch fixierte Programmatik, sollten die gemeinsame Leitlinie bilden, gleichgültig welcher Weltanschauung sich der einzelne Sozialdemokrat verpflichtet fühlen mochte. Demokratie und Pluralismus, um diese beiden Punkte vor allem kreisten die Diskussionen zwischen Sozialdemokraten und Katholiken: Demokratie und Pluralismus sollten die Wegweiser in eine gemeinsame Zukunft werden.

III

1956 brachte die nordrhein-westfälische Kommunalwahl erste Bewegungen in die verhärteten Fronten. Völlig überraschend konnte die SPD für sie selbst unerwartete Gewinne in den katholischen Hochburgen der Union verbuchen. Eine vom Par-teivorstand in Auftrag gegebene demoskopische Untersuchung ergab überdies, daß der SPD praktisch nur noch von überzeugten, älteren Unionswählem eine kirchenfeindliche Haltung zugeschrieben wurde.

Für ihren Bundestagswahlkampf 1957 gab die Parteiführung daher das bislang gepflegte Desinteresse an kirchengebundenen Wählern auf und räumte dem Komplex „sozialdemokratische Politik aus christlicher Verantwortung“ im Rahmen ihres generellen Wahlkampfkonzepts einer „differenzierten Ansprache“ der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen breiten Raum ein. Neu geknüpfte Kontakte zu oppositionellen Gruppen im deutschen Katholizismus, wie etwa der Gruppe um die Münchener Zeitschrift „Werkhefte katholischer Laien“, unterstützten diese Bestrebungen. Darüber hinaus standen der SPD nach der Selbstauflösung der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) mit Gustav Heinemann und Helene Wessel, die vor ihrem Engagement in der GVP Vorsitzende der Zentrumspartei gewesen war, geeignete Persönlichkeiten zur Verfügung, die die Vereinbarkeit von Christentum und Sozialismus glaubhaft und publikumswirksam vertreten konnten. „Keine Wahlrede der SPD war vollständig, wenn sie nicht auf Heinemann und auf Helene Wessel Bezug nahm.“

Auch auf katholischer Seite begann sich das Erscheinungsbild zu wandeln. Der Wahlhirtenbrief der Bischöfe und die Stellungnahme des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) fielen parteipolitisch erheblich moderater aus als vier Jahre zuvor, was sicherlich auch in einer zunehmenden Konsolidierung der Bundesrepublik begründet war. Die innen-und außenpolitische Orientierung war nicht zuletzt durch die Integration in das westliche Verteidigungsbündnis inzwischen gefestigt und praktisch nicht mehr umkehrbar, gleichgültig welche Partei die Richtlinien der Politik bestimmte. Die Bundestagswahl 1957 war also weit weniger brisant als die vorherigen, und daher konnte man eine größere Zurückhaltung an den Tag legen. Zum anderen dürfte der Streit um die Gültigkeit des Reichskonkordats von 1933 die Meinungsbildung auf katholischer Seite entscheidend beeinflußt haben.

Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen stand der sogenannte Konkordatsprozeß vor dem Bundesverfassungsgericht zwischen der unionsgeführten Bundesregierung und dem von der SPD regierten Land Niedersachsen um dessen 1954 verabschiedetes Schulgesetz. Da dieses die Neueinrichtung von Konfessionsschulen erheblich erschwerte und deswegen von der katholischen Kirche scharf angegriffen wurde, wollte die Bundesregierung mit Hinweis auf eine fortdauernde Gültigkeit des Reichskonkordats die Aufhebung der niedersächsischen Regelungen erreichen. Anfang 1957 fällte das Bundesverfassungsgericht einen wahrhaft salomonischen Urteilsspruch, in dem zwar dem Reichskonkordat weiterhin Gültigkeit attestiert wurde, der Bundesregierung aber den Ländern gegenüber wegen deren verfassungsmäßiger Kulturhoheit Eingriffsmöglichkeiten versagt wurden.

Das feste Bündnis mit der Union bot der katholischen Kirche aufgrund der föderalen Struktur der Bundesrepublik offensichtlich keine Gewähr für die Durchsetzung ihrer schulpolitischen Forderungen. Dazu bedurfte es eines pragmatischen Verhältnisses zur SPD. So wurde der Parteiführung über die Kontakte in Walberberg signalisiert, „dass keine Wahlbeeinflussung zur nächsten Bundestagswahl stattfinden soll, doch muss klar sein, dass eine sozialdemokratische Regierung kein Bundeskultusministerium einrichten werde und die Schulfrage auch nicht in den anderen Ländern neu aufgerollt werden dürfte“ Der weltanschauliche Gegner von gestern wurde zum potentiellen Verhandlungspartner.

In den Beratungen des SPD-Vorstands ist jedoch die eigentliche Bedeutung des Walberberger Angebots nicht so recht realisiert worden. Statt die neue Qualität zu erkennen, mokierte man sich über das Angebot, denn eine Bundeskulturbehörde stand völlig außerhalb der eigenen Planungen. Einen Anlaß, die Ernsthaftigkeit und Lauterkeit des Angebots in Zweifel zu ziehen, bot allerdings die erste öffentliche Stellungnahme eines katholischen Bischofs zur bevorstehenden Wahl. Der Münsteraner Bischof Michael Keller betonte in einer vielbeachteten Predigt im Juni 1957, gemäß der nach wie vor gültigen päpstlichen Verurteilung des Sozialismus in „Quadragesimo anno“ könne der gläubige Katholik auch 1957 seine Stimme nicht der SPD geben. Damit wurde wieder der alte Weltanschauungskampfheraufbeschworen, zumal Konrad Adenauer nur kurze Zeit nach jener Predigt die Polarisierung konsequent auf die Spitze trieb, als er einen Wahlsieg der SPD mit dem Untergang Deutschlands gleichsetzte. Die besonnenen, auf einen Ausgleich in der Zukunft bedachten Kräfte versuchten eiligst gegenzusteuern. Der Leiter des katholischen Büros in Bonn, Prälat Wilhelm Böhler, bis zu seinem Tode 1958 einer der politisch führenden Köpfe im deutschen Nachkriegskatholizismus, distanzierte sich in einem Gespräch mit Willi Eichler von den Äußerungen Kellers, störten sie doch die pragmatische Linie seines Handelns Die SPD-Führung ihrerseits wirkte mäßigend auf die empörte Mitgliedschaft ein, damit nicht ein Rückfall in die alte militant-antiklerikale Tonlage das neu bekundete Interesse für christlich motiviertes politisches Handeln in der Öffentlichkeit unglaubwürdig machte. Der Wahlausgang, der Konrad Adenauer und seiner Union die absolute Mehrheit der Stimmen bescherte, schien dagegen nochmals jene zu bestätigen, die auf die mobilisierende Wirkung emotionaler Polarisierungen gesetzt hatten.

Führte der Wahlkampf zu vorsichtigen Annäherungen hinter den Kulissen, schuf das Wahlergebnis, so merkwürdig es klingen mag, die Voraussetzung, öffentlich miteinander ins Gespräch zu kommen. „Der überwältigende Wahlsieg der Union hat, so scheint es, (der katholischen Kirche) die Möglichkeit geschaffen, ohne den Vorwurf des Opportunismus die eigene Position zu überprüfen.“

Handelte sich die bayerische SPD noch 1956 reihenweise Absagen prominenter Katholiken ein, als sie zu einem Diskurs über das Problem von Glauben und Politik einlud, so veranstaltete die Katholische Akademie in München ihrerseits vom 10. bis Januar 1958 eine stark beachtete Tagung, aufder Vertreter von Kirche, Wissenschaft und Politik unter Einschluß führender Sozialdemokraten Grundsätzliches zum Verhältnis von Christentum und Sozialismus erörterten. Die Tagung erbrachte bemerkenswerte Übereinstimmungen zwischen sozialdemokratischen und katholischen Vorstellungen besonders in der Wirtschafts-und Sozialpolitik, während die unterschiedlichen Positionen naturgemäß besonders bei der Kultur-, genauer gesagt bei der Schulpolitik hervortraten. Trotz aller an den Tag gelegten Versöhnlichkeit blieben die fundamentalen Unterschiede in der jeweiligen Haltung gegenüber dem Pluralismus als der Gesellschaftsform, die der Demokratie entspricht; diese kristallisierten sich damit als das eigentlich Trennende zwischen beiden Seiten heraus. Hatte die dritte schwere Wahlniederlage auf Bundesebene in der SPD den Reformern, die die bestehende Gesellschaftsform prinzipiell anerkennen wollten, zum endgültigen Durchbruch verholfen, blieben die katholischen Referenten auf den alten Positionen. Von daher gesehen kann es nicht verwundern, wenn der Hauptreferent und enge Vertraute von Papst Pius XII., Gustav Gundlach, an der Ablehnung des Sozialismus als einer grundsätzlich laizistischen Bewegung festhielt, wie sie bereits in „Quadragesimo anno“ formuliert worden war.

Die Münchner Tagung und die ihr folgenden Gesprächsveranstaltungen zwischen Sozialdemokraten und verschiedenen katholischen Kreisen waren aber ohnehin weniger wegen der inhaltlichen Aus-einandersetzungen und einer damals noch weitgehend hypothetischen Annäherung zwischen katholischer und sozialdemokratischer Programmatik von Bedeutung. Die Brisanz lag vielmehr in der Zeit, in der sie stattfanden.

Der deutsche Katholizismus mußte Ende der fünfziger Jahre zur Kenntnis nehmen, daß die von ihm verfolgte Rechristianisierung der Gesellschaft als gescheitert angesehen werden mußte. Der Schwung der Nachkriegszeit war in den bundesrepublikanischen Realitäten steckengeblieben, die säkularisierte Gesellschaft gab sich immer weniger Mühe, wenigstens den schönen Schein religiöser Orientierung aufrechtzuerhalten. Hieraus entwickelte sich „ein katholisches Unbehagen an der CDU“, die man in erster Linie für das Scheitern der eigenen Bestrebungen verantwortlich machte. Zwar war Konrad Adenauer für viele Katholiken die alle überragende Führungsfigur, dessen Persönlichkeit und politische Grundlinien ihnen die Integration in den neuen Staat erleichterte. Zu Recht bezeichnet Gerhard Schmidtchen die Katholiken als die „eigentlichen Entdecker“ der Bundesrepublik 12). Doch es war eben auch Adenauer, der von Anfang an auf den Primat der Politik gegenüber kirchlichen Wünschen achtete und der nicht im geringsten bereit war, einer unbestimmten „katholischen“ Politik wegen den Machterhalt zu gefährden. Schon deshalb war er alles andere als der klerikale Politiker, als den ihn Vertreter der Linken gerne dargestellt haben. Paradoxerweise verschärfte gerade der überwältigende Unionssieg von 1957 den Konflikt, weckte er doch bei Kirche und Verbänden Hoffnungen, die die Union — wollte sie den Weg der Volkspartei weitergehen — um ihrer Existenz willen nicht erfüllen konnte.

Der deutsche Katholizismus stand nunmehr vor dem Problem, wie er angesichts einer sich konsolidierenden pluralistischen Gesellschaft — so sehr sie maßgeblichen Teilen auch mißfallen haben mag — agieren sollte bzw. konnte. Dabei standen im wesentlichen zwei Konzeptionen zur Diskussion, die man mit den Schlagworten „geschlossener“ bzw. „offener“ Katholizismus zu erfassen suchte.

Der wohl prominenteste Vertreter eines sogenannten geschlossenen Katholizismus, der durch einen Vortrag bei der ZdK-Arbeitstagung 1958 in Saarbrücken die Debatte ausgelöst hatte, war der geistliche Direktor des ZdK, Bernhard Hanssler. Die Bedingungen einer pluralistischen Gesellschaftsverfassung einerseits und die Einheit aller Katholiken in der Wahrheit des Glaubens andererseits führte seiner Meinung nach zu der zwingenden 12 Konsequenz katholischer Organisationen auf allen relevanten gesellschaftlichen Gebieten. Nur durch schlagkräftige, straff geführte Organisationen könne den unumstößlichen Glaubenswahrheiten in Staat und Gesellschaft zum Durchbruch verhelfen werden. Dem ZdK kam dabei die Aufgabe zu, die verschiedenen Aktivitäten zu koordinieren, eine für alle verbindliche, an den allgemeinen Weisungen der Kirche ausgerichtete Richtlinie zu formulieren und deren Einhaltung zu überwachen. Das ZdK als der Sprecher des deutschen Katholizismus war Haussiers Programm. Nur so glaubte er einer sich immer mehr von der Kirche und ihren Wertvorstellungen abwendenden Gesellschaft Paroli bieten zu können.

In der anderen Konzeption „wollte man der Glaubenskraft und Solidarität der Katholiken in der säkularisierten Gesellschaft vertrauen, , offen', das heißt ausgesetzt und zum Gespräch bereit“ Schon immer vor allem von kritischen katholischen Intellektuellen vertreten, wurde Ende der fünfziger Jahre der „offene“ Katholizismus immer stärker auch von den katholischen Akademien gefördert. In ihrem Bestreben, die Ghetto-Situation des Milieus zu überwinden, suchten sie das Gespräch auch mit jenen, die bisher von der katholischen Kirche eher mit Mißtrauen oder glatter Ablehnung bedacht worden waren. „Die weithin dem Christlichen entfremdeten praktischen Lebensprinzipien und die Überzeugungen fremder Gruppen sollen nicht nur doktrinär behandelt, sondern im Sinne persönlicher Begegnung emstgenommen werden.“

Ob „geschlossen“ oder „offen“, der Katholizismus wollte sich in Zukunft stärker als eigenständige Kraft profilieren, sich nicht länger mit der Rolle einer zuverlässigen und genügsamen Hilfstruppe der Union abfinden. Konrad Adenauer hatte die Gefahr beizeiten erkannt und war doch außerstande, ihr wirksam entgegenzutreten. Je mehr sich die innen-und außenpolitischen Polarisierungen abzumildem begannen, je weniger Wahlen zu Grundsatzentscheidungen zwischen Gut und Böse stilisiert werden konnten, desto eher lockerten sich Bindungen, die bislang als pure Selbstverständlichkeit gegolten hatten. Die Annäherung zwischen SPD und Katholizismus war zu einem Gutteil die Folge einer wachsenden Distanz zwischen Katholizismus und Union.

IV.

Eine der bedeutsamsten Konsequenzen, die die Bundestagswahl 1957 nach sich zog, war der endgültige Durchbruch der Reformer innerhalb der SPD. Sie konnten jetzt eine große Mehrheit in der Partei für die fundamentale programmatische Erneuemng gewinnen, mit der jene eigentümliche Spannung zwischen marxistischer Theorie und reformistischer Praxis aufgelöst wurde, die seit Jahrzehnten Kennzeichen der deutschen Sozialdemokratie war. Das in Bad Godesberg beschlossene neue Grundsatzprogramm sollte den Wandel von der Weltanschauungs-und Klassenpartei zur Gesinnungs-und Volkspartei dokumentieren und damit werbend die Gesellschaftsgruppen erreichen, die bisher sowohl als Wähler als auch als Mitglieder den Weg zur SPD nicht gefunden hatten.

Sozialismus wurde nicht länger als konkretes Ziel, als erreichbarer gesellschaftlicher Zustand begriffen, sondern als fortdauernde Aufgabe, die Tag für Tag aufs neue in Angriff genommen werden mußte.

Die alten sozialistischen Grundwerte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität blieben die obersten Werte, an denen fortschrittliche Politik ausgerichtet war, wobei der letzte, weltanschaulich fundierte Bezugspunkt für die Grundwerte bewußt nicht festgelegt wurde. Als „Plattform für eine sozialliberale, pluralistische Demokratie“ anerkannte das neue Programm die Fundamente der bundesrepublikanischen Ordnung, die es weiterzuentwickeln galt, denen jedoch nicht mehr wie bisher die Vision einer grundsätzlich anderen, besseren Welt gegenübergestellt wurde.

Den Kirchen gegenüber bekundete man die Bereitschaft „zur Zusammenarbeit ... im Sinne einer freien Partnerschaft“, eine Formulierung, die mit protestantischem Kirchenverständnis durchaus vereinbar war, nicht jedoch mit dem Selbstverständnis der katholischen Kirche. Partnerschaft und damit implizit eine Gleichrangigkeit zwischen Kirche und politischer Partei konnte es für sie nicht geben, entsprechend scharf fiel die Zurückweisung des sozialdemokratischen Ansinnens aus. Der Streit um die richtige, verträgliche Formulierung enthüllt in geradezu typischer Weise die Schwierigkeiten, denen sich die SPD bei ihrem Bemühen um die Kirchen gegenübersah. Nicht zuletzt unter dem Einfluß Gustav Heinemanns und Adolf Arndts primär an protestantischen Vorstellungen orientiert, fehlte häufig das Verständnis für spezifisch katholische Belange und Empfindlichkeiten, woran offenbar auch die Gesprächskontakte in Walberberg nur wenig zu ändern vermochten. Eine katholische Arbeitsgemeinschaft einzurichten, die die Defizite vielleicht hätte ausgleichen können, scheute sich die Parteiführung. Sie befürchtete unter Umständen — nicht zu Unrecht —, dadurch den sich allgemein verschärfenden Konfessionsstreit in die eigenen Reihen zu tragen, zum Schaden des Erscheinungsbildes in der Öffentlichkeit. Wichtiger als einzelne Formulierungen, wichtiger auch als die Auseinandersetzungen um die Aussagen zur Kultur-oder Sozialpolitik war die grundsätzliche Kritik, die von führenden Repräsentanten des deutschen Katholizismus gegen den Geist des Godesberger Programms vorgebracht wurde.

Wenn der Vorsitzende des staatspolitischen Arbeitskreises des ZdK, Gustav E. Kafka, der SPD vorwarf, „daß der heutige Sozialismus Demokratie .. . — gewissermaßen als , Lebensprinzip der Gesellschaft* verstehe“, traf er genau den Punkt Ganz in der skeptischen Grundhaltung der vorkonziliaren Kirche befangen, versagte man der Demokratie noch die Anerkennung als die die Menschenrechte und damit auch die Religion am besten schützende Lebensform. Erst mit den Enzykliken „Mater et Magistra“ und „Pacem in terris" von Johannes XXIII. und vor allem durch die Pastoral-konstitution „Über die Kirche in der Welt von heute“ des Zweiten Vatikanischen Konzils schuf sich die katholische Kirche die theoretische Basis, Demokratie als Chance und nicht länger als Bedrohung ihrer Stellung in der Welt zu begreifen.

Gleiches gilt für einen weiteren Kritikpunkt, die fehlende weltanschauliche bzw. religiöse Herleitung der Grundwerte, die die SPD um der pluralistischen Ausgestaltung der Partei willen bewußt offen gelassen hatte. Die „humanitäre Wendung des Sozialismus“, wie es Gustav Gundlach nannte, mußte solange als unbefriedigend erscheinen, solange man selbst in doktrinärer Starrheit befangen blieb. Im Grunde genommen bestand der alte, spätestens seit der Münchner Tagung bekannte Konflikt der unterschiedlichen Anschauungen über die Gesellschaft und den Ort von Partei und Kirche in ihr fort.

Das neue Programm diente der SPD zu groß angelegten Werbekampagnen, deren wichtigste unter dem Motto „Geh’ mit der Zeit, geh’ mit der SPD“ stand. Modernität hieß die Losung der sechziger Jahre. Die speziell für Katholiken verfaßte Broschüre „Der Katholik und die SPD“ stellte die grundsätzlichen Differenzen bereits als überwunden dar. Eine nicht nur hier zum Ausdruck kommende plakative Religions-und Kirchenfreundlichkeit, die sich in den nächsten Jahren — mit Ausnahme des Streits um die Neugestaltung der öffentlichen Fürsorge —, fortsetzte, der idealistische Schwung der Forderungen nach sozialem Fortschritt und einem Mehr an Demokratie waren durchaus in der Lage, in den Reihen des Katholizismus verunsichernd zu wirken. Der Generalsekretär des ZdK, Heinrich Koppler, richtete daher ein mahnendes Rundschreiben an die Verbände, in dem es unter anderem hieß: „Angesichts der angedeuteten Bemühungen der SPD ist damit zu rechnen, daß innerhalb kirchlicher Institutionen und katholischer Organisationen dem unverkennbaren Wunsch der Parteiführung der SPD insofern Entgegenkommen gezeigt wird, als Tagungen und Gespräche über die angeblich seit dem Godesberger Grundsatzprogramm vollzogene Wandlung der SPD veranstaltet werden. Eine solche Reaktion des Katholizismus auf die Avancen der SPD erscheint aber in höchstem Maße bedenklich.“ Diese Veranstaltungen würden der SPD zum einen eine unnötige, positiv wirkende Publizität verschaffen, zum anderen bedrohten sie die Einheit des Katholizismus. „Eine derartige Entwicklung würde mit Sicherheit eine verhängnisvolle Verwirrung innerhalb der gläubigen katholischen Bevölkerung zur Folge haben. Von dieser Verwirrung würde erwartungsgemäß die Autorität des kirchlichen Lehramtes, so weit es sich zu gesellschaftspolitischen Fragen äußern muß, am nachhaltigsten betroffen.“ Die SPD reagierte auf die katholische Kritik an ihrem neuen Programm, auf das spürbare Abblocken ihres Versuchs der Verständigung mit Unverständnis und Enttäuschung. Die negativen Kommentare, die zum Teil spitzfindigen und polemischen Überinterpretationen wirkten noch lange nach.

Die Revision innerhalb der SPD erstreckte sich nicht allein auf eine programmatische Erneuerung, wobei das Godesberger Programm als solches durchaus Anknüpfungen an sozialistische Traditionen zuließ. Als mindestens ebenso wichtig gestaltete sich die Neuformulierung der außen-und deutschlandpolitischen Konzeption. Zwischen beiden) konstatierten Sylvia und Martin Greiffenhagen zu Recht einen subtilen Zusammenhang und in einer gewissen Weise war die Bundestagsrede Herbert Wehners vom 30. Juni 1960 eine Weiterentwicklung der Ideen von Godesberg. In seinem Debattenbeitrag anerkannte Wehner namens der SPD die Politik der Westintegration und ihre Folgen. Implizit bedeutete das auch die endgültige Anerkennung parlamentarischer Entscheidungsprozesse und einen Verzicht auf außerparlamentarische Aktionen. Sein berühmt gewordener Schlußappell richtete sich an die Gemeinwohlverpflichtung der beiden großen Parteien, denn das „geteilte Deutschland . . . kann nicht unheilbar miteinander verfeindete christliche Demokraten und Sozialdemokraten ertragen“

Daß das Einschwenken auf die außenpolitische Linie Adenauers unter anderem einen großen Teil der oppositionellen Gruppen im Katholizismus vor den Kopf stoßen mußte, war nach Lage der Dinge klar, hatten sie doch die SPD gerade wegen ihrer grundsätzlichen Alternative zur Regierungspolitik unterstützt. Doch der SPD ging es um wesentlich mehr, als um die Unterstützung durch einzelne Gruppierungen von begrenztem politischen Gewicht. Mit der Anerkennung der politischen Fundamente der Bundesrepublik wollte sie sich endlich vom alten sozialdemokratischen Trauma der nationalen Unzuverlässigkeit befreien. Hatte bislang die Geschlossenheit des sozialistischen Milieus Geborgenheit und Schutz geboten, konnte die Lebendigkeit der eigenen Kultur und Traditionen Kraft geben, um das kollektive Minderwertigkeitsgefühl der deutschen Linken des „Nicht-dazu-gehörens“ durch ein Festhalten am sozialistischen Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaftsordnung kompensieren zu können, mußten sich bei fortschreitender Auflösung eben dieses Milieus Anfang der sechziger Jahre die Tendenzen zur Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft durchsetzen. Wenn 1963, dem Jahr, in dem die SPD ihr hundertjähriges Bestehen feierte, dem verstorbenen Parteivorsitzenden Erich Ollenhauer ein Staatsakt im Deutschen Bundestag zuerkannt wurde, demonstrierte dies durchaus symbolhaft die gelungene Integration in den bundesrepublikanischen Konsens.

Wird das Godesberger Programm in seiner Wirkung auf den Katholizismus meist überbewertet, so erfährt die Wehner-Rede gemeinhin zu wenig Beachtung. Gerade weil durch die besonderen Umstände ihrer Genese die Bundesrepublik Katholiken ein besonderes Heimatgefühl vermittelte, mußte ihnen eine politische Kraft als zutiefst suspekt erscheinen, die diesen Staat lediglich als Übergangsregelung betrachtete, sich mit ihm im Prinzip nicht abfinden wollte. Erst das eindeutige Bekenntnis zur Bundesrepublik und ihren besonderen Verpflichtungen gegenüber dem Westen änderte dies auf längere Sicht.

Im Bundestagswahlkampf 1961 präsentierte sich die SPD als Partei der Zukunft, der notwendigen Modernisierung der Gesellschaft als einer großen Gemeinschaftsaufgabe des ganzen Volkes verpflichtet, die nicht durch ideologische Konflikte behindert werden durfte. Im Grunde unpolitische Freundlichkeiten für jedermann ersetzten die Argumentationen von 1957, konfessionelle Auseinandersetzungen konnten bei diesem Verständnis von Moderne kein Thema mehr sein. Die ganze Kampagne war völlig auf den neuen Spitzenkandidaten Willy Brandt abgestellt, der als „Berliner Sohn des Kanzlers“ entschieden und überzeugend die neue außenpolitische Linie vertrat. Als Prototyp des modernen und dynamischen Politikers paßte er außerdem vorzüglich zur Kennedy-Mode der frühen sechziger Jahre. Wirklich überzeugend war es der SPD bei diesen Wahlen aber noch nicht gelungen, ihr neues Image einer modernen Volkspartei überall glaubhaft zu machen. Nach wie vor galt sie in erster Linie, wenn auch nicht mehr so ausschließlich wie früher, als Arbeiterpartei, als Partei der Besitz-und Machtlosen. Die konfessionelle Analyse der Bundestagswahl 1961 ergab für die SPD 32 Prozent katholischer Stimmen (Union: 61 Prozent) und 61 Prozent protestantischer Stimmen (Union: 37 Prozent). Von einem durchgreifenden strukturellen Wandel konnte also noch keine Rede sein, wenngleich es bei den Wechselwählern, die von der Union zur SPD kamen, bereits ein geringes katholisches Übergewicht von 51 zu 49 Prozent gab >>V.

Ein Blick auf das gesellschaftliche Umfeld der fünfziger und sechziger Jahre zeigt rasch, wie sehr demographische und ökonomische Entwicklungen besonders den deutschen Katholizismus betrafen und nicht ohne Rückwirkungen auf seine Stellung in der Gesellschaft bleiben konnten. Diktatur, Krieg und Vertreibung hinterließen eine durch massenhaften Verlust regionaler und schichtenspezifischer Bindungen gekennzeichnete Gesellschaft, die sich im Wiederaufbau neu zu formieren suchte; vielleicht ein weiterer Grund, das Wagnis eines wirklich radikalen Neubeginns nicht einzugehen, sondern statt dessen Zuflucht zu nehmen bei Traditionen und Wertmaßstäben einer besseren Vergangenheit. Die einstmals konfessionell geschlossenen Siedlungsräume lockerten sich durch die Flüchtlingsströme aus dem Osten auf und wirkten auf diese Weise den besonders in katholischen Gebieten gepflegten traditionellen politischen Bindungen entgegen, je besser die Integration der Zugezogenen voran kam.

Ein wichtiges Merkmal der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft war die ungeheuere Intensität, mit der sie sich den Herausforderungen des Wiederaufbaus stellte. Es schien, als wollten die Deutschen sich durch Arbeit ein Selbstwertgefühl wieder neu erschaffen, welches die verdeckten Schuldgefühle gegenüber der NS-Vergangenheit wenn schon nicht beseitigen, so doch zumindest wirksam verdrängen konnte Arbeit als Therapie, materieller Wohlstand als Nachweis von Tüchtigkeit und Anständigkeit — hier lagen wohl die Wurzeln der deutschen Spielart jenes nicht nur von der katholischen Kirche so häufig angegriffenen Materialismus der westlichen Welt. „Mit einer Überspitzung läßt sich die These formulieren, daß die Adenauer-Ära eine Periode des großen Abräumens jener vorindustriellen Reste gewesen ist, die das Dritte Reich und den Krieg noch überlebt hatten.“ Auf keinen Bereich trifft die Aussage von Hans-Peter Schwarz mehr zu als auf die ländlichen Regionen Süd-und Westdeutschlands. Hier, wo der deutsche Katholizismus in seiner gegen die Moderne gerichteten Stoßrichtung lange Zeit sein natürliches Reservoir gesehen hatte, wo kirchliche Frömmigkeit und ständische Gesellschaftsauffassungen noch lebendig waren, veränderte sich das Leben wie kaum in einem vergleichbaren Zeitabschnitt vorher. Durch forcierte Mechanisierung, vermehrten Düngemitteleinsatz und überhaupt durch eine stärkere Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die bäuerliche Praxis fügte sich die Landwirtschaft endgültig in die Produktionsbedingungen der industriellen Wirtschaftsform. Die steigende Produktivität setzte immer mehr Personen frei, die in der Industrie neue Arbeitsplätze fanden und zur Entstehung neuer industrieller Ballungsräume beitrugen. Das führte in der Folge dazu, daß auf dem Land immer weniger der Landwirt als vielmehr der auf dem Lande wohnende, aber in der Stadt Arbeitende zum vorherrschenden Bevölkerungstypus wurde. Die früher so ausgeprägte Trennung der städtischen und ländlichen Lebenswelten wich einem Stadt-Land-Kontinuum mit all seinen Konsequenzen auch für das Wahlverhalten.

Ende der fünfziger Jahre ging der rasante Wiederaufbau seinem Ende entgegen, die Arbeitszeit pendelte sich in weiten Bereichen auf vierzig Wochenstunden ein und Freizeit stellte ein erstrebenswertes Ziel dar. Wer aber geglaubt hatte, dies würde zu einer stärkeren Selbstbesinnung auf die über das rein Materielle hinausweisenden Ziele menschlicher Existenz und Gemeinschaft führen, sah sich getäuscht. „Der Konsum scheint für eine ganze Reihe von Menschen immer mehr zum zentralen Lebensziel zu werden, und man beginnt, Lebensglück und Lebenserfolg daran zu messen, ob und inwieweit es einem gelingt, an dem sich heute ständig erweiternden Angebot von Konsumgütem teilzunehmen.“

Die vorherrschende Konsumorientierung mußte insbesondere jene gesellschaftlichen Bewegungen in ihrem Innersten treffen, in deren Mittelpunkt zuallererst immaterielle Werte standen. Der Sozialismus hatte noch die geringsten Probleme, galt ihm doch die ausreichende Versorgung der Menschen mit Konsumgütem immer als Teil der allgemeinen Befreiung des Menschen aus Abhängigkeit. Die Politik der SPD zielte in den sechziger Jahren nicht zuletzt deshalb darauf, die breiten Schichten am gesellschaftlichen Reichtum stärker als bisher zu beteiligen. Die katholische Kirche hingegen geriet in eine schwere Krise. In einer Zeit, in der sie dem allgemeinen Streben nach Konsum ihre Glaubens-wahrheiten hätte entgegensetzen müssen, fehlte es ihr zusehends an den personellen Möglichkeiten. Mancherorts konnte die Seelsorge nur noch durch die Zusammenlegung von Pfarreien und auf das absolute Mindestmaß reduziert aufrechterhalten werden. Anscheinend besaß der Priesterberuf auch in den Schichten, in denen der Katholizismus besonders stark verankert war, nicht mehr das nötige Sozialprestige. Im industriellen Herzen der Bundesrepublik, dem Ruhrgebiet, waren die Verhältnisse besonders angespannt, was nochmals den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Prosperität und religiösem Desinteresse unterstreicht

Betrachtet man die einschlägigen Diskussionen innerhalb des Katholizismus, fällt eine große Unentschlossenheit und Unsicherheit auf, welche durch entschieden formulierte Warnungen vor dem Materialismus der westlichen Welt nurmehr notdürftig kaschiert werden konnten. Es scheint, als habe der deutsche Katholizismus seine innere Kraft, die Fähigkeit gesellschaftsgestaltend und -verändernd zu wirken und wirken zu wollen, in erster Linie aus der Auseinandersetzung mit politischen und ideologischen Gegnern gezogen. Angesichts einer diffusen Gleichgültigkeit gegenüber Religion und Kirche, die sich immer stärker auszubreiten drohte, mangelte es ihm offenbar an personifizierbaren Gegenpositionen, gegen die organisierter Widerstand möglich gewesen wäre.

Hinzu kam, daß sich in den sechziger Jahren die allgemeine Einkommensentwicklung zuungunsten katholischer Arbeitnehmer zu verschieben begann. Gab es im Sozialismus das Trauma der nationalen Unzuverlässigkeit, hieß das Pendant dazu im deutschen Katholizismus „soziale Inferiorität“. Wenn Hans Maier die Stellung der bundesdeutschen Katholiken mit der von Heloten verglich wird einiges spürbar von jener eigenartigen Mischung aus Minderwertigkeitskomplex, Wut über verpaßte Chancen und Entschlossenheit, diesen Zustand zu ändern — durchaus charakteristisch für den deutschen Katholizismus am Ende der Ära Adenauer. Hatte dessen Persönlichkeit und Politik noch so manche Unzufriedenheiten überstrahlen können, ging es jetzt immer stärker um Substantielles. Nicht von ungefähr rückte zu Beginn der sechziger Jahre das katholische Bildungsdefizit ins Blickfeld des allgemeinen Interesses und mit ihm der Konflikt zwischen der Leistungsfähigkeit der Schule einerseits und dem Ziel einer konfessionell geschlossenen Erziehung andererseits. Oft genug schlossen beide Ziele einander aus, mußte eine eindeutige Priorität gesetzt werden. Daß die Entscheidung am Ende dieses Jahrzehnts des Umbruchs schließlich nicht zuletzt unter dem massiven Druck der katholischen Elternschaft zugunsten der Leistungsfähigkeit getroffen wurde, kann rückblickend niemanden überraschen. Fast ist man versucht zu sagen, „zu allem Überfluß“ zog eine öffentliche Diskussion zu Beginn der sechziger Jahre die moralische Legitimation in Zweifel, mit der die katholische Kirche ihren Anspruch auf die Neugestaltung des politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Lebens nach dem Krieg begründet hatte. Die Auseinandersetzung, die 1963 im „Hochland“ mit einem Artikel Emst-Wolfgang Böckenfördes über den deutschen Katholizismus im Jahre 1933 eröffnet wurde, ließ erhebliche Bedenken an dem bisher gepflegten Bild aufkommen, daß der Katholizismus quasi die Speerspitze des Widerstands gegen die NS-Diktatur gewesen sei.

Böckenförde wies vielmehr auf die vielen Berührungspunkte in der gegen die Moderne gerichteten katholischen Gesellschaftsauffassung und den völkisch verquasten Sätzen der NS-Ideologie hin und kritisierte das Taktieren der Verbandsfunktionäre sowie eines großen Teils der Hierarchie, die lediglich das eine Ziel vor Augen hatten, die eigene Organisation über die Zeit zu retten. Die Diskussion, die mit Carl Amerys Buch „Die Kapitulation oder deutscher Katholizismus heute“ und vor allem mit Rolf Hochhuths Schauspiel „Der Stellvertreter“ fortgeführt wurde, offenbarte dem breiten Publikum einmal mehr die grundsätzliche Fehlbarkeit von Menschen, gleichgültig ob sie Laien oder Kleriker, sogenannte einfache Leute oder Intellektuelle waren. Die notwendige Schlußfolgerung konnte nur sein, daß blinde Gefolgschaft kein verantwortungsvolles Handeln begründen könne, daß man sich daher jeder Autorität, also auch der kirchlichen gegenüber, zuallererst kritisch verhalten müsse. Diese kritische Grundhaltung betraf nicht nur das politische Verhalten der Kirche, sondern zusehends auch ihre Ratschläge zur persönlichen Lebensführung und hat zur schwindenden Akzeptanz der Kirche in der modernen Gesellschaft erheblich beigetragen.

Die beiden Ereignisse schließlich, die das Ende der Ära Adenauer besiegelten — Mauerbau und Spiegel-Affäre —, markieren das Ende der Nachkriegszeit in politischer Hinsicht. In ihrem Gefolge vollzogen sich innerhalb der Rahmenbedingungen politischen Handelns qualitative Veränderungen von erheblicher Tragweite. Der Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 signalisierte unmißverständlich das Scheitern der bisherigen Bonner Deutschland-politik, soweit sie der staatlichen Wiedervereini41 gung Bedeutung beimaß. Die Auswirkungen des Mauerbaus auf das politische Klima in der Bundesrepublik lassen sich nur schwer abschätzen. Carl Amery scheint aber recht behalten zu haben, daß „sich unterirdisch alles verändert“ hatte

Die Spiegel-Affäre, die 1962 die Republik erschütterte, zwang Konrad Adenauer endgültig, sich gegenüber den Koalitionsparteien schriftlich auf einen Rücktritt im folgenden Jahr festzulegen. Der SPD, während der gesamten Spiegel-Krise auffallend. ja fast peinlich zurückhaltend und behutsam, bescherte Adenauer höchstpersönlich die lang-ersehnte Anerkennung als gleichberechtigter Partner. Der Kanzler sondierte die Möglichkeiten einer großen Koalition mit dem ehemals so vehement weltanschaulich bekämpften Gegner, um sein persönliches Regiment unter Umständen auch gegen den Widerstand der FDP retten zu können. Im Verlauf dieser Sondierungsgespräche bot Herbert Wehner eine umfassende Regelung aller strittigen Fragen zwischen der SPD und den Kirchen, also in erster Linie der katholischen Kirche, an Neben der unbefristeten Kanzlerschaft Adenauers war dies ein weiterer Teilbetrag, den die SPD als Preis für die Regierungsverantwortung zu zahlen bereit war. In diesen Gesprächen über eine mögliche große Koalition liegt seinerzeit wohl ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Grund für die kirchenfreundlichen Aktivitäten der SPD. Grundsätzliche Erwägungen mit dem Ziel, das Verhältnis zwischen Kirche und Partei zu normalisieren, spielten zwar ebenfalls eine Rolle, waren aber doch wohl letztlich nicht ausschlaggebend. Das Entgegenkommen gegenüber der katholischen Kirche verbesserte entscheidend das Klima zwischen den großen Volksparteien und konnte somit der SPD den Einstieg in die Regierungsverantwortung erleichtern. Wäre es der Partei primär um Wählerstimmen gelohnt, hätten sich diese Anstrengungen nicht gerechnet. Die Konfessionsschule zum Beispiel besaß unter Katholiken seit Mitte der fünfziger Jahre keine mehrheitliche Unterstützung mehr. Sie, wie im Niedersachsen-Konkordat in modifizierter Form geschehen, anzuerkennen, konnte also schwerlich Wählerstimmen in nennenswertem Umfang nach sich ziehen.

VI.

Als 1958 der Patriarch von Venedig, Giuseppe Roncalli, als Johannes XXIII.den Stuhl Petri bestieg, sahen die meisten Beobachter in ihm nicht zuletzt seines hohen Alters wegen in erster Linie einen Übergangspapst, dem keine besonderen Aufgaben zugedacht waren. Es war jedoch dieser alte, in seinen persönlichen Lebensansichten durchaus konservative Mann, der die Kirche aus ihrer Frontstellung gegenüber der Moderne zu befreien begann, in der Hoffnung ihrem Wirken in der Gesellschaft wieder breitere Resonanz verschaffen zu können.

Der neue Stil wurde bereits mit der ersten Sozialenzyklika Johannes’ XXIII., „Mater et Magistra“, spürbar. Nicht mehr der dozierende Tonfall akademischer Gelehrsamkeit, sondern eine anteilnehmende. eine die Diskussion anregende Diktion, die den Argumentationen Andersdenkender Raum gab, zeichnete dieses Rundschreiben aus. Auch wurden die modernen Lebensbedingungen nicht mehr so grundlegend negativ beurteilt, wie das in den Schriftstücken seiner Vorgänger so oft der Fall war. Der Vergesellschaftungsprozeß beispielsweise, bislang immer als ein direkter Weg in die inhumane Vermassung beargwöhnt, erfuhr eine Neubewertung hinsichtlich seiner positiven Auswirkungen für den einzelnen, der seine materiellen Notwendigkeiten eher befriedigen konnte als in früheren Zeiten. Ebenso war die Tendenz zu fortschreitender Mitbestimmung und Demokratisierung nicht mehr länger Ausfluß aufklärerischer Libertinage — im Gegenteil: „Die weitergehende Verantwortung, die heute in verschiedenen Wirtschaftsuntemehmen den Arbeitern übertragen werden soll, entspricht durchaus der menschlichen Natur; sie liegt aber auch im Sinn der geschichtlichen Entwicklung von heute in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat.“ Johannes XXIII. nahm den Menschen in seinen Entwicklungsmöglichkeiten ernst und setzte in ihn großes Vertrauen. Wenn menschliche Schwäche und Unvermögen zu Fehlentwicklungen führten, könnten sie dank der menschlichen Einsichtsfähigkeit korrigiert werden. Einen grundsätzlich falschen Weg, der von den Geboten Gottes wegführte, vermochte der Papst in der neueren Geschichte nicht zu erkennen. Die Begeisterung, die „Mater et magistra“ in der deutschen Sozialdemokratie entgegengebracht wurde, kann kaum verwundern, ebensowenig die keineswegs immer höflich zurückhaltende Kritik liberaler und konservativer Kreise. In vielen Sachfragen besonders der Wirtschafts-und der Entwicklungshilfepolitik fühlten sich Sozialdemokraten katholischem Denken nah wie nie zuvor. Die Übereinstimmung im sozialen Engagement erleichterte es erheblich, trotz weiter bestehender Meinungsverschiedenheiten in der Kulturpolitik den Prozeß der Verständigung voranzutreiben.

Höhepunkt des Reformprozesses war zweifellos das Zweite Vatikanische Konzil. Von Johannes XXIII. unter das Motto des „Aggiornamento" gestellt, das „den Wandel der Gesellschaft in den eigenen Aussagen, Strukturen und Einrichtungen nachzuvollziehen und zugleich den Wurzelgrund des christlichen Glaubens dieser gewandelten Gesellschaft in den Ausdrücken ihrer Zeit verständlich zu machen und authentisch zu bezeugen“ hatte, unternahm die Kirche den Versuch, sich selbst und ihre Stellung in der Welt neu zu bestimmen. Ihren Niederschlag fand dies in einer Reihe von Erklärungen und Konstitutionen, deren im vorliegenden Zusammenhang wichtigste die Pastoralkonstitution über „Die Kirche in der Welt von heute“ war. Den bereits in der Enzyklika „Pacem in terris“ von Johannes XXIII. vorbereiteten Gedankengängen folgend, bejahte die Konstitution Demokratie nicht mehr nur in der eingeschränkten Form Pius’ XII., sondern als die der Entfaltung der unveräußerlichen Menschenrechte einzig gerecht werdende Lebensform. Von hieraus ergab sich für die katholische Kirche erstmals die Möglichkeit, in Überein-stimmung mit der modernen pluralistischen Gesellschaft eine für Politik und Ethik grundlegende Theorie zu entwickeln, die sich „gegen jeden Totalitarismus und Absolutismus zu wenden (hatte), in welcher Gestalt er auch auftritt, ob in weltanschaulicher, religiöser oder politischer“ Dem Schutz der Gewissensfreiheit gebührte eindeutig Vorrang vor partikularen kirchlichen Interessen. Konsequenterweise wurde die Forderung nach konfessionellen Schulen jetzt nicht mehr mit der unumstößlichen Wahrheit der kirchlichen Lehre begründet, sondern mit dem Hinweis auf die Freiheitlichkeit einer pluralistischen Gesellschaft, der ein Schulmonopol gleich welcher Art wesensmäßig widersprechen würde. Im Hinblick auf ihre pastorale Tätig-keit, die konkrete Unterweisung der Gläubigen, gestand das Konzil der Kirche nur noch eingeschränkt Kompetenz zu, was sich in erster Linie — aber nicht ausschließlich — auf Äußerungen zu politischen Fragen bezog. Die Konzilsväter empfahlen eine Selbstbeschränkung auf allgemein gehaltene Empfehlungen und auf die Bereiche des eigentlichen kirchlichen Auftrages in der Welt. Das war verglichen mit der teilweise sehr ins Detail gehenden und oft als nahezu sakrosankt empfundenen Lehrtätigkeit Pius’ XII. ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung einer Stärkung des eigenverantwortlichen Handelns der Laien.

Verstand sich die vorkonziliare Kirche nach den Worten Pius’ XII. als „Lebensprinzip der menschlichen Gemeinschaft“, der gegenüber sie ihren Ordnungsanspruch vertrat, so wählte das Konzil das Bild des „Ferments“, als welches man in der Gesellschaft wirken wollte. Damit bildet das Zweite Vatikanische Konzil den Schlußpunkt einer Epoche, in der die katholische Kirche um eine Revision von Aufklärung und bürgerlicher Revolution bemüht war. Es markiert gleichzeitig den Beginn einer hinsichtlich ihrer Auswirkungen heute noch gar nicht voll erfaßbaren, neuen Ära, in der sich die Kirche in die moderne, pluralistische Gesellschaft integriert, um an ihrer Ausgestaltung mitzuwirken.

Neben einer möglichst innigen Verbindung mit der Grundsubstanz hängt die Wirksamkeit eines Ferments, eines Sauerteigs, vor allem von günstigen äußeren Bedingungen ab. Diese wurden in erster Linie von der Entkrampfung des Ost-West-Konflikts bestimmt, an der der Vatikan maßgeblich beteiligt war. Hatte die Machtlosigkeit der westlichen Allianz angesichts der Niederschlagung des Ungam-Aufstandes 1956 bereits ein erstes Nachdenken zur Folge, so veränderte sich mit Johannes XXIII. auch hier die Grundhaltung. Die Schließung der Botschaften der baltischen Exilregierungen beim Vatikan oder die aufsehenerregende Audienz für den Schwiegersohn Chruschtschows, Adschubeij, waren Ausdruck einer neuen, verständnisvolleren Haltung gegenüber der kommunistischen Führungsmacht. Das Verhalten des Papstes in der Kuba-Krise 1962, als er durch einen mit beiden Seiten abgestimmten Friedensappell das Klima zwischen den Supermächten verbessern und damit einer friedlichen Lösung den Weg bahnen half, demonstrierte, daß die Kirche nicht länger Partei in einem letztendlich weltlichen Konflikt, sondern statt dessen Mittler zwischen den Blöcken sein wollte.

Die Friedensenzyklika „Pacem in terris“, das politische Vermächtnis Johannes’ XXIII., beschrieb mit der berühmt gewordenen Unterscheidung zwi43 sehen dem Irrtum und den Irrenden den Kem dieser Politik. Die Gegnerschaft galt dem Irrtum, den Irrenden die mitmenschliche Liebe. „Die Politik wird entideologisiert und das Menschliche wird über das . System'gestellt ... Es geht Johannes XXIII. nur darum, vernünftiges politisches Handeln und menschliche Kontakte nicht durch starre Fixierung von Ideologien unmöglich zu machen.“ Die neue Politik befreite die Kirche von allzu festen politischen Bindungen und erhöhte für sie die Chance, an Ansehen zurückzugewinnen, was in der Vergangenheit oftmals durch unverständliche Parteinahme und Fixierung auf die Durchsetzung der eigenen Partikularinteressen verlorengegangen war.

In der Bundesrepublik weckte das Konzil nicht zuletzt aufgrund seiner enormen Publizität Hoffnungen und Befürchtungen der unterschiedlichsten Art. Hatte es bereits Paul VI. unternommen, die Dynamik des innerkirchlichen Reformprozesses auf einem Niveau zu konsolidieren, welches auch dem konservativen Flügel die Zustimmung zu den Konzilsbeschlüssen ermöglichte oder zumindest erleichterte. traf er sich hierin mit den Intentionen der Mehrheit im deutschen Episkopat. Wie beispielsweise die Diskussionsbeiträge des Kölner Kardinals Frings auf dem Konzil zeigen, waren die deutschen Bischöfe primär an der Rückführung des römischen Zentralismus interessiert, der ja nicht zuletzt gegen massiven deutschen Protest im Unfehlbarkeitsdogma 1871 theologisch gipfelte, um in der Folgezeit durch den Ausbau der vatikanischen Bürokratie untermauert zu werden. Die großartigen Erwartungen an eine von Grund auf demokratisierte, moderne Kirche, die die Stellung der Bischöfe ja nicht unberührt ließen, dürfte der deutsche Episkopat in seiner überwältigenden Mehrheit nie geteilt, sondern eher gefürchtet haben. Der gemeinsame Hirtenbrief „zu einigen Gefahren der Zeit“ 1963 illustriert die Hoffnung, in einer Periode verwirrender Umbrüche die Autorität der Kirche und ihrer Bischöfe gleichsam als ruhenden Pol bewahren zu können. In teils scharfen Formulierungen wies man falsche Auffassungen über das Wesen der Kirche ebenso zurück wie eine von Pessimismus getragene Kritik „an allem, was kirchliche Hierarchie und kirchliche Ordnung in Vergangenheit und Gegenwart betrifft und was katholische Laien und katholische Gruppen an fruchtbarer Arbeit leisten“

Verunsichert, wie sie seinerzeit war, konnte sich die deutsche Kirchenführung vermutlich nur ablehnend verhalten, als Paul VI., der zwar innerkirchlich konsolidieren, den Dialog mit der Welt hingegen ausweiten und intensivieren wollte, 1964 eine Delegation der SPD unter Führung des stellvertretenden Parteivorsitzenden Fritz Erler empfing. In einer Zeit, in der bis dahin praktisch nur Abgesandte von Regierungen oder befreundeten Organisationen Zugang zum Papst hatten, mußte der Empfang einer sozialdemokratischen Parteidelegation als sensationelles Signal wirken. Es war darüber hinaus keineswegs verborgen geblieben, daß mit dem Papstempfang die SPD in der Öffentlichkeit weiteren Druck ausüben konnte, auch in der Bundesrepublik dem Beispiel des Papstes zu folgen und Vorbehalte gegenüber der SPD aufzugeben. Was mit der Enzyklika „Mater et Magistra“ begann, schien nun vom Erfolg gekrönt. Wahrscheinlich hätten dies nur ganz konkrete Zügeständnisse in der'Schulfrage eventuell akzeptabel machen können. Als Zeichen des einzig möglichen, nämlich stillen Protestes sagte Kardinal Frings einen geplanten Empfang für die neugewählten Parteivorstandsmitglieder mit Willy Brandt an der Spitze kurzfristig ab. Da sich die SPD, der propagandistischen Wirkung der Papstaudienz sicher, strikt an die vereinbarte Vertraulichkeit hielt, hätte jede öffentliche Kritik der Bischöfe am Besuch an sich als Kritik am Papst verstanden werden müssen — eine weitere Beschädigung der kirchlichen Autorität, die nicht im Interesse des Episkopats sein konnte. In einer Ansprache vor katholischen Arbeitnehmern signalisierte der Münchner Kardinal Julius Döpfner am 30. April 1964 die Bereitschaft, die Fortschritte in der SPD offiziell anzuerkennen. Er fügte aber warnend hinzu, daß das Verhältnis zwischen Kirche und Partei noch keineswegs belastbar sei.

Die Katholikentage, in der Vergangenheit so oft Demonstrationsveranstaltungen, in deren Mittelpunkt Größe, Macht und vor allem anderen Geschlossenheit standen, veränderten im Zuge der gesellschaftlichen. politischen und nicht zuletzt der innerkirchlichen Entwicklung ebenfalls ihren Charakter. Nach ersten vorsichtigen Öffnungsversuchen 1964 in Stuttgart und 1966 in Bamberg fand 1968 in Essen der, wenn man so will, erste moderne Katholikentag statt. Auf ihm präsentierte sich der deutsche Katholizismus erstmals in seiner nahezu vollständigen Bandbreite innerhalb des offiziellen Programms, waren erstmalig prominente Sozialdemokraten wie Hermann Schmidt-Vockenhausen und Willi Kreiterling auf den Diskussionspodien vertreten. Die Wahl Georg Lebers ins ZdK setzte 1966 einen gewissen Schlußpunkt unter die innere Pluralisierung des deutschen Katholizismus, die sich gerade auch unter parteipolitischen Vorzeichen bis in die Führungsgremien hinein fortgesetzt hatte.

Es bleibt jedoch festzuhalten, daß die Distanzierung von der Union und damit verbunden die Annäherung an die SPD ihren Ursprung primär in den bundesrepublikanischen Verhältnissen der späten fünfziger Jahre, im oben bereits erwähnten „katholischen Unbehagen“ an der Union hatte. Das Konzil verstärkte diese Entwicklung, gab ihr mit seinen Impulsen weiter die Richtung einer inneren Pluralisierung, eines wahrhaft „offenen“ Katholizismus vor und bestimmte nicht unwesentlich den weiteren Verlauf. Mit Hinweisen auf die Beschlüsse des Konzils konnte außerdem der Loslösungsprozeß von der Union allgemeingültig und unangreifbar formuliert werden, und es verringerte sich die Gefahr einer über die pragmatisch-politischen Erfordernisse hinausgehenden Entfremdung.

VII.

Wenden wir uns zum Schluß nochmals dem eingangs bereits angesprochenen Verhältnis zwischen der kirchenfreundlichen Politik der SPD und den sozialdemokratischen Erfolgen bei katholischen Wählern zu. Nachdem lange Zeit meist unter höchster Geheimhaltung intensiv verhandelt worden war, unterzeichneten 1965 der päpstliche Nuntius in der Bundesrepublik Bafile und der sozialdemokratische Ministerpräsident von Niedersachsen Diederichs feierlich ein Konkordat, welches den Schulstreit beilegen sollte, der über ein Jahrzehnt das innenpolitische Klima belastet hatte. Die katholische Kirche konnte dabei erstmals in der Praxis umsetzen, was sie auf dem Konzil als ihr neues Verständnis von ihrer Stellung in Staat und Gesellschaft erarbeitet hatte — vielleicht mit ein Grund, warum das Ergebnis eine der umfassendsten Regelungen zwischen Kirche und Staat wurde. Bemerkenswert war der Kompromiß zur Errichtung von neuen Bekenntnisschulen, der sowohl dem Elternwillen als auch der Leistungsfähigkeit der Schule gerecht wurde. Ebenso bemerkenswert war die Revisionsklausel, mit der die vertraglichen Regelungen im gegenseitigen Einvernehmen den Veränderungen des gesellschaftlichen und politischen Umfelds einer neuen Lage angepaßt werden konnten.

Für die SPD stellte sich die eigentliche Bewährungsprobe erst nach Vertragsabschluß, als ihr Koalitionspartner FDP sich angesichts massiver Proteste gegen das Konkordat von dem bereits unterzeichneten Text distanzierte und Nachverhandlungen forderte. Die SPD wechselte daraufhin zur CDU, um durch eine große Koalition die Ratifizierung im niedersächsischen Landtag sicherzustellen. Damit trotzte die Parteiführung auch den zahlreichen Protesten innerhalb der SPD. Viele Mitglieder und Sympathisanten, die keineswegs nur auf dem sog. linken Flügel zu finden waren, konnten kein Verständnis dafür aufbringen, warum ausgerechnet aus der starken Position in Niedersachsen heraus der katholischen Kirche so weitreichende Zugeständnisse gemacht werden sollten.

Das Niedersachsen-Konkordat besaß für die daran direkt oder indirekt Beteiligten höchst unterschiedliche Bedeutung: — Die katholische Kirche hatte nicht zuletzt für die Skeptiker in den eigenen Reihen den Nachweis erbracht, auch mit der SPD ihre schulpolitischen Vorstellungen verwirklichen zu können. Dadurch erhöhte sich ihre Unabhängigkeit im politischen System der Bundesrepublik erheblich. — Die SPD konnte unter Beweis stellen, daß sie ein verläßlicher Partner war, der den einmal gefundenen Kompromiß auch gegen größte Widerstände durchzusetzen bereit und in der Lage war. — Die Union mußte zur Kenntnis nehmen, keinen Alleinvertretungsanspruch mehr für alles „Christliche“ zu besitzen.

Natürlich suchte die SPD das Niedersachsen-Konkordat in den anstehenden Wahlkämpfen zu vermarkten. Günter Struve spricht in seiner Analyse des Bundestagswahlkampfs 1965 gar von einem umfassenden Gegenangriff auf konfessionellem Gebiet Ohne daß es offen ausgesprochen wurde, war die Erwartung vorhanden, die demonstrative Kirchenfreundlichkeit, die Kompromißbereitschaft in der Schulfrage werde sich bei den Wahlen auszahlen. Zwar verfehlte die SPD ihr Wahlziel, stärkste Partei zu werden bei weitem, zwar konnte die Union mit Ludwig Erhard dank dessen Popularität einen großen Sieg verbuchen, doch zeigten sich bemerkenswerte strukturelle Veränderungen. „Die Gewinne der SPD von 1961 auf 1965 waren zu mehr als der Hälfte auf Veränderungen bei katholischen Wählern zurückzuführen: 40% der SPD-Stimmengewinne unter Katholiken ist darauf zurückzuführen. daß der Anteil der bekenntnistreuen Katholiken zurückging; gut 20 % sind auf Gewinne bei katholischen Nichtkirchgängem zu buchen und gut 30 % auf kirchentreue katholische Männer.“ Der vorherrschende Eindruck, als seien die Wahl-erfolge unter Katholiken direkte Folge der SPD-Politik gegenüber der katholischen Kirche, sollte sich durch die nordrhein-westfälische Landtagswahl 1966 noch verstärken. Von Ludwig Erhard selbst zur entscheidenden Bewährungsprobe für die Bundesregierung erklärt, leiteten die herben Unionsverluste — die erste wirkliche Wahlniederlage der Kanzlerpartei seit 1949 — folgerichtig das Ende seiner Regierung ein.

Für die große Überraschung des Landtagswahlkampfs sorgten jedoch die katholischen Bischöfe. Ausgerechnet in dieser für die Bonner Regierungskoalition so wichtigen Landtagswahl verzichteten sie erstmals auf den sonst üblichen Wahlhirtenbrief mit seinen mehr oder minder deutlichen Empfehlungen für die Union. Statt dessen erinnerte ein allgemein gehaltener Aufruf die Gläubigen lediglich an ihre Wahlpflicht, wobei man sich ausdrücklich auf die entsprechenden Diskussionen des Konzils berief. Unmittelbarer Anlaß für das kirchliche Disengagement schien neben der allgemeinen Unzufriedenheit mit der Union ein Streit mit dem christ-demokratischen Kultusminister Mikat über die Zweckmäßigkeit der Konfessionsschulen gewesen zu sein. Wenn Mikat und andere hierbei Positionen vertraten, die auch die SPD zur Grundlage ihres niedersächsischen Kompromisses gemacht hatte, wozu dann noch eine besondere Unterstützung für die Union?

Trotz aller Aufregungen, die der Wahlaufruf der Bischöfe vor allem in der Presse entfacht hatte, sollte man sich nicht den Blick für die eigentlichen Ursachen des sozialdemokratischen Durchbruchs gerade in den katholischen Gebieten Nordrhein-Westfalens trüben lassen. Hier kumulierte eine allgemeine Entwicklung zugunsten der SPD, die ihrem pragmatischen Reformdenken und ihrem sozialen Image entgegenkam. Eine sich unmittelbar nach der Bundestagswahl 1965 ausbreitende Krisenstimmung, die gerade an Rhein und Ruhr für starke Aufregung unter den Angehörigen der Stahl-industrie und des Bergbaus sorgte, beleuchtete einen tiefgreifenden strukturellen Wandel im Revier, bei welchem nur noch offen war, ob dabei den Selbstheilungskräften des Marktes vertraut oder ob durch Interventionen des Staates eine sozial verträgliche Abfederung erreicht werden sollte. Für letzteres besaß die SPD in den Augen der Wähler sicherlich eine größere Kompetenz als die Personifizierung liberaler Marktwirtschaft, Ludwig Erhard. Die religiöse Entfremdung einer sich entfaltenden Konsumgesellschaft, der die katholische Kirche aufgrund des eklatanten Personalmangels nicht viel entgegenzusetzen hatte, eine die Katholiken benachteiligende Einkommensverteilung, die in Nordrhein-Westfalen besonders ausgeprägt war, verstärkten den Verdruß über die Union, den auch die Popularität des christdemokratischen Ministerpräsidenten Franz Meyers nicht aufhalten konnte. Der „Genosse Trend“ wurde zum zuverlässigsten Verbündeten der SPD. Wenige Monate später waren Union und SPD in der großen Koalition vereint, wurde mit regelmäßigen Arbeitstreffen die Periode fruchtbarer Zusammenarbeit zwischen Sozialdemokratie und katholischer Kirche eingeleitet, die bis zu den Auseinandersetzungen über den Paragraphen 218 Anfang der siebziger Jahre Bestand haben sollte.

Will man die Annäherung zwischen Sozialdemokratie und Katholizismus auf einen Nenner bringen, so bildete ihre Grundlage die Integration beider in die bestehende und sich konsolidierende pluralistische Gesellschaft. Beide sahen sich zu einer Anpassung gezwungen, glaubten sie doch auf diese Weise ihren Einfluß mehren bzw. stabilisieren zu können. Zwar blieb bei der christlich-katholischen Religionsauffassung die Überzeugung bestehen, daß letztlich nur auf der Basis ihrer Ideen eine wirklich gerechte Ordnung in Staat und Gesellschaft möglich sei. Aber diese Überzeugung äußerte sich nicht mehr als Forderung gegenüber der Gesellschaft, sondern als Antrieb für das Wirken in ihr. Ebenso blieb, zumindest in Teilen der Partei, bei der Sozialdemokratie die Überzeugung bestehen, daß letztlich nur ein sich nach sozialistischen Prinzipien ordnendes Gemeinwesen die Herausforderungen der Zukunft meistern konnte. Aber auch hier stand nicht mehr ein alternatives Gesellschaftsmodell im Mittelpunkt, sondern der als dauernde Aufgabe begriffene Sozialismus bildete die Basis gesellschaftlichen und politischen Wirkens. Dadurch und damit zusammenhängend durch den Verfall des katholischen bzw. sozialistischen Milieus verloren Katholizismus und demokratischer Sozialismus viel von ihrer früheren Sonderrolle, wurde ein pragmatisches Verhältnis zwischen ihnen möglich, welches im Interesse von Machterwerb und Machterhalt den Ausgleich vorantrieb. Weitergehende oder gar endgültige Bewertungen scheinen allerdings verfrüht. Wie bei anderen Problemen zeitgeschichtlicher Forschung auch, kann erst eine größere Distanz zu weiterer Klärung führen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Vagn Aage Carisius Christensen, The Godesberg Socialists and the German Catholic Community. An Appraisal of their Relationship, 1959— 1966, Diss. Berkley 1967; Paul R. Waibel, Politics of Accomodation. German Social Democracy and the Catholic Church, 1945 — 1959, Frankfurt 1983.

  2. Vgl. Gerhard Schmidtchen, Protestanten und Katholiken. Soziologische Analyse konfessioneller Kultur. Bem-Münster 1973.

  3. Vgl. Emst Nolte. Deutschland und der Kalte Krieg, München-Zürich 1974, S. 191.

  4. Vgl. Franz Focke, Sozialismus aus christlicher Verantwortung. Die Idee eines christlichen Sozialismus in der katholisch-sozialen Bewegung und in der CDU. Wuppertal 1978. Die wichtigsten Orte, an denen über einen „christlichen Sozialismus" nachgedacht wurde, waren der Walberberger Kreis um Eberhard Welty und Laurentius Siemer sowie der Frankfurter Kreis mit Walter Dirks,

  5. Vgl. Walter Dirks, Der restaurative Charakter der Epoche, in: Frankfurter Hefte (FH), 5 (1950) 9, S. 942— 954.

  6. Vgl.ders., Das gesellschaftspolitische Engagement der deutschen Katholiken seit 1945, in: FH, 19 (1964) 11, S. 762.

  7. Peter Nicols, Die Politik des Vatikan, Bergisch Gladbach 1969, S. 128 f.

  8. U. W. Kitzinger. Wahlkampf in Westdeutschland. Eine Analyse der Bundestagswahl 1957, Göttingen 1960. S. 101.

  9. SPD-Parteivorstandsprotokoll (PV-Pr.) vom 17. /18. 10. 1956, S. 5f.

  10. Vgl.den Bericht Willi Eichlers vor dem Parteivorstand, in: PV-Pr. vom 12. 7. 1957, S. 3.

  11. Heinz Theo Risse. Katholizismus und Politik in der Bundesrepublik, in: Alfred Horn (Hrsg.). Christ und Bürger — heute und morgen. Stuttgart-Düsseldorf 1958, S. 176f.

  12. Vgl. G. Schmidtchen (Anm. 2). S. 245.

  13. Walter Dirks. Ein „anderer“ Katholizismus? Minderheiten im deutschen Corpus catholicorum. in: Norbert Greinacher/Heinz Theo Risse (Hrsg.), Bilanz des deutschen Katholizismus. Mainz 1966, S. 296.

  14. Karl Forster. Vom Sinn katholischer Akademien, in: Münchner Theologische Zeitschrift, 10 (1959) 1. S. 54.

  15. Kurt Klotzbach. Der Weg zur Staatspartei. Programmatik. praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie 1945 bis 1965, Berlin-Bonn 1982, S. 449.

  16. Gustav E. Kafka, Der freiheitliche Sozialismus in Deutschland. Eine kritische Untersuchung des Grundsatz-programms der SPD. Augsburg 1960, S. 28.

  17. Brief Heinrich Köpplers vom 8. 2. 1960. in: ZdK-Archiv Mappe 6100.

  18. Vgl. Martin und Sylvia Greiffenhagen, Ein schwieriges Vaterland. Zur politischen Kultur Deutschlands, München 1979, S. 155.

  19. Zit. nach K. Klotzbach (Anm. 15), S. 501.

  20. Der Spiegel vom 6. 4. 1960.

  21. Vgl. Karl-Heinz Diekershoff, Das Wahlverhalten von Mitgliedern organisierter Interessengruppen, Diss. Köln 1964. S. 161; Helmut Unkelbach/Rudolf Wildenmann/Werner Kaltefleiter, Wähler — Parteien — Parlament, Frankfurt-Bonn 1965, S. 24 und S. 31.

  22. Vgl. Alexander und Margarete Mitscherlich. Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.

  23. Hans Peter Schwarz. Die Ära Adenauer. Gründerjahre der Republik. 1949— 1957, Stuttgart-Wiesbaden 1981, S. 381.

  24. Karl Martin Bolte/Katrin Aschenbrenner, Die gesellschaftliche Situation der Gegenwart, Opladen 19653, S. 30 f.

  25. Vgl. J. Delleport/Norbert Greinacher/W. Menges. Die deutsche Priesterfrage. Eine soziologische Untersuchung über Klerus und Priesternachwuchs in Deutschland, Mainz 1961.

  26. Vgl. Hans Maier. Der politische Weg der deutschen Katholiken nach 1945. in: ders. (Hrsg.), Deutscher Katholizismus nach 1945. Kirche, Gesellschaft, Geschichte, München 1964, S. 217.

  27. Vgl. Carl Amery. Die Kapitulation oder deutscher Katholizismus heute. Reinbek 1963. S. 90.

  28. Vgl. Anton Rauscher. Kirche und Katholizismus 1945 bis 1949. Paderborn 1977, S. 154.

  29. Mater et Magistra. Nr. 93, zit. nach: Franz Klüber, Individuum und Gesellschaft aus katholischer Sicht, o. O. 1963. S. 159.

  30. David A. Seeber, Paul. Papst im Widerstreit, Freiburg-Basel-Wien 1971, S. 85.

  31. Godehard Lindgens, Katholische Kirche und moderner Pluralismus. Der neue Zugang zur Politik bei den Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Diss. Berlin 1978, S. 278.

  32. Walter von Loewenich, Der moderne Katholizismus vor und nach dem Konzil, Witten 1970. S. 384.

  33. Die deutschen Bischöfe über einige Gefahren in unserer Zeit, in: Herder-Korrespondenz. 18 (1963/64), S. 26.

  34. Vgl. Günter Struve, Kampf um die Macht. Die Wahl-kampagne der SPD 1965, Köln 1971, S. 121.

  35. Klaus Gotto, Die deutschen Katholiken und die Wahlen in der Adenauer-Ära, in: Albrecht Langner (Hrsg.), Katholizismus im politischen System der Bundesrepublik 1949 bis 1963, Paderborn u. a., S. 17.

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Thomas Brehm, Dr. phil., geb. 1957; freier Mitarbeiter des Kunstpädagogischen Zentrums im Germanischen Nationalmuseum, Nürnberg. Veröffentlichung: SPD und Katholizismus — 1957 bis 1966. Jahre der Annäherung, Frankfurt u. a. 1989.