I. Kennzeichen der Profession
Es erscheint fast als soziologischer Gemeinplatz, daß sich die Struktur und das Erscheinungsbild des Berufssektors moderner Gesellschaften in der Neuzeit in charakteristischer Weise verändert haben. Zum einen ist als Reaktion auf neue gesellschaftliche Anforderungen und technische Möglichkeiten eine Vielzahl neuer Berufe entstanden, zum anderen haben sich Inhalt und Form vieler traditioneller Berufe grundlegend gewandelt.
Aber gibt es nicht Berufe, deren Ausübungsformen noch „archaischen“ Grundmustern folgen? Gewiß setzt etwa auch der Lehrer heute technische Hilfsmittel im Unterricht ein, aber ist nicht der erzieherische Umgang mit Kindern und Jugendlichen in seinen Grundstrukturen seit der Antike unverändert geblieben? Und mit Blick auf die katholische Kirche, die ja unter allen bestehenden sozialen Organisationen diejenige mit der längsten Tradition ist, könnte man fragen, ob nicht vielleicht der für das Sozialsystem „Kirche“ konstitutive Beruf des Religionslehrers — oder allgemeiner: des Verkündigers — in seinen wesentlichen Strukturen unverändert geblieben ist.
Um auf die zuletzt gestellte Frage eine befriedigende Antwort zu finden, wäre eine berufshistorische Längsschnittanalyse zu konzipieren, die vor allem auf theologische, kirchen-und allgemein-historische Fakten und Prozesse einzugehen hätte. Eine solche Untersuchung würde wegen der Vielzahl der zu verarbeitenden Fakten den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Ein Soziologe wäre überdies hinsichtlich der theologischen und historischen Aspekte nicht kompetent. Weist man jedoch im Rahmen einer berufssoziologischen Analyse kirchlicher Berufe im Laufe der letzten 20 bis 30 Jahre nach, daß auch in diesem Bereich Veränderungen des Berufsverständnisses stattgefunden haben, so ist klar, daß uns auch im Bereich der Kirche keineswegs mehr „Urberufe“ begegnen. Diese Einsicht ist gleichwohl nur von untergeordneter Bedeutung. Wesentlicher ist die Analyse der Richtung, der Art, des Umfangs und der Konsequenzen dieser Wandlungsprozesse.
Im Kern geht es im folgenden daher um das Phänomen des Berufsethos. Dieser heute bisweilen etwas antiquiert erscheinende Begriff meint nach Oswald von Nell-Breuning die „manchen Berufen eigenen Auffassungen, kraft deren die Berufsangehörigen sittliche Anforderungen an sich selbst zu stellen gewohnt sind, die über das aus der Natur der Sache sich ergebende Pflichtenmaß (Mindestmaß) hinausgehen und die sowohl die eigene Wertschätzung des Berufs zu heben als auch das Vertrauen der Außen-stehenden, die berufliche Leistungen von ihnen in Anspruch nehmen, zu steigern geeignet sind“
Ganz zweifellos gehört der Beruf des Religionsunterricht erteilenden Priesters zu jenen von Oswald von Nell-Breuning gemeinten Berufen, für die eine ethische Fundierung konstitutiv ist. Leo von De-schwanden spricht sogar von der „totalen Rolle“ dieses Berufes. Dieser Terminus drückt den Sachverhalt aus, daß die „Berufsrolle“ des Religionsunterricht erteilenden Priesters ein derart weitgespanntes und engmaschiges Netz von Verhaltenserwartungen impliziert, daß dadurch andere Rollen dominiert werden oder ihre Ausübung gänzlich ausgeschlossen wird.
In diesem Sinne „hat“ der Religionsunterricht erteilende Priester nicht seinen Beruf, sondern er „ist“ sein Beruf, Die damit angesprochene Aufhebung von Berufs-und Privatsphäre folgt zweifellos dem „archaischen“ Muster der Berufsausübung. Sie ist in der Gegenwart nur noch bei bestimmten „anspruchsvollen“ Berufen festzustellen. Gegenpol ist der „Jobber“, der fast jede Arbeit gehorsam, aber lustlos und hauptsächlich deshalb leistet, weil er dafür gut bezahlt wird, und der erst anfängt zu „leben“, wenn er die Fabriktore hinter sich gelassen hat. Jene anspruchsvollen Berufe, von denen hier die Rede ist, heißen in der Berufssoziologie „Professionen“. Darunter versteht man hochqualifizierte Berufe von hoher gesellschaftlicher Bedeutung, die über einen Kernbestand an theoretischem, systematisiertem Wissen verfügen und dieses Wissen in der Praxis anwenden. Demgemäß ist ein hoher (in der Regel akademischer) Ausbildungsstand eine notwendige, wenngleich noch keine hinreichende Voraussetzung, die erfüllt sein muß, damit sich ein Beruf zur Profession „veredelt“. Harold Wilensky schätzt, daß in modernen Gesellschaften „kaum mehr als 30 bis 40 Berufe“ den Status einer Profession erlangt hätten. Der Beruf des Priesters, der u. a. auch Religionsunterricht erteilt, gehört neben dem Arzt und dem Rechtsanwalt unstreitig zu den „klassischen“ Professionen während etwa über die Professionalität des Lehrerberufs in der Berufs-soziologie immer wieder gestritten wird.
Was sind nun die spezifischen Merkmale der Profession? Hans Albrecht Hesse gelangte nach einer Analyse von 20 Beiträgen angelsächsischer Autoren zu nicht weniger als 18 Merkmalen der Profession. Danach ist allen Definitionen die starke Wissensorientierung gemeinsam, denn die Berufstätigkeit des „Professionals“ beruht „auf langdauemder theoretisch fundierter Spezialausbildung — sie ist überwiegend . nicht manuell“ *
Das laut Hesse am zweithäufigsten genannte Merkmal der Profession bezieht sich unmittelbar auf das Berufsethos des Professionals: „Die Berufsangehörigen sind in ihrer Praxis an bestimmte Verhaltensregeln gebunden (code of ethics, code of conduct).“ Vier weitere der insgesamt 18 Kennzeichen der Profession beziehen sich ebenfalls auf ethisehe Standards der Berufsausübung. Daraus folgt, daß der ethischen Orientierung bzw.der professionellen Selbstdeutung des Professionals eine hohe Bedeutung zukommt. Elliot Freidson spricht sogar vom Professionalismus, „den man als eine Reihe von Eigenschaften definieren könnte, die für Professionals angeblich charakteristisch sind. Dazu gehören — so wird behauptet — solche Haltungen wie Engagement für seine Arbeit als einer Lebensaufgabe, so daß die Arbeit ein Teil der eigenen Identität wird und eher den Dienst an der Öffentlichkeit als den privaten Gewinn in den Mittelpunkt stellt.“
Die Frage, warum die „mentale Dimension“ der Profession von so überragender Bedeutung ist, wird von der Berufssoziologie mit Hinweis auf die „potentielle Gemeingefährlichkeit“ der Professionen bzw.der „Professionals“ beantwortet. Nach Dietrich Rüschemeyer sind Professionen deshalb „potentiell gemeingefährliche Gruppen“ weil sie von „außen“, d. h. von hierarchischen Vorgesetzten oder vom Laienpublikum, nicht wirksam zu kontrollieren sind. „Der hohe Grad fachlicher Kompetenz macht eine spezielle Art der sozialen Kontrolle notwendig: denn Laien sind zur Beurteilung professioneller Arbeit kaum in der Lage, in vielen Fällen sind sie sogar außerstande, dieser überhaupt konkrete Ziele zu setzen.“ Bei William Goode heißt es ähnlich: „Klienten sind zwar formal frei in der Wahl ihres Arztes, Anwalts oder Pfarrers, aber sie verfügen in der Regel nicht über ausreichende Kompetenzkriterien, diese Wahl rational zu treffen; sie sind auch kaum in der Lage, die erhaltenen Leistungen kompetent zu beurteilen.“