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Die amerikanische Europa-Politik und die Ost-West-Beziehungen | APuZ 45/1989 | bpb.de

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APuZ 45/1989 Artikel 1 Partnerschaft im Wandel Die sicherheitspolitischen Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa Die amerikanische Europa-Politik und die Ost-West-Beziehungen Eine trügerische Normalität?. Amerikanische Innen-und Wirtschaftspolitik unter Präsident Bush

Die amerikanische Europa-Politik und die Ost-West-Beziehungen

Manfred Stinnes

/ 26 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Beitrag skizziert die Politik der neuen amerikanischen Administration vor dem Hintergrund der Anforderungen der öffentlichen Meinung und der anhaltenden Diskussion über die außenpolitische Bedeutung der sowjetischen Reformpolitik. Gleichzeitig mußte sich Bush von seinem Amtsvorgänger abheben. Dies gelang ihm u. a. dadurch, daß er eine neue Arbeitsbeziehung mit dem Kongreß herstellte. Er gewann so größere Handlungsfreiheit in der Außenpolitik. Die Reisen des Außenministers und schließlich die intensiven Begegnungen mit dem sowjetischen Außenminister im Mai und September deuten auf eine langsame, aber stetige, von innenpolitischer Kritik begleitete Entwicklung der außenpolitischen Orientierung hin. Erste Höhepunkte waren die beiden Europa-Reisen des amerikanischen Präsidenten, die die Bedeutung Europas für die Zukunft der Ost-West-Beziehungen unterstreichen.

I. Die Anfangsphase

Für die neue amerikanische Regierung standen nach der Regierungsbildung Europa und die Ost-West-Beziehungen im Zentrum des Interesses. Zwei Europa-Reisen des neuen amerikanischen Präsidenten symbolisieren die Bedeutung dieses Prozesses.

George Bush ging während der ersten acht Monate seiner Amtszeit durch eine Reihe von Stimmungsphasen, die durch Zustimmung und Kritik gekennzeichnet waren. Nach den in den Medien überaus positiv bewerteten beiden Europa-Reisen sahen 67— 70 Prozent der Bevölkerung seine Politik positiv — eine Zustimmungsrate, die ungewöhnlich hoch ist und sechs bis neun Prozentpunkte über der durchschnittlichen Zustimmungsrate vom Frühjahr 1989 lag Neben den als Erfolg gewerteten außen-politischen Initiativen in Europa gründete Präsident Bushs Popularität auch in seiner Persönlichkeit. Sein häufig belächeltes Wahlkampfversprechen, eine „sanftere und liebenswürdigere Gesellschaft“ zu schaffen, verweist auf seine nicht-ideologische und pragmatische Orientierung.

Im Gegensatz zu der hohen Popularitätsrate sind die kritischen Stimmen vieler Kommentatoren bemerkenswert. Zentrale Kritikpunkte waren die zögernde Besetzung der wichtigsten Führungspositionen in der neuen Administration und das Fehlen eines umfassenden Regierungskonzeptes. Arthur M. Schlesinger bemerkte im April: „Das Grundproblem ist, daß er eigentlich nur Präsident werden wollte, und jetzt, da er es ist, weiß er nicht, was er damit tun will. Das erklärt die dilettantische Art, mit der er seine Regierung aufbaut.“ Thomas E. Mann verwies auf die psychologischen und praktischen Probleme, neue Akzente zu setzen, wenn der neue Präsident derselben politischen Partei angehört wie sein Vorgänger: „Es ist eine Präsidentschaft, die auf der Meinung aufbaut, daß wir in einem guten Zustand sind und nur die rauhen Ecken durch Versöhnung und durch Kompromißbildung beseitigen, die Reagan hinterlassen hat.“

Nach einer Serie innen-und außenpolitischer Reden und Initiativen wurde immer wieder Kritik am Stil von Präsident Bush geübt. Insbesondere Vertreter der demokratischen Partei im Kongreß äußerten sich negativ über die budgetäre Substanz und die Finanzierbarkeit vieler Initiativen, wie z. B.der Ankündigung eines Raumfahrtprogramms zur bemannten Landung auf dem Mars Die Washington Post faßte diese Stimmung so zusammen: „Haushaltsexperten und Mitgliedern des Kongresses zufolge besteht eine Diskrepanz zwischen den populären Zielen, für die der Präsident geworben hat, und der Knappheit der Ressourcen, die zur Finanzierung zur Verfügung stehen. Gleichzeitig besteht Herr Bush darauf, daß Steuern nicht erhöht werden.“

Im Gegensatz zu dieser scheinbaren Tatenlosigkeit der neuen Administration, die diese Kritik zu beinhalten scheint, gelang es Bush, zwei wichtige innenpolitische Akzente zu setzen, die von erheblicher positiver Wirkung auf seine außenpolitische Handlungsfähigkeit waren: der Haushaltskompromiß und die Verständigung über Nicaragua und die Contra-Guerillas. Die Administration und führende Vertreter des Kongresses verständigten sich im März über die Höhe des Bundeshaushalts 1990. Sollte dieser Kompromiß tragfähig sein, würden dadurch auch die Konturen des Bundeshaushalts 1991 bestimmt werden. Ohne auf Einzelheiten einzugehen, liegt die Bedeutung des Kompromisses darin, daß es Bush gelungen ist, mit den von der demokratischen Partei kontrollierten beiden Kammern des Kongresses ein konstruktives Arbeits-klima herzustellen Dies steht im Gegensatz zur Atmosphäre, die unter Präsident Reagan herrschte, als die Haushaltsentwürfe der Regierung auch von führenden republikanischen Senatoren feindselig aufgenommen wurden und zu endlosen und lähmenden Auseinandersetzungen führten

Entscheidender für die Gestaltung der Außenpolitik war die am 24. März 1989 von Bush unterzeichnete Vereinbarung mit führenden Vertretern beider Kammern des Kongresses, eine gemeinsam getragene Politik gegenüber Nicaragua zu verfolgen. Nach sechs Jahren erbitterter Auseinandersetzung stimmten beide Kammern am 13. April 1989 einem „nicht-militärischen“ Paket zu und ermächtigten die Regierung, mit 49, 75 Mio. US-Dollar „nichtmilitärischer Hilfe“ die „Contra“ -Guerillas zu unterstützen und weitere 16, 9 Mio. für medizinische Zwecke und Verwaltungsaufwand auszugeben

Außenminister Baker bemerkte: Wir haben angefangen, so hoffe ich, ein Problem hinter uns zu lassen, daß eine der größten Auseinandersetzungen in der Nachkriegsgeschichte auslöste“ Diese „größte Auseinandersetzung“ erregte seit 1983 die Gemüter und war insbesondere im Repräsentantenhaus die Ursache für die tiefe ideologische und parteipolitische Spaltung. Der Konflikt mit Nicaragua war für die Reagan-Administration Teil des Ost-West-Konfliktes. Der Kompromiß signalisierte den erfolgreichen Ansatz der Bush-Administration, das innenpolitische Klima zu versöhnen, auf die demokratische Partei zuzugehen und damit auch ein pragmatisches Arbeitsklima mit dem Kongreß herzustellen. Gleichzeitig konnte Bush neue Akzente in den Ost-West-Beziehungen setzen, eigenes Profil entwickeln und sich damit von seinem Amtsvorgänger lösen.

Das Verhältnis der neuen republikanischen Administration zur Vorgängerin war ein beliebtes und lange diskutiertes Thema. Die gängige Kritik an der sich scheinbar so lange hinziehenden Besetzung der Regierungsposition — etwa zwei-bis dreitausend Stellen kann ein neuer Präsident mit Personen seiner Wahl besetzen — hat wichtige Aspekte der Zusammensetzung der Bush-Administration überlagert. Die führenden Positionen wurden nämlich von erfahrenen Fachleuten besetzt, die aufgrund ihrer Herkunft oder Ausbildung die Rückkehr des klassischen Ostküsten-Establishments signalisieren. Die Gruppierungen der Reagan-Administration, die zum Teil rechtskonservative Strömungen der republikanischen Partei repräsentierten, waren soziale „Aufsteiger“ und geographisch eher dem amerikanischen Südosten zuzuordnen. Sie wurden weitgehend aus der Regierungsverantwortung verdrängt. Im Gegensatz zur stark ideologisch akzentuierten Politik Reagans zeichnet sich der Stil der Bush-Administration durch Pragmatismus und Kompromißbereitschaft aus Dieser Aspekt wird besonders durch die Persönlichkeit Präsident Bushs symbolisiert: Er entstammt einer wohlhabenden Neu-England-Familie, deren Vorfahren mit der „Maiflower" in die damalige britische Kolonie übersiedelten. Er gehört damit zur klassischen bürgerlichen Aristokratie der USA.

Der pragmatische Ansatz der Bush-Administration steht im Gegensatz zum eher ideologischen der Reagan-Administration. Während des Wahlkampfs sprach Bush wiederholt davon, daß der Kalte Krieg noch nicht zu Ende sei und distanzierte sich damit früh von der Stimmung der Reagan-Anhänger, die den Kalten Krieg für gewonnen hielten. Insbesondere wurde Reagans sehr persönliches Verhältnis zu Gorbatschow als zu optimistisch und seine nukleare Abrüstungspolitik, die offensichtlich auch von einer persönlichen Aversion gegen Atomwaffen geprägt war, als zu „utopisch“ kritisiert.

Pragmatisch heißt in diesem Kontext kluge Vorsicht und abwartendes Beobachten und bedeutet auch empirisch gehaltvolle Politikentwürfe, die sich langsam entfalten und gleichzeitig die internationale Lage und die innenpolitische Stimmung einbeziehen. Ein wichtiger Faktor in der amerikanischen Politik ist die öffentliche Meinung, auf die jeder Präsident Rücksicht nehmen muß. Die Meinungsumfragen zeigen eine sehr starke innenpolitische Akzentuierung und Betonung infrastruktureller und wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen. Kaum ein Amerikaner fühlt sich noch von der Sowjetunion bedroht. Sorgen werden eher über die sich verändernden internationalen ökonomischen Bedingungen geäußert. Der Anspruch an die neue Administration besteht darin, sicherheitspolitische und wirtschaftliche Beziehungen zu den wichtigsten Verbündeten — Europa und Japan — in einer Weise umzugestalten, die die neue internationale ökonomische Lage mitberücksichtigt

II. Die innenpolitischen Hintergründe der außenpolitischen Konzeptsuche

Vor diesem Hintergrund entfaltete sich die Europa-und Ost-West-Politik der Bush-Administration. Es ist sicherlich sinnvoll, schon jetzt von zwei Phasen zu sprechen. Die erste Phase dauerte vom Amtsantritt im Januar bis etwa Mitte Mai 1989. Es war eine Zeit der Konzept-und Profilsuche. Während der frühere Präsident Reagan am 10. Dezember 1988 in einer Radioansprache im Rückblick auf den gerade zu Ende gegangenen Besuch Gorbatschows in New York, sein fünftes Treffen mit Gorbatschow innerhalb von vier Jahren, von einem „lang ersehnten Bruch mit der Vergangenheit und dem Aufziehen einer neuen Ära in den internationalen Angelegenheiten“ sprach wurde „Umsicht“ (caution) das Schlüsselwort in der ersten Phase der Bush-Administration. Bush ordnete zunächst eine grundsätzliche Überprüfung der Außen-und Sicherheitspolitik an, um dann zu Schlußfolgerungen für die Abrüstungs-und Ost-West-Politik zu kommen. Dem Vernehmen nach wurden diese Analysen auf der mittleren Ebene im Außenministerium und im Nationalen Sicherheitsrat durchgeführt. So berichtete die New York Times z. B. über interne Auseinandersetzungen zwischen „kalten Kriegern“ und den Diplomaten, die eine große Chance für die USA in den Ost-West-Beziehungen sahen

Bush sprach am 12. März anläßlich der Amtseinführung Richard Cheneys, des neuen Verteidigungsministers, von einer „Übergangszeit“. Trotz einer „sehr positiven Sicht“ von Gorbatschows Politik verwies er darauf, daß „noch mehr Fragen als Antworten auf das Ergebnis“ der sowjetischen Reformpolitik bestünden. In den Medien wurde diese Haltung auch als „Status quo plus“ bezeichnet während im Kongreß Ungeduld laut wurde. Les Aspin, der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus, rief zu einer „schnellen Antwort auf Gorbatschows Abrüstungsschritte“ auf

Die zunächst vorsichtige Haltung gegenüber Gorbatschow wurde besonders im sicherheitspolitisehen Bereich betont. Es galt dort als schwierig, mit der Sowjetunion, die sich in einem Übergangsstadium befinde, in einen Dialog über eine grundsätzliche Neuverständigung einzutreten. Zudem war die Haltung verbreitet, daß ein forcierter Fahrplan für Abrüstungsverhandlungen besonders auf der nuklearen Ebene unberechenbare Auswirkungen auf die Fundamente der NATO und ihre Abschrekkungsstrategie haben könnte. Diese „umsichtige“ Haltung, die von der Regierung Großbritanniens intensiv unterstützt wurde, kollidierte mit den Forderungen der Bundesrepublik Deutschland nach „baldigen“ Verhandlungen im Bereich der Kurzstreckenraketen (SNF). Verschärft wurde diese Auseinandersetzung durch manche taktischen Fehler auch auf deutscher Seite Neben militärtechnischen und abschreckungstheoretischen Fragen war der Streit um die Kurzstreckenwaffen eine politische Auseinandersetzung über die Zukunft der Ost-West-Beziehungen, über die Haltung des westlichen Bündnisses zu Gorbatschow, über die Zukunft der NATO und ganz besonders über die Rolle der Bundesrepublik Deutschland.

Der gaullistische Oppositionsführer Jacques Chirac faßte die Haltung derjenigen, die zur Vorsicht rieten, so zusammen: „Um es offen zu sagen, die Fragen (über die Kurzstreckenraketen — M. St.) entstehen aufgrund der Furcht auf Seiten bestimmter westlicher Länder, daß die Deutschen zum Osten abdriften.“

Auch der sich seit längerer Zeit hinziehende Streit über ein neues Gesamtkonzept der NATO, in dessen Rahmen die SNF-Frage entschieden werden sollte, zeichnete sich durch nichtöffentliche Debatten zur Rolle der Bundesrepublik aus. Die deutsche Regierung schien sich dabei gegen den Status quo auszusprechen. Außenminister Genscher sprach von einem „Gezeitenwechsel von der Konfrontation zur Kooperation“ und forderte eine schnellere Politik, die „dynamisch, nicht statisch“ sein sollte

Neben rivalisierenden Einschätzungen über ein Abklingen des Kalten Krieges und das Tempo der einzuschlagenden Schritte, wobei die deutsche rüstungspolitische Position in der amerikanischen Öffentlichkeit durchaus Unterstützung fand konzentrierte sich die Bush-Administration auf die Frage, welche Risiken und Konsequenzen eine Politik der „dynamischen“ Veränderung des Status quo in den Ost-West-Beziehungen hätte. Einerseits argumentierte man, daß ein schneller Abbau der Militärpotentiale in Europa der Sowjetunion einen nicht absehbaren politischen Einfluß in Europa sichern könnte. Andererseits könnte der Einsatz des wirtschaftlichen Potentials der Bundesrepublik in Osteuropa Prozesse auslösen, die in ihrer Konsequenz nicht abzuschätzen wären, insbesondere in Anbetracht der schon bestehenden zentrifugalen Kräfte in der NATO. Damit wurde die amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion auch mit ihrer Europa-Politik verknüpft.

Der Ansatz der Bush-Administration, eine abwartende Haltung in den Ost-West-Beziehungen an den Tag zu legen, hatte seine Gründe auch in der amerikanischen Erfahrung mit der Sowjetunion. Ein großer Teil der führenden Regierungsmitglieder und der Präsident selbst hatten in der kurzen Phase der Ford-Administration wichtige Regierungspositionen inne. In dieser Phase brach die von Nixon eingeleitete Entspannungspolitik mit der Sowjetunion zusammen. Sie wurde offen und schließlich erfolgreich vom konservativen Flügel der Republikaner bekämpft. Bush nahm deshalb zunächst auch Rücksicht auf diesen Flügel seiner Partei, der sich durch Reagans schnelle Gangart in der Ostpolitik getäuscht fühlte. Zudem kann erwartet werden, daß Verhandlungsergebnisse, die sich auf Abrüstung oder Handel beziehen, im Senat einer detaillierten und strengen Kontrolle unterzogen werden. Sicherheitsexperten des Senats sind nicht glücklich über Maßnahmen des Verifizierungsprotokolls zum Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenraketen. Sie machten Auflagen für ein Verifizierungsverfahren eines möglichen Abrüstungsvertrags für die strategischen Nuklearwaffen.

III. Das erste amerikanisch-sowjetische Außenministertreffen

Die erste hochrangige Begegnung zwischen dem sowjetischen Außenminister und seinem amerikanischen Kollegen fand am 10. /11. Mai 1989 in Moskau statt. James Baker ging in dieses Treffen mit der Absicht, „unsere kooperative Beziehung zu vertiefen und auszubauen, besonders in bezug auf regionale Fragen“ Der Begriff„regionale Fragen“ verwies in diesem Zusammenhang auf die ungelösten Probleme in Afghanistan, Mittelamerika und im Nahen Osten. Fragen der Rüstungskontrolle und Abrüstung hatten keine Priorität. Für den Bereich der Abrüstung deutete er jedoch Möglichkeiten an, die aber noch „untersucht und entwickelt“ werden müßten. Im übrigen betonte er noch einmal die Notwendigkeit „sorgfältiger Bewegung durch ein Schritt-für-Schritt-Programm und eines langsamen, aber beständigen Kurses auf Verbesserung hin“. Schließlich, so betonte er, sei die Welt komplexer geworden, nachdem sie „dem Zusammenstoß der Supermächte, der die Weltpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte, entwachsen ist“ Atmosphärisch beeinflußt wurde das Treffen durch eine Vereinbarung vom 2. Mai, nach der die USA — außerhalb des Getreideabkommens von 1982 — der Sowjetunion 1, 5 Mio. Tonnen subventionierten Weizen verkauften Baker zufolge konzentrierten sich die Gespräche auf Menschenrechtsfragen, politische Gefangene, den Stand der Gesetzesvorlagen im Obersten Sowjet zum Recht auf Auswanderung, auf die Wiederaufnahme der strategischen Rüstungskontrollgespräche (START), Chemiewaffengespräche und die Raketentechnikverbreitung, regionale Konflikte sowie auf Aspekte zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen (u. a. Ausbau des Kultur-und Wissenschaftsaustausches).

Die Fragen der Abrüstung sollten also nicht singulär, sondern nur im Rahmen eines umfassenden Ansatzes der Beziehungen gesehen werden. Den regionalen Fragen wurde auch „eine höhere Bedeutung beigemessen“, obwohl dies, wie Baker sagte, „in keiner Weise die Bedeutung irgendeines anderen Aspektes, wie Rüstungskontrolle, Menschenrechte und andere Fragen, herabstufte“

Neben den Gesprächen mit Schewardnadse traf sich Baker auch mit Gorbatschow. Der amerikanische Außenminister übergab ihm ein Schreiben von Bush, in dem dieser deutlich den Wunsch zum Ausdruck brachte, daß die Politik der wirtschaftlichen Reform in der UdSSR zum Erfolg führe. Diese Reformen, so erklärte er, seien „signifikant, sogar revolutionär“. Sie stellten das Fundament für einen Fortschritt dar, und er würde „den Fortschritt suchen“. Des weiteren brachte er seine Absicht zum Ausdruck, „ernsthaft und sorgfältig, Schritt für Schritt zu arbeiten, um den Grund für eine ausdauernde Kooperation vorzubereiten“

Gorbatschow und Baker sprachen unter anderem auch über die Frage der Kurzstreckenraketen (SNF) und über mögliche Verhandlungen. Baker charakterisierte den Austausch als „recht umfassende und in die Tiefe gehende Diskussion“. Offenbar näherten sich die Standpunkte nicht an. Baker sagte öffentlich, daß beide Seiten übereingekommen seien, nicht übereinzustimmen. Später sagte er, daß die Vereinigten Staaten einseitige Schritte der Sowjetunion begrüßen würden. Die USA hätten die Sowjetunion wiederholt aufgerufen, SNF-Systeme zu reduzieren, um das Ungleichgewicht abzuschwächen. Erst danach könne man die Frage von Verhandlungen in Betracht ziehen Der New York Times zufolge betonte Gorbatschow, daß beide Seiten versuchen müßten, zusammenzuarbeiten, um zur besseren Beziehung zu kommen

Baker und Schewardnadse vereinbarten schließlich eine bemerkenswerte Gemeinsame Erklärung zum Libanon-Konflikt, für eine Neuaufnahme der unterbrochenen Gespräche über strategische Offensiv-und Defensivwaffen für den 19. Juni 1989, separate Konsultationen über die Chemiewaffen am Rande der Genfer UN-Verhandlungen und über die Verbreitung von Mittelstreckenraketen-Techniken. Die sowjetische Seite stellte zudem ein Eingehen aufwestliche Vorstellungen bei den seit März in Wien begonnenen Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Aussicht.

Offensichtlich waren die Gespräche in dem Sinne erfolgreich, daß damit die Bush-Administration in ihrem Kurs bestätigt wurde, der zwischen Skeptizismus und Optimismus eine Balance zu finden suchte. Robert M. Gates, der stellvertretende Nationale Sicherheitsberater, dem eine beträchtliche Skepsis gegenüber den Absichten Gorbatschows nachgesagt wird, und der von Gorbatschow während des Treffens mit Baker deswegen persönlich angesprochen wurde sagte später, daß „die Politik kühn genug sein sollte, um auf die Veränderungen einzugehen, die in der Sowjetunion entstehen, aber sie sollte nicht so kühn oder phantasievoll sein, daß sie unverantwortlich ist“

Die Bush-Administration war bestrebt, Kontinuität im Status quo der Beziehungen zur Sowjetunion zu erhalten, um gleichzeitig auf dieser Basis die Möglichkeiten des Wandels zu einer vertieften Zusammenarbeit zu erproben — eines Wandels, für den angemessene Konzepte noch entwickelt werden mußten. Offensichtlich als Antwort auf den sorgfältig bedachten Versuch Bakers, einen umfassenderen Verhandlungsansatz zu entwickeln, in dem Rüstungskontroll-und Abrüstungsfragen nur ein Element unter anderen sind, verkündete Gorbatschow später öffentlich einen einseitigen Abzug von 500 Sprengköpfen im Bereich der Kurzstreckenraketen. wie es zuvor Schewardnadse seinem Kollegen Baker bei den nichtöffentlichen Verhandlungen angekündigt hatte. Diese sowjetische Initiative brachte die Frage der nuklearen Abrüstung erneut ins Zentrum der öffentlichen Diskussion, insbesondere in Anbetracht der heftigen Auseinandersetzung zwischen Bonn und Washington in diesem Bereich. Die Reaktion der Administration drückte Verärgerung aus. Während der Pressesprecher des Weißen Hauses. Fitzwater, von einem „PR-Trick“ sprach und Gorbatschow einen „drug störe Cowboy“ nannte, beklagte Verteidigungsminister Cheney den angekündigten Abzug und die beabsichtigte Zerstörung von 500 Sprengköpfen als „armselig“ im Vergleich zu dem riesigen sowjetischen Übergewicht in diesem Bereich. In einem Leitartikel der Washington Post wurde Fitzwater ironisch als „brillanter außenpolitischer Analytiker“ und abwertend als „albern“, seine Aussagen als „gedankenloses Zeug“ charakterisiert. Die Bush-Administration wurde aufgefordert, ihre Ernsthaftigkeit unter Beweis zu stellen

Les Aspin, der einflußreiche (demokratische) Vorsitzende des Streitkräfteausschusses im Repräsentantenhaus, sagte während einer Anhörung, daß die Regierung im Begriff sei, die Auseinandersetzung mit Moskau zu verlieren, „weil sie nicht prompt und phantasievoll auf die verschiedenen Rüstungskontrollvorschläge Gorbatschows reagiert“ hätte. Er forderte eine Vision, die aber „einfach nicht da ist“

Die Kritiker der Regierung übersahen allerdings, daß Präsident Bush versuchen wollte, eine gemeinsame westliche Politik zu entwickeln. Deshalb traf er sich am 10. Februar 1989 mit dem kanadischen Ministerpräsidenten Mulroney in Ottawa und empfing im Mai 1989 den französischen Staatspräsidenten Mitterrand zu einem persönlichen Gedankenaustausch in seinem Sommersitz in Maine. Zwischenzeitlich bereiste Außenminister Baker die europäischen Hauptstädte, um sich über die Ost-West-Beziehungen und Fragen des Ost-West-Handels zu beraten

Trotz dieser Aktivitäten wurden die Einzelheiten der grundsätzlichen außen-und sicherheitspolitischen Analyse von einem sogenannten „Stellvertreter-Ausschuß“ durchgeführt, der vom stellvertretenden Sicherheitsberater Gates geleitet Wurde und dem zwei Staatssekretäre des Außenministeriums, ein Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, ein Vertreter der Vereinigten Stabschefs der Streitkräfte und der stellvertretende Direktor des CIA angehörten. In diesem Ausschuß wurden unterschiedliche ministerielle Politikvorschläge zusammengefaßt und dem Präsidenten zur Entscheidung vorgelegt. Auf dieser Ebene wurden zunächst die durch Vorsicht gekennzeichneten Optionen entwickelt. Die Administration war allerdings während dieser ersten Phase nicht gänzlich untätig. Ein Indiz dafür war die Ankündigung Bushs vom 17. April, unter anderem selektive Importerleichterungen für polnische Waren zu genehmigen und Umschuldungsverhandlungen im Rahmen des Pariser Clubs sowie Anreize für Firmenkooperationen (joint ventures) zu initiieren Dies war die schnelle amerikanische Antwort auf die am 5. April erfolgte Legalisierung der Solidaritäts-Bewegung in der Volksrepublik Polen.

IV. Die außenpolitischen Grundsatzreden des Präsidenten

Die mehrmonatige Bestandsaufnahme beendete Bush mit mehreren Reden über seine künftige Außenpolitik In der ersten Rede sprach er davon, sein Ziel sei „ehrgeiziger als alles, was meine Vorgänger für möglich hielten“. Er charakterisierte das Ergebnis seiner außenpolitischen Zwischenbilanz als „einen neuen Weg zur Lösung dieses Streits“ zwischen den USA und der Sowjetunion. Er sprach von einer Politik „jenseits der Eindämmung“, von der Möglichkeit der „Integration der Sowjetunion in die Staatengemeinschaft“ und von der „Rückkehr der Sowjetunion in die Weltordnung“. Er griff den Plan „Offene Himmel“ aus den fünfziger Jahren auf und befürwortete militärische Vertrauensmaßnahmen, in deren Rahmen unbewaffnete Flugzeuge die Territorien der USA und der Sowjetunion überfliegen sollten. Zudem bot er der Sowjetunion im Handelsbereich „den Status der Meistbegünstigung“ an, wenn Auswanderungsgesetze gemäß den internationalen Standards gesetzlich festgelegt würden

In seiner Rede vom 21. Mai 1989 ging Bush besonders auf Europa ein. Unter anderem konstatierte er grundlegende Veränderungen in Westeuropa und sprach von „neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen den USA und Westeuropa“ und sah das „Heraufkommen Europas als einen Partner bei der Führung der Welt“. Im Bereich der Abrüstungsverhandlungen sprach er von seiner Vision eines „weniger militarisierten Europa“ und eines Friedens, „der sich auf gemeinsamen Optimismus, und nicht auf bewaffnete Lager“ gründet

Die Reaktion in der amerikanischen Öffentlichkeit war von Enttäuschung gekennzeichnet. In Anspielung auf die Kritik des Sprechers der Demokraten im Senat, Senator Mitchell, die Bush-Administration zeige keine Phantasie im Umgang mit den Veränderungen in der Sowjetunion, betonte Baker, die USA seien im Gespräch mit der Sowjetunion über „transnationale und globale Probleme — etwas, was bisher nicht geschah“

Präsident Bush warjedoch sehr unzufrieden mit der öffentlichen Resonanz auf seine nicht unbeträchtlichen Ankündigungen wie auch über das nicht absehbare Ende der Auseinandersetzungen über die Frage der Modernisierung der Kurzstreckenraketen.

V. NATO-Gipfel und Europa-Reisen

Nach intensiven Verhandlungen der NATO-Außenminister am 29. Mai einigten sich die Staats-und Regierungschefs auf eine gemeinsame Abschlußerklärung und auf ein von der deutschen Bundesregierung gefordertes Gesamtkonzept. Unter anderem verständigte man sich darauf, „eine neue Struktur der Beziehung zwischen den Staaten in Ost und West zu schaffen, in der ideologische und militärische Gegensätze ersetzt werden durch Zusammenarbeit, Vertrauen und friedlichen Wettbewerb“ Nach einem Hinweis, „das übermäßige Gewicht des militärischen Faktors im West-Ost-Verhältnis zu reduzieren“ und „nun das Potential der Rüstungskontrolle als Mittel des Wandels voll ausschöpfen“ zu wollen, legte sich das Bündnis auf eine Erweiterung der Wiener „Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE)“ fest. Im einzelnen wurde neu beschlossen: den Bestand an Hubschraubern und landgestützten Kampfflugzeugen um 15 Prozent zu reduzieren und zu zerstören; „eine 20prozentige Kürzung bei den Kampftruppen der US-Stationierungskräfte“ vorzuschlagen und eine sich daraus ergebende Obergrenze von ungefähr 275 000 Mann für amerikanisches und sowjetisches Personal der Land-und Luftstreitkräfte, das außerhalb des nationalen Territoriums im Gebiet vom Atlantik bis zum Ural stationiert ist. Neben der Demobilisierung dieser Truppen soll „ein solches Abkommen innerhalb von sechs Monaten bis zu einem Jahr und der Abschluß der Reduzierungen für 1992 oder 1993“ angestrebt werden

Nach einer längeren Ausführung über die weiterhin gültige Abschreckungsstrategie der NATO erklärten sich die USA bereit, „in Konsultationen mit den betroffenen Verbündeten ... in Verhandlungen einzutreten, um eine teilweise Reduzierung amerikanischer und sowjetischer landgestützter nuklearer Flugkörpersysteme kürzerer Reichweite auf ein gleiches und verifizierbares Niveau zu erreichen“ Diese Verhandlungen sollten mit dem Beginn der Implementierung des konventionellen Abrüstungsvertrags eingeleitet werden.

Die Gipfelerklärung und das „Gesamtkonzept“ beseitigten den Konflikt innerhalb der NATO und ließen den anschließenden Besuch des amerikanischen Präsidenten in der Bundesrepublik in einer versöhnlichen Stimmung enden In einer Grundsatzrede in Mainz wiederholte Bush seine abrüstungspolitischen Vorstellungen und verwies aufdie Bundesrepublik als einen „Partner in der Führung“.

Zwar wird die Frage der SNF-Systeme die westliche Allianz noch weiter beschäftigen; aber die Annäherung der Positionen zwischen NATO und War-schauer Vertrag in Wien im September, die durch frühere sowjetische Äußerungen angedeutet wurde, scheint die Aussicht zu bekräftigen, daß das Wiener VKSE-Forum ein Mittel sowohl des militärischen als auch politischen Wandels wird Nach dem NATO-Gipfel und den Besuchen in Italien, der Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien wurde von den USA der Gorbatschow-Besuch in Bonn aufmerksam beobachtet. Aus amerikanischer Sicht stellten sich alle unausgesprochenen Sorgen als gegenstandslos dar, weil der sowjetische Staatspräsident im wesentlichen keinen Versuch unternahm, die Bundesrepublik von den USA zu entfremden, und weil er die NATO-Vorschläge für die konventionellen Abrüstungsgespräche positiv bewertet hatte. Bush bereitete sich inzwischen auf seine zweite Europa-Reise vor, die ihn nach Polen, Ungarn und schließlich vom 14. bis 16. Juli zum Weltwirtschaftsgipfel nach Paris führen sollte.

Am 6. Juli hielt Bush während einer Konferenz zur Lage in Osteuropa eine Rede, in der er die amerikanische Geschäftswelt aufforderte, „praktische Hilfe“ zu leisten und „mit Privatunternehmen in Ungarn und Polen“ zusammenzuarbeiten. Neben den Universitäten rief er auch die Gewerkschaften zu einem stärkeren Engagement auf. In dieser Rede deutete er ein wichtiges Moment seiner kommenden Reise an, auf das er wiederholt zurückkommen sollte. Er wolle die Lage für Gorbatschow in Osteuropa nicht „komplizieren“

Während eines Interviews mit polnischen Journalisten zur Vorbereitung seiner Polen-Reise betonte Bush seine Absicht, die Reformpolitik in Polen zu unterstützen und nicht „die Angelegenheiten zwischen der Sowjetunion und Polen zu komplizieren oder irgend etwas anderes“. Er wolle sich auch nicht in die inneren Angelegenheiten einmischen, keine „Veränderungen anheizen“ oder „absichtlich irgend etwas tun, was eine Krise verursachen könnte“. Gleichzeitig sprach er wiederholt und in starken Worten von einer „historischen Chance“, von der amerikanischen Bewunderung für die Veränderungen in Polen und befürwortete in allgemeinen Worten einen sowjetischen Truppenabzug aus der Volksrepublik

Seine Staatsbesuche in Polen und Ungarn vor dem Pariser Wirtschaftsgipfel fanden in einer offenen Atmosphäre statt. Bush gab in öffentlichen Reden den Umfang der Hilfeleistungen bekannt.

Für Polen stellte er — vorbehaltlich der Zustimmung des Kongresses — 100 Mio. US-Dollar (etwa 200 Mio. DM) für die polnische Privatwirtschaft über einen dreijährigen Zeitraum in Aussicht, 15 Mio. US-Dollar für Umweltschutzmaßnahmen, vier Mio. zur Unterstützung der polnischen Gewerkschaften und zusätzlich zu den laufenden 8. 4 Mio. US-Dollar für Lebensmittelhilfe weitere 100 Mio. US-Dollar für 1990. Für Ungarn sagte Bush privatwirtschaftliche Unterstützung in Höhe von 25 Mio. US-Dollar und fünf Mio. für Umweltschutz zu. Für beide Länder wurden ebenfalls bilaterale Handelserleichterungen beschlossen

In Hintergrundgesprächen mit amerikanischen Journalisten auf seinem Flug nach Paris betonte der Präsident wiederholt, wie sehr er von der Offenheit der Gespräche mit den Führungspersönlichkeiten beider Länder beeindruckt gewesen sei. Dies stand für ihn in starkem Gegensatz zu den wenig ergiebigen Gesprächen, die er in Warschau hatte, als er 1988 Polen als Vizepräsident besuchte. In Paris teilte er den Teilnehmern des Weltwirtschaftsgipfels mit, daß Gorbatschow keine Einwände gegen ein westliches Hilfsprogramm für Osteuropa habe Offensichtlich hatte es Kontakte zwischen Washington und Moskau über diese Frage gegeben.

Nach einer intensiven Diskussion über die Form und das Ausmaß weiterer westlicher Hilfeleistungen beschlossen die Gipfelteilnehmer nach einer Initiative von EG-Kommissionspräsident Delors, Bundeskanzler Kohl und Präsident Bush, daß die EG alle weiteren Maßnahmen koordinieren solle. Zusätzlich wurden schnelle Umschuldungsverhandlungen zwischen dem Internationalen Währungsfond (IWF) und Polen befürwortet, die auch die Kreditwürdigkeit der Volksrepublik wieder herstellen sollen.

In der amerikanischen Presse und in der demokratischen Partei wurde allerdings bald kritisch geäußert, daß die amerikanischen Hilfeleistungen zu mager seien und daß Bush historische Gelegenheiten verpasse. Als Ergebnis schlugen die Demokraten im September eine etwa um das Dreifache erhöhte Wirtschaftshilfe vor. Die neue Summe sollte durch Kürzungen des Verteidigungshaushaltes um 1, 8 Mrd. US-Dollar gewonnen werden Trotz aller rhetorischen Schärfe in der innenpolitischen Auseinandersetzung sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die demokratischen Senatoren keineswegs die Ziele, sondern nur den Umfang des Engagements kritisieren.

Vom 22. bis 24. September trafen sich schließlich der sowjetische und der amerikanische Außenmini-ster im amerikanischen Bundesstaat Wyoming, um Konfliktfragen in der Dritten Welt (sog. regionale Probleme), die Fortführung der verschiedenen Rüstungskontrollverhandlungen und eine Begegnung des amerikanischen und des sowjetischen Präsidenten vorzubereiten.

VI. Abschließende Bewertung

Die Bewertung der Politik der Bush-Administration in Europa, gegenüber Osteuropa und der Sowjetunion kann in Anbetracht des historischen Wandels nur vorläufig sein. Trotzdem zeichnen sich wichtige Grundzüge ab: Die Gestaltung der Beziehungen zu Westeuropa, EG und NATO ist eng mit der Politik gegenüber der Sowjetunion, der War-schauer Vertragsorganisation und den osteuropäischen Ländern verknüpft. Auf einer niedrigen Ebene sind die Beziehungen der USA zur Bundesrepublik ebenfalls eng mit den gegenwärtigen Veränderungen in Osteuropa verwoben. Obwohl der bilaterale Dialog zwischen Washington und Moskau weiterhin der Hauptfaktor zwischen Ost und West bleibt, streift der amerikanische strategische Blick auf Osteuropa zunehmend über die Bundesrepublik und das wachsende deutsche wirtschaftliche — und damit politische — Potential. Sich wandelnde gesellschaftliche Bedingungen in Osteuropa und in der Sowjetunion verändern den Charakter der Ost-West-Beziehungen — politisch, militärisch und wirtschaftlich — und damit auch die Position und die Bedeutung der Bundesrepublik.

Der amerikanische Präsident traf seine Entscheidung, die konventionellen Abrüstungsverhandlungen in Wien zu intensivieren und umfassend anzulegen, aufgrund des innenpolitischen Drucks im eigenen Land, in Reaktion auf die sowjetischen Vorschläge vom 23. März in Wien und während des Treffens der Außenminister in Moskau am 10. /11. Mai, aber auch aufgrund der westdeutschen Unzufriedenheit über den Verlauf des Abrüstungsprozesses in Europa. Die Verringerung des Faktors Sicherheit in den Ost-West-Beziehungen bedeutet damit automatisch, daß andere — wirtschaftliche — Faktoren ins Zentrum der Diplomatie rücken. Dies kann auch bedeuten, daß traditionelle ethnische und Territorialfragen, die durch die Struktur des Kalten Krieges eingefroren und unterdrückt wur-den. wieder an Virulenz gewinnen. Dies erklärt zum Teil die Vorsicht Washingtons.

Die Entscheidung der USA, die Diskussionen in der NATO und die Konflikte durch einen weitreichenden Vorschlag für Wien zu überwinden und damit auch faktisch Vertrauen in die sowjetische Abrüstungspolitik zu setzen, bedeutet aber nicht zuletzt, daß in Washington in der Konsequenz — wenn nicht konzeptionell — der neue politische Spielraum der Bundesrepublik (aufgrund ihrer ökonomischen Kompetenz) akzeptiert wird. Die geographische Nähe, die Ostpolitik, ihre Tradition und das wirtschaftliche und Handelsinteresse versetzen die Bundesrepublik in eine entscheidende Rolle gegenüber dem „Osten“. Wenn dieser Prozeß im Rahmen der machtpolitischen Sprache der Realpolitik interpretiert wird, die nach Gewinnern und Verlierern fragt, dann ist Bonn der Gewinner des sich abzeichnenden Abrüstungsprozesses. Dieser Prozeß verändert objektiv auch die Beziehung zwischen beiden Staaten zugunsten der Bundesrepublik. Die Frage ist, wie beide Länder diesen Prozeß subjektiv verarbeiten, der schon lange überfällig war. Für die amerikanischen Eliten ist diese Anpassung psychologisch nicht einfach, während die westdeutschen Eliten diesen Wandel in Ton und Stil so gestalten können, daß weder Sorgen noch unausgesprochene Ängste über die Ziele der Außenpolitik der Bundesrepublik entstehen. Der Konflikt über die Kurzstreckenraketen (SNF) vor dem NATO-Gipfel ist ein Beispiel, wie dieser Wandel nicht ablaufen sollte. Die Phase seit dem NATO-Gipfel ist ein Beispiel eines positiveren Managements. Die Ansprüche an die amerikanische Führung sind in diesem Zusammenhang nicht unbeträchtlich. Im Gegensatz zur Reagan-Administration, die durchaus zum Unilateralismus neigte, wird die traditionelle Führungsrolle der USA im Weißen Haus, im Kongreß und von außenpolitischen Experten neu eingeschätzt und die Notwendigkeit gesehen. einen anderen, gleichberechtigteren und kooperativeren Stil des Umgangs mit den Ländern Westeuropas einzuschlagen. Hier ist der grundsätzliche Hintergrund zur Charakterisierung der EG und auch der Bundesrepublik „als Partner in der Führung“ zu sehen. Dieser „partnerschaftlichere“ Stil findet in Washington allgemein Beifall — er steht aber in objektivem Gegensatz zu der „special relationship“ mit Großbritannien — und kann als außenpolitisches Pendant zum innenpolitischen, konzilianten Umgang mit dem (demokratisch dominierten) Kongreß gedeutet werden. Dies entspricht auch dem zu Konsens neigenden, pragmatischen Naturell Bushs. Nach den ideologischen Auseinandersetzungen der Reagan-Zeit wirkt dieser Stil innenpolitisch beruhigend, wenn nicht sogar versöhnend. Er ist allerdings auch nicht spektakulär und neigt nicht zu konzeptionell-radikalen Innovationsschüben. Der partnerschaftlichere Ansatz beinhaltet zudem, daß Anstöße zu Konfliktlösungen und Erneuerungen in den Regionen der Erde, in denen die USA strategische Interessen haben, von den regionalen Eliten auch selbst entwickelt und getragen werden müssen, und daß die Bush-Administration weniger als machtvoller Problemloser auftreten wird. Diese weniger „imperiale“ Rolle wird dann von Kritikern im Kongreß jedoch häufig als konzeptionell schwach und „furchtsam“ angegriffen werden. Auf Polen und Ungarn bezogen erklärt dies, warum der Kongreß größere Summen als Bush zur Unterstützung des Reformprozesses in diesen Ländern durchsetzen will. Das Drängen des Senats nach scharfen Verifizierungsmaßnahmen bei den nuklear-strategischen, konventionellen und chemischen Abrüstungsverhandlungen macht es der Administration nicht leicht, schnell unterschriftsreife Verhandlungsergebnisse vorzulegen, und zwingt sie zu einem sorgfältigen Vorgehen.

Im Verhältnis zur Sowjetunion wiederholt sich dieses Muster. Bush ist zu einer Politik „jenseits der Einengung“ bereit. Die Administration will den Prozeß der Demokratisierung unterstützen. Nach Meinung ihrer Kritiker legt sie jedoch keinen neuen Entwurf vor. In Anbetracht der Offenheit und der langfristig schwierig zu prognostizierenden Richtung der innenpolitischen Entwicklung in der Sowjetunion werden zwar die Reformbemühungen und der Wandel von der Konfrontation zum kooperativen Dialog positiv — im Kongreß auch enthusiastisch — begrüßt, aber es herrscht in der Administration Unsicherheit darüber, auf welche gesicherte Basis eine kooperative Politik gestellt werden sollte. Nur eine grundsätzliche geostrategische Absprache, ein Übergang von der Detente zur Entente, würde eine in jeglicher Hinsicht neue Politik möglich machen. Deshalb ist eine sinnvolle und denkbare Alternative zu den gegenwärtigen Strukturen des Kalten Krieges schwer vorstellbar. Bush betreibt keine Politik der Alternative, sondern geht von der Realität des internationalen Systems in Europa aus, um die innenpolitischen Reformen in der Sowjetunion und in „Osteuropa“ zu unterstützen. Die sowjetischen Sicherheitsbedürfnisse, über deren Ausmaß im übrigen auch keine Klarheit besteht, sollen während der Übergangsphase nicht unnötig belastet werden. Denn es gilt als nicht unmöglich, daß die Sowjetunion in strategisch zentralen Staaten — wie in der DDR oder in der Volksrepublik Polen — militärisch intervenieren könnte, wenn Entwicklungen als destabilisierend wahrgenommen werden sollten. Südosteuropa ist für die Sowjetunion nicht von zentraler Bedeutung. Aus diesen Gründen konsultierten die USA die Sowjetunion indirekt vor ihrem neuen Engagement in Polen und Ungarn.

Es ist nicht das Ziel der USA, die Landkarten in Osteuropa neu zu schreiben, sondern durch die Unterstützung der Reformbewegungen in einzelnen Ländern als unausgesprochenes Ziel in Osteuropa eine Situation zu stimulieren, die vielleicht mit dem Begriff der „Finnlandisierung" umschrieben werden kann, die die Teilung Europas machtpolitisch nicht voll aufhebt, aber eine beträchtliche sicherheitspolitische Beruhigung und gleichzeitig eine kulturelle Annäherung zwischen Ost-und Westeuropa bedeuten würde. Über den Umfang des westlichen Engagements wird sicherlich in Washington gestritten werden, nicht aber über die Richtung.

Wenn dieser Befund richtig sein sollte, dann betreiben die USA gegenüber der Sowjetunion und in Osteuropa keine revisionistische Politik (zum Beispiel Grenzveränderungen, Auflösung der War-schauer Vertragsorganisation), sondern begrüßen die Reformpolitik Gorbatschows in einem Maße, daß ein Gefühl des Dilemmas in Washington zu spüren ist: Die Anforderungen an Gorbatschow sollten nicht zu einer Schwächung seiner innenpolitischen Position führen, was vielleicht zu einem Rückfall in eine Politik der negativen Machtkonkurrenz führen könnte.

Es ist schwierig, den Punkt zu bestimmen, an dem die USA die Politik des Kalten Krieges als beendet ansehen, und an dem Europa als „ganz und frei“ (Bush) erklärt werden könnte. Sicherlich wäre es sinnvoll, wenn sich die europäischen Akteure und die USA auf Eckpunkte ihrer Ostpolitik einigen könnten — einmal, um westliche Dissonanzen zu verhindern; zum anderen, um einen gemein-samen Zielpunkt zu benennen, der Zentraleuropa zu einer politisch, kulturell und militärisch befriedeten Region in der Weltpolitik machen könnte. Die Einbettung der Bundesrepublik in diesen Prozeß würde sie zum stärksten Gewinner werden lassen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. International Herald Tribune vom 8. August 1989; Washington Post vom 30. September 1989.

  2. Zit. nach Dom Bonafede, Presidential Focus: Rating Bush, in: National Journal vom 8. April 1989, S. 890.

  3. Ebd.

  4. Vgl. David Hoffman, Bush’s Lofty Goals Lack Bottom Line, in: International Herald Tribune vom 26. Juli 1989.

  5. Ebd.

  6. Vgl. im Gegensatz dazu die nicht sehr freundliche Würdigung dieses Kompromisses aus der Sicht einzelner Ausschüsse im Senat und im Repräsentantenhaus: Lawrence J. Haas, Budget Report: Stand But Don’t Deliver, in: National Journal vom 24. Juni 1989, S. 1636— 1639. In dieser kritischen Analyse wird von einer „Welle des Zynismus auf dem Kapitol“ gesprochen angesichts der geringen Aussichten, das Haushaltsdefizit signifikant zu kürzen.

  7. Vgl. hierzu z. B. die Charakterisierung der „neuen“ Atmosphäre bezüglich des Verteidigungshaushalts: Pat Towell, The Pentagon Budget — Party Battle Lines Are Fuzzy in House Defense Debate, in: Congressional Quarterly vom 17. Juni 1989, S. 1483-1486.

  8. Zum Hintergrund vgl. John Felton. Hill Gives Contra Package Bipartisan Landing, in: Congressional Quarterly vom 15. April 1989, S. 832-836.

  9. Ebd, S. 833.

  10. Vgl. Rochelle L. Stanfield. Foreign Policy Focus: Cutting Deals, in: National Journal vom 8. April 1989, S. 889.

  11. In einer Gallup-Umfrage im Februar 1989 meinten 58 Prozent der Befragten, daß Japan und Westeuropa zu wenig „für ihre eigene Verteidigung aufbrächten“. Zit. nach: Opinion Outlook. Views on National Security, in: National Journal vom 8. April 1989, S. 882. Eine Zusammenstellung vieler Meinungsumfragen zur Außenpolitik ist: Opinion Roundup, in: Public Opinion, 11 (1989) 6, S. 21— 40.

  12. Ronald Reagan. . New Era‘ in International Affairs Possible, in: U. S. Policy Information and Texts, Nr. 231/B, 12. Dezember 1989, S. 3.

  13. Vgl. Thomas L. Friedman, Gorbachev’s Adroitness Irritates Bush Officials, in: International Herald Tribune vom 19. Mai 1989.

  14. U. S. Policy Information and Texts, Nr. 40, 22. März 1989, S. 7; im folgenden zitiert als U. S. Policy.

  15. Vgl. die Berichte auf der ersten Seite der New York Times und Washington Post.

  16. U. S. Policy, Nr. 49, 12. April 1989, S. 13.

  17. Vgl. hierzu die Berichte in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 24. April 1989; Bush’s First Foreign Crisis, in: Newsweek, CXIII (1989) 19, S. 8— 10; und im Guardian vom 22. April 1989.

  18. Interview in: Newsweek, ebd., S. 52.

  19. Zuletzt: Hans-Dietrich Genscher, Neue Chancen für eine Politik dauerhafter Stabilität und Sicherheit, in: Bulletin des Presse-und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 66, 30. Juni 1989, S. 597.

  20. Vgl. Hamilton Calls for Talks on Short-Range Missiles, in: U S. Policy, Nr. 60, 8. Mai 1989, S. 21 f.

  21. Baker Stresses Need for Continued U. S. Leadership, in: U. S. Policy, Nr. 51, 17. April 1989, S. 13.

  22. Ebd.. S. 9.

  23. Ein weiterer Effekt sollte auch eine Warnung an die EG und ihren subventionierten Außenhandel mit landwirtschaftlichen Produkten sein. Vgl. U. S. Policy. Nr. 56. 3. Mai 1989. S. 15.

  24. U. S. Policy, Nr. 51, 17. April 1989, S. 19.

  25. Ebd., S. 18.

  26. Ebd., S. 17 und S. 19.

  27. Vgl. International Herald Tribune vom 3. Juli 1989.

  28. Vgl. ebd.

  29. Ebd., S. 4.

  30. International Herald Tribune vom 12. Mai 1989, S. 4. Cheney sagte wörtlich: „Er hat so viele Rattenlöcher drüben in Osteuropa, daß 500 einfach armselig ist.“

  31. Vgl. Fitzwater Diplomacy. in: Washington Post vom 19. Mai 1989.

  32. International Herald Tribune vom 19. Mai 1989.

  33. Vgl. U. S. Policy, Nr. 23, 13. Februar 1989, S. 5 ff. und S. 21 ff.

  34. Vgl. U. S. Policy, Nr. 52, 19. April 1989. S. 20 f.

  35. Die wichtigsten Reden sind abgedruckt in: Europa-Archiv (EA), (1989) 12. S. D 323 ff.

  36. Vgl. EA. S. D 331-334.

  37. FA S D 334-337

  38. U. S. Policy, Nr. 65, 22. Mai 1989, S. 26.

  39. EA, S. D 338 f.

  40. EA, S. D 340.

  41. Vgl. ebd.

  42. EA, S. D 353.

  43. Vgl. die Erklärung der Bundesregierung zur NATO-Gipfelkonferenz und zum Besuch des Präsidenten der Vereinigten Staaten, in: EA, S. D 361— 366.

  44. Zur Reaktion in den USA vgl. European Arms Control After the NATO Summit. A briefing with Stanley R. Resort. John D. Steinbrunner, Paul Warnke, and Jack Mendelsohn, in: Arms Control Today, 19 (1989) 5, S. 3— 8.

  45. U. S. Policy, Nr. 86, 7. Juli 1989, S. 11 f.

  46. Vgl. ebd, S. 13-15.

  47. Vgl. Bushs verschiedene Reden abgedruckt in den Ausgaben U. S. Policy, Nr. 88, 12. Juli 1989 sowie Nr. 89, 14. Juli 1989.

  48. Vgl. International Herald Tribune vom 15. Juni 1989.

  49. Zu dieser Kontroverse vgl. Washington Post vom 20. September 1989.

  50. Zu den technischen Einzelheiten vgl. die Beiträge in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/89.

Weitere Inhalte

Manfred Stinnes, Ph. D. (Universityof Minnesota), M. A., geb. 1944; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Geschichte in Gießen, Berlin, Berkeley und Minneapolis (USA); Lehrtätigkeit in den USA, Oslo und Frankfurt; 1973— 1977 Forschungstätigkeit an der Hessischen Stiftung für Friedens-und Konfliktforschung (HSFK); seit 1977 Referent für Internationale Beziehungen beim Kultur-und Informationsdienst (USIS) der Botschaft der USA in Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Interventionskrieg und Widerstand: Soziale Schichten, Gewerkschaften und der Krieg in Vietnam, in: Jahrbuch für Friedens-und Konfliktforschung, Freiburg 1977; Political Theory and Peace, University of Michigan Microfilm-Press 1978; zahlreiche Beiträge in Fachzeitschriften.