I. Die Ausgangslage für Präsident Bush
George Bush, der am 20. Januar 1989 als der 41. Präsident der Vereinigten Staaten ins Weiße Haus einzog, wurde mit einer deutlichen Stimmenmehrheit gegenüber seinem demokratischen Herausforderer Michael Dukakis in dieses Amt gewählt. Obgleich selbst eher pragmatisch als ideologisch orientiert, hatte Vizepräsident Bush es erfolgreich verstanden, sich als loyaler Gefolgsmann und legitimer Erbe Ronald Reagans darzustellen und damit von dessen außergewöhnlich großer Beliebtheit zu profitieren.
Bush hatte als einziger republikanischer Kandidat vorbehaltlos den INF-Vertrag unterstützt und sich im Wahlkampf entschieden gegen protektionistische Ansätze, wie sie von dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Gebhardt — aber auch von republikanischen Bewerbern — vertreten wurden, ausgesprochen. Trotz verbesserter Sozialprogramme sollten nach Bush unpopuläre Steuererhöhungen vermieden und — noch im Sinne einer „Politik der Stärke“ — eine moderate Rüstungspolitik bei gleichzeitiger Fortsetzung der Abrüstungsverhandlungen und eine Politik der Verständigung mit dem politischen Gegner verfolgt werden. Ein schlüssiges Konzept zur Reduzierung der hohen Auslandsverschuldung der USA und des nationalen Haushaltsdefizits — die vordringlichste Aufgabe für den neuen Präsidenten — vermochte George Bush ebensowenig wie die übrigen republikanischen Kandidaten im Wahlkampf anzubieten.
Drastische Steigerungen der Rüstungsausgaben bei gleichzeitigen Einkommenssteuersenkungen hatten unter der Regierung Reagan eine Verfünffachung des amerikanischen Haushaltsdefizits zur Folge gehabt Bei der Bewältigung dieser schwierigen Aufgabe ist Präsident Bush auf die enge Zusammenarbeit mit einem demokratisch kontrollierten Kongreß angewiesen. Schon vor Jahren hatte eine Gruppe von einflußreichen konservativen Demokraten, die sich zum „Democratic Leadership Council“ (DLC) zusammengeschlossen haben — darunter Nunn, Aspin, Gebhardt und andere — der Reagan-Administration den Vorwurf gemacht, über keine kohärente Verteidigungsstrategie zu verfügen, die der Außenpolitik der USA und den alliierten Fähigkeiten angepaßt sei und die Verteidigungsausgaben in Einklang bringe mit Militär-doktrinen. Taktiken und Ressourcen. Ein kostspieliges, aber wenig überzeugendes strategisches Programm und eine nicht ausreichend definierte SDI-Forschung hätten lediglich zur Verschwendung der ohnehin knapp bemessenen Mittel geführt. Da die gegenwärtige militärische Rüstung die hohen Kosten nicht wert sei, müßten die USA — so die zentrale Forderung des DLC — weitreichende Veränderungen in der Verteidigungspolitik hinsichtlich Planung, Finanzen und Organisation vollziehen, um nicht nur möglichen militärischen Bedrohungen, sondern auch den immer größer werdenden politischen und ökonomischen Herausforderungen der Zukunft begegnen zu können
In diesem Zusammenhang findet die wieder entflammte Debatte um eine gerechtere Aufteilung der Verteidigungslasten mit den europäischen Bündnispartnern, die zusehends als starke wirtschaftliche Konkurrenten der USA auf dem Weltmarkt auftreten, in einem veränderten internationalen Umfeld und vor dem Hintergrund neu auftauchender Differenzen unter den Alliierten statt. So kann auch der Erfolg von Präsident Bush, der auf dem NATO-Gipfel im Mai mit weitreichenden Abrüstungsvorschlägen die in der Modernisierungsfrage zerstrittenen Verbündeten auf eine gemeinsame Kompromißformel brachte, nicht darüber hinwegtäuschen, daß der sicherheitspolitische Konsens unter den NATO-Mitgliedern immer schwierigerwird. Die Frage eines Nachfolge-Systems für die Lance-Raketen wurde auf der Gipfelkonferenz nicht definitiv gelöst, sondern lediglich bis 1992 vertagt, und viele Europäer, die die ersten Ergebnisse der konventionellen Abrüstungsverhandlungen in Wien mit Ungeduld erwarten, haben ihre Hoffnung auf eine baldige dritte und vierte Null-Lösung bei den atomaren Kurzstrecken-und Gefechtsfeldwaffen nicht aufgegeben.
In der Bundesrepublik Deutschland hat die besonders mit den Vereinigten Staaten und Großbritannien kontrovers geführte Diskussion um eine Modernisierung des atomaren Kurzstreckenpotentials der NATO zu einer verstärkten Besinnung auf die eigenen nationalen Sicherheitsinteressen geführt, die in diesem Falle nicht mit den amerikanischen oder britischen identisch sind. Die Ursache hierfür ist auch in gewandelten Bedrohungswahmehmungen zu suchen, denn nur noch eine Minderheit der Bundesbürger fühlt sich von der Sowjetunion bzw.den militärischen Fähigkeiten des Warschauer Paktes unmittelbar bedroht. Die gemeinsame Erklärung von Bundeskanzler Kohl und Parteichef Gorbatschow, mit vereinten Kräften auf die Veränderung des Status quo und die Überwindung der Teilung Europas hinzuarbeiten, stellt ein herausragendes Ereignis innerhalb dieser Entwicklung dar, die den Ausbau der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und umweltpolitischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion zum Ziel hat.
Mit der gleichen Zielsetzung ist auch die Regierung Bush an der Fortsetzung und Intensivierung des positiven Verhältnisses zur Sowjetunion interessiert. Dennoch kann für eine dauerhafte Neugestaltung der Ost-West-Beziehungen auf einen soliden sicherheitspolitischen Konsensus unter den westlichen Verbündeten nicht verzichtet werden. Dringender als jemals einer seiner Vorgänger muß deshalb Präsident Bush partnerschaftlich mit den Westeuropäern auf eine Lösung der Probleme hinarbeiten, die den Zusammenhalt der Allianz seit ihrem Bestehen immer wieder auf die Probe gestellt haben und die angesichts der sich rapide wandelnden internationalen politischen Lage nun akut geworden sind. Das sind in erster Linie Fragen der Strategie, hier besonders der Atomwaffen und der Glaubwürdigkeit der nuklearen Garantie der USA, aber auch Probleme der Lastenverteilung, der Rüstungskontrolle und der Stationierung von US-Truppen in Westeuropa, vor allem in der Bundesrepublik Deutschland.
II. Kooperation und Abrüstung der Supermächte
Mit dem Austausch der Ratifikationsurkunden des Vertrages über die weltweite Abschaffung aller landgestützten Mittelstreckenraketen am 1. Juni 1988 haben die verbesserten amerikanisch-sowjetischen Beziehungen einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Zum ersten Mal in der Nachkriegsgeschichte wurde zwischen den beiden Supermächten ein echter Rüstungsabbau, nicht nur eine Festlegung auf Obergrenzen (SALT I + II) vereinbart. Betroffen ist eine ganze Klasse von nuklearen Waffen, nämlich ballistische Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 km.
Sowohl Befürworter als auch Gegner des NATO-Doppelbeschlusses verbuchen das INF-Abkommen als ihren Erfolg. So kam es nicht zuletzt unter dem Einfluß der Friedensbewegungen in den USA und in Westeuropa überhaupt zur Formulierung der Null-Lösung, die ursprünglich von den USA nicht ernst gemeint, sondern lediglich taktisch gedacht war, um die nervösen Verbündeten zu befriedigen und die Stationierung durchzusetzen.
Eine weitere Voraussetzung für den erfolgreichen Vertragsabschluß war die Veränderung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen und des gesamten diplomatischen Geschehens unter der Führung von Parteichef Gorbatschow. Als erster sowjetischer Generalsekretär hat er erkannt, daß die nationale Sicherheit der Sowjetunion realistischerweise immer in ein beiderseitiges Sicherheitsverhältnis zu ihrem politischen und militärischen Konkurrenten eingebunden sein muß und nicht auf dessen Kosten gehen darf. Im Rahmen dieses neuen internationalen politischen Denkens werden nun auch Verifikationsmaßnahmen als Voraussetzung für Rüstungsvereinbarungen akzeptiert, ebenso das Prinzip des militärischen Gleichgewichts, das notfalls auch mit einseitigem Rüstungsabbau erreicht werden soll Skeptiker unter den westlichen Politikern werden von sowjetischen Vertretern darauf hingewiesen, daß das neue politische Denken einen tiefgreifenden Prozeß ausgelöst habe, der auf die Einbeziehung universeller menschlicher Werte und Maßstäbe in die Praxis der internationalen Politik abziele und durch die Demokratisierung aller Bereiche der sowjetischen Gesellschaft irreversibel gemacht werden solle. Außenpolitik solle in Zukunft frei von Ideologie auf eine stabile Koexistenz und gemeinsame friedliche Entwicklung gerichtet sein In diesem Sinne betont auch Außenminister Schewardnadse, daß es bei den Abrüstungsverhandlungen um mehr gehe als nur um den Abbau der Waffen, nämlich um gemeinsame Anstrengungen zur Überwindung der Teilung Europas
Die Chancen für ein positives Ergebnis der Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte stehen deshalb gut, zumal der Warschauer Pakt das westliche Konzept und den Rahmen für die Verhandlungen über die konventionellen Streitkräfte in Europa (VKSE) bereits akzeptiert hat. Der bislang weitestgehende Vorschlag wurde anläßlich der NATO-Gipfelkonferenz im Mai dieses Jahres von Präsident Bush eingebracht, der für die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten gleiche Obergrenzen für die Stationierung von Truppen in Europa vorsieht, wobei die abgezogenen Soldaten nicht nur verlegt, sondern demobilisiert werden sollen. Des weiteren enthält der Vorschlag von Bush — der vom Warschauer Pakt positiv aufgenommen wurde — konkrete Zahlen für gleiche Obergrenzen bei Panzern, Schützenpanzern, Artilleriegeschützen, Kampfflugzeugen und Kampfhubschraubern. Alle abgezogenen Kriegsgeräte sollen vernichtet werden
Mit diesen Reduzierungen sollen die Invasionsfähigkeit und die Option des Warschauer Paktes zum Überraschungsangriff beseitigt und ein möglichst sicheres und stabiles Gleichgewicht im konventionellen Bereich herbeigeführt werden. Verhandlungen über nukleare Kurzstreckenraketen werden erst aufgenommen — so lautet der Brüsseler Kompromiß —, wenn die noch zu vereinbarenden konventionellen Abrüstungsmaßnahmen . eingeleitet worden sind. Auch dann aber, wenn bis spätestens 1992 ein Ergebnis der KSE-Verhandlungen erzielt worden ist, wird der NATO eine weitere Auseinandersetzung um die Notwendigkeit der Einführung und Stationierung eines neuen atomaren Kurzstrekkensystems nicht erspart bleiben
Nach wie vor verwahren sich vor allem die USA und Großbritannien dagegen, daß die in naher Zukunft zu erwartenden Verhandlungen über den Abbau nuklearer Kurzstreckenwaffen mit einer Reichweite von unter 500 km mit dem Ziel einer dritten — unter Einbeziehung alle Gefechtsfeldwaffen auch einer vierten — Null-Lösung geführt werden sollen, wie dies von der Bundesrepublik Deutschland und den meisten anderen NATO-Mitgliedern angestrebt wird. Diese Differenzen zwischen den USA aber auch Großbritanniens und ihren kontinental-europäischen Alliierten sind grundsätzlicher Art und betreffen die Rolle von nuklearen und konventionellen Waffen in der gültigen NATO-Strategie der „flexible response".
Da nach der INF-Abrüstung die in der NATO verbleibenden landgestützten atomaren Systeme (Artillerie und Lance-Raketen) aufgrund ihrer kurzen Reichweite in jedem Fall nur auf deutschem Territorium zum Einsatz kommen könnten, ist der Abbau aller nuklearen Kurzstrecken-und Gefechtsfeldwaffen parallel zur Schaffung eines konventionellen Gleichgewichts für die Bundesrepublik Deutschland von vorrangiger Bedeutung. Da der Warschauer Pakt in den achtziger Jahren ein umfassendes Modernisierungsprogramm seiner atomaren Kurzstreckensysteme durchgeführt hat und hier selbst eine Überlegenheit von 12: 1 zugibt, kann es sich bei einer beidseitigen Abschaffung dieser Waffenkategorie kaum um ein vermeidbares Sicherheitsrisiko handeln — selbst wenn die Herstellung einer konventionellen Balance in Europa noch nicht erreicht ist. Als eigentlicher und positiver Zweck der landgestützten atomaren Kurzstreckenwaffen muß deshalb ihr Wert als Verhandlungsgegenstand verstanden werden, um gleiche Waffen im Osten durch ein verifizierbares Abkommen abzuschaffen.
Einwände seitens der USA, die in Europa stationierten US-Truppen seien ohne wirkungsvolle nukleare Abschreckung, sind wenig überzeugend: Nuklearwaffen, die zur Abschreckung eines feindlichen Atomwaffeneinsatzes dienen sollen, müssen nicht unbedingt an Land stationiert sein. Mängel in der konventionellen Verteidigung können aber durch Nuklearwaffen nur scheinbar kompensiert werden, da der Einsatz atomarer Waffen im dicht-besiedelten Europa für Freund und Feind gleicher-maßen von verheerender Wirkung wäre. Die NATO muß deshalb fähig sein — so auch der amerikanische Senator Sam Nunn —, sich nicht nur für Tage, sondern für Wochen in Europa zu verteidigen, ohne zum Rückgriff auf nukleare Mittel gezwungen zu sein.
Was ihre Unterstützung für weitere Abrüstungsschritte der beiden Supermächte anbelangt, hier vor allem eine 50prozentige Reduzierung des strategisch-nuklearen Arsenals und die Abschaffung aller chemischen Waffen, sind sich die NATO-Verbündeten einig. Die Haupthindernisse für einen schnellen Abschluß bei den START-Verhandlungen sind im wesentlichen die Verifikation bei seegestützten atomaren Marschflugkörpern und mobilen ballistischen Raketen sowie die Rolle der Strategischen Verteidigungsinitiative. Dennoch haben sowohl die USA als auch die Sowjetunion ein starkes Interesse an der Fortsetzung ihrer positiven Beziehungen und deshalb auch am tatsächlichen Zustandekommen eines derartigen Abkommens. Für die Sowjetunion sind einschneidende Verringerungen des eigenen Militärpotentials die unabdingbare Voraussetzung für eine Verbesserung des ständig sinkenden Lebensstandards der eigenen Bevölkerung. Für die USA bedeutet eine Verringerung ihrer konventionellen und strategisch-nuklearen Rüstungsausgaben eine wichtige finanzielle Entlastung, die neben der Bekämpfung der nationalen Staatsverschuldung auch den Transfer von dringend benötigten Mitteln in andere Bereiche des öffentlichen Lebens erlaubt. Für die Westeuropäer stellt die Weiterentwicklung eines friedlichen, kooperativen amerikanisch-sowjetischen Verhältnisses mehr als nur die Verringerung der militärischen Bedrohung und die Einsparung von Ressourcen für die Verteidigung dar: Sie bietet eine reelle Chance, ihr Verhältnis zu den USA partnerschaftlich neu zu gestalten und unter Berücksichtigung eigener nationaler Interessen am Aufbau einer europäischen Friedensordnung verantwortlich mitzuarbeiten.
III. Hintergründe und Ursachen der Strategie-Debatte
Der erfolgreiche Abschluß des Vertrages zur weltweiten Vernichtung aller Mittelstreckenraketen hat bei vielen Menschen die Hoffnung auf eine Fortsetzung der neuen Entspannungspolitik zwischen den Supermächten geweckt. Die gleichzeitig von Politikern, Militärs und Wissenschaftlern mit Nachdruck geforderte Verstärkung der konventionellen Rüstung der NATO zum Ausgleich der konventionellen Überlegenheit des Warschauer Paktes muß heute, angesichts der positiven Entwicklung der Ost-West-Beziehungen und berechtigter Hoffnungen auf ein baldiges Abkommen zur Herstellung eines konventionellen Gleichgewichtes in Europa, in einem anderen Licht betrachtet werden: Die Forderungen der amerikanischen Seite nach einer Verbesserung der konventionellen Verteidigung haben ihre tiefere Ursache in dem seit langem bestehenden Dissens über die gültige Strategie der NATO. Besonders seit die UdSSR die strategische Parität mit den USA erlangt hat, zweifeln die Europäer an der nuklearen Garantie der USA. Schon 1979 hatte Henry Kissinger in Brüssel erklärt, die erweiterte Abschreckung bis hin zur strategisch-nuklearen Konfrontation könne nicht funktionieren, und er forderte eine Revision der alliierten strategischen Doktrin.
Während in den USA allgemein die Auffassung vertreten wird, daß bei einem Versagen der Abschreckung ein militärischer Konflikt beendet werden muß, ohne zum globalen Atomkrieg zu eskalieren — notfalls mit Hilfe des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen —, wird in Europa der Wert von taktischen und strategischen Atomwaffen vor allem politisch in der Kriegs-verhinderung durch Abschreckung gesehen Die Ängste der Europäer vor einer strategischen Abkoppelung von Amerika, das eine existentielle Gefährdung seines eigenen Territoriums durch eine militärische Auseinandersetzung in Europa vermeiden will, werden durch die Ergebnisse der von Verteidigungsminister Weinberger 1986 eingesetzten Strategiekommission noch verstärkt
Mit der Betonung der eigenen amerikanischen Sicherheitsinteressen sollen — so der Bericht — durch neue Technologien bessere konventionelle und nukleare Optionen geschaffen werden, mit de-nen allerdings ein allgemeiner Atomkrieg weder angedroht noch provoziert werden dürfe. Im Rahmen einer derartigen „differenzierten“ Abschrekkung („discriminate“ deterrence) müßten sich taktische Atomwaffen für einen selektiven Einsatz als Kriegsführungsinstrumente durch optimale Präzision und Effektivität auszeichnen, um einen möglichst hohen Abschreckungswert zu besitzen. Dieses de-facto „limited war" -Konzept für Europa wird von Verteidigungsminister Cheney bestätigt, der darauf hinweist, daß die amerikanischen taktischen Nuklearwaffen nicht nur zur Abwehr sowjetischer Raketen, sondern auch gegen die konventionellen Fähigkeiten der Sowjetunion gerichtet sind. Nukleare Kurzstrecken und atomare Gefechtsfeldwaffen werden deshalb von den USA für die Implementierung der flexible response-Strategie und der Vomeverteidigung als unentbehrlich angesehen.
Um einen frühzeitigen Einsatz von Nuklearwaffen in Europa zu vermeiden — die NATO vermag derzeit in Europa nur einige Tage lang einen rein konventionellen Krieg zu führen —, drängen die USA ihre Alliierten zu einer besseren, hoch-technologisierten konventionellen Verteidigung. Zwar sollen nach offiziellen Verlautbarungen im Falle eines militärischen Konfliktes die amerikanischen Truppen in Westeuropa innerhalb von zehn Tagen durch sechs Divisionen ergänzt werden, doch mußten selbst Pentagon-Experten 1988 resignierend zugeben, daß allein eine Division mehr als 30 Tage für den Transport über den Atlantik benötigt und für sechs Divisionen überhaupt keine Kontingente zur Verfügung stünden
Das unveränderbare geostrategische Grundproblem der nordatlantischen Allianz besteht darin, daß eine enge Verbindung der Sicherheit Europas mit der Sicherheit Amerikas immer geostrategische — nicht notwendigerweise politische — Zonen unterschiedlicher Sicherheit in Rechnung stellen muß. Dieses Dilemma kann weder durch eine Modifizierung oder Ablösung des flexible-response-Konzeptes, noch durch eine verbesserte konventionelle Rüstung überwunden werden. Solange aber die „differenzierte“ Abschreckung lediglich die nationalen Interessen der USA berücksichtigt, bleibt sie für die Westeuropäer unannehmbar. Vielmehr muß ihre zentrale Aussage auch für die Europäer gelten, das heißt, daß sich auch die europäische Verteidigung nicht auf Waffensysteme stützen darf, die im Falle ihres Einsatzes die eigene — europäische — Vernichtung provozieren.
Eine Konventionalisierung der gesamten westlichen Verteidigung, so wie in Reagans „visionären“ Darlegungen propagiert, kann aber vorläufig nicht im Interesse der europäischen Verbündeten sein. Allein durch ihre Existenz üben Atomwaffen einen beträchtlichen abschreckenden und damit friedens-sichernden Einfluß aus. Viele Kritiker des INF-Vertrages argumentieren deshalb, daß mit den taktischen Atomwaffen, von denen die meisten in der Bundesrepublik Deutschland stationiert sind, die „falschen“ Atomwaffen in Europa bleiben. Diese Waffen können durch Artillerie und Flugzeuge zum Einsatz gebracht werden, und in einem Konflikt verlangen die Artilleriegeschütze mit geringerer Reichweite eine frühe „use or loose" -Entscheidüng.
Dem deutschen Begehren nach Abschaffung dieser Waffensysteme steht jedoch massiver Widerstand seitens der Amerikaner entgegen, die das Prinzip des „gleichmäßig verteilten Risikos“ gewahrt sehen möchten. In ihren Augen können weder Mittelstreckenraketen noch Interkontinentalraketen eine effektive Abschreckungsfunktion übernehmen, wenn sich nicht in gleicher Weise der Entschluß, notfalls nukleare Waffen einzusetzen, auch auf die Kurzstreckenraketen und atomaren Gefechtsfeldwaffen erstreckt. Mit anderen Worten: wenn die NATO im Falle einer drohenden konventionellen Niederlage davor zurückschreckt, taktische Atomwaffen einzusetzen, ist für den Gegner auch nicht mit einem Einsatz von Mittel-und Langstreckenraketen zu rechnen.
Ein weiterer umstrittener Punkt in der Strategie-Debatte ist der Rogers-Plan bzw. das sogenannte FOFA-Konzept („Follow-on-Forces-Attack“), welches im Rahmen von gezielten Gegenangriffen den massiven Einsatz konventioneller Distanzwaffen zur Bekämpfung der zweiten und dritten nachrückenden Staffel des Warschauer Paktes vorsieht. In den Augen vieler Europäer ist ein derartiges operationales Offensivkonzept nicht mit dem Prinzip der grenznahen Verteidigung und der defensiven Aufgabe der NATO zu vereinbaren. Das Gleiche gilt in noch stärkerem Maße für die amerikanische AirLand-Battle-Studie und die 1982 eingeführte Heeresdienstvorschrift FM 100-5. Im Field Manual 100-5 wird die Bedeutung der militärischen Gegenoffensive im Kontext der gesamten Verteidigung hervorgehoben, und das AirLand-Battle-Konzept bezieht den Einsatz atomarer Gefechtsfeldwaffen in seine militärischen Operationsplanungen ein und verleiht diesen damit den Charakter von Kriegsfuh-rungswaffen.
Richtschnur für die Anwendung neuer Technologien und die damit verbundenen operativen Konzepte muß stets die defensive Natur des nordatlantischen Bündnisses und die Orientierung an einer strukturellen Angriffsunfähigkeit sein, welche durch die Konventionalisierung noch verstärkt werden soll.
Stärker als FOFA und amerikanische Dienstvorschriften aber beeinflussen die Meinungsverschiedenheiten über die amerikanische Strategische Verteidigungsinitiative die strategische Debatte unter den Verbündeten. Der politisch-philosophische Grund für SDI ist aus Reagans „Star Wars" -Rede vom 23. März 1982 ersichtlich, in der eine Vision von einer „nuklearfreien“ Welt der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Reagan hielt eine Strategie der „gesicherten gegenseitigen Zerstörung“ („Mutual Assured Destruction“) für unmoralisch und den Aufbau einer wirksamen Verteidigung für eine wichtige ethische Aufgabe. Präsident Bush, der von jeglichen „visionären“ Maßstäben bei der Entscheidung für die Fortsetzung von SDI absieht, betrachtet dieses als „offenes“ Programm, dessen Kosten-Nutzen-Verhältnis mit nüchternen, praktischen Kriterien beurteilt werden muß. Unter strikter Beachtung des ABM-Vertrages soll SDI — an dessen Entwicklung die Sowjetunion ebenfalls arbeitet — als Option beibehalten werden.
Der philosophisch-visionäre Hintergrund der konzeptionellen Überlegenheit Ronald Reagans — und schon Jahre zuvor waren ähnliche Ideen unter amerikanischen Neokonservativen aufgetaucht — wurde in Europa, wo SDI auf härteste Kritik stieß, kaum beachtet. Stattdessen konzentrieren sich die meisten Einwände auf die technische Nicht-Machbarkeit einer effektiven strategischen Raketenabwehr, die hohe Verwundbarkeit eines derartigen Systems und die dazu erforderlichen immensen Kosten. Tatsächlich deuten alle Verlautbarungen aus dem Pentagon in der letzten Zeit darauf hin, daß sich ein pragmatischer Ansatz bei der SDI-Forschung durchzusetzen beginnt. Dieser wird sich — zumindest für die absehbare Zukunft — auf eine bodengestützte Raketenabwehr zur Sicherung der Überlebensfähigkeit der eigenen Interkontinental-raketen, so wie im ABM-Vertrag ausdrücklich zugestanden, konzentrieren. Obgleich die führenden NATO-Mitgliedstaaten sich inzwischen zu SDI bekannt und auch ihre Mitarbeit an verschiedenen Projekten zugesagt haben, so bleiben doch Befürchtungen hinsichtlich der möglichen strategischen und rüstungskontrollpolitischen Auswirkungen von SDI bestehen. Sollte in ferner Zukunft ein funktionierendes strategisches Verteidigungssystem wirklich stationiert werden, hätte das zweifelsohne tiefgreifende Veränderungen der international-strategischen Situation zur Folge.
IV. Probleme der Lastenverteilung
Die Diskussion zwischen den Vereinigten Staaten einerseits und den Westeuropäern andererseits um eine möglichst gerechte Aufteilung der Verteidigungslasten wird in der NATO bereits seit ihrem Beginn geführt. Schon 1949 warnte Senator Connally vor dem außenpolitischen Ausschuß des Senats davor, daß die USA im Begriff seien, ganz allein für die Sicherheit der westeuropäischen Verbündeten aufzukommen
Entschlossener denn je erklären nun die USA ihre Absicht, nicht mehr denselben hohen Anteil an den Verteidigungslasten des Westen bestreiten zu wollen wie bisher. Da als Folge der Engpässe eine personelle Schrumpfung der US-Streitkräfte in der Zukunft nicht mehr auszuschließen ist, werden die westeuropäischen Verbündeten mit Nachdruck aufgefordert, ihre Verteidigungsausgaben zu erhöhen. In diesem Sinne erklärt der 1988 von der Kommission für militärische Lastenverteilung des Streitkräfteausschusses erstellte Bericht, daß die europäischen Verbündeten der USA sich „sehr wohl auf die Verteidigung ihres eigenen Territoriums ohne ein Engagement umfangreicher amerikanischer Landstreitkräfte vorbereiten müssen, weil dieses Engagement nicht für immer garantiert werden kann“ Da die Vomestationierung amerikanischer Truppen jedoch „kurzfristig weiterhin den Eckpfeiler der Militärstrategie der Vereinigten Staaten“ bilden soll, werden die europäischen NATO-Alliierten aufgefordert, 60 Prozent der Anschaffungs-und Betriebskosten für die Flugzeuge zu übernehmen, die für den Transport amerikanischer Truppen im Falle eines Konfliktes in Europa notwendig sind
Doch nicht allein finanzielle Lasten sind es, die die Vereinigten Staaten in gesteigertem Maße mit ihren Alliierten zu teilen beabsichtigen. Vor dem Hintergrund eines permanenten Ringens um eine bessere Lastenverteilung innerhalb der NATO ist eine periodisch auftretende Verschärfung dieser Kontroverse ein sicheres Indiz für aktuelle Probleme und Meinungsverschiedenheiten, die über den reinen Bereich der atlantischen Verteidigung hinausgehen. So steht die gegenwärtige „burden-sharing“ -Debatte in engem Zusammenhang mit der negativen Handelsbilanz der USA gegenüber Westeuropa — und amerikanische Kongressmitglieder werden nicht müde, eine direkte Beziehung zwischen dem amerikanischen Handelsdefizit und der Stationierung von US-Truppen in Europa herzustellen — und mit der Kritik der USA an der protektionistischen Agrarpolitik und Subventionspraxis der Europäischen Gemeinschaft. Zum anderen sind weitere wichtige Gründe für die Unzufriedenheit der Amerikaner mit ihren europäischen Alliierten Strategiedifferenzen und die in amerikanischen Augen häufig mangelnde Solidarität mit der Außenpolitik der USA.
In den USA selbst wird die „burden-sharing“ -Debatte von zwei verschiedenen Lagern aus geführt. Auf der einen Seite stehen die sogenannten „Atlantiker“ — hierzu gehören die Demokraten und der liberale Flügel der Republikaner —, die den amerikanisch-europäischen Beziehungen in der Außenpolitik oberste Priorität einräumen und am meisten Verständnis für die unterschiedlichen politischen Gegebenheiten in Europa zeigen. Sie fordern den Aufbau einer stärkeren konventionellen Streit-macht in Europa, um die Abhängigkeit der Alliierten von der nuklearen Verteidigung durch die USA so gering wie möglich zu gestalten. Auf der anderen Seite wird von amerikanischen Neo-Konservativen eine sehr ideologiebewußte „US-first“ -Politik angestrebt. in der die im Vergleich zu anderen Weltregionen geringer werdende militärischer Bedeutung Westeuropas herausgestellt wird, und für die eine Übernahme größerer Verteidigungsaufgaben durch die Europäer selbstverständlich ist. Ihr Ziel ist eine erhöhte strategische Mobilität sowie die maritime Überlegenheit der USA, um die Grundvoraussetzungen für eine unilateralistische Außenpolitik zu schaffen, unbehindert von komplizierten Bündnis-beziehungen, die die amerikanische Handlungsfreiheit einschränken.
Die Unwilligkeit der Europäer, sich als Partner bei den globalen Aktivitäten der USA zu engagieren, ihr Zögern hinsichtlich einer konsequenten Verbesserung der konventionellen NATO-Streitkräfte, wirtschaftliche Differenzen und nicht zuletzt die zunehmende Staatsverschuldung haben in den USA die Anzahl der Stimmen größer werden lassen, die einen teilweisen oder auch vollständigen Rückzug der in Europa stationierten Truppen verlangen. Damit — so argumentieren Liberale und nunmehr in stärkerem Maße auch Konservative — könnten erhebliche Kosten eingespart werden.
Wirkliche Einsparungen aber, so wurde vom Verteidigungsausschuß des Senats festgestellt, seien von einem Abzug der US-Truppen aus Westeuropa nicht zu erwarten. Während die Kosten für die reine Truppenstationierung sich aufjährlich zwei Milliarden Dollar belaufen, müßten für einen Rückzug von nur 100000 Soldaten mitsamt Ausrüstung 670 Millionen veranschlagt werden. Eine permanente Stationierung in den USA käme dann zwar pro Jahr um circa 540 Millionen billiger, doch würden allein Ausrüstung und Training der Soldaten, um im Notfall wieder nach Europa zurückkehren zu können, hohe Kosten verursachen. Rechnet man hierzu noch die Aufwendungen des umfangreichen Luft-transports hinzu, so kann von kostenbewußter Militärplanung keine Rede mehr sein. Eine echte Einsparung von circa 4, 6 Milliarden Dollar pro Jahr könnte nur mit der Demobilisierung der in Europa stationierten Truppen erreicht werden bzw. eine geringere Kostenersparnis, wenn in absehbarer Zukunft mit der Sowjetunion ein Abkommen über die beiderseitige Demobilisierung von Truppen in Europa vereinbart werden sollte. Einseitige Abrüstungsmaßnahmen jedoch würden einer Schwächung der gesamten Verteidigungsfähigkeiten der USA gleichkommen, zumal die gegenwärtige amerikanische Außenpolitik und Sicherheitsstrategie der Stationierung von US-Streitkräften im Ausland* zum Schutz der nationalen Interessen hohe Bedeutung beimißt. Insofern ist auch der statistische Kostenfaktor irreführend, da diese Streitkräfte sowohl für die NATO als auch für andere Bereiche eingesetzt werden können und die Vornedislozierung der US-Streitkräfte in Westeuropa immer noch die kostengünstigste Lösung für die nationalen Verteidigungsanstrengungen darstellt. Schließlich bleiben die USA Mitglied in der NATO und stationieren ihre Streitkräfte in der ganzen Welt nicht wegen der Westeuropäer, sondern auf Grund vitaler nationaler Sicherheitsinteressen. Die Unabhängigkeit und Sicherheit Europas ist auch die Sicherheit Amerikas. Da ein Land wie die Bundesrepublik Deutschland — und ebenso die meisten NATO-Staaten — im Gegensatz zu den USA keine weltweiten Bündnis-verpflichtungen hat und deshalb auch keiner Rapid Deployment Force, keiner großen Marine, weitreichender konventioneller Luftstreitkräfte oder nuklearer Systeme bedarf, muß ein Vergleich zwischen den Verteidigungsausgaben eines europäischen NATO-Landes und der USA, gemessen am Bruttosozialprodukt, immer inadäquat bleiben. In den meisten Ländern Westeuropas besteht zudem Wehrpflicht, so daß die im Vergleich zu einer Freiwilligenarmee geringeren Kosten nicht mit den amerikanischen Aufwendungen verglichen werden können. Dazu kommt, daß die Bundesrepublik allein fast 27 Prozent der Kosten für die Infrastruktur der NATO trägt, was dem höchsten Anteil nach dem der USA entspricht. Darüber hinaus stellen die Dichte der in der Bundesrepublik stationierten Streitkräfte, der Umfang der Übungen und Groß-manöver und die damit verbundenen Belastungen für die Bevölkerung ebenfalls ein nicht unerhebliches „burden-sharing“ dar
Mit 90 Prozent der Landstreitkräfte, 75 Prozent der Seestreitkräfte und 50 Prozent der Luftstreitkräfte stellen die Europäer heute den Großteil der NATO-Streitkräfte für die Verteidigung Europas. Seit 1975 haben die westeuropäischen NATO-Partner außerdem ihre aktive militärische Stärke um 182 000 erhöht, während die USA ihre Präsenz nur um 32 000 aufgestockt haben. Bei einer Totalmobilmachung verfügen die Europäer über drei Millionen Reservekräfte, wobei rückläufige Zahlen bei den aktiven Kräften auf Grund geburtenschwacher Jahrgänge zu erwarten sind. Alles in allem gilt es, Probleme der Lastenverteilung innerhalb der NATO — so wichtig die einzelnen Bereiche auch sind — nicht zum Zentrum der amerikanisch-europäischen Beziehungen werden zu lassen.
V. Aufgaben in der Zukunft
Die zentrale Herausforderung für US-Präsident George Bush, der zunehmende Geldmangel bei der Verwirklichung von staatlichen Programmen, wird auch die zukünftigen Beziehungen Amerikas gegenüber seinen Alliierten beeinflussen. Weiterhin stark steigende Verteidigungsausgaben werden nicht mehr möglich sein, sollen gleichzeitig auch wichtige Prioritäten in der von Reagan stark vernachlässigten Sozialpolitik verfolgt werden. Die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung ist inzwischen von der Stärke der USA im Vergleich zur Sowjetunion überzeugt und spricht sich gegen eine Erhöhung des Verteidigungshaushaltes aus. Dagegen werden wieder mehr Ausgaben für Fürsorge-Programme sowie eine aktivere Rolle des Staates im Gesundheits-, Wohnungs-und Erziehungswesen und im Kampf gegen die sich ausbreitende Armut von den meisten Amerikanern befürwortet. Für bessere Sozialprogramme wären 60 Prozent laut Umfragen sogar bereit, höhere Steuern zu akzeptieren.
Trotz der Kontroversen der letzten Jahre und wachsender Meinungsverschiedenheiten über Handels-und Finanzfragen zwischen den USA und Westeuropa bleibt die Haltung der amerikanischen Bevölkerung gegenüber Westeuropa weiterhin positiv. Die Unterstützung der Amerikaner für einen Einsatz amerikanischer Truppen zur Verteidigung Westeuropas ist gegen Ende der siebziger Jahre stark angestiegen und ist heute größer denn je Die Verteidigung Europas bleibt also ein zentrales Anliegen des amerikanischen Volkes, und in jüngsten Analysen und Meinungsumfragen ist auch — trotz mancher anderslautender Äußerungen — keine substantielle Änderung der Prioritäten bezüglich der gesteigerten Bedeutung anderer Weltregionen feststellbar.
Gleichzeitig wird in der amerikanischen Öffentlichkeit auch Kritik an den westeuropäischen Verbündeten vorgebracht, vor allem wegen der in der Vergangenheit unzureichenden Unterstützung bei einzelnen außenpolitischen Aktionen der USA und der mangelnden Bereitschaft, durch konventionelle Aufrüstung die Abhängigkeit von Amerikas Atomwaffeh zu verringern. In der Überzeugung, daß in einem Nuklearkrieg keine Seite gewinnen könne, möchte die überwiegende Mehrheit der Amerikaner, daß die USA bei einem konventionellen Angriff der Sowjetunion auf Westeuropa auf keinen Fall mit Atomwaffen reagieren
Parallel zu diesem Trend in den Vereinigten Staaten wird die NATO-Strategie, die sich auf Nuklearwaffen stützt und unter Umständen deren Ersteinsatz vorsieht, von der deutschen Bevölkerung — ähnliches gilt auch für andere NATO-Staaten — immer weniger akzeptiert. Im Gegensatz zu vielen Verteidigungsexperten befürworten 79 Prozent aller Bundesbürger den Abzug aller Atomwaffen aus Europa, so eine Umfrage des Allensbacher Instituts für Demoskopie im Jahre 1988.
Auf der Suche nach praktikablen Antworten für die dringend zu lösenden Probleme in der amerikanischen Gesellschaft stehen viele innenpolitische Vorhaben auf Grund der beschränkten finanziellen Mittel in Konkurrenz zu sicherheits-und rüstungspolitischen Programmen. Die amerikanischen Forderungen nach einer besseren Form der Lastenverteilung werden deshalb unter der Regierung Bush — vor allem durch den Einfluß des amerikanischen Kongresses — mit Sicherheit an Eindringlichkeit gewinnen.
Darauf müssen sich die westeuropäischen Verbündeten und besonders auch die Bundesrepublik Deutschland einrichten. Aber die Administration Bush stellt in vielerlei Hinsicht auch die Chance für einen neuen Anfang in den alliierten Beziehungen dar. Die Voraussetzung für einen soliden Konsensus und ein tragfähiges Sicherheitskonzept für die Zukunft ist ein grundlegender struktureller Wandel im amerikanisch-europäischen Verhältnis. Dazu muß die Bundesrepublik Deutschland ihre nationalen sicherheitspolitischen Ziele und Bedürfnisse — ebenso wie die anderen westeuropäischen Länder — innerhalb der Allianz besser definieren und durchsetzen, um eine eigene verteidigungspolitische Identität zu erlangen.
Die USA ihrerseits müssen die prinzipielle Gleichrangigkeit europäischer Interessen anerkennen und in der angestrebten „reifen“ Partnerschaft den Verbündeten Raum geben für die Verfolgung eigener traditioneller Werte. Das bedeutet vor allem die stärkere Berücksichtigung der innovativen europäischen Vorschläge zur künftigen Sicherheitspolitik und Streitkräftestruktur der westlichen Allianz, um so die Verantwortung der europäischen Alliierten für ihre eigene Verteidigung zu fördern. Auf der Basis eines Bewußtseins gemeinsamer Verantwortung wünschen sich die USA die Europäer als aktive Partner bei globalpolitischen Führungsaufgaben. Lange Zeit jedoch waren die meisten europäischen Alliierten in vieler Hinsicht zu zurückhaltend, um aus eigener Kraft mehr an der Gestaltung der Allianz mitzuwirken. Präsident Bush hat nun die Bereitschaft der USA bekräftigt, zur Entwicklung von neuen Konsultations-und Kooperationsmechanismen innerhalb der bislang eher hierarchisch und auf amerikanische Bedürfnisse hin strukturierten nordatlantischen Allianz beizutragen. Eine reifere Partnerschaft wird nach Präsident Bush auch Auseinandersetzungen und Kontroversen über wirtschaftliche Fragen unbeschadet überstehen. Desgleichen sollte auch das deutsch-amerikanische Verhältnis stabil genug sein, um — wie in der Modernisierungsdebatte — unterschiedliche Auffassungen in sicherheitspolitischen und abrüstungspolitischen Fragen zu ertragen und Kompromißfähigkeit sicherzustellen.
Das von deutschen Sozialdemokraten langfristig verfolgte Ziel der Abschaffung aller bodengestützten Atomwaffen in Europa wird von führenden amerikanischen Politikern unterstützt, die die Abhängigkeit der NATO von Atomwaffen so weit wie möglich verringert sehen möchten. Wenn konventionelle Stabilität und strukturelle Angriffsunfähigkeit erreicht sind, genügt eine minimale nukleare Abschreckung zur Verhinderung des Atomwaffen-einsatzes durch den Gegner. Diese minimale nukleare Abschreckung wird auf mittlere Sicht notwendig sein, da Sicherheit nicht allein durch ein konventionelles Gleichgewicht garantiert werden kann und der Ostblock auch in absehbarer Zeit ein beträchtliches Potential an politischer Instabilität darstellt Zudem darf bei allen möglichen positiven Ergebnissen der Wiener und Genfer Abrüstungsverhandlungen nicht vergessen werden, daß die Sowjetunion als einzige Supermacht in Europa weiterbestehen und erheblichen Einfluß ausüben wird. Auch müssen asiatische und vor allem global-politische Zusammenhänge berücksichtigt werden, so daß ein rein europäisches sicherheitspolitisches Gleichgewicht nicht zu verwirklichen ist.
Eine minimale nukleare Abschreckung kann z. B. mit der Stationierung von Atomwaffen auf U-Booten und Flugzeugen erreicht werden und bedarf weder nuklearer Artillerie noch Kurzstreckenwaffen. Als Übergangslösung zu diesem Ziel könnten schon jetzt in Mitteleuropa atomwaffenfreie Korridore eingerichtet werden. Diese Zonen müßten gleichzeitig auch frei sein von schweren konventionellen Waffen, die zum Angriff geeignet bzw. für einen Schlag in die Tiefe des gegnerischen Territoriums vorgesehen sind. Ein Überraschungsangriff würde damit unmöglich gemacht werden, da die Verlegung von offensiven Kriegsgeräten wie etwa von Panzern in diese Zonen nicht unbemerkt bleiben könnte.
Oberstes Ziel aller Abrüstungsmaßnahmen in der Zukunft soll sowohl für die NATO als auch für den Warschauer Pakt sein, die unabdingbaren Verteidigungsfähigkeiten voll zu erhalten und gleichzeitig die Bündnisse so zu gestalten, daß sie zur tief eindringenden Invasion unfähig sind. Die Orientierung an einer strukturellen Angriffsunfähigkeit verlangt deshalb zum Teil weitreichende Veränderungen hinsichtlich der Strategie, der gesamten Verteidigungsstruktur und -Organisation und der Bewaffnung. Letztere müßte effektiver auf die Defensive ausgerichtet sein, indem die Heeresverbände in Zukunft hinreichend mit modernen Panzer-und Luftabwehrwaffen, Minen und Panzersperren ausgerüstet werden und die NATO-Staaten eine flächendeckende Luftverteidigung aufbauen. Derartige Verbesserungen der konventionellen Verteidigungsfähigkeiten könnten entscheidend zur Stabilisierung der strategischen Situation in Europa beitragen und die Grundlage für eine echte Vertrauensbildung schaffen, die notwendig ist, sollen alle offensiven Komponenten in den Verteidigungsbündnissen und einseitige Überlegenheiten im konventionellen Bereich beseitigt werden. Dazu gehört seitens des Warschauer Paktes die Revision der Strategie der Vorwärtsverteidigung und die Übernahme des westlichen Prinzips der VorneVerteidigung.
Die Erfüllung dieser Voraussetzungen ist für die Förderung der gemeinsamen Sicherheit in Europa unabdingbar. Ausgehend von dem gemeinsamen Interesse, eine direkte militärische Auseinandersetzung, insbesondere aber einen nuklearen Krieg zu verhindern, ist eine Politik der „gemeinsamen Sicherheit“ zwischen den Supermächten schon länger Realität. In der gemeinsamen Prinzipienerklärung von Moskau im Mai 1972 anläßlich der Unterzeichnung des SALT I-Vertrages wurde diese „Sicherheitspartnerschaft" zwischen den USA und der Sowjetunion zum ersten Mal manifestiert. Ihr Ziel ist der Abbau des gegenseitigen Mißtrauens, die Einschränkung der bestehenden Konfliktstoffe und die Regulierung des globalen Wettstreits. Grundlage dafür war das gewandelte Sicherheitsverständnis der damaligen Politiker Nixon und Breschnew, die erkannt hatten, daß es im nuklearen Zeitalter keine Alternative zur Gestaltung der gegenseitigen Beziehungen auf der Basis von friedlicher Koexistenz gibt
Heute, im Gefolge eines bislang einmaligen Abrüstungsvertrages und angesichts erfolgversprechender Verhandlungen zur Reduzierung der konventionellen und strategischen Rüstung zwischen den Supermächten, bestehen mehr Chancen denn je, eine tragfähige Sicherheitspartnerschaft auch unter Einbeziehung der europäischen Staaten zu entwikkeln. Mit einem stabilen Rüstungsgleichgewicht und beidseitigen Strukturveränderungen der Streitkräfte in Richtung auf eine Angriffsunfähigkeit kann eine intensive Kooperation der Supermächte und der europäischen Staaten die Grundlage für eine gemeinsame Sicherheit bilden, die auf die Überwindung der Blöcke und die Schaffung einer europäischen Friedensordnung abzielt.
Der Ausbau des europäischen Pfeilers der Allianz durch eine Wiederbelebung und Erweiterung der WEU, die substantiellen Fortschritte in der deutsch-französischen Zusammenarbeit und ein neues, sich entwickelndes Selbstbewußtsein hinsichtlich der Möglichkeiten der Neugestaltung eines europäischen Sicherheitssystems sind ein Indiz dafür, daß die Europäer nunmehr als gleichberechtigte Partner der USA die Prämissen für ihre eigene Sicherheit mitbestimmen wollen. Auf der Suche nach einem vertrauensbildenden Verteidigungskonzept, das Stabilität im konventionellen Bereich herbeizuführen vermag und gleichzeitig die Sicherheitsinteressen der Gegenseite berücksichtigt, müssen die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Alliierten partnerschaftlich Zusammenarbeiten. Denn nur auf der Grundlage einer echten Partnerschaft zwischen den Verbündeten kann ein konsensfähiges Konzept für die Zukunft gefunden werden, das die gemeinsamen Wertvorstellungen im nordatlantischen Bündnis widerspiegelt und den Frieden in Europa unter gewandelten Bedingungen wirkungsvoll stärkt.