Der Streit der siebziger Jahre über Grundlegung und Zielorientierung politischer Bildung wurde um zentrale Fragen politischer Ethik geführt, ohne daß die Beteiligten sich dessen immer bewußt waren. Die Frage, welche Werte oder „Optionen“ den Unterricht leiten sollen und wie sie zu legitimieren seien, wurde in Wissenschafts-und demokratietheoretischen Kategorien erörtert. Man kann sie aber auch als Frage der politischen Ethik stellen, nämlich als Frage nach der rechten Ordnung des Miteinanders auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Die seinerzeit konkurrierenden Konzepte haben aus ihrer je spezifischen Wertorientierung durchaus auch erzieherische Konsequenzen für den Unterricht gezogen, aber diese wurden in der Regel in psychologisch-pädagogischer und in curricularer Sprache gefaßt. Von Moralerziehung war kaum die Rede, ihre Begrifflichkeit galt als konservativ und „affirmativ“; das Moralische stand im Verdacht, die strukturell gesellschaftliche Bedingtheit der Verhaltensweisen zu verschleiern
Das ist spätestens seit Beginn der achtziger Jahre anders. Für alle Bereiche unseres Daseins, besonders für Wissenschaft, Wirtschaft, Technik, Politik, fragt man heute nach ethischen Orientierungen; offenbar weil die neuen Grenzsituationen, in die die Menschheit insgesamt und die Industrievölker speziell geraten sind — hier nur angedeutet mit den Stichworten Frieden, Ökologie, Arbeit, Entwicklung, Gentechnik —, durch „wertfreie“ Sachrationalität nicht zu bewältigen sind. Die Rückfrage nach ethischen Normen und Grenzen, prinzipiell in allem menschlichen Handeln und Gestalten immer geboten, drängt sich heute als unabweisbar auf Was die politische Bildung betrifft, so scheint die Rede von Moralerziehung wieder „hoffähig“ geworden, seit das von Lawrence Kohlberg im Anschluß an Jean Piaget entwickelte Konzept der „kognitiv-moralischen Entwicklung“ bei uns mit viel Aufmerksamkeit rezipiert, von manchen sogar als das Modell politisch-moralischer Urteilsbildung im Politikunterricht propagiert wird
Die Vernachlässigung der ausdrücklich ethischen und moralischen Fragen in den siebziger Jahren wirkt in der politikdidaktischen Diskussion jedoch nach und macht Bemühungen um die Klärung des Verhältnisses von Fachunterricht und Moralerziehung einerseits und von Politik und Moral andererseits nötig. Dazu soll im folgenden ein Beitrag geleistet werden
I. Moralische Erziehung im Kontext von Wertklärung
Die Forderung, Fachunterricht solle zu moralischer Erziehung beitragen, kann nicht bedeuten, er solle auf die Erörterung moralischer Konflikte und auf den Aufbau moralischer Verhaltensdispositionen verengt werden. Zwar stellt das Moralische mit seinen Grundkategorien von Gut und Böse einen normativen Aspekt menschlichen Handelns und Verhaltens dar, der überall in Erscheinung tritt, wo Handlungs-und Verhaltensfragen berührt werden. Kein Handlungsbereich darf für sich beanspruchen, von moralischer Beurteilung freigestellt zu sein. Zudem bezieht diese sich nicht nur im Sinne einer Individualethik auf das Verhalten der handelnden Subjekte. Da menschliches Verhalten immer auch sozial bedingt ist, muß moralische Beurteilung in Gestalt einer Sozialethik vielmehr auch soziale Ordnungen, Institutionen und Strukturen erfassen. Dennoch ist das Moralische nur ein Aspekt unter anderen, und unsere Schulfächer bringen in je spezifischer Weise eigene Aspekte der Betrachtung von Wirklichkeit zur Geltung; ästhetische, kulturelle, historische, soziale, ökonomische, naturwissenschaftliche und religiöse Aspekte. Eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von Fachperspektiven und Moral scheint uns mit Hilfe des Wert-begriffes möglich.
Alle Natur-und Kulturphänomene können für uns Menschen unter dem Aspekt unseres Wollens und Strebens die Qualität des Wertes haben. Wir kennen die Werte der unbelebten und belebten Natur und erfahren gerade in unserer Zeit neu, wie sehr unser Dasein von ihrer Pflege abhängt. Wir kennen die ökonomischen Nutzwerte, die politischen Werte einer gemeinsamen Rechts-und Friedensordnung, die kulturellen und ästhetischen Werte, die religiösen Werte. Die Wertfrage ist jedem Schulfach immanent, wenn wir voraussetzen, daß Schule über die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten hinaus Aufgaben hat, die wir mit den Begriffen Bildung und Erziehung meinen. Denn diese Aufgaben machen es erforderlich, nach der Bedeutung der Unterrichtungsgegenstände für unser individuelles und soziales Leben zu fragen
Was wir hier soeben mit dem Begriff des „Wertes“ umschrieben haben, nannte die traditionelle Philosophie in ihrer Fachsprache nüchterner „Güter“ (bona). Alles Seiende hat unter dem Aspekt unseres Strebens den Charakter des bonum. Es gibt aber in unserer Welt eine Vielfalt der Güter oder Werte und also Wertekonkurrenz und Wertkonflikte. Zur Entscheidung solcher Wertkonflikte müssen wir in der Lage sein, Werte oder Güter nach Ranghöhe und Dringlichkeit zu unterscheiden. Dazu bedarfes der Kenntnis der jeweiligen Sache und Situation, und innerhalb gleichartiger Werte (z. B. Freizeitwert unterschiedlicher Urlaubsorte, ökonomischer Nutzen unterschiedlicher Güter) darf gewiß auch die subjektive Neigung eine mitentscheidende Rolle spielen. Aber immer, wenn unser Verhalten zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und (für den Gläubigen) zu Gott ins Spiel kommt — und das kann überall der Fall sein —, kann der Wertkonflikt auch zum moralischen Konflikt werden. Für seine Entscheidung spielen deshalb auch moralische Normen, die solchen Normen zugrundeliegenden Prinzipien und die Normgefüge eine Rolle, die wir Institutionen nennen. Zugleich können Wert-konflikte zur Frage nach den Geltungsgründen solcher Normen und Institutionen führen und nach ihrem Sinn für ein moralisch zu rechtfertigendes Leben und Zusammenleben.
Damit dürfte einsichtig sein, daß fachbezogene Wertklärung und moralische Urteilsbildung zusammenkommen müssen, wenn Fachunterricht zu moralischer Erziehung aus sich beitragen soll. Wenn wir unsere Lebensführung als Individuen und Gruppen verantworten sollen, gibt es keine moralfreien Räume menschlichen Handelns, aber wir dürfen die Wertfragen nicht auf Moralfragen reduzieren.
II. Didaktische Prinzipien eines wertklärenden Unterrichts
Ein Unterricht, der in diesem Sinne zu Wertklärung und moralischer Erziehung beitragen soll, muß durch eine Reihe didaktischer Prinzipien strukturiert sein, die darauf zielen, aus Umgangserfahrung und Wissen der Schüler bildende Erkenntnis werden zu lassen und das in den Unterrichtsmethoden enthaltene erzieherische Potential wirksam zu machen. Wir können uns diesbezüglich auf skizzenhafte Anmerkungen beschränken, da diese didaktischen Prinzipien bekannt und durchweg anerkannt sind.
Erstens gilt im Zugriffaufeine Thematik das Prinzip der motivierenden Verbindung des Gegenstandes mit der Lebenswelt und den bisherigen Erfahrungen der Schüler.
Im Politikunterricht wird es zwar nicht immer, aber doch häufig möglich sein, durch einen entsprechenden „Einstieg“ Meinungen und Wertungen, auch Interessen der Schüler zu mobilisieren und sie zur Auseinandersetzung mit der Thematik zu motivieren. Das braucht hier nicht weiter entfaltet zu werden, weil es in der didaktischen Literatur allenthalben eine große Rolle spielt. Der Lehrer sollte allerdings auch damit rechnen, daß subjektive Betroffenheit, zumal bei politischen Themen, Schüler auch blockieren und in Vorurteilen fixieren kann. Die Eröffnungsphase eines Unterrichts muß deshalb von dem Versuch geleitet sein, die Schüler für die Aufnahme neuer Informationen und für die Auseinandersetzung mit bisher Unbekanntem zu öffnen. Das erfordert auch die Bereitschaft, schon vorhandene Meinungen und Urteile zugunsten neuer Informationen gleichsam vorläufig zu suspendieren. Da es dabei auch um den Umgang mit Meinungsverschiedenheiten in der Lerngruppe geht, ist dies eine auch moralisch zu qualifizierende Leistung. Im Idealfall führt der Weg des Unterrichts von der Subjektivität über die Sachlichkeit zu wertender Aneignung. Dieser Weg kann gar nicht beschritten werden, wenn nicht am Anfang die Bereit-schäft und die zu übende Fähigkeit steht, die einer Thematik angemessenen Fragen zu stellen, Erkenntnisdefizite und Informationsmöglichkeiten möglichst präzise zu benennen.
Zweitens gilt in der kognitiven Dimension des Unterrichts das Prinzip der Unterscheidung und Verbindung von Sachund Wertfragen.
Wir können im heutigen wissenschaftsorientierten Unterricht nicht verzichten auf die Unterscheidung von Tatsachen und . Werten, von deskriptiver und normativer Aussage. In den höheren Klassenstufen muß das wissenschaftspropädeutische Bemühen um die Erkenntnis der Grenzen von Wissenschaft hinzukommen. Aber Unterscheidung darf nicht zur Trennung werden. Es gibt in einem Unterricht, der auf Erziehung und Bildung zielt, letztlich kein einziges völlig neutrales Faktum. Was durch Vorgaben des Lehrplanes und durch die begründete Entscheidung des Lehrers für den Unterricht ausgewählt wurde, steht immer in Beziehung zu Bildungs-und Erziehungsvorstellungen, und diese müssen im Unterricht eingelöst werden. Hier muß sich erweisen, ob und wie die großen Ziele in den alltäglichen Unterricht umzusetzen sind.
Unterricht überschreitet insofern die von den modernen Wissenschaften gern und in ihrem Sinne auch mit Recht betonten Fachgrenzen und wird gerade auf diese Weise zum Schulfach. Das Schulfach ist mehr als eine verkleinerte Wissenschaft, wobei wir hier davon absehen, daß „Wertfreiheit“ auch in den Wissenschaften nicht bedeutet, auf Beschäftigung und Auseinandersetzung mit Werten zu verzichten Allerdings dürfen die Wertfragen nicht künstlich von außen an die Sache herangetragen werden. Sie müssen vielmehr dem Gegenstand angemessen sein, sich aus ihm durch die Beziehung auf unsere Lebensfragen ergeben. Insofern geht es im Versuch der Wertklärung um die Philosophie und Ethik des jeweiligen Faches. Für diese Seite seiner Fächer muß der Lehrer einen Sinn entwickelt haben und ihn erzieherisch wie didaktisch wirksam machen können.
Drittens gilt in der kommunikativ-methodischen Dimension des Unterrichts das Prinzip des Dialogs.
Methode ist im Schulunterricht immer mehr als Weg zum Ziel, mehr als ein Instrumentarium zur besten Vermittlung von Inhalten. Methode hat in sich Zielqualität, ein erzieherisches Potential, das in der Begegnung der Schüler mit den Gegenständen wirksam werden soll. Im Unterricht geht es immer um gemeinsame Begegnung von Schülern, Lehrer und Sache, um das gemeinsame Klären von Sachverhalten und Bearbeiten von Problemfragen, um das Gespräch über begründbare und verantwortbare Urteile. Die Reduktion von Unterricht auf Instruktion begibt sich der wesentlichen Möglichkeiten erzieherischen Wirkens, reduziert den Schüler auf den Rezipienten, läßt ihn mit seinen Fragen und Problemen nicht zum Zug kommen
Das hier gemeinte Prinzip des Dialogs setzt nicht voraus, Tugend und Moral seien lehrbar. Es setzt aber voraus, sie seien bis zu einem gewissen Grad im sprachlich geleiteten Umgang miteinander und mit den Dingen lernbar. Das kommunikative Miteinander von Lehrer und Schülern im Bemühen um die Klärung uns betreffender Wertfragen und moralischer Fragen evoziert in uns Möglichkeiten nicht nur der Erkenntnis und Einsicht, sondern auch der Anerkenntnis von Werten und der tätigen Aneignung moralischer Verhaltensweisen
Viertens gilt in der „affektiven“ Dimension des Unterrichts, die man besser die moralische nennen sollte, das Prinzip der personal-ganzheitlichen Orientierung.
Ganzheitlich meint hier, das Werten als einen Akt der Person zu verstehen, die darin mit allen ihren psychischen Vermögen, mit Erkenntnis, Willen und Emotionen beteiligt ist. Diesem Prinzip entspricht die Leitfrage: Was geht das mich bzw. uns an? Was bedeutet dies für mich/uns, für meine/unsere Lebensführung? Das dabei vorschwebende Ziel heißt gewissenhafte Urteilsbildung, in welcher die Erkenntnis von Sachverhalten ebenso ernst genommen wird wie die Frage nach Wert oder Sinn einer Sache für uns und die Frage nach Folgen und Verantwortbarkeit bestimmter Handlungen, Entscheidungen und Verhaltensweisen.
Mit Bedacht war hier von Dimensionen des Unterrichts die Rede, nicht von Unterrichtsphasen. Denn die hier kurz skizzierten didaktischen Prinzipien sind nicht nacheinander im Unterricht zu realisieren, sondern müssen den Unterricht insgesamt durchdringen. Das schließt nicht aus, daß bestimmte Unterrichtsphasen stärker von diesem, andere stärker von jenem Prinzip geprägt sind
Auch auf Folgerungen aus den didaktischen Prinzipien für Einstellung und Verhalten des Lehrers sei nur am Rande hingewiesen. Der Lehrer darf sich weder in fruchtlose Neutralität zunickziehen noch „Moral predigen“ oder gar indoktrinieren wollen. Er muß seine Fachautorität, seine pädagogischen Fähigkeiten und sein politisches Engagement als demokratischer Staatsbürger didaktisch positiv im Sinne der genannten Prinzipien fruchtbar machen. Im Politikunterricht als Lehrer Position zu beziehen heißt eben nicht, den Schülern Beliebiges zur Wahl stellen; heißt nicht Rückzug hinter den neutralen Vergleich von Positionen; heißt freilich auch nicht. zu rasch oder im Ausspielen von Überlegenheit mit einer eigenen Position hervortreten. Pädagogischer Takt und die Fähigkeit und Bereitschaft, dem Für und Wider genügend Raum zu geben, sind ebenso gefordert wie das Einstehen für ein Urteil. Unangemessene Beeinflussung der Schüler ist dabei am ehesten zu vermeiden, wenn Positionen und Urteile nicht einfach registriert, wenn vielmehr nach Begründungen gefragt und diese miteinander verglichen werden
III. Politik und Moral — Hauptfragen politischer Ethik
Moralische Erziehung im Politikunterricht ist nicht nur ein pädagogisch-didaktisches Problem. Es ist auch, und nach unserer Erfahrung in stärkerem Maße, ein Problem politischer Ethik, weil die schwierige und zentrale Frage nach dem Verhältnis von Politik und Moral zur Diskussion steht. Wir müssen hier deshalb versuchen, auf diesem umstrittenen und von Mißverständnissen durchsetzten Feld einige Orientierungslinien zu ziehen. 1. Der Ort des Moralischen in der Politik Das Verhältnis von Politik und Moral ist gerade deshalb so kompliziert, weil für die „Sache“ Politik das Bewerten von Intentionen, Handlungen und Verhaltensweisen, also das moralische Werten in einem gewissen Sinne konstitutiv ist. Wir verstehen hier unter Politik einen spezifischen Modus sozialen Handelns. Dieser Modus des Handelns wird notwendig, wenn unterschiedliche Interessen von Personen bzw. von Personengruppen konkurrierend und konflikthaft aufeinander treffen. Interessen haben heißt aber, nach etwas streben, das man für sich und für seine Gruppe als wertvoll ansieht. Insofern werden in der Politik Wertekonkurrenz und Wert-konflikte als Interessenkonkurrenz und Interessen-konflikte zum Thema. Deshalb impliziert Politik immer Wertentscheidungen, die mehr sind als bereichsspezifische Sachentscheidungen; die vielmehr Menschen und Menschengruppen in ihren Interessen, in ihren Überzeugungen, in ihrem Selbstverständnis sowie in der Regelung ihres Miteinander betreffen. Sie sind also immer auch von moralischem Gehalt, und aus dem gleichen Grunde ist ein Politikunterricht ohne politische Ethik nicht möglich.
Das Politische erweist sich also als ein besonderer Intensitätsgrad des Sozialen. Das Soziale wird politisch, wenn das Miteinander von Menschen und Menschengruppen so zum Problem wird, daß es spezifischer Anstrengungen zu dessen Lösung bedarf. Es geht im Politischen nicht um die bereichs-spezifische kooperative oder konkurrierende Verwirklichung von Werten, etwa des Ökonomischen, des Kulturellen usw.; es geht vielmehr um die Ermöglichung des Miteinander in allen Sozialbereichen. Dazu bedarf es spezifischer Anstrengungen, weil dieses Miteinander immer und überall konflikt-haft werden kann und weil Konflikte auch gewaltsam ausgetragen werden können. Politik entspringt nicht der Fähigkeit des Menschen, physische Gewalt gegen seine Mitmenschen anzuwenden; sie entspringt vielmehr der vernünftigen Einsicht in die Notwendigkeit und Möglichkeit, das Problem der Gewaltsamkeit zu regeln. Dazu bedarf es aber einer spezifischen Form von Rationalität, die durch Elemente gekennzeichnet ist wie Situations-und Interessenorientierung, Macht-und Möglichkeitskalkül, Koalitions-und Kompromißsuche; ferner durch die Ausbildung spezifisch politischer Regeln, Institutionen und Organe
Wenn wir nur die eine Voraussetzung machen, daß das Problem des Miteinanders der Menschen nicht durch physische Gewaltsamkeit oder allein durch deren Androhung gelöst werden soll, dann sind alle Fragen politischer Rationalität zugleich Fragen von moralischer Relevanz und damit ethische Fragen. Wenn nämlich Gewalt ausgeschlossen oder wenigstens minimiert werden soll, dann lautet das Minimalprinzip politischer Ethik die Orientierung der miteinander konkurrierenden und konfligierenden Interessenten an einem Allgemeininteresse, nämlich an Normen der Konfliktregelung. Diese Normen verdichten sich in jeder komplexeren Gesellschaft zu Institutionen und Organen eines politischen Verbandes zum Zwecke der innergesellschaftlichen Friedenswahrung. Die Frage nach der Legitimation eines solchen Verbandes aus dem Selbstverständnis und dem Interesse aller seiner Angehörigen führt zu dem Prinzip, das in der Denkfigur der Vertragstheorien formuliert ist: Es soll eine vereinbarte gemeinsame Ordnung sein, der im Prinzip alle ihr Unterworfenen zustimmen können. Das ist zunächst utilitaristisch gedacht; denn die gemeinsame Ordnung wird aus dem wohlverstandenen Interesse aller Individuen begründet. Und es scheint eine formale Regel zu sein, deren Geltung evident ist, unmittelbar einleuchtet. Aber formale Regeln kann man endlos in Frage stellen, wenn nicht einsichtige materiale Gründe ihrer Geltung beigebracht werden. Immer kann man fragen: Warum sollen sie denn gelten?
Deshalb ist das formale Prinzip der Vertragstheorien nur evident aus einem materialen Grund, nämlich auf der Basis eines „normativen Individualismus“ In der europäischen politischen Philosophie der Neuzeit wurde auf dieser Grundlage eine Ethik des Politischen entwickelt, welche die politische Ordnung und das politische Handeln den Kriterien universalisierbarer Regeln der Gegenseitigkeit, der Fairneß und der Zumutbarkeit unterwirft. In dieser politischen Philosophie blieb jedoch, was zu wenig gesehen wird, die alteuropäische Überzeugung von der Personwürde des Menschen weiter wirksam. Erst das Zusammenwirken antik-christlieher Überzeugungen und neuzeitlicher Freiheitsphilosophie ermöglichte die Begründung inhaltlicher Minima einer Gemeinwohlordnung, die über die Verhinderung von Gewalt und die Minimierung von Zwang hinaus dem Schutz der Menschenwürde, der Garantie von Menschenrechten und der Verbindung des staatlich gesicherten Friedens mit Freiheit und Gerechtigkeit verpflichtet ist. Kants kategorischer Imperativ ist mehr als eine formale Regel, weil die Forderung nach Universalisierbarkeit der Handlungsmaxime den Wert „Menschheit“ zur Grundlage hat; weil der Mensch „Zweck an sich“ ist
Die Verpflichtung einer politischen Ordnung auf die Ziele Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, auf Achtung und Schutz der Menschenrechte fordert in unserer Zeit weltweite Anerkennung, weil die politisehen Hauptprobleme unserer Zeit weltweites Ausmaß angenommen haben und deshalb eine Orientierung auch der zwischenstaatlichen Politik an einem „Weltgemeinwohl“ notwendig machen. Allerdings fehlt es zur Wahrnehmung eines solchen Weltgemeinwohls noch fast ganz an der dafür nötigen Institutionenordnung. Dies scheint einer der Gründe dafür zu sein, weshalb der gegenwärtige Problemdruck häufig zu dem Kurzschluß führt, politische Probleme nur als moralische zu erörtern.
Politische Probleme sind, wie begründet, auch moralische; aber sie sind nicht allein durch moralische Anstrengungen lösbar, bedürfen vielmehr der entsprechenden normativ-institutionellen Vorkehrungen Dies ist in unseren weiteren Schritten zu bedenken. 2. Die Ambivalenz des Verhältnisses von Politik und Moral Das Verhältnis von Politik und Moral muß von beiden Seiten her bedacht werden. Es gibt das moralische Ungenügen der Politik, es gibt aber auch das politische Ungenügen der Moral. Politik muß ethischen Maßstäben unterstellt werden, sie ist aber nicht auf Ethik reduzierbar. Alle politischen Fragen haben eine moralische Relevanz, sie können aber nicht allein durch moralische Anstrengung gelöst werden.
Mit der einen Seite unserer Aussage wenden wir uns gegen alle Theorien und praktischen Versuche, für Politik eine Sondermoral zu beanspruchen. In politischen Theorien findet man ganz unterschiedliehe Ausprägungen solcher Begründung einer politischen Sondermoral. Es gab und gibt den soge-nannten Machiavellismus, der den Erwerb und die Sicherung von Macht zum obersten Ziel von Politik erklärt und zu diesem Zweck auch Verstöße gegen moralische Normen sowie die politische Instrumentalisierung von Moral, die Heuchelei, rechtfertigt. Es gab und gibt Ideologien, die Politik als Kampf zwischen feindlichen Weltanschauungen, Rassen oder Klassen erklären und für diesen Kampf die Anwendung auch moralisch verwerflicher Mittel aus dem vorgeblich guten Endziel rechtfertigen. Es gab schließlich den politischen Dezisionismus etwa eines Carl Schmitt, der politisches Handeln aus der Notwendigkeit der Selbstbehauptung politischer Verbände im Freund-Feind-Verhältnis erklärte und dieses Handeln ausdrücklich einer ethischen Beurteilung entzog.
In unserer öffentlichen politischen Diskussion spielen solche Theorien heute kaum eine Rolle. Sie sind durch die Geschichte disqualifiziert. Normalerweise denkt man bei uns, wenn es um Politik und Moral geht, an Phänomene wie den Mißbrauch anvertrauter Macht zu persönlichen Zwecken, an Wortbruch und Unehrlichkeit, an Diffamierung des politischen Gegners und ähnliches. Politische Machtträger scheinen der Versuchung zu solchen Praktiken tatsächlich in besonderem Maße ausgesetzt zu sein, und deshalb bedarf es ständiger öffentlicher Kontrolle und Kritik. Man muß aber sehen. daß diese Praktiken keineswegs auf das Politische beschränkt sind, sondern in allen Lebensbereichen vorkommen können. Denn wie Macht kein spezifisch politisches Phänomen ist, sondern als Möglichkeit der Beeinflussung des Verhaltens anderer in allen Sozialverhältnissen vorkommt, so gibt es in allen diesen Verhältnissen immer auch die Möglichkeit des Machtmißbrauchs. Dem muß gewehrt werden einerseits durch moralische Anstrengungen sowohl der Machtträger als auch der Machtunterworfenen, andererseits aber auch, und in der Politik ganz besonders, durch institutionelle Vorkehrungen: durch Begrenzung, Teilung, Befristung, Kontrolle und öffentliche Kritik übertragener Macht. Die Moral der Bürger und die öffentlichen Institutionen müssen sich dabei gegenseitig stützen. Das rechtsstaatlich-demokratische Institutionengefüge kann und will keineswegs garantieren, daß moralisches Versagen politischer Repräsentanten nicht vorkommt, und deshalb sollte man auch nicht den Fehler begehen, solches Versagen dem „System“ zur Last zu legen. Es kalkuliert vielmehr strukturell die Fehlbarkeit der Menschen ein und ermöglicht deren Kompensation und Bewältigung.
Nun tritt aber der Aspekt des Machtmißbrauchs in Diskussionen über Politik und Moral und auch in politischer Bildung häufig so stark in den Vordergrund, daß die Unentbehrlichkeit von Macht, ihr positiver Sinn, fast ganz vergessen wird. Der politische Repräsentant ist nicht nur im Sinne eines gleichsam wertfreien Funktionierens, sondern auch in einem moralischen Sinn verpflichtet, die ihm übertragene Macht erfolgreich einzusetzen, erfolgreich gemäß den übergeordneten legitimen Zielen des politischen Verbandes. Der politische Gesamt-verband einer Gesellschaft, den wir Staat nennen, ist zur Rechts-und Friedenswahrung verpflichtet. Das macht es erforderlich, Machtpotentiale zu kalkulieren und zu disponieren, in Konflikten die Interessen und Rechte der eigenen Bürger zu schützen und in diesem Sinne mit dem nötigen Geschick Kompromisse auszuhandeln. Das gleiche gilt innergesellschaftlich für die Konkurrenz zwischen Groß-gruppen und für das Konflikthandeln ihrer Repräsentanten. Politische Verbände sind nur einflußreich, soweit sie mächtig sind, das heißt in der Lage sind, die Interessen und Rechte ihrer Angehörigen im jeweiligen Interessengeflecht wirksam zur Gellung zu bringen. Dazu bedarf es auch taktischer Fähigkeiten und Verhaltensweisen, und deshalb dürfen diese nicht moralisch in Verruf gebracht werden. Es gibt bei uns ein weit verbreitetes Unverständnis für die Pragmatik des Machthandelns, weil die Einsicht in seine Unvermeidbarkeit unterentwickelt ist.
Deshalb wenden wir uns mit dem Hinweis auf die andere Seite des Verhältnisses von Politik und Moral gegen die Verkürzung politischer Fragen auf moralische. Politik zielt auf die Gestaltung der äußeren Verhältnisse des Miteinander von Personen und Gruppen, auf Strukturen, auf Regeln und Recht. Ihre spezifischen Mittel sind das Gesetz, der Vertrag, die Vereinbarung, die materielle Unterstützung, die Balance von Mächten und Interessen. Dabei können die Gruppenangehörigen, da es sich in aller Regel nicht um Kleingruppen, sondern um Großgruppen handelt, nicht unmittelbar am Aushandeln von Verträgen und Kompromissen und an Kollektiventscheidungen beteiligt sein. Vielmehr bedarf es dazu normativer und institutioneller Regeln, welche Repräsentation und repräsentatives Handeln ermöglichen. Die Repräsentanten sind zwar mächtig, aber sie sind doch zugleich eingebunden in das Ordnungsgefüge ihres politischen Verbandes und in das darin zum Ausdruck kommende Sinnkonzept des Zusammenlebens. In diesem Rahmen können sie über das Machtpotential ihres Verbandes verfügen, aber sie verfügen damit keineswegs unmittelbar über das moralische Potential seiner Mitglieder.
Es liegt demnach außerhalb der Reichweite von Politik, die Menschen unmittelbar moralisch zu bessern. Ihre Aufgabe in bezug auf Moral kann allenfalls so formuliert werden, daß Politik eine moralische Lebensführung der Menschen mit ihren Mitteln erleichtern soll. Dies tut sie, indem sie ein erträgliches, ein vereinbartes, ein rechtlich geordnetes Miteinander der Menschen ermöglicht und sichert, wobei sie die Menschen realistisch und nüchtern nehmen muß, wie sie sind. Die Menschen haben als Individuen und in ihren Gruppen Interessen und verfolgen ihre Interessen; sie sind insofern egozentrisch, was nicht egoistisch heißt, was aber zum Egoismus ausschlagen kann angesichts prinzipieller moralischer Anfälligkeit. Einerseits sind die Menschen durchaus fähig zu vernünftigem Ausgleich nach Regeln der Gegenseitigkeit, aber andererseits sind sie auch dazu geneigt, ihren Vorteil mit unlauteren Mitteln zu suchen. Dieses hier nur anzudeutende realistische Menschenbild wird in der Sprache eines bekannten christlichen Theologen so umschrieben: Des Menschen Fähigkeit zur Gerechtigkeit mache Demokratie möglich, des Menschen Neigung zur Ungerechtigkeit mache Demokratie nötig
Für Politik bedeutet dies eine Gratwanderung. Wo sie allzu sehr auf moralisches Wohlverhalten der Menschen vertraut, gefährdet sie die gemeinsame Ordnung, fördert den Mißbrauch der Gesetze und die Bereicherung an gemeinsamen Gütern. Wo sie nur Möglichkeiten des Fehlverhaltens bekämpfen will, muß sie zu polizeistaatlichen und diktatori-sehen Mitteln greifen. Wo sie sich selbst zu einer Instanz der Moral erhebt, mit moralischen Appellen und sittlichen Verpflichtungen der Bürger arbeitet, da instrumentalisiert sie Moral und nimmt totalitäre Züge an. Der moralische Kem des Menschen entzieht sich politischer Einwirkung. Der Versuch, ihn dennoch durch Politik zu erreichen, verletzt die Würde des Menschen.
Deshalb soll Politik nicht den „neuen Menschen“ schaffen wollen, sondern gute Gesetze und angemessene Ordnungen für den „alten Adam“ gestalten. Nur so wird ein erträgliches Miteinander in und zwischen den anonymen Großgruppen möglich. Damit wird zugleich die moralische Lebensführung der Menschen erleichtert. Je mehr andererseits die Menschen in ihrer gesellschaftlichen Kooperation und in ihren sozialen Institutionen aus eigenen Kräften Positives leisten, um so leichter sind auch die politischen Probleme zu lösen. Politik kann Moral nicht hervorbringen, sie setzt sie voraus und kann sie stützen. Das gilt auch für die Chancen von Politik, universale ethische Postulate heute weltweit wirksam zu machen. Der dazu notwendige strukturelle und institutioneile Wandel muß von den Bürgern gewollt und moralisch unterstützt werden. 3. Politisch-moralische Urteilsbildung im Spannungsfeld von Interessen und Gemeinwohl Unter ethischem Aspekt lautet die Aufgabe der Politik Sicherung und Gestaltung einer Rechts-und Friedensordnung, die ihre Legitimation aus unseren Vorstellungen von Menschenrechten, Freiheit und Gerechtigkeit bezieht. Eine solche politische Ordnung macht den Kem dessen aus, was in der Sprache der überlieferten politischen Ethik Gemeinwohl heißt. Eine Gemeinwohlordnung ist nur gut, wenn sie in der Lage ist, die unüberwindbare Spannung zwischen den vielfältigen Interessen in einer Gesellschaft und dem in der gemeinsamen Ordnung zum Ausdruck kommenden Allgemeininteresse angemessen zu bewältigen. Sie muß die natürliche Egozentrik der Menschen und ihre konkurrierenden Interessen so zum Zug kommen lassen, daß diese zugleich möglichst dem Gemeinwohl dienen. Durch die Vereinbarung von Interessen und Gemeinwohl in einer politisch gesetzten normativ-institutionellen Ordnung können politische Fragen bis zu einem gewissen Grad „entmoralisiert" werden. Gemeinsame, gesamtgesellschaftlich wirksame Institutionen und Normen sollen den Individuen und Gruppen ein gemeinwohlverträgliches Verhalten erleichtern, indem sie ihnen eine gewisse Sicherheit geben, daß auch die Konkurrenten sich so verhalten.
Von Entmoralisierung ist hier nur in einem relativen Sinn die Rede; denn wie wir gesehen haben, bleibt alles Politische immer auch von moralischer Relevanz. Aber mit dieser Relativierung darf mindestens in zweifacher Hinsicht von Entmoralisierung des Politischen gesprochen werden. Erstens entlastet eine funktionierende innergesellschaftliche Rechtsordnung die Menschen bis zu einem gewissen Grad von der ständigen moralischen Anstrengung, miteinander auszukommen. Sie können sich am geltenden Gesetz orientieren, das Rechte und Pflichten umschreibt, Sozialverhalten stabilisiert und einigermaßen berechenbar macht. Zwar läßt sich der Gesetzesgehorsam prinzipiell auch wiederum ethisch begründen, aber die alltägliche Beachtung der geltenden Gesetze und die Wahrnehmung der damit zugleich garantierten Rechte sind als solche keine spezifisch moralische Leistung. Dasselbe läßt sich in spezieller Weise von einer politisch gesetzten Wirtschaftsordnung sagen, in deren Rahmen etwa die Institution des Marktes eine Vielfalt ökonomischer Austauschverhältnisse regelt und die Marktteilnehmer zur Wahrnehmung ihrer Chancen am Markt legitimiert, ohne sie ständig moralisch in die Pflicht zu nehmen. In einer zweiten Hinsicht werden politische Fragen durch die Gemeinwohlordnung insofern entmoralisiert, als moralisch begründete Forderungen von Gruppen an die Gesamtgesellschaft in den Formen und nach den Regeln der gemeinsamen politischen Ordnung geltend gemacht werden müssen. Was sich diesen Formen und Regeln nicht fügt, bleibt partikulare Moral, kann der Gesamtgesellschaft nicht zugemutet werden. Institutionelle Vermittlung ist in beiden Hinsichten unabdingbar. Darin zeigt sich die Bedeutung von Institutionen für politische Ethik. Sie sind als soziale Sinngebilde moralisch relevant.
Wir sind heute gewohnt, das Gemeinwohl inhaltlich näher zu bestimmen mit Hilfe allgemein anerkannter Zielwerte wie Menschenrechte, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Frieden. Man muß sich jedoch davor hüten, daraus eine unpolitisch moralisierende Ideologie zu machen. Diese Gefahr resultiert besonders aus der Vorstellung, die genannten Ziele müßten durch Politik in idealer Weise verwirklicht werden. Sie sind aber von der Art, daß sie nie endgültig erreicht sind, sondern ständige Aufgaben bleiben in der geschichtlich wandelbaren Gestaltung der Gemeinwohlordnung. Der Staat kann nicht die Freiheit realisieren; er kann nur Ordnungen der Freiheit gestalten. Er kann nicht die soziale Gerechtigkeit herstellen; er kann nur gerechte Gesetze erlassen und soziale Strukturen in Richtung auf mehr Gerechtigkeit beeinflussen. Er kann nicht den Frieden bringen; er kann nur friedliche Konfliktregelung institutionell ermöglichen und praktizieren. Die Konflikte konkurrierender Interessen zwischen Menschen, Gruppen und Staaten sind strukturell nicht aufzuheben. Eine politische Ordnung kann die Gesellschaft nicht konfliktfrei machen; sie ist vielmehr dazu da, geregeltes Konflikt-handeln zu ermöglichen. Zur Erläuterung sei das Gesagte kurz auf eines der in Münster vorgelegten Unterrichtsmodelle bezogen, nämlich auf eine Unterrichtseinheit „Räterepublik oder Parlamentarische Demokratie“ Der ethische Gehalt dieser Thematik liegt nach unseren Erörterungen nicht nur in ihrer philosophisch-anthropologischen Seite, sondern auch in ihrer ordnungspolitisch-institutionellen. Die zu Beginn der Weimarer Republik miteinander konkurrierenden Ordnungsvorstellungen sind auch danach zu beurteilen, welche von beiden eher in der Lage war, die Kriterien, an denen eine demokratische Ordnung zu messen ist, optimal zu berücksichtigen, nämlich: Partizipation, Repräsentation, Effizienz, Transparenz und Kontrolle. Eine Ordnung, der es gelingt, diesen Kriterien unter dem übergeordneten Ziel des inneren und des äußeren Friedens gerecht zu werden, hat in sich eine moralische Qualität. Hinzu kommen in der Beurteilung selbstverständlich situationsbezogene Aspekte, nämlich Fragen wie diese: Was war durchsetzbar und den in der Gesellschaft vorhandenen Kräften zumutbar? Was war geeignet, die herrschende Not zu lindem oder gar zu beenden? Auf welchem Weg konnte am ehesten ein erträglicher Friedensvertrag erreicht werden?
Aus unseren bisherigen Überlegungen ergeben sich wichtige Konsequenzen für die Aufgabe der Urteilsbildung im Politikunterricht. Zur Vereinbarung konkurrierender Interessen mit dem Gemeinwohl bedarf es zwar allgemeingültiger Regeln und formaler Prinzipien. Aber diese schreiben die inhaltlichen Lösungen nicht vor. Sie sind nicht in der Lage, die Diskrepanz von Interessen und Gemeinwohl aufzuheben. Deshalb kommt es in politischer Bildung, die zur Wertklärung und zu moralischer Erziehung beitragen soll, ganz wesentlich auf die politischkategoriale und diskursiv-argumentative Durchdringung der Sachverhalte, der Situationen und der in ihnen gegebenen Möglichkeiten an. nicht auf die Suche nach der prinzipiell „richtigen“ Lösung.
Der Politikunterricht darf sich deshalb nicht in eine moralische Engführung begeben, etwa im Sinne der Dilemma-Diskussionen nach Lawrence Kohlberg. Oberste formale Prinzipien der Moralität, seien sie nach Kant, nach Rawls’ Gerechtigkeitstheorie oder nach Kohlbergs Theorie der moralischen Entwicklung formuliert, sind für politische Ethik zwar nötig und in politischer Bildung hilfreich zur Klärung ethischer Fragen. Sie ziehen Grenzen und scheiden so Lösungen aus. die ethisch nicht vertretbar sind. Sie geben auch die Richtung an, in welcher vertretbare Lösungen zu suchen sind. Sie schreiben diese aber nicht inhaltlich vor, weil sie keine Antwort geben auf die zentralen politischen Fragen: — nach der jeweiligen Situation und nach den sie bedingenden Faktoren, nach der Interessen-und Machtkonstellation und deren Genese;
— nach Möglichkeiten und Grenzen politischer Lösungen in der gegebenen Situation;
— nach den dabei zu beachtenden und zu nutzenden rechtlich-institutionellen Vorgaben;
— nach Partizipationschancen, nach Koalitionsund Kompromißmöglichkeiten.
In der politischen Urteilsbildung kommen die obersten Ziele des Politischen und universale Prinzipien politischer Ethik zur Geltung, wenn Lösungs-und Entscheidungsmöglichkeiten zu beurteilen sind unter Legitimationsgesichtspunkten, unter dem Aspekt der Zumutbarkeit für die Betroffenen und unter dem Aspekt der Verantwortbarkeit möglicher Folgen. Darin ist die Orientierung an obersten Zielen und an universalen Prinzipien unersetzbar.
Auch die Vorstellung, wie sie etwa bei Kohlberg und bei Habermas eine zentrale Rolle spielt, daß gleichberechtigte Partner ihre Regeln des Umgangs miteinander jeweils aushandeln, ist im Kern politisch, insofern im „idealen Diskurs“ keine „naturwüchsige“ Autorität gilt. Aber der „ideale Diskurs“ ist ein theoretisches Konstrukt und ist potentiell unabschließbar. Der politische Streit hingegen hat geschichtlich-situativen Charakter; er läuft in einem sozial-strukturellen Kontext ab und bedarf zwischen Großgruppen der Repräsentation durch Mandatsträger. Für geregelten Ablauf und zurechenbare Entscheidung ist deshalb eine Institutionen-und Kompetenzordnung nötig, die es erlaubt, die Diskussion zu beenden und verbindlich zu entscheiden. Nach den Prinzipien einer jeden Vertrags-und Konsenstheorie ist solche Entscheidung verbindlich, aber sie erhebt nicht den Anspruch, die Wahrheit zu enthalten. Die vorausgegangene öffentlich-politische Diskussion bietet allenfalls, wenn sie einigermaßen rational geführt wird, die Chance, das Bessere zu finden. Aber an der Unterscheidung von Wahrheits-und Geltungsanspruch muß festgehalten werden; erst sie ermöglicht legale Opposition und Revision.
Auf Kohlbergs Stufenmodell bezogen heißt dies, daß im politischen Umgang die Stufen zwei bis vier ihr relatives Recht behalten. Sie sind in den Stufen fünf und sechs insofern „aufgehoben“, als eine politische Ordnung, die auf den Prinzipien dieser obersten Stufen beruht, gerade den Sinn hat, das Miteinander und die Auseinandersetzung auf den vorausliegenden Stufen konventioneller Moral und geltenden Rechts für den Regelfall zu ermöglichen. Wenn dies zutrifft, dann dürfen aber das Handeln nach dem Prinzip des „do ut des“ und nach dem geltenden Recht ebensowenig negativ bewertet werden wie die politischen Verhaltensweisen des strategischen und taktischen Kalküls. Diese sind in der Politik nicht nur faktisch immer vorhanden, sie sind vielmehr auch'von politischer Ethik geboten, soweit sie als Mittel erforderlich sind, um im jeweiligen Kontext Interessen und Gemeinwohl miteinander zu vereinbaren. 4. Politische Zielkonflikte — Aushalten von Komplexität
Das Verhältnis von Politik und Moral erweist sich schließlich als um noch einige Grade schwieriger, wenn man bedenkt, daß es Politik strukturell nicht nur mit ständiger Interessenkonkurrenz zu tun hat, sondern mit unaufhebbaren Zielkonflikten in der Gemeinwohlfindung selbst. Die Zielwerte des Gemeinwohls — nennen wir nur abgekürzt Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden — bedingen sich zwar gegenseitig, stehen aber in der konkreten Situation häufig zugleich in Spannung zueinander.
Die möglichen Konflikte zwischen diesen Zielen ergeben sich aus mehreren Quellen:
— Da es konkret nie um „den Wert“ oder „das Recht“ im Singular geht, sondern um die Vereinbarung der Rechte aller, gibt es die Konflikte zwischen den Rechtssubjekten. Es stehen das Leben, die Freiheit, das Eigentum der einen und der anderen einander gegenüber und müssen miteinander vereinbart werden.
— Da es konkret immer um die Ermöglichung und Sicherung vieler Werte bzw. Rechte geht, gibt es die Konflikte zwischen unterschiedlichen Werten; Konflikte zwischen Freiheitsrechten und sozialen Rechten, zwischen Menschenrechten und Frieden, zwischen politischen Freiheitsrechten und privaten Schutzrechten, zwischen Freiheitsrechten und öffentlicher Ordnung.
— Da es konkret um den politisch-rechtlichen Schutz und um die Durchsetzung von Werten bzw. Rechten in Sozialverhältnissen geht, gibt es Konflikte über die Reichweite, über den Anwendungsbereich und über die Durchsetzbarkeit von in Rechtsform gefaßten Werten einschließlich der Frage nach kontraproduktiven Nebenfolgen beim Versuch der Durchsetzung. Kann das Lebensrecht der Ungeborenen auch gegen den Willen der Eltern durchgesetzt werden? Gibt es ein Recht auf Ausbildung ohne jede zeitliche Begrenzung? Welche Erfolgsaussichten hat ein Umweltschutz, der vornehmlich mit Verbotsnormen arbeitet? Wie weit oder wie eng soll das Recht auf politisches Asyl gefaßt sein? Welche Form der Steuerprogression ist am ehesten geeignet, Gesichtspunkte sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz zu vereinbaren?
Angesichts solcher Zielkonflikte ist die moralische Argumentation im Politischen an besondere Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit zu binden. Es besteht immer die Gefahr, für das eigene Interesse oder für die eigene Überzeugung die höhere moralische Legitimation zu beanspruchen und so aus dem Meinungsstreit einen Kampf zwischen Gut und Böse zu machen. Vor allem die moralisierende Kurzschlüssigkeit, die die politische Analyse und die ethische Güterabwägung überspringt und so tut, als ergebe sich eine bestimmte Antwort eindeutig aus dem moralischen Prinzip, muß zurückgewiesen werden. — So scheint mir, um hier nur einen Bezug zu einem aktuellen Streit herzustellen, die Frage nach dem Ausländerwahlrecht moralisch nicht entscheidbar. Meines Erachtens ist sie nur zu entscheiden im Blick auf die eigene Institutionenordnung und im Kontext der Ausländerpolitik, die ein Staat sich insgesamt zum Ziel setzt. Daß diese ihrerseits den Belangen der Ausländer gerecht werden muß und damit auch moralisch zu qualifizieren ist. ist dabei selbstverständlich.
Politikunterricht muß auch deutlich machen, daß viele unserer gegenwärtigen Probleme, und zwar gerade die als besonders belastend empfundenen neuen Grenzsituationen in der Frage der Friedenssicherung, der internationalen sozialen Gerechtigkeit, des Umwelt-und des Lebensschutzes, der Zukunft der Arbeit, nicht so sehr Zielprobleme, sondern viel eher „Steuerungsprobleme“ sind Der politische Streit über diese Probleme ist nur sinnvoll, wenn er nicht darüber geführt wird, wer die bessere Gesinnung hat, sondern darüber, ob und wie wir die Werte und Ziele, die hier miteinander im Konflikt liegen, politisch und rechtlich besser einander zuordnen können. Die Versuchung zum Moralisieren ist bei hohem Problemdruck besonders groß, weil Komplexität nicht leicht auszuhalten ist und „ein gutes Gewissen“ beruhigt. Es bringt aber keine Lösung; wir müssen auch lernen, mit Ungewißheiten zu leben.
Auch hier sei ein Hinweis auf eines der in Münster vorgelegten Unterrichtsmodelle angebracht. Die Unterrichtseinheit über die Verschuldung der Entwicklungsländer leistet meines Erachtens einen vorzüglichen Beitrag zur Moralerziehung dadurch, daß sie das Ziel verfolgt, einen komplexen Sachverhalt sorgfältig zu analysieren und die verschiedenartigen Faktoren der Verschuldung von Entwicklungsländern herauszuarbeiten; daß sie dabei aber keineswegs darauf verzichtet, nach einem begründbaren Engagement in unserer Gesellschaft für die Menschen in Entwicklungsländern zu fragen. Es sei hier nur an einem einzigen Punkt darauf hingewiesen, wie notwendig es ist, in so schwierigen Fragen sich nicht mit sozial und moralisch einleuchtenden Urteilen zufrieden zu geben, sondern immer noch einmal nach der „Kehrseite der Medaille“ zu fra-gen. Es heißt an einer Stelle in dem Entwurf, die Forderung des Internationalen Währungsfonds (IWF) an Entwicklungsländer, ihre Subventionen von Nahrungsmitteln zu streichen, erhöhe die Preise für die Grundnahrungsmittel. Das ist zweifellos zutreffend, und der IWF hat diesbezüglich ja auch inzwischen zurückstecken müssen. Aber in langfristiger Perspektive ist die Subventionierung von Nahrungsmitteln gerade in Entwicklungsländern ökonomisch wie sozial kontraproduktiv. Sie lenkt wertvolle Kapitalien in den Konsum statt in Investitionen; sie hemmt die Entwicklung der Landwirtschaft, weil sie ihr angemessene Erlöse für ihre Produkte vorenthält; sie ist in manchen Fällen Ausdruck von „Verteilungskartellen“ zwischen den Herrschenden und ihrer massenhaften Klientel in den Ballungszentren gegen die ländliche Bevölkerung. Unser Plädoyer für das Aushalten von Komplexität und das Leben auch mit Ungewißheiten soll keineswegs als falsche Beruhigung oder gar als Aufforderung zur Resignation verstanden werden. Zu politischer Bildung gehört auch die Einsicht, daß wir uns oft trotz bleibender Ungewißheiten entscheiden und für eine Sache engagieren müssen. Aber Urteil und Engagement gewinnen an Glaubwürdigkeit, wenn sie einhergehen mit der Einsichtin die eigene Begrenzung und mit der Bereitschaft, dazuzulernen. An diesem Punkt zeigt sich eine ganz spezifisch moralische Seite dessen, was wir mit verantwortlicher Urteilsbildung meinen. Es zeigt sich, daß diese Aufgabe sowohl die Grenzen eines Faches als auch die kognitive Dimension des Unterrichts überschreitet. Letztlich lassen sich Problemkomplexität und Ungewißheit, sofern man sie als strukturell zu unserem menschlichen Dasein zugehörig erfährt, nicht einmal mehr moralisch, sondern nur noch religiös bewältigen. Auch darauf darf im Unterricht einmal aufmerksam gemacht werden, freilich nicht im Sinne einer Ausflucht.
IV. Politische Ethik als Vernunft-und Tugendethik
Das politische Urteil, um dessen Ausbildung der Politikunterricht sich nach unseren bisherigen Erörterungen bemühen soll, heißt in der Tradition der philosophischen Ethik Klugheitsurteil. Denn die Klugheit gilt in dieser Ethik als die erste und grundlegende der vier Kardinaltugenden. Sie verbindet die Einsicht in oberste Prinzipien des Handelns mit dem Blick für die situationsbedingten Erfordernisse, Möglichkeiten und Grenzen und versucht, aus beidem zusammen das moralisch verantwortbare Handeln zu bestimmen. Es scheint uns eine gewisse Konvergenz zu bestehen zwischen dieser klassischen Tugendethik und der neuzeitlichen formalen Vernunftethik. Für beide ist sittliches Handeln mehr als die Befolgung der geltenden Moral. Die neuzeitliche Vernunftethik fordert Moralität, das heißt die Bindung des sittlichen Willens an ein oberstes und unbedingtes Prinzip. Die Tugendethik setzt die Geltung eines solchen obersten Prinzips ebenfalls voraus, sieht es freilich anders, nämlich materialiter in einer Metaphysik begründet, und bemüht sich im übrigen realitätsnäher um die Beschreibung der Qualitäten des sittlich Handelnden, also um die sittliche Tüchtigkeit des Menschen, eben um Tugend. Aber unbeschadet unterschiedlicher Letztbegründungen, metaphysisch in der alten Tugendlehre, transzendental in der neuzeitlichen Vernunftethik, kommen beide Formen der Ethik nicht aus ohne die Annahme materialer Werte oder Güter.
Die universalen formalen Regeln, wie sie uns in Kants kategorischem Imperativ, in Rawls’ Gerechtigkeitstheorie als Fairneßregel, in Kohlbergs Entwicklungstheorie als Gegenseitigkeit und wiederum als Gerechtigkeit begegnen, setzen zu ihrer Anerkennung die Evidenz eines materialen Wertes voraus. Denn gegenüber der formalen Regel bleibt immer die Frage möglich, warum sie denn gelten soll. So ist in Kants kategorischem Imperativ, worauf wir oben schon hingewiesen haben, die Evidenz des Wertes „Menschheit“ vorausgesetzt. In Kohl-bergs Gegenseitigkeitsmoral ist es die Gleichheit aller im Menschsein. Konkreter und ausdrücklich orientiert sich Kohlberg an den Grundwerten der amerikanischen Verfassung.
Gerechtigkeit wird auch in der alten Tugendlehre weithin formal beschrieben, aber zugleich wird eine gewisse Inhaltlichkeit vorausgesetzt. Nach der Klugheit, die die Verbindung herstellt zwischen den theoretischen und den ethischen Tugenden, gilt Gerechtigkeit in der Tugendlehre als die wichtigste ethische Tugend, weil sie von zentraler Bedeutung ist für das Zusammenleben der Menschen. Sie begegnet uns dort zunächst auch als formale Regel der Gegenseitigkeit, nämlich in der Form der Tausch-oder Verkehrsgerechtigkeit. Hier ist eine Gleichheit der Rechtsgenossen vorausgesetzt, weshalb Leistung und Gegenleistung sich entsprechen müssen. Aber politisch, in bezug auf das Gemeinwohl, genügt diese Form der Gerechtigkeit nicht. So wie in der alten Ethik Gemeinwohl mehr ist als ein rein formal verstandenes Allgemeininteresse, nämlich materialiter verstanden wird als eine am Personsein des Menschen ausgerichtete Ordnung, so geht auch die im Politischen geforderte Gerechtigkeit über die formale Gegenseitigkeit hinaus. Sie heißt distributive Gerechtigkeit und besteht in der Bereitschaft, jedem und allen Gruppen Teilhabe an den Gütern (Werten) der gemeinsamen Ordnung zu gewähren. Das ist deshalb mehr als ein formales Prinzip, weil darin Personsein in Sozialität und dessen Angewiesensein auf eine politische Ordnung vorausgesetzt werden.
Distributive Gerechtigkeit erfordert eine entsprechende Institutionenordnung, in der Kompetenzen sowie deren Reichweite und Verantwortung umschrieben sind. Die Verantwortung der politischen Amtsträger und der Bürger endet nicht an den Grenzen des eigenen politischen Verbandes. Es gibt, worauf wir schon hinwiesen, weltweite Gemeinwohlerfordernisse. Aber ohne eine entsprechende politische Ordnung sind diese nicht oder nur in sehr engen Grenzen einlösbar. Die formale Tauschgerechtigkeit genügt dafür nicht; das könnte man im einzelnen heute sowohl an der Friedens-als auch an der Entwicklungsproblematik zeigen.
Die zentralen Kategorien politischer Ethik heißen demnach Gemeinwohl, Klugheit und Gerechtigkeit. Wir meinen, daß diese Ethik sehr wohl dem Prinzip Moralität gerecht wird, das die neuzeitliche Vernunftethik zum Angelpunkt ethischer Reflexion gemacht hat. Die Moralität der politisch Handelnden bewährt sich in ihrer politischen Klugheit, das heißt in der Fähigkeit, Gemeinwohlerfordernisse in der konkreten Situation zu erkennen und ihnen gerecht zu werden. Die moralische Voraussetzung dazu ist der Wille zur Gemeinwohlgerechtigkeit, aber dieser darf nicht reine Gesinnung bleiben, sondern muß wirksam werden im rationalen politischen Handeln.
Auch die beiden weiteren Kardinaltugenden, die Tapferkeit und das Maß, sind von hoher politischer Relevanz. Tapferkeit heißt die Bereitschaft, Nachteile in Kauf zu nehmen um höherer Güter willen. Sie meint also den Mut (Zivilcourage), eine in der Erkenntnis vollzogene Güterabwägung auch im sozialen und politischen Kontext durchzuhalten. Das Maß oder die Mäßigung ist die Fähigkeit, Affekte und Leidenschaften, über deren mögliche positive wie negative Bedeutung im Politischen hier kein Wort verloren werden muß, unter der Kontrolle der Vernunft zu halten.
Insgesamt scheint uns das Modell der Kardinaltugenden von außerordentlicher politischer Bedeutung. In seiner Verbindung von vernünftiger Einsicht in prinzipielle Begründungen, in Sachverhalte und Situationen mit der Bereitschaft zum entsprechenden Handeln übergreift es die Alternativen von Vernunft-oder Tugendethik, von Moralität als Erkenntnis-oder als Einstellungs-und Handlungsphänomen. Es rückt zugleich die von den einen geschmähten, von anderen beschworenen „Sekundärtugenden“ an den Ort ihrer relativen Berechtigung
Das Ziel politischer Bildung ist demnach nicht die Ausbildung bestimmter Gesinnungen, sondern die Einübung in gewissenhafte politische Urteilsbildung. Diese hat im Fachunterricht ihren Schwerpunkt sicher im Kognitiven. Sie ist jedoch immer, wie im Zusammenhang mit den didaktischen Prinzipien oben schon gezeigt, mit einer kommunikativen und mit einer moralischen Dimension verknüpft. Insoweit kann der Fachunterricht auch einen Beitrag leisten zum Aufbau der dem politisch-ethischen Urteil entsprechenden Verhaltensdispositionen, eben der Tugenden.
Mit dem Konzept der kognitiv-moralischen Entwicklung von Kohlberg stimmt die hier vertretene Position darin überein, daß moralisches Urteilen eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung ist für moralisches Verhalten im vollen Sinn menschlicher Personalität. Das Urteil wird hier insofern sogar noch wichtiger genommen, als besonders betont wird, der Mensch solle nicht nur sittlich gut handeln wollen, das heißt in Übereinstimmung mit einem unbedingten Prinzip bzw. mit seiner Gewissensüberzeugung; er solle vielmehr auch sittlich richtig handeln wollen, das heißt sach-und situationsgemäß im Blick auf die Folgen Andererseits wird moralische Erziehung verfehlt, wenn das kognitive Element verabsolutiert wird. Die affektive Bindung des Menschen an moralische Werte ist nach aller Erfahrung eine wichtige Bedingung dafür, daß moralisches Urteilen und Handeln nicht allzu sehr auseinanderklaffen. Der Aufbau der entsprechenden Verhaltensdispositionen muß deshalb in der Erziehung vom Kleinkindalter an, also lange vor der Erreichbarkeit höherer kognitiv-moralischer Denkstrukturen, angestrebt werden.
Einstellungen wie Hilfs-und Kooperationsbereitschaft, Teilenkönnen, Mitleid, aber auch Selbstbehauptungs-und Gerechtigkeitswille bilden sich aus, lange bevor der Jugendliche oder Erwachsene sich im prinzipiengeleiteten moralischen Urteil Rechenschaft geben kann über das Für und Wider seines Verhaltens. Wo solche Dispositionen fehlen, vermag auch das moralische Urteil kaum Verhalten zu beeinflussen. Wir müssen also den Erwerb von Moral, das heißt die Fähigkeit und Bereitschaft, nach Sitte und Recht miteinander zu leben, entwicklungspsychologisch als Bedingung der Möglichkeit von Moralität ansehen. Übrigens hat Kohlberg dem ausdrücklich Rechnung getragen, indem er seine zunächst konzipierte Theorie der kognitiv-moralischen Entwicklung im weiteren Verlauf seiner Forschungen mit den bekannten praktischen Versuchen verband. Schule als eine „just Community“ zu entwickeln. Moralerziehung ist auch für ihn mehr als moralische Urteilsbildung; sie ist auch die Aus-bildung moralischer Gewohnheiten, die wir traditionell Tugenden nennen
Demnach setzt politische Bildung Sozialerziehung voraus und führt sie in ihrer Weise weiter. Der Fachunterricht hat seinen Schwerpunkt in der kognitiven Bearbeitung von Sach-und Problemfragen. Aber wenn dies gemeinsam geschieht mit der Chance für alle Beteiligten, ihre eigenen Fragen und ihre eigene Art des Betroffenseins, des Meinens und Denkens einzubringen, und mit dem Versuch, die Beteiligten für die Sach-und Problem-strukturen zu öffnen, dann kann der Unterricht durchaus auch einen Beitrag zur Ausbildung der oben skizzierten politischen Grundtugenden leisten. Lerntheoretisch heißt dies, der Unterricht ziele auf die gleichgewichtige Ausbildung von Sach-, Sprach-und Verhaltenskompetenz der Schüler.
Die gewissenhafte politische Urteilsbildung soll sich in der kategorial geordneten und dialogisch geführten Auseinandersetzung mit politischen Fragen vollziehen. Zur Gewissenhaftigkeit gehört hier einerseits die Anerkennung des personalen Gewissens als der für den einzelnen letztlich verbindlichen sittlichen Instanz und der entsprechende gegenseitige Respekt. Das Gewissen als das urteilende sittliehe Selbst des Schülers muß angesprochen werden. Andererseits muß der gewissenhafte Umgang mit dem Verhältnis von Gewissen und Politik gelernt werden. Politische Urteile sind zwar, wie dargelegt. immer auch von moralischer Relevanz, sie sind aber in der Regel keine Gewissensurteile im Sinn letzter, unabdingbarer Verbindlichkeit. Sie sind vielmehr in der Regel komparatistische Urteile über Besser und Schlechter.
Es widerspricht der Ethik des Politischen, politische Streitfragen unnötig und unbedacht zu Gewissensfragen zu steigern. Wenn sich Streitende auf ihr Gewissen zurückziehen, endet Politik, nämlich die Möglichkeit, Konflikte einvernehmlich im Kompromiß zu regeln. Der Sinn des Politischen liegt gerade darin, unbeschadet unterschiedlicher Über-zeugungen miteinander auszukommen. Dies ist noch einmal ein Argument gegen die Verkürzung politischer Probleme auf moralische Dilemmata. Und es ist ein Hinweis darauf, daß in Kohlbergs Stufenschema derjenige, der sich auf Stufe sechs zu befinden und zu bewegen glaubt, seine Gewissens-orientierung ständig mit der Orientierung am „Gesellschaftsvertrag“ gemäß Stufe fünf in Überein-stimmung zu halten bemüht sein soll. Ausdruck dieses Bemühens wäre die Loyalität gegenüber dem Gemeinwesen, die gesetzliche Gerechtigkeit der alten Tugendlehre