Ohne Regelkenntnis und -Verständnis wird das parlamentarische „Sprachspiel“ (Wittgenstein) nur unzureichend vermittelt und ein realitätsorientiertes Politikverständnis weitgehend verhindert. Um zu einer angemessenen Beurteilung des demokratischen Parlamentarismus zu kommen, muß politische Bildung die wesentlichen Spielregeln — seien sie nun schriftlich kodifiziert bzw. rituell praktiziert — thematisieren und transparent machen.
Parlamentarische Sprechsituationen weisen unterschiedliche Ausprägungen und Besonderheiten auf. Neben der bekanntesten Spezies, der Plenardebatte, existiert eine weite Vielfalt institutionalisierter Kommunikationsformen, die sich z. B. in Zielsetzung, Öffentlichkeit, Teilnehmerkonstellation und Partizipationsgrad unterscheiden. Diese institutionalisierten Sprachsituationen sind reguliert, kanalisiert und gesteuert durch ein eng geknüpftes Netz aus Vorgaben, Vorschriften und Ritualen. Welcher Abgeordnete wann, wie lange, worüber spricht, unterliegt neben schriftlich kodifizierten Bestimmungen der Verfassung, den Geschäfts-und Fraktionsordnungen sowie bestimmten Ritualen und Bräuchen.
Maßgeblich kommt es nun darauf an, Bedeutung und Sinn parlamentarischer Spielregeln herauszustellen. Neben einer funktional-pragmatischen Komponente implizieren Regeln und Verfahren eine normative Dimension, wie in einem zweiten Schritt dargelegt wird. Abschließend werden Konsequenzen für die politische Bildung analysiert.
I. Skizzierung des parlamentarischen Sprachspiels und seiner Regeln
Politisch-parlamentarische Sprachformen unterliegen zahlreichen Rahmenbedingungen. Geschäftsordnung, Grundgesetz bzw. Landesverfassung, aber auch praktizierte Rituale und Parlamentsbräuche regulieren in den Parlamenten Verhandlungen sowohl im Plenum als auch in den jeweiligen Subgremien. 1. Spezifika parlamentarischen Redens Im Gegensatz zum philosophischen oder zum alltäglichen Dialog kann man beim politisch-parlamentarischen Dialog von einer Präformierung — z. B. durch Festsetzung der Tagesordnung, der Debattendauer, durch Redezeitverteilung, Sprecherbenennung etc. — sprechen. Dabei kommen in der parlamentarischen Praxis neben dem Präsidium vor allem dem Ältestenrat und den Fraktionsgeschäftsführungen gewichtige Bedeutung als Weichensteller zu.
Das Sprachverhalten der Abgeordneten ist deutlich geprägt von deren Zugehörigkeit zu einer Partei bzw. Fraktion. Der Sprachgebrauch kann bezüglich Selbst-und Fremdbild, Wortwahl und Argumentation als parteilich charakterisiert werden. Ziel ist weniger wie in der Philosophie die konsensuelle Orientierung der Dialogpartner, sondern das Treffen verbindlicher Entscheidungen. Bedingt durch die Mehrheitsverhältnisse im Parlament verläuft dies meist ohne Überraschung im Sinne der Regierungsfraktionen. Strategisch erstreben die Oppositionsfraktionen das Erreichen, die Regierungsfraktionen den Erhalt der Macht. Deshalb gilt es, gegenüber der Öffentlichkeit die eigene Position zu begründen, die des politischen Gegners zu disqualifizieren, um Anklang unter den Wählern zu finden; d. h. neben deliberierenden Momenten finden sich vor allem bei öffentlichen Diskussionen verstärkt rhetorische, z. T. polemische Elemente. Auch die unterschiedliche Zusammensetzung und die Größe der Gremien wirken sich auf die Kommunikationsabläufe aus. Die Mitglieder derselben Fraktion diskutieren innerparteilich — d. h. in Arbeitskreis bzw. Arbeitsgruppe oder Fraktion — durchaus kontrovers, agieren dann aber in interfraktionellen Gremien wie Ausschuß und Plenum eher geschlossen und versuchen, den Spielraum parlamentarischer Regeln zu nutzen.
In der parlamentarischen Praxis lassen sich der Arbeitsorganisation entsprechend vier grundsätzliche und interdependente Dialogkonstellationen unterscheiden: Plenarsitzungen, Fraktions-, Ausschußund Arbeitskreis-bzw. Arbeitsgruppensitzungen. Die einzelnen Sprachsituationen sind dabei nicht voneinander isoliert, sondern stehen eher in permanentem Austausch. Berichterstattungen und Empfehlungen der Ausschüsse/Arbeitskreise präformieren den Dialog im Plenum/in den Fraktionen bzw. fließen als Grundlage in deren Beschlüsse ein, während andererseits durch die Überweisung von Vorlagen an die Ausschüsse bzw. Arbeitskreise deren Verhandlungen vorstrukturiert werden. Dabei verflechten sich der interfraktionelle Kreislauf zwischen Plenum und Ausschüssen und die interfraktionellen Kreisläufe zwischen Fraktionen und deren Arbeitskreisen bzw. Arbeitsgruppen.
Da die vorentscheidende Arbeit im präplenaren Feld meist hinter verschlossenen Türen stattfindet und nicht transparent bleibt, wird das Ansehen des Parlaments in der Öffentlichkeit zu einem bedeutenden Teil von den Plenardebatten geprägt. Der eigentliche Dialog ist jedoch in die Ausschüsse bzw. in die Arbeitskreise und Fraktionsvorstände ausgewandert. Peter Schindler beklagte bereits 1969 zu Recht: „Was jedoch im Bundestag häufig fehlt, ist die zeitliche Verknüpfung von Diskussion und Öffentlichkeit. Was eine Einheit darstellen soll, ist zerfallen: Es gibt Diskussion ohne Öffentlichkeit und Öffentlichkeit ohne Diskussion.“ Nun wird das politisch-parlamentarische Sprechen durch verschiedenartige Regelsysteme geordnet. Neben schriftlich fixierten Regelungen — Grundgesetz, Verfassung und Verfassungsgerichtsentscheidungen, Gesetze, Geschäftsordnungen, Fraktionsordnungen — bestimmen praktizierte Rituale und Gewohnheiten den parlamentarischen Diskurs.
In der Hierarchie der Rechtsnormen nehmen Verfassungen und Gesetze parlamentsrechtlich verbindlichen Rang ein, während Geschäftsordnungen als autonome Satzungen mit intraparlamentarischer Gültigkeit den Verfassungen unterzuordnen sind. Trotz dieser Unterordnung weisen sie eine eigene Wertigkeit auf. Geschäftsordnungen sind nicht nur von den Verfassungen vorgeschrieben, sondern sie regulieren die parlamentarische Praxis erheblich engmaschiger und konkreter als die Verfassungsbestimmungen. Zusätzlich kanalisieren Rituale den Dialog innerhalb des Parlaments, aber auch im präplenaren Bereich durch Praktiken, die nicht oder zumindest nicht im Detail fixiert sind — beispielsweise die Regieführung der Fraktionsgeschäftsführer.
Die Fülle und Dichte der Regelsysteme engen die Wirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten erheblich ein, was Dieter Lattmann aus eigener Erfahrung folgendermaßen beschreibt: „Wer erwartet, als Neuling im Parlament rasch eine Spur zu ziehen, muß erfahren, wie stumpf seine Instrumente sind. Das Netz aus festgezurrten Vorgaben, die er nicht beeinflussen kann, federt ihn ab. Im Regelfall braucht er ein Jahr, um herauszufinden, was sich wo befindet, wie die Stellwerksfunktionen verteilt sind.“ 2. Grundgesetz und Länderverfassungen als Rahmen Das Grundgesetz und alle Verfassungen der Bundesländer enthalten Abschnitte mit Bestimmungen über das jeweilige Parlament. Dabei zeigt sich meist eine Präferenz für die Kodifizierung dieser Bestimmungen im vorderen Teil der jeweiligen Verfassung, was wohl als Indiz für die dem Parlament zugemessene Bedeutung interpretiert werden kann. Folgende, kommunikativ relevante Aspekte der parlamentarischen Spielregeln sind in den Verfassungen juristisch verbindlich kodifiziert:
Die Gewissensfreiheit des Abgeordneten Diese Eigenständigkeit des Parlamentariers impliziert grundsätzlich auch ein autonomes Rederecht, das aber nicht gänzlich unbegrenzt bleibt. Vielmehr wird es durch Geschäftsordnungen eingeschränkt, um die Funktionsfähigkeit des Parlaments — verwiesen sei hier auf Filibusterversuche — aufrechtzuerhalten. Die wegen der, Fraktionsdisziplin selbstauferlegte bzw. akzeptierte Beschränkung durch Fraktionsordnung und Fraktionspraktiken intensiviert diese Redeschranken erheblich.
Geschäftsordnungsgebot und Wahl des Parlaments-präsidiums Beide Forderungen sind Aufträge aller Verfassungen des Bundes und der Länder, die meist zusammen in einem Artikel postuliert werden. Die Forderung einer Geschäftsordnung (GO) ist insofern von Bedeutung, da der parlamentarische Dialog durch das System der Verfassungsbestimmungen zwar in seinem Rahmen abgesteckt, nicht jedoch hinreichend reguliert und organisiert werden kann. Konkrete, die parlamentarische Praxis steuernde Spielregeln — vor allem die Redeordnung — werden in den GOs festgehalten und ergänzen bzw. differenzieren die Verfassungsbestimmungen. In der Regel wird die alte Geschäftsordnung zu Beginn einer neuen Wahlperiode vom neuen Parlament übernommen. Ein schriftliches Regelwerk allein gewährleistet noch keinen effizienten parlamentarischen Dialog. Die Verfassungen verpflichten die Parlamentarier, als Schiedsgericht bzw. Spielleitung ein Parlamentspräsidium zu wählen, das neben der Ausübung des Hausrechts vor allem auf Einhaltung der Regeln achtet und gegebenenfalls Sanktionen in die Wege leitet.
Das Zitierrecht und das Recht auf Gehör Die jeweiligen Regierungsmitglieder können in allen Parlamenten der Bundesrepublik zur Teilnahme vorgeladen werden und sind dann zur Anwesenheit verpflichtet. Dieses in den Verfassungen garantierte Recht ermöglicht den Plena bzw.den Ausschüssen die Wahl des adäquaten, d. h. zuständigen und verantwortlichen Dialogpartners und so-mit die richtige Adressierung ihrer Belange. Die Modi des Zitierrechts differieren in den einzelnen Ländern. In allen Verfassungen ist das Zitierrecht korrespondierend mit dem Zutrittsrecht und dem Anhörungsrecht der Regierungsmitglieder in einem Artikel zusammengefaßt. Das Recht auf Gehör prägt die parlamentarische Diskussion, insbesondere die Plenardebatte erheblich. Dieses Redeprivileg ermöglicht Regierungsmitgliedern, ihre Ansichten jederzeit ohne Redezeitbeschränkung auch außerhalb der Tagesordnung im Plenum und in den Ausschüssen zu präsentieren. Öffentlichkeitsgebot und Mehrheitsprinzip Das Publizitätsgebot betrifft nur die Plenarveranstaltungen. Die eigentliche Willensbildung bzw. Entscheidungsvorbereitung läuft jedoch erst in nichtöffentlichen Fraktionssitzungen ab, ehe im Ausschuß ebenfalls nichtöffentlich die Fraktionsmeinungen zum Kompromiß gebracht werden. Die Plenarveranstaltung stellt nur den öffentlich nachvollziehbaren Ausschnitt aus diesem Prozeß dar In allen Landesverfassungen und im Grundgesetz ist das Mehrheitsprinzip als Entscheidungsregel fixiert. Zwei relevante Tatbestände müssen aber dabei berücksichtigt werden. Zum einen schreiben die Verfassungen für wesentliche Fragen eine qualifizierte Mehrheit, d. h. eine Zweidrittelmehrheit vor und erschweren dadurch Entscheidungen in diesen Bereichen. Zum andern bleiben die Grundrechte und die Strukturprinzipien der pluralen Demokratie grundsätzlich einer Abstimmung entzogen. 3. Die Geschäftsordnung Die Geschäftsordnung als zweites erheblich engmaschigeres Regelsystem wird vom Parlament autonom beschlossen und konkretisiert die von der Verfassung vorgegebenen Bestimmungen. Dabei sind neben der zentralen Bedeutung der Redeordnung für die parlamentarische Kommunikation vor allem die Paragraphen über den Ältestenrat, über den Parlamentspräsidenten und über Minderheiten-rechte relevant.
Der Ältestenrat sorgt für Drehbuch und Inszenierung des plenaren Geschehens, ist „zentrale Clearingstelle für alle Verfahrenswünsche der Fraktionen“ sowie „das wichtigste interfraktionelle Steuerorgan“ und befindet u. a. (allerdings nur mit Einstimmigkeit) über Tagesordnung, Debattenart, Länge einer eventuellen Aussprache und Redezeitkontingentierung.
Die Sicherung von Minderheitenrechten ermöglicht einer genau definierten Minorität (meistens in Fraktionsmindeststärke), den Einfluß der Mehrheit zu begrenzen und Willkür zu vermeiden. Dabei achtet das vom Plenum gewählte Parlamentspräsidium als Schiedsrichter auf Einhaltung der Spielregeln und der Minderheitenrechte sowie auf die Würde des Hauses. Die Kompetenzen des Parlamentspräsidenten und seiner Stellvertreter sind in der GO geregelt. Die Redeordnung als Verfahrens-grundlage reguliert u. a. Wortmeldung und -erteilung, Reihenfolge der Redner, Rededauer und Schluß der Aussprache, Sanktionsmaßnahmen, Modus der Rede sowie Zwischenfragen.
Eine praktikable und konsensfähige Geschäftsordnung darf kein starres Regelsystem darstellen, sondern muß eher eine „lex imperfecta“ sein und bei Wahrung der Minderheitenrechte Spielraum für Modifikationen lassen 4. Parlamentsbräuche Eine Reihe von praktizierten Ritualen und Gewohnheitsrechten nichtkodifizierter Art ergänzen die schriftlichen Bestimmungen und helfen, parlamentarische Verhandlungen flexibel zu gestalten. Solche ungeschriebenen Regeln werden gelegentlich, wenn sie sich in der Praxis bewährt haben, in die Geschäftsordnung eingebaut.
Neben der Sitzordnung und den Konstituierungsritualen sind dies vor allem die interfraktionellen Vereinbarungen der parlamentarischen Geschäftsführer der Fraktionen; sie können auch während einer laufenden Sitzung konsensuell eine Änderung der Tagesordnung, z. B. Erweiterung oder Absetzung von Vorlagen, Verzicht auf vorher vereinbarte Aussprachen, Schließen der Debatte und nachträglich vereinbarte Aussprache bewirken.
Einige Bräuche und Gewohnheiten haben sich im Laufe der Zeit verfestigt, andere veränderten sich bzw. verloren sich wieder. Zwischenrufe beispielsweise gehören längst zum parlamentarischen Alltag und werden Bestandteil des Plenarprotokolls, obwohl sie mit Paragraph 104 der GO des Bundestages (GOBT) kollidieren, der einem Abgeordneten nur mit Zustimmung des Präsidenten Rederecht gewährt. Redner sollten „grundsätzlich im freien Vortrag“ (GOBT § 33) sprechen. Dieser Bestimmung wird in der Praxis jedoch selten entsprochen, da einerseits bei Kurzdebatten die Stellungnahme der Fraktionen möglichst vollständig abgegeben und andererseits vor allem bei Femsehübertragungen rhetorischen Einbrüchen vorgebeugt werden soll. Bücker verweist auch auf das vorzeitige Absenden der Reden an die Tagespresse und plädiert für ein „Zurück zur freien Rede“
Seit 1972 hat sich im Bundestag ein für den parlamentarischen Dialog nicht unwesentlicher Brauch heräusgebildet. Vor großen Debatten erfolgt eine Kontingentierung der Redezeit zwischen Regierungslager, d. h. Mehrheitsfraktionen und Regierungsvertretern, und der Opposition im Verhältnis sechs zu vier. Entscheidend für das Gelingen dieser Abmachungen ist, daß sich Vertreter von Bundesregierung und Bundesrat in die Redeordnung einfügen und sich mit den parlamentarischen Geschäftsführern der jeweiligen Fraktion abstimmen, trotz ihrer grundgesetzlich zugesicherten Redeprivilegien. Seit 1983 mit dem Eintritt der Grünen in den Bundestag wurde diese Abmachung geringfügig modifiziert. 57, 5 Prozent der Redezeit erhielt die Koalition einschließlich Regierungsvertreter und Bundesratsmitglieder, 33, 33 Prozent die SPD einschließlich ihrer Bundesratsmitglieder und 17 Prozent die Grünen 9). Als weitere ungeschriebene Regel gilt, daß der Parlamentspräsident bzw.dessen Entscheidungen nicht im Plenum zu kritisieren sind.
Auch für den Umgang mit der Geschäftsordnung haben sich zwei ungeschriebene Regeln gebildet, deren Bedeutung für die politische Kultur nicht zu unterschätzen ist. Zum einen erfolgten GO-Änderungen bisher sehr behutsam und im wesentlichen konsensuell, obwohl aufgrund der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments die Mehrheit die GO in ihrem Sinne verändern könnte. Zweitens wurden die Geschäftsordnungsbestimmungen meist nicht extensiv ausgelegt; vielmehr wurde von zustehenden Rechten maßvoll Gebrauch gemacht. Dies hat sich seit Einzug der Grünen in die Parlamente geändert. Sie nutzen ihnen zustehende Rechte bisweilen sehr exzessiv, meist um Entscheidungen bzw. Beschlüsse aufzuschieben Bisherige Versuche in dieser Richtung blieben wenig effektiv und behinderten die Handlungs-und Entscheidungsfähigkeit des Parlaments nicht. Präsidium und Parlamentsverwaltung zeigten sich flexibel und meisterten bisher Obstruktionsversuche in recht überzeugender Manier.
II. Bedeutung parlamentarischer Verfahrensregeln
Wer die organisatorisch-funktionale Leistung der Regelsysteme als marginal einschätzt, verkennt deren Bedeutung und Sinn. Wenn in einer pluralen, freiheitlich verfaßten Demokratie im Parlament über Inhalte und Wege gestritten werden darf, so werden die Verfahren der Entscheidungsfindung und ihre Anerkennung durch alle am parlamentarischen Dialog Beteiligten bedeutsam. Diese können im wesentlichen zur Sicherung der Funktionsfähigkeit und zur Entlastung des Plenums von zeitraubenden Verfahrensfragen beitragen. Neben dieser pragmatischen tritt ganz wesentlich eine normative Dimension in den Vordergrund. So stehen z. B. bestimmte Inhalte nicht zur Disposition, Opposition ist legal zugelassen und erhält langfristig die Chance, mehrheitsfähig zu werden. 1. Historisch-prozessuale Entfaltung Die parlamentarischen Regeln sind zunächst einmal das Produkt eines langfristigen historischen Prozesses. Sie zeigten sich in dieser Entwicklung kontinuierlich und waren zugleich Innovationen unterworfen. Im Bundestag bzw. in den Länderparlamenten ist es üblich, daß die Geschäftsordnung, obwohl sie am Ende der Legislaturperiode ihre Gültigkeit verliert, von den neukonstituierten Parlamenten zunächst übernommen und bei Bedarf partiell verändert wird. D. h. überholte, unpraktikable Bestimmungen werden im Laufe der Zeit aufgegeben, unklare, auslegungsbedürftige Angaben spezifiziert und neue Regeln erprobt. In diesem Veränderungsprozeß spielen ungeschriebene Konventionen, also Parlamentsbrauch und Gewohnheitsrecht, eine bedeutende Rolle als Experimentierfeld für Verfahrensregeln. Für aufeinanderfolgende Parlamente innerhalb des gleichen politischen Systems ist die Kontinuität der GO keine Besonderheit; erstaunlicherweise jedoch läßt sich auch bei einer Veränderung der politischen Ordnung in gewissem Maße GO-Kontinuität verfolgen. Die Praxis der vorläufigen Übernahme und der anschließenden Überarbeitung von Parlamentsrecht wurde sogar bei einem so grundlegenden Wandel, wie dem vom Kaiserreich zur Weimarer Republik beibehalten. Eine Ausnahme stellte die NS-Diktatur dar, die sowohl das Parlament als auch das Parlamentsrecht zerstörte. Aber bereits der 1. Deutsche Bundestag übernahm 1949 wieder die nur an einigen Stellen modifizierte GO des Weimarer Reichstages vom 12. Dezember 1922 als Verhandlungsgrundlage, während hingegen das Grundgesetz wesentliche Veränderungen gegenüber der Weimarer Ve Dezember 1922 als Verhandlungsgrundlage, während hingegen das Grundgesetz wesentliche Veränderungen gegenüber der Weimarer Verfassung erfuhr 11).
Die jetzt gültige GOBT — aber auch jede GO der Länderparlamente — stellt keinesfalls ein geschlossenes Regelsystem dar, sondern bedarf permanenter Fortentwicklung und Angleichung an veränderte politische Herausforderungen, muß dabei aber stets die Verfassungs-bzw. Grundgesetzbestimmungen berücksichtigen. Somit zeigen GO-Regulative die geronnene historische Erfahrung, beinhalten grundlegende Verfassungsprinzipien und sind zugleich in gewissem Rahmen modifizierbar. 2. Entlastungsfunktion Parlamentarische Verfahrensregeln sind ein Ergebnis parlamentarischer Verhandlungen, aber gleichzeitig als Regelsystem das Fundament jeder parlamentarischen Verhandlung. Aus dieser Doppel-funktion heraus sind sie zum einen nicht oktroyiert, sondern mehrheitlich akzeptiert, zum anderen ein notwendiger Verfahrenskompromiß des Plenums und seiner Organe.
Wenn man in jeder Verhandlung Ablauf-und Regelungsprinzipien neu festsetzen wollte und nicht auf in Regeln gegossene Kompromisse und Erfahrungen zurückgreifen wollte, so würde parlamentarisches Deliberieren umständlich, unberechenbar und vor allem sehr zeitaufwendig ablaufen. Der Gedanke des Anthropologen Arnold Gehlen, daß durch Institutionen die Menschen sich nicht bei jeder Gelegenheit affektiv belasten oder sich Grundsatzentscheidungen abzwingen müssen, verdient in diesem Zusammenhang Beachtung. „Diese Entlastung wirkt sich produktiv aus, denn die wohltätige Fraglosigkeit, die dann entsteht, wenn der einzelne innen und außen von einem Regelgefüge getragen wird, macht geistige Energien nach oben hin frei.“ 12)
Ohne diese „Produktivität des Entlastungseffektes“ bzw. ohne die weitgehende Befreiung von Verfahrensfragen könnten sich weder Bundestag noch Länderparlamente und deren Organe inhaltlichen Entscheidungen so effektiv widmen. Regeln bewirken ein „automatisches Schon-Verständigt-sein“ und stellen somit ein konstitutives Element parlamentarischen Deliberierens dar. 3. Sicherung der Funktionsfähigkeit Wie für alle Regelsysteme, so gilt auch für das politische die Abhängigkeit von der Akzeptanz der Teilnehmer. Ohne soziale Verbindlichkeit in Verfahrensfragen könnte parlamentarisches Handeln, d. h. Beratung und gesellschaftlich verbindliche Entscheidung weder ermöglicht noch koordiniert werden. Das parlamentarische Regelsystem ermöglicht eine Steuerung in prozeduraler, personaler und inhaltlicher Hinsicht. Dieses komplexe Aufgabenfeld wird durch die Geschäftsordnung strukturiert, wobei nach Borgs-Maciejewski folgende Aspekte relevant sind:
— Organisation und Administration des Parlaments,
— Regeln für die Arbeit des Plenums und der Ausschüsse,
— Kontrolle der Regierung, — Schutz der Minderheit vor der Willkür der Mehrheit, — Schutz der Mehrheit vor Obstruktion der Minderheiten und — Rechte und Pflichten der Abgeordneten. Eine GO kann allerdings nicht das Problem von durch Wahlen entstandenen Patt-Situationen bzw. knappen Mehrheitsverhältnissen im Parlament lösen, hier muß ein relativ großer Verfahrenskonsens die Funktionsfähigkeit erhalten. Verschiedene Taktiken können zur Obstruktion genutzt werden. In bestimmten Konstellationen kann es geschehen, daß durch den Auszug einer Fraktion aus dem Parlament die Beschlußunfähigkeit hergestellt wird — eine aktive Form von Dialogverweigerung. Eine weitere Methode der exzessiven Auslegung, die dem Gehalt der GO widerspricht, bildet die Behinderung der parlamentarischen Arbeit durch eine Flut von Anträgen.
Die alltägliche Politik lebt von Auseinandersetzungen, Kompromissen und Zugeständnissen. In diesem Sinn haben sich die Geschäftsordnungen als unverzichtbare Grundlage zur Regelung parlamentarischer Verfahren erwiesen. 4. Sicherung von Legalität und Legitimität Neben den o. a. mehr organisatorisch-formalen Aspekten enthalten parlamentarische Regeln eine normative Dimension. Zunächst sichern kontrollierte Spielregeln die Legalität des parlamentarischen Verfahrens, d. h.dessen Übereinstimmung mit dem bestehenden Parlamentsrecht. Rechtssicherheit und Regelhaftigkeit ermöglichen Koordination und Kontrolle im parlamentarischen Dialog. Eine ausschließlich positivistische Bindung bzw. Sicherung der formalen Rechtmäßigkeit des Handelns bietet erfahrungsgemäß keine Gewähr dafür, daß Willkür und Unrecht vermieden werden können; der Terminus „legales Unrecht“ kennzeichnet solche Phänomene treffend. Um eine pluralistische, freiheitliche Demokratie zu bewahren, bedarf es der Ergänzung formaler Spielregeln durch das Prinzip der Legitimität im Sinne einer Rechtfertigung des Staates, seiner Herrschaftsgewalt und seiner Handlungen durch höhere Werte und Grundsätze. Die Differenzierung in Legalität und Legitimität ist, was die staatsrechtliche Begriffsverwendung betrifft, eine neuere, spezifisch deutsche Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert, während die inhaltliche Unterscheidung zwischen äußerer Rechtmäßigkeit und innerer, ethisch und transzendent begründeter Überzeugung bereits seit der attischen Philosophie, verstärkt jedoch seit der Aufklärung — Kant unterschied in seiner Kritik der praktischen Vernunft Legalität von der höherwertigen Moralität — verbreitet wurde.
Im Gegensatz zu Max Webers Idea Jahrhundert, während die inhaltliche Unterscheidung zwischen äußerer Rechtmäßigkeit und innerer, ethisch und transzendent begründeter Überzeugung bereits seit der attischen Philosophie, verstärkt jedoch seit der Aufklärung — Kant unterschied in seiner Kritik der praktischen Vernunft Legalität von der höherwertigen Moralität — verbreitet wurde.
Im Gegensatz zu Max Webers Idealtypisierung legitimer Herrschaft 16), wie auch z. B. zu Luhmanns eher organisationssoziologisch reduziertem Legitimationsbegriff 17) besteht auf Grund der geschichtlichen Erfahrung weitgehende Übereinstimmung über einen Grund-oder Minimalkonsens der parlamentarischen Demokratie. Die Notwendigkeit eines Grundkonsenses für den Erhalt der pluralistischen Demokratie wird in der deutschen Politikwissenschaft seit Emst Fraenkel meist akzeptiert. Neben dem kontroversen Bereich existiert nach Fraenkel ein nichtkontroverser Sektor 18).
Eine Gesellschaft ohne Grundkonsens ist nicht funktions-und überlebensfähig. Trotz einer weitgehenden Übereinstimmung in die Notwendigkeit des Grundkonsenses bestehen erhebliche Auffassungsunterschiede bezüglich der Konsensbreite und der konkreten Ausfüllung der Grundwerte. Um das Konsensproblem differenziert betrachten zu können. erscheint mir die Trias des Politologen Manfred Hättich geeignet. Er unterscheidet zwischen Ordnungskonsens, Verfahrenskonsens und Wertekonsens 19). Eine demokratische Ordnung bedarf einer hohen grundsätzlichen Zustimmung zum politischen System, d. h. eines breiten Ordnungskonsenses. Auch eine Übereinstimmung im Verhalten bzw. eine Akzeptanz gewisser Spielregeln — Hättich spricht statt vom Verfahrenskonsens auch vom Spielregelkonsens — erscheint vor allem in einer pluralistischen Gesellschaft, die Dissens in inhaltlichen Fragen ermöglicht, unverzichtbar. Im parlamentarischen Bereich wird diese Konsensebene im wesentlichen durch die Geschäftsordnung geregelt. Grundsätzlich kann mit Hättich festgestellt werden, daß der Wertebereich derjenige ist, der den geringsten Konsensbedarf aufweist. Im Gegenteil könnte hier eine zu hohe Übereinstimmung das Prinzip der pluralen Demokratie wieder einschränken. Es scheint sich in diesem Bereich eine unverzichtbare Minimalbasis herausgebildet zu haben, die über eine relativ hohe Zustimmung verfügt: die Artikel eins bis drei des Grundgesetzes mit ihren Spannungsfeldern Menschenwürde, Gleichheit und Freiheit.
Der Bandbreite der Interpretationen unterworfen, erscheinen hier bereits grundsätzliche Konfliktfelder, jedoch erwies sich dieses Wertgefüge bisher in der Praxis als tragfähige Basis von Entscheidungen im freiheitlich-demokratischen Staat. Gefährdungen des Grundkonsenses werden hier wieder aus unterschiedlichen Richtungen ausgemacht, Beispiele in jüngster Zeit belegen dies. In der historischen Genese freiheitlicher Demokratien bewirkte gerade die Willensbildung durch das Mehrheitsprinzip zum einen Anerkennung konkurrierender Standpunkte und zugleich eine Ablösung der nach dem Recht des Stärkeren getroffenen Machtentscheidungen. Zur Zeit wird verschiedentlich der Versuch unternommen, das Mehrheitsprinzip zugunsten einer anderen, qualitativen Legitimation aufzugeben. Es handelt sich hierbei um sogenannte „höhere Werte“ bzw. um „Überlebensfragen“ in der Welt. Unter Inanspruchnahme dieser höherwertigen Legitimation wird damit auch zugleich das Recht auf Widerstand legitimiert und generell die Anwendbarkeit des Majoritätsprinzips auf sensible, existentielle Entscheidungen in Frage gestellt In einer Ablösung des politischen Mehrheitsprinzips durch einen elitären, ethisch legitimierten Wahrheitsanspruch liegt bereits wieder die Gefahr des Totalitarismus
Eine Gefährdung des Verfahrenskonsenses und damit auch des Ordnungskonsenses scheint aber auch gegeben zu sein, wenn ein allzu sorgloser Umgang mit den Spielregeln besteht, z. B. im Sinne eines Taktierens bei knappen Mehrheiten, oder — daraus ableitbar — eine Erweiterung der Toleranz gegenüber einzelnen Abgeordneten bis zur Schmerzgrenze wie zur Zeit im Fall Vajen in Niedersachsen. _______
III. Konsequenzen für die politische Bildung
Aufbau und Entfaltung eines angemessenen, an der Realität orientierten Institutionenverständnisses bleibt für die politische Bildung nach wie vor problematisch. Trotz umfangreicher Bemühungen verschiedener Bildungsinstanzen sind über Parlamente neben diffusen Kenntnissen längst bekannte und bekämpfte Vorurteile weit verbreitet. Eckhard Jesse spricht zutreffend von „Vorurteilsträchtigkeit“. „Klischeevorstellungen“ und „StammtischAnsichten“ über Parlamentarismus.
Lücken im kognitiven Bereich begünstigen jedoch die Fehlperzeption in der normativen und evaluativen Dimension; anders formuliert: fehlendes Funktionswissen kann zu defizitärem Funktionsverständnis führen, kann die ohnehin geringe Reputation des Bundestages bzw.der Länderparlamente weiter abbauen und eine affektive, kritisch-loyale Akzeptanz von Institutionen erschweren bzw. verhindern. Ohne Kenntnisse der institutionellen Spielregeln kann ein Verständnis für den parlamentarischen Prozeß und eine reflektierte Identifikation mit einer pluralistischen, freiheitlichen Demokratie nicht ermöglicht werden.
Die Vermittlung von Polity-Kenntnissen allein wäre jedoch gleichzusetzen mit einem Rückfall in eine positivistisch-abstrakte Institutionenkunde. Der Verzicht auf prozessual-dynamische und reflektiert-normative Elemente würde zu Defiziten bei der Modifikation bzw.dem Aufbau von Einstellungen und Werthaltungen führen. Damit soll nun nicht ein Konzept politischer Bildung favorisiert werden, das den parlamentarischen Prozeß unkritisch und ausschließlich apologetisch betrachtet. Didaktische Intention muß es vielmehr sein, Polity-Wissen, insbesondere Verfahrensregelungen, weder auszublenden noch ausschließlich zu vermitteln, die Interdependenzen zur Policy-(Politikfelder) bzw. Politics-Ebene (Prozeßebene) aufzuzeigen, um über Polity-Verständnis (Institutionen-kenntnisse) die Bereitschaft zur reflektierten, selbstbestimmten Identifikation mit der freiheitlich-demokratischen Grundordnung zu ermöglichen. 1. Kenntnis institutioneller Rahmenbedingungen Politik spielt sich innerhalb eines Rahmens ab, der durch politische Prozesse gestaltet wurde und beständig fortentwickelt wird. Deshalb muß vor einer unterrichtlichen Bewertung parlamentarischer Probleme die Kenntnis der Rahmenbedingungen berücksichtigt werden. Dabei ist es günstig, ein weitgehend plenarzentriertes Verständnis zugunsten einer komplementären Auffassung von Plenum und präplenarem Bereich zu vermeiden, in dem plenare Entscheidungen wesentlich präformiert werden durch Aushandeln und Schließen von Kompromissen.
Bei der Thematisierung parlamentarischer Abläufe müssen adäquate Schlüsselfragen an das Grundgesetz und auch an die Geschäftsordnung als dichtestes Regelwerk gerichtet werden, vor allem hinsichtlich der prozeduralen, personalen und inhaltlichen Kanalisierung.
Die in der politischen Praxis vorhandenen und benötigten Freiräume werden durch Parlamentsbräuche und -konventionen in erheblichem Maße bestimmt. Die Berücksichtigung dieser nichtkodifizierten Regulative erscheint bei der Behandlung parlamentarischer Fragen im Unterricht ratsam, zumal politisches Klima, politisches fair-play bzw. das Niveau der parlamentarischen Kultur sich gerade im rechtlich nichtverbindlichen, ungeschriebenen Bereich zeigen. 2. Verständnis für institutionelles Handeln Eine Beschränkung politischer Bildungsbemühungen auf detaillierte Kenntnisvermittlung würde jedoch Erkenntnisbildung verfehlen bzw. sogar verhindern. Insofern gilt es, Sinn zu verdeutlichen, Verknüpfungen herzustellen und nicht Stoffwissen zu kumulieren, das ohnehin selten genug in die kognitive Struktur integriert wird. Heinrich Oberreuter spricht in diesem Zusammenhang zu Recht vom „unverstandenen Regierungssystem“
Weiß man um die Arbeitsteilung und die parlamentarischen Abläufe, so wird einsichtig, wieso das Plenum zwar Ort der Beschlußfassung und der öffentlichen Begründung von Entscheidungen, nicht aber Ort der eigentlichen Willensbildung ist. Kennt man die Verschränkung von Parlamentsmehrheit und Regierung, so versteht man die Verschiebung der öffentlichen Kontrollfunktion auf die Oppositionsfraktionen und die Unterstützung der Regierungspolitik durch die Mehrheitsfraktionen.
Beim Aufbau bzw.der Modifikation eines an der Realität orientierten Parlamentsbegriffs darf kein harmonisierendes, ideales Leitbild dominieren; vielmehr muß die plurale, oppositive Struktur verdeutlicht werden. Spielregeln ermöglichen dabei gewaltfreie Entscheidungen, ordnen den parlamentarischen Dialog und sichern die Funktionsfähigkeit des Gremiums. Sie schützen Minderheiten vor Willkür der Mehrheit, entlasten das Plenum, sichern Legitimität und legen einen Minimalkonsens fest. Darüber hinaus sollte auch verdeutlicht werden, daß das parlamentarische Spiel trotz aller regulierenden Subsysteme einen gewissen Freiraum benötigt. Durch zu detaillierte Regelungen würden Experimentierspielräume aufgegeben, Handlungsmöglichkeiten — vor allem der einzelnen Abgeordneten — weiter eingeschränkt und Spontaneität weitgehend verhindert werden. Spielregeln können und müssen in gewissem Rahmen fortentwickelt werden. Wesentliche Modifikationen sollten jedoch trotz der Geschäftsautonomie der Parlamente nicht ohne qualifizierte Mehrheit erfolgen, da in der Demokratie die Möglichkeit des Machtwechsels für alle Fraktionen gegeben ist.
Im Unterricht gilt es damit herauszustellen, daß gerade die Integration der Minderheiten einen Prüfstein für Reife und Qualität eines politischen Systems darstellt. Ebenso sollte verdeutlicht werden, daß exzessiver Gebrauch der Geschäftsordnung durch Fraktionen bzw. einzelne Abgeordnete parlamentarische Entscheidungen aufschieben bzw. bisweilen unmöglich machen kann. Auf diese Weise gewinnen Verfahrensfragen über ihre Regelungsfunktion hinaus eine zusätzliche anders geartete Bedeutung: Sie werden Objekt parlamentarischen Deliberierens und schieben sich vor die Lösung sachlicher Probleme. 3. Reflektierte Akzeptanz politischer Institutionen und Verfahren als Element politischer Kultur Hinter der Forderung an die politische Bildung, die Polity-Dimension wieder verstärkt zu berücksichtigen, steht ein wesentliches Lernziel: kritische Loyalität bzw. Identifikationsmöglichkeit mit Institutionen, essentiellen Prinzipien und Verfahren der freiheitlichen parlamentarischen Demokratie. Darüber hinaus benötigt eine pluralistische Gesellschaft — da sie Konflikte und inhaltlichen Dissens ermöglicht — von allen Demokraten anerkannte Verfahren. Wenn dadurch nicht nur undifferenzierte Meinungen korrigiert, sondern darüber hinaus kritisch-loyale Einstellungen und Wertungen ermöglicht werden, stellt die Förderung reflektierter Identifikation mit dem Ordnungs-und Verfahrenskonsens bzw. mit einem minimalen Wertekonsens einen erheblichen und notwendigen Beitrag zu Sicherung und Fortentwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik dar. „Bessere Unterrichtung und Information über das Parlament, die parlamentarischen Arbeitsabläufe und den Sinn der sie steuernden Regeln sind von ganz entscheidender Bedeutung für eine erfolgreiche Bildungsarbeit. Gerade den Lehrern obliegt hier eine große Verantwortung. Wer — wie es einem heute noch weit verbreiteten Mißverständnis entspricht — die parlamentarische Debatte an der Modellvorstellung eines öffentlichen Diskussionsprozesses mit wahrheitsstiftender Wirkung oder einer Lehrveranstaltung, an deren Ende möglichst alle gleicher Überzeugung sein sollten, mißt, muß fast zwangsläufig zu einem negativen Urteil über das Parlament kommen. Besserer Vermittlung bedarf auch die Bedeutung des Mehrheitsprinzips in der freiheitlichen Demokratie, in der Mehrheit und Wahrheit nicht identifiziert werden dürfen, aber auch Minderheiten nicht unter Berufung auf vorgeblich allein von ihnen erkannten Wahrheiten verbindliche Mehrheitsentscheidungen unterlaufen dürfen.“
Abschließend sollte bedacht werden, daß zum einen Lehrer und politische Bildner diese Aufgabe nicht alleine erfüllen können, sondern Unterstützung vor allem durch Medien und ganz wesentlich durch das Verhalten der Parlamentarier selbst benötigen und daß zum anderen die ungünstigen Rahmenbedingungen politischer Bildung weniger durch pädagogische, sondern im wesentlichen durch politische Entscheidungen der Länderparlamente zu verbessern wären.
Trotz aller Widrigkeiten, mit denen eine ins Marginale abgedrängte politische Bildung derzeit zu kämpfen hat, versteht der Autor reflektierte Akzeptanz politischer Institutionen und Verfahren als unverzichtbare Aufgabe einer sich der freiheitlich-demokratischen Grundordnung verpflichtet fühlenden politischen Bildung und als notwendigen Beitrag, um Heranwachsende zur politischen Teilnahme zu befähigen.