I. Der Weg in die Krise
Vietnams Nachkriegsentwicklung, die durch eine Fortdauer der militärischen Auseinandersetzungen, wiederholte Hungersnöte, galoppierende Inflation und Massenflucht gekennzeichnet ist, wirft zunächst die scheinbar schlichte Frage auf, warum die vietnamesischen Kommunisten, die während des Krieges unglaubliches Organisationsgeschick unter Beweis gestellt hatten, am Wiederaufbau ihres Landes offenkundig gescheitert sind, während andere sozialistische Länder gerade in der Früh-phase ihrer Entwicklung bemerkenswerte wirtschaftliche Erfolge aufweisen konnten. Dieses Scheitern wird von der vietnamesischen Führung heute nicht mehr abgestritten. Der derzeitige Ministerpräsident Do Muoi, zog im Oktober 1987 in der Theorie-Zeitschrift der Partei das niederschmetternde Fazit: „Man kann sagen, daß die Verluste, die wir in den vergangenen zehn Jahren erlitten haben, weit größer sind als diejenigen, die wir während unseres Widerstandskrieges gegen feindliche Aggressoren hinnehmen mußten.“ 1. Keine eigenständige Entwicklungskonzeption Versucht man der oben skizzierten Fragestellung weiter nachzugehen, stößt man auf eine weitere Paradoxie. Getreu der Parole Ho Chi Minhs „Nichts ist wertvoller als Unabhängigkeit und Freiheit“ haben die vietnamesischen Kommunisten einen jahrzehntelangen und kompromißlosen Kampf für nationale Unabhängigkeit und gegen ausländische Bevormundung geführt. Während dieses mehr als dreißigjährigen Krieges sind jedoch nur wenige Anstrengungen unternommen worden, eine eigene den Bedürfnissen des Landes entsprechende Entwicklungsstrategie auszuarbeiten, die der mühsam errungenen Unabhängigkeit langfristig ein tragfähiges wirtschaftliches Fundament verliehen hätte. Im Unterschied zu den jugoslawischen und chinesischen Kommunisten, die ihre Unabhängigkeit nicht zuletzt durch eigenständige Vorstellungen über den Aufbau des Sozialismus unter Beweis stellten, * orientierte man sich in Vietnam an Leitbildern, die in anderen sozialistischen Ländern aufgrund anderer materieller wie kultureller Voraussetzungen entwickelt worden waren.
Zunächst stellte China, traditionell das Vorbild der vietnamesischen Oberschicht, das Modell dar. das man zu Beginn der fünfziger Jahre im sozialistisch regierten Norden des Landes, der Demokratischen Republik (DR) Vietnam, zu kopieren versuchte. Erst nachdem Mitte der fünfziger Jahre die Bodenreform, bei der man sich sklavisch an das chinesische Beispiel gehalten hatte, in weiten Teilen des Landes zu großen Unruhen, teilweise auch zu bewaffneten Aufständen geführt hatte, verlor das chinesische Modell erheblich an Bedeutung.
In den folgenden Jahren trat die Sowjetunion, in der Tausende von Vietnamesen eine weiterführende Ausbildung erhielten, an die Stelle der Volksrepublik (VR) China. Der erste Fünfjahrplan der DR Vietnam (1961 — 1965) wurde gemäß dem überkommenen sowjetischen Entwicklungskonzept ausgearbeitet, das eine bevorzugte Entwicklung der Schwerindustrie und den Aufbau eines hierarchisch gegliederten Planungsapparats vorsah.
Der Beginn der systematischen Bombardierungen durch die USA im Frühjahr 1965 beendete abrupt jene ersten Versuche, eine eigene Schwerindustrie aufzubauen. Bestehende Anlagen wurden zerstört, der Wiederaufbau bzw. die Errichtung neuer Anlagen war sinnlos geworden, da sie nur ein neues Bombenziel dargestellt hätten. Die Wirtschaft des Nordens mußte nun unter den Bedingungen des permanenten Bombenkrieges auf die Erfordernisse des Kampfes im Süden umgestellt werden. Die Versorgung der im Süden kämpfenden Einheiten wurde einem generalstabsmäßig organisierten Verteilungsapparat unterstellt. Seine wichtigste Richtschnur war nicht das ökonomische Maximierungsprinzip. mit möglichst wenigen Mitteln möglichst viel zu produzieren, sondern das militärische Prinzip. ein bestimmtes Ziel zu einem bestimmten Zeit-17 punkt unter allen Umständen zu erreichen — koste es, was es wolle.
Angesichts der Belastungen des Krieges war für die Ausarbeitung neuer Entwicklungskonzeptionen wenig Raum. Der 1. Fünfjahrplan, der zum ersten Mal in Vietnam nennenswerte industrielles Wachstum ermöglicht hatte, bildete auch die Leitlinie für den Wiederaufbau nach dem Krieg Da die nach diesem Modell vollzogene Entwicklung frühzeitig unterbrochen worden war, erkannte die Führungsspitze in Hanoi nicht die Schwächen und Grenzen dieses Modells, die in anderen sozialistischen Ländern längst offen zutage getreten und in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion eingehend erörtert worden waren. So glaubte man, nach Beendigung des Krieges einfach dort ansetzen zu können, wo man 1965 zum Aufhören gezwungen worden war. In der Euphorie des Sieges ging man davon aus, daß Vietnam innerhalb einiger Fünfjahrpläne in einen modernen Industriestaat mit hochtechnisierter und großräumiger Landwirtschaft verwandelt werden könne. Wie weit derartige Vorstellungen und die tatsächlichen Entwicklungsmöglichkeiten Vietnams auseinander lagen, sollte sich schon bald zeigen. 2. Defizite in der politischen Arbeit Der Mangel an Konzeptionen für die zukünftige Entwicklung wog um so schwerer, je deutlicher sich in den Jahren nach 1975 herausstellte, daß die politische Verankerung der vietnamesischen Kommunisten in der Bevölkerung im Verlauf des Krieges nicht gewachsen, sondern geringer geworden war. Als man Ende der fünfziger Jahre den Kampf gegen die Regierung in Saigon aufnahm, führte man diesen Kampf mit militärischen wie politischen Mitteln. Für die Partisanen der 1960 gegründeten „Nationalen Befreiungsfront Südvietnam“ (FNL) war eine enge Kooperation mit der Zivilbevölkerung überlebensnotwendig.
Die Entscheidung der amerikanischen Regierung, Bodentruppen mit modernem Gerät nach Vietnam zu schicken, führte Mitte der sechziger Jahre indes auch zu einer deutlichen Akzentverschiebung in der militärischen Strategie ihrer Gegner. Die Taktik des Guerillakriegs wurde zwar nicht aufgegeben, aber ihr wurde nur noch eine unterstützende Funk-tion zugewiesen In immer stärkerem Maße kamen reguläre Einheiten der nordvietnamesischen Armee im Süden zum Einsatz, deren professionelle Kriegsführung häufig über die Interessen und Nöte der Zivilbevölkerung hinwegging und dadurch eine politische Mobilisierung der ländlichen Zivilbevölkerung verunmöglichte.
Als entscheidender Wendepunkt für die Kriegsführung wie für die politische Arbeit im Süden erwies sich die Tet-Offensive im Frühjahr 1968. Die ihr zugrundeliegende Taktik sah vor, eine landesweite militärische Offensive mit Massenerhebungen in den von der Saigoner Regierung kontrollierten Städten zu verbinden. Trotz anfänglicher, teilweise spektakulärer Erfolge wurde diese Offensive zu einem ungeheuren Aderlaß für die kommunistische Bewegung Südvietnams. Die meisten Verbände der Nationalen Befreiungsfront, die die Hauptlast des militärischen Kampfes trug, wurden aufgerieben.
Viele Kader, die bis dahin ihre Parteizugehörigkeit verborgen hatten, agitierten offen für die Volksaufstände und enttarnten sich dadurch. Wenn sie nicht bei den Auseinandersetzungen umgekommen waren. mußten sie sich in die vom Vietcong kontrollierten Gebiete zurückziehen. Durch das nach der Tet-Offensive durchgeführte „Phönix-Programm“ der Saigoner Regierung, das die Aufspürung aller noch getarnt arbeitenden Kader der Befreiungsfront zum Ziel hatte, wurde zudem das Untergrund-netz der Partei in den Städten Südvietnams weitgehend zerstört Im April 1975 gab es unter den über vier Millionen Einwohnern Saigons gerade noch 400 Parteimitglieder.
Im Norden verstand sich die Partei der Werktätigen, wie sich die Kommunisten bis 1976 bezeichneten, als führende gesellschaftliche Kraft, aber diese Führungsrolle bestand nur nominell. In Wirklichkeit hatte die Armee, der die ohnehin spärlich vorhandenen materiellen wie personellen Ressourcen vorrangig zur Verfügung standen, diese Rolle übernommen. Trotz ihres Postulats war die Partei — überspitzt ausgedrückt — nicht mehr als ein Zulie-ferer, der das reibungslose Funktionieren des militärischen Apparats zu gewährleisten hatte.
Für den Aufstieg in der Partei waren denn auch bezeichnenderweise nicht so sehr propagandistische, organisatorische oder technische Leistungen maßgeblich, die man im zivilen Bereich unter Beweis gestellt hatte, sondern im Widerstandskrieg erworbene Verdienste Aufgrund derartiger Bewertungskriterien gelangten viele Kader in leitende Positionen, die mit den an sie gestellten Aufgaben nicht vertraut und meist auch zu alt bzw. gesundheitlich zu geschwächt waren, um dieser Arbeit gewachsen zu sein. Da man während des Krieges angesichts der gemeinsamen Bedrohung auf ein hohes Maß freiwilliger Gefolgschaft bauen konnte, traten diese Mängel nur ansatzweise zutage. Wie schwerwiegend sie tatsächlich waren, wurde erst deutlich, als sich die Partei nach dem Sieg mit völlig neuen Herausforderungen konfrontiert sah. 3. Isolierung auf internationaler Ebene Trotz Abhängigkeit von den Hilfslieferungen der beiden sozialistischen Großmächte hatten es die vietnamesischen Kommunisten während des Krieges stets verstanden, sich durch geschicktes Ausnutzen des sowjetisch-chinesischen Konflikts ein hohes Maß an Unabhängigkeit zu bewahren. Nach Beendigung des Krieges versuchten sie, diese Strategie fortzusetzen.
Im Herbst 1975 besuchte der damalige Generalsekretär der Partei Le Duan sowohl die VR China als auch die Sowjetunion, um von beiden Ländern neue Hilfszusagen zu erhalten. Von chinesischer Seite wurde ihm jedoch unmißverständlich bedeutet, daß man in Peking nicht mehr länger gewillt sei. sich gegen die Sowjetunion ausspielen zu lassen und daß man von Vietnam eine sehr viel kritischere Haltung gegenüber der Sowjetunion erwarte. Als Le Duan diese Forderung zurückwies, fielen die chinesischen Hilfszusagen sehr viel geringer aus als ursprünglich veranschlagt
Das ohnehin angespannte chinesisch-vietnamesische Verhältnis verschlechterte sich weiter, als Hanoi während der folgenden Jahre mit wachsendem Nachdruck das Konzept der „Besonderen Beziehungen“ zwischen Vietnam, Laos und Kambodscha propagierte, das letztlich auf ein vereintes Indochina unter vietnamesischer Führung hinauslief. Peking, das darin eine sicherheitspolitische Herausforderung an seiner Südgrenze sah. stellte im Sommer 1978 alle Entwicklungshilfeleistungen an Vietnam ein und unterstützte nun uneingeschränkt die Politik Pol Pots, der den vietnamesischen Vormachtsansprüchen seinerseits mit einer offensiven und aggressiven Strategie begegnete.
Die Weigerung der VR China, den ihm von Hanoi zugedachten Part zu spielen, brachte Vietnams Außenpolitik aus der Balance. Um eine drohende einseitige Abhängigkeit von der Sowjetunion zu vermeiden, bemühte sich die vietnamesische Diplomatie ab 1976 nachdrücklich um bessere wirtschaftliche und politische Beziehungen zu den westlich orientierten Industriestaaten. Zunächst nicht ohne Erfolg. Die USA hielten zwar an dem 1975 verhängten Wirtschaftsembargo fest, aber von anderen nichtsozialistischen Industrienationen sowie von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds wurden allein für das Jahr 1978 369. 6 Millionen US-Dollar an Hilfsgeldern bereitgestellt
Die Entscheidung Hanois, den Konflikt mit der Regierung Pol Pot auf militärischem Wege zu lösen, machte jedoch alle Ansätze zunichte, Vietnams Außenpolitik auf ein breiteres Fundament zu stellen. Den zur Jahreswende 1978/79 erfolgten Einmarsch in Kambodscha, die Installierung einer provietnamesischen Regierung in Phnom Penh beantworteten die meisten nichtsozialistischen Länder mit einem Stopp aller Entwicklungshilfeleistungen. Auf internationaler Ebene weitgehend isoliert, stand Vietnam nur noch die Unterstützung der RGW-Staaten, insbesondere der Sowjetunion, zur Verfügung. Als Gegenleistung verlangte letztere die Gewährung von Stützpunktrechten auf vietnamesischen Territorium. Auch wenn die vietnamesische Führung großen Wert auf die Feststellung legte, daß sie der Sowjetunion formalrechtlich keine Stützpunkte eingeräumt habe, war doch offenkundig. daß sie zu einem Klientelstaat der Sowjetunion geworden war. Dies schränkte nicht nur den außen-politischen Handlungsspielraum, sondern auch die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten Vietnams erheblich ein.
II. Von der Krise in die Katastrophe
Für die ersten Jahre des Wiederaufbaus hatte die Parteiführung die Parole „Überwindung der Klein-produktion“ ausgegeben. Wichtigstes und vorrangiges Etappenziel war der Aufbau der Schwerindustrie, der zu einem wesentlichen Kriterium der Unterscheidung zwischen „wissenschaftlichem" und „utopischem Sozialismus“ erklärt wurde
Obgleich der Aufbau der Schwerindustrie klare Priorität genoß, sollte auch die landwirtschaftliche Produktion beträchtlich gesteigert werden. Da die Masse der Investitionen in die Industrie floß, versuchte man dieses Ziel vor allem durch organisatorische Veränderungen zu erreichen. Für den Norden bedeutete dies: Zusammenlegung der vorhandenen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) zu Groß-LPGs, während im Süden die sofortige Durchführung der Vergenossenschaftlichung auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Gleichzeitig sollten die in privater Hand verbliebenen Industrie-und Handwerksbetriebe Südvietnams verstaatlicht oder in staatlich kontrollierte Genossenschaften zusammengefaßt werden.
Als 1977/78 äußerst ungünstige Witterungsbedingungen große Teile der Ernte vernichteten, hielt man an dieser forcierten Sozialisierungspolitik fest. In der Parteiführung setzte sich sogar die Auffassung durch, daß eine noch stärkere Forcierung dieser Politik ein taugliches Mittel sei, der Krise Herr zu werden. So wurden im Frühjahr 1978 über Nacht alle noch vorhandenen Kleinhändler und Gewerbetreibenden enteignet und jede Art von privater Wirtschaftstätigkeit per Dekret untersagt
Zwar war diese Maßnahme gegen alle privaten Geschäftsleute gerichtet, doch hauptsächlich waren von ihr die in Vietnam lebenden Chinesen betroffen, da sie seit der Kolonialzeit vor allem im Handel eine dominierende Rolle spielten. Ihres Lebensunterhalts beraubt, flohen sie nun zu Zehntausenden in die VR China oder per Boot in andere Länder Südostasiens, nicht zuletzt auch aus Furcht, sie würden bei den drohenden Auseinandersetzungen zwischen der VR China und Vietnam weitere Repressalien zu erdulden haben.
Die Folgen dieser Politik, die nicht nur überkommene Eigentumsverhältnisse, sondern auch funktionierende Wirtschaftsstrukturen zerschlug, waren sehr bald und sehr schmerzhaft spürbar. Ende 1978 lag die Zuteilung an Reis, die jedem Vietnamesen zustand, 22 Prozent unter dem Niveau der Kriegs-zeit. Die nach offiziellen Angaben zur Verfügung stehenden Nahrungsmittelrationen reichten gerade aus, um eine Versorgung mit täglich 1 500 Kalorien zu gewährleisten. 40 Prozent aller Kinder in Ho-Chi-Minh-Stadt litten an Unterernährung
Der wirtschaftliche Verfall ging einher mit einem Verlust an politischer Glaubwürdigkeit der KP Vietnams. Die Anfang Juni 1976 offiziell vollzogene Wiedervereinigung beider Landesteile zur Sozialistischen Republik (SR) Vietnam war nichts anderes als die Einverleibung des Südens in den Staatsverband des Nordens. Tausende von Kadern aus dem Norden waren zur Verwaltung des Südens abkommandiert worden, dessen gesellschaftliche und politische Verhältnisse sie nur aus der Sicht der Parteipresse kannten. Überrascht und überwältigt von dem relativ hohen Lebensstandard des Südens, erlagen viele Kader sehr rasch den Versuchungen der Korruption, und je mehr sich die wirtschaftliche Krise verschärfte, desto mehr wurde Korruption für sie zu einer unverzichtbaren Einkommensquelle.
So waren nur vier Jahre nach dem grandiosen Sieg über einen vielfach überlegenen Gegner alle Hoffnungen auf einen erfolgreichen wirtschaftlichen Wiederaufbau und auf eine spürbare Verbesserung des Lebensstandards zerronnen. Vietnam hatte zwar in Indochina eine Vormachtstellung inne, aber es war auf internationaler Ebene weitgehend isoliert, große Teile der Bevölkerung litten Hunger, und die Partei hatte jedes Ansehen verspielt, über das sie 1975 verfügt hatte.
III. Kernpunkte des Reformprogramms
Unter dem Druck des offenkundigen Scheiterns der in den ersten Nachkriegsjahren verfolgten Politik wurden bereits auf dem 6. ZK-Plenum im September 1979 erste Ansätze unternommen, eine neue Wirtschaftspolitik zu formulieren und durchzusetzen. Doch diejenigen, die sich für solche Reformen einsetzten, waren während der ersten Hälfte der achtziger Jahre noch sehr starkem Druck der alten Garde der vietnamesischen Kommunisten ausgesetzt, der es offensichtlich schwer fiel, von Vorstellungen und Vorrechten Abstand zu nehmen, die jahrzehntelang ihr Denken und Handeln bestimmt hatten. Begonnene Reformen mußten häufig zurückgenommen werden oder konnten nur unzureichend verwirklicht werden. Seit dem 6. Parteitag im Dezember 1986 ist allerdings eine Verstetigung des Reformprozesses zu beobachten. In die Führungsspitze der Partei sind neue Politiker aufgerückt. die zwar nicht wesentlich jünger als ihre Vorgänger sind, aber über einen anderen Erfahrungshorizont verfügen. Sie haben während des Krieges im Süden gekämpft und besitzen daher konkrete Vorstellungen über die dortigen Verhältnisse. Schon in den frühen achtziger Jahren zogen sie durch Reformexperimente zum Teil sehr heftige Kritik der Dogmatiker auf sich. Ihnen voran steht der auf dem 6. Parteitag neu gewählte Generalsekretär Nguyen Van Linh, der 1982 aus dem Politbüro ausgeschlossen worden war und erst im Juni 1985 wieder Aufnahme in dieses Gremium fand. 1. Wirtschaftspolitik Angesichts des lebensbedrohenden Mangels an Nahrungsmitteln war die schnelle Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion ein vorrangiges Ziel der Reformen, das man mit der weitgehenden Reprivatisierung der Landwirtschaft zu erreichen suchte. Während im Süden die Kollektivierungskampagnen eingestellt und die meisten Genossenschaften wieder aufgelöst wurden, besann man sich im Norden auf das sogenannte Produktionsvertragssystem (PVS), das man bereits in den sechziger Jahren praktiziert, später jedoch als „gefährlichen Rückzug“ von den Prinzipien des Sozialismus verurteilt und abgeschafft hatte Das PVS sieht vor, daß jeder bäuerliche Haushalt mit der LPG einen Vertrag abschließt, in dem diese ein bestimmtes Stück Ackerland, Arbeitsgeräte und Saatgut zusichert. Im Gegenzug verpflichtet sich die Bauernfamilie — normale Witterungsbedingungen vorausgesetzt —, eine vereinbarte Erntemenge zu festen Preisen abzuliefern. Was darüber hinaus produziert wird, darf auf freien Märkten verkauft werden, die — wenn auch mit einigen Einschränkungen — ebenso wie der freie Handel wieder zugelassen wurden.
In den Städten setzte man verstärkt auf die Konsumgüterindustrie und das Handwerk, wobei Privatbetriebe anfangs nur geduldet, seit 1987 sogar mit einer Reihe von staatlichen Vergünstigungen gefördert werden War früher von „Familienbetrieben“ die Rede, so ist heute die Größe solcher privaten Betriebe keinen Beschränkungen mehr unterworfen. Nur im Bereich des Handels hat sich der Staat noch eine Reihe von Vorrechten Vorbehalten.
Um auch im staatlichen Wirtschaftssektor größere Effizienz und Rentabilität zu erzielen, erhielten die Leitungsorgane der Staatsbetriebe wesentlich größere Entscheidungsspielräume; gleichzeitig wurde ihnen jedoch auch die Verantwortung für Gewinne und Verluste ihres Unternehmens aufgebürdet. Nachdem seit Sommer 1986 heftig darüber diskutiert worden war, wie weit diese betriebliche Autonomie gehen sollte, einigte man sich im Frühjahr 1987 auf folgendes Prinzip: weitgehende Autonomie bei innerbetrieblichen Entscheidungen, aber abgestufte Beibehaltung staatlicher Kontrollmechanismen bei Entscheidungen, die die Beziehungen des Betriebes zu anderen Wirtschaftseinheiten betreffen Außerdem wurden die Machtbefugnisse der Parteikomitees schärfer eingegrenzt. In der ZK-Resolution vom August 1987 heißt es hierzu unmißverständlich: „Es ist nicht die Aufgabe der Parteikomitees, über Angelegenheiten zu entscheiden, die zum Aufgabenbereich der Geschäftsführung gehören.“
Parallel zu den oben skizzierten binnenwirtschaftlichen Reformmaßnahmen setzte man auch in der Außenwirtschaft neue Akzente. Ohne die Mitglied-schäft im RGW und den weiteren Ausbau der wirtschaftlichen Kooperation mit der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern in Frage zu stellen, bemüht sich Hanoi seit zwei Jahren intensiv um Investitionen und technische Innovationen aus kapitalistischen Ländern. Wichtigstes Instrument hierfür ist das Ende 1987 verabschiedete Gesetz über ausländische Investitionen, das sehr viel liberalere Bestimmungen enthält, als das vorangegangene Gesetz aus dem Jahre 1977 Im wesentlichen sind drei Kooperationsformen vorgesehen: — Zusammenarbeit zwischen vietnamesischen und ausländischen Firmen zur Erreichung eines klar umgrenzten Geschäftsziels, — Gemeinschaftsunternehmen, in denen der ausländische Anteil des eingebrachten Kapitals bis zu 99 Prozent betragen kann (bislang lag die Höchst-grenze bei 49 Prozent), — Unternehmen, die ausschließlich von einem ausländischen Investor finanziert und geleitet werden,
Profite unterliegen in der Regel einem Steuersatz zwischen 15 und 20 Prozent, der in besonderen Fällen auf zehn Prozent gesenkt werden kann. 2. Innenpolitik Wollte man die wirtschaftspolitischen Reformen zum Erfolg führen, mußte man auch in der Innenpolitik neue Wege gehen. Bei der Förderung von Familienbetrieben und Privatunternehmen baute man ja aufjene Bevölkerungsgruppen, die seit 1975 systematisch aus der vietnamesischen Gesellschaft ausgegrenzt, diffamiert und zum Teil in Umerziehungslagem inhaftiert worden waren. Durch mehrere Amnestien wurden seit 1987jene Personen, die seit Jahren ohne Gerichtsurteil in diesen Lagern hatten leben müssen, freigelassen, womit auch ihre Familien wieder in den Genuß der vollen Bürger-rechte kamen, die ihnen zwar niemals formal, aber doch faktisch abgesprochen worden waren Nun war das technische und betriebswirtschaftliche Know-how dieser Personen ebenso gefragt wie ihre Kontakte zu im Ausland lebenden Freunden und Verwandten. Letzteren wurde sogar die Möglichkeit eingeräumt, ihren Verwandten in Vietnam nicht nur Geld, sondern auch Rohstoffe und Maschinen zur Gründung oder Wiederherstellung privater Betriebe zukommen zu lassen.
Auch weniger vermögenden Schichten wie den ehemaligen Soldaten, die in unteren Diensträngen in der Saigoner Armee gedient hatten, oder der relativ großen Gemeinde der vietnamesischen Katholiken, die in der Vergangenheit zahllosen Repressionen ausgesetzt waren, sicherte der neue Parteichef Nguyen Van Linh die volle politische Rehabilitierung zu und forderte sie auf, nicht weiterhin in Passivität zu verharren, sondern sich aktiv am sozialen und wirtschaftlichen Aufbau des Landes zu beteiligen.
Unter der Parole „Überwindung des Negativismus und der Stagnation“ wurde auch dem bestehenden Informationssystem, das noch immer von den Geheimhaltungsprinzipien der Kriegszeit beherrscht war.der Kampf angesagt. In direkter Übernahme des sowjetischen Begriffs „Glasnost“ wurde am 28. April 1987 im Leitartikel der Parteizeitung „Nhan Dan“ dazu aufgerufen, auch in Vietnam vorhandene Mißstände schonungslos aufzudecken und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Einen Monat später erschien in der „Nhan Dan“ der erste einer Reihe von Artikeln und Kommentaren. in denen konkrete Fälle von Korruption, Mißwirtschaft und Machtmißbrauch aufgegriffen und die betreffenden Personen und Dienststellen zu einer unverzüglichen Stellungnahme aufgefordert wurden. Überschrieben waren diese Kommentare mit „Sofort zu erledigen“, unterzeichnet waren sie mit N. V. L., den Initialen des Generalsekretärs Nguyen Van Linh, der nach seiner Autorschaft gefragt, sibyllinisch antwortete, wer solche Artikel schreibe, sei auf jeden Fall jemand, der „rede und handle“ (vietnamisch: nöi vä läm) Parallel zu diesen Kommentaren wurden in großer Zahl kritische Leserbriefe abgedruckt. Häufig gingen auch Reporter den erhobenen Anschuldigungen nach und berichteten über die Ergebnisse ihrer Recherchen.
Im Unterschied zur Sowjetunion, wo Glasnost auch die Diskussion von Themen beinhaltet, die für die Partei unerwünscht sind und längerfristig ihren Herrschaftsanspruch gefährden können, ist Glasnost in Vietnam . noch mit vielen Tabus befrachtet. Dennoch darf nicht verkannt werden, daß die neue Presse-und Informationspolitik — gemessen an der Zeit vor 1986 — einen bemerkenswerten Fortschritt darstellt und trotz wiederholter Rückschläge neue Perspektiven eröffnet hat. 3. Außenpolitik Während die Reformen in der Wirtschafts-und Innenpolitik auf dem 6. Parteitag im Dezember 1986 ausführlich erörtert wurden, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ersichtlich, ob auch in der Außenpolitik neue Wege beschritten würden. In den wenigen Sätzen, die der Außenpolitik in den Dokumenten des 6. Parteitages gewidmet waren, stand nichts, was auf neue diplomatische Initiativen hätte hindeuten können
Schon wenige Monate nach dem 6. Parteitag begann sich indes eine völlig neue Situation abzuzeichnen. General Vessey wurde im August 1987 als Sonderbotschafter des amerikanischen Präsidenten Reagan in Hanoi empfangen, und es kam zur Unterzeichnung einer gemeinsamen Erklärung in der die USA zum ersten Mal den vietnamesischen Anspruch auf Hilfe grundsätzlich anerkannten, allerdings ohne sich im Detail festzulegen. Im Gegenzug verpflichtete sich die vietnamesische Seite, ihre Anstrengungen bei der Aufklärung des Schicksals der vermißten amerikanischen Soldaten zu intensivieren und die Ausreise der Kinder amerikanischer Soldaten und ihrer nächsten Familienangehörigen großzügig zu handhaben. Die Erörterung konkreter Detailfragen blieb gemeinsamen Expertengruppen beider Seiten Vorbehalten, deren Arbeit in den folgenden Monaten zügig vor-ankam, obgleich sich die USA nach wie vor weigern, diplomatische Beziehungen zu Hanoi aufzunehmen oder wenigstens das Wirtschaftsembargo aufzuheben.
Auch gegenüber den Nachbarn in Südostasien, den ASEAN-Staaten, zeigte Hanoi größere Dialogbereitschaft, was im Falle Thailands zu spektakulären Erfolgen führte. Hatten Indonesien und Malaysia schon seit einigen Jahren für eine konziliantere Politik gegenüber Vietnam plädiert, da sie längerfristig in der VR China die größere sicherheitspolitische Bedrohung sehen als'in Vietnam, so hatte sich Thailand stets gegen jede Konzessionen an Hanoi ausgesprochen, solange vietnamesische Soldaten Kambodscha besetzt hielten. Seit dem Amtsantritt des neuen thailändischen Ministerpräsidenten Chatichai Choonhavan im Sommer 1988 findet jedoch Vietnams Werben um Investitionen und engere Wirtschaftsbeziehungen zunehmend Gehör in Bangkok. Chatichai selbst hat den inzwischen berühmt gewordenen Ausspruch geprägt: „Das Schlachtfeld Indochina muß in einen Markt verwandelt werden.“ Dieser Ansicht entsprechend hat er im Januar 1989 seinen Außenminister, begleitet von einer großen Anzahl thailändischer Geschäftsleute, nach Hanoi geschickt.
Aufsehen, aber auch Verärgerung bei den ASEAN-Partnern und der VR China erregte wenig später die thailändische Einladung an den Phnom Penher Ministerpräsidenten Hun Sen zu einem Besuch in Bangkok, der diese Einladung gerne annahm. Die Beteuerung Chatichais, es habe sich dabei um keinen Staats-, sondern einen „Privat“ -Besuch gehandelt, und Bangkok werde weiterhin zur Indochina-Politik der ASEAN-Staaten stehen, ändert nichts an der Tatsache. daß hier die diplomatischen Initiativen Hanois einen ersten wichtigen Erfolg erzielt haben.
Sogar zur VR China, die im Frühjahr 1979 durch einen „Straffeldzug“ die vietnamesischen Nordprovinzen verwüstet hatte, nahm Hanoi Anfang 1989 wieder offizielle Kontakte auf. Im Januar und im Mai 1989 reiste Vietnams Stellvertretender Außenminister Dinh Nho Liern nach Peking, um über eine Normalisierung der bilateralen Beziehungen zu sprechen. Seine chinesischen Gastgeber gaben ihm zu verstehen, daß nach einem vietnamesischen Abzug aus Kambodscha einer tiefgreifenden Verbesserung des gegenseitigen Verhältnisses nichts mehr im Wege stehen werde
Nicht nur im Verhältnis zur VR China erweist sich das Kambodscha-Problem mehr und mehr als die Schlüsselfrage der neuen Außenpolitik Vietnams bzw. als das entscheidende Hindernis für eine engere wirtschaftliche und politische Kooperation mit den nichtsozialistischen Ländern. Hatte sich Hanois Konzessionsbereitschaft in dieser Frage bis 1987 auf die Ankündigung beschränkt, es werde seine Truppen zum Jahresende 1990 abziehen — vorausgesetzt, die Bedrohung durch die Roten Khmer und die VR China sei nicht mehr gegeben —, so ist die vietnamesische Führung während der vergangenen zwei Jahre in zentralen Punkten von ihrer früheren Position abgerückt.
Mit der Teilnahme an den Djakarta Informal Meetings, zu denen sich im Juli 1988 und Februar 1989 neben Vietnam die vier kambodschanischen Konfliktparteien, Laos und die ASEAN-Staaten zusammengefunden hatten, um über eine Beilegung des Kambodscha-Konflikts zu beraten, hatte Hanoi seine Weigerung aufgegeben, in direkten Kontakt mit dem kambodschanischen Widerstand zu treten. Darüber hinaus verpflichtete sich die vietnamesische Regierung am 5. April 1989 in einer öffentlichen Verlautbarung, ihre Truppen bereits zum 30. September 1989 vollständig und ohne Vorbedingungen aus Kambodscha abzuziehen Für das Zustandekommen der internationalen Kambodscha-Konferenz. die von Ende Juli bis Ende August dieses Jahres in Paris tagte, hatte Vietnam damit wichtige Voraussetzungen geschaffen.
Die Pariser Konferenz hat aber auch gezeigt, daß Vietnam nach wie vor kein unbeteiligter Beobachter der kambodschanischen Entwicklung ist und nach wie vor alles in seiner Macht Stehende tun wird, um in Phnom Penh eine Regierung an der Macht zu halten, von der es keinerlei Bedrohung seiner nationalen Sicherheit zu befürchten hat. Der Vorschlag Sihanouks, die Roten Khmer an einer Koalitionsregierung zu beteiligen, die bis zur Ab-haltung freier Wahlen die Staatsgeschäfte führen soll, stieß daher auf die kategorische Ablehnung Hanois und seiner Bundesgenossen in Phnom Penh. Dennoch deutet vieles darauf hin, daß die derzeitige vietnamesische Führung darüber hinausgehende Pläne eines geeinten Indochina oder einer indochinesischen Wirtschaftsgemeinschaft, von der in erster Linie Vietnam profitieren würde, aufgegeben hat. Offenbar hat man in Hanoi erkannt, daß es geeignetere Strategien zur Erlangung wirtschaftlichen Wohlstands gibt als die des territorialen Expansionismus.
IV. Ergebnisse
In einer ersten Bilanz der vietnamesischen Reform-politik ragen zweifellos die außenpolitischen Erfolge hervor. Auch wenn der eigentliche Durchbruch auf internationaler Ebene noch bevorsteht, ist es der vietnamesischen Diplomatie durch geschicktes Agieren wie durch substantielle Zugeständnisse gelungen, ihr Land aus jener totalen Abhängigkeit von der Sowjetunion zu lösen, in die es nach dem Einmarsch in Kambodscha geraten war.
Weniger beeindruckend sind die Resultate auf wirtschaftlichem Gebiet. Die weitgehende Reprivatisierung der Landwirtschaft hat zwar zu einer beachtlichen Steigerung der Getreideproduktion geführt, aber sie reicht nicht aus, um die rasch wachsende vietnamesische Bevölkerung ausreichend mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen. Eine weitere signifikante Erhöhung der Nahrungsmittelproduktion wird nur möglich sein, wenn die Landwirtschaft mit mehr und besseren Produktionsmitteln, vor allem mit Kunstdünger und Energie, versorgt wird und den Bauern für ihre Produkte dringend benötigte Gebrauchsgüter angeboten werden.
Vietnams Handwerk und Industrie sind dieser Aufgabe noch nicht gewachsen. Die vielfältigen Bemühungen, den Staatsbetrieben größere Effizienz zu verleihen, sind vorerst — auch nach Einschätzung der vietnamesischen Führung — größtenteils gescheitert. Etliche Vietnamesen haben es zwar verstanden, die Chancen, die die Reformpolitik bietet, zu nutzen und als Unternehmer in kurzer Zeit relativ hohe Gewinne zu erzielen, aber diese Gewinne werden nur dann wieder im Lande produktiv investiert werden,'wenn es der staatlichen Wirtschaftspolitik gelingt, die infrastruktureilen und politischen Rahmenbedingungen für diese privatwirtschaftlichen Initiativen zu schaffen.
Wie die Entwicklung Osteuropas zeigt, gehören dazu nicht zuletzt Reformen des politischen Systems. Die Mehrheit in der vietnamesischen Parteiführung ist jedoch noch nicht bereit, einen solchen Weg zu gehen. Erste Ansätze von Glasnost, wie z. B. die oben erwähnten „N. V. L. -Kommentare“, wurden daher im vergangenen Jahr wieder zurückgenommen. Auf Dauer wird jedoch der Widerspruch zwischen zunehmender wirtschaftlicher Macht in privater Hand und der rigorosen Beibehaltung des Herrschaftsmonopols der Partei dadurch nicht bewältigt, sondern nur verschärft werden.