I. Einleitung
Thailand erlebte in der jüngeren Vergangenheit einen bemerkenswerten politischen und sozialen Wandel. Während andere Regime in Südostasien wie Indonesien. Malaysia und Singapur nur wenig Bereitschaft zu offeneren Formen der politischen Willensbildung zeigen und die „Redemokratisierung“ in den Philippinen über formale Aspekte nicht hinauskam, läßt sich in Thailand ein gegenläufiger Trend ausmachen. Angesichts des vielbeachteten stürmischen Wirtschaftswachstums in den vier „Tiger“ -Staaten Südkorea, Taiwan, Hongkong und Singapur blieb zudem lange Zeit nahezu unbemerkt, wie sich Thailand Zug um Zug auch wirtschaftlich zum Paradepferd der ASEAN-Gemeinschaft entwickelte. Diesen Wandel nachzuzeichnen und zu erklären, die damit verbundenen Chancen, aber auch seine Widersprüche und Grenzen kritisch zu analysieren, ist das Ziel des vorliegenden Artikels.
II. Thailands politisches System auf dem Wege zur Öffnung?
Die Studentenrevolte vom Oktober 1973, die mit dem Sturz der Diktatoren Thanom und Praphat endete, ist zweifellos ein Meilenstein in der modernen thailändischen Geschichte. Mit ihr gelangte die — von kurzen Unterbrechungen abgesehen — seit 1932 bestehende autokratische Ordnung, die seinerzeit an die Stelle der absoluten Monarchie getreten war, an ein vorläufiges Ende. Bis dahin hatte eine zahlenmäßig kleine Elite von Militärs und Bürokraten alle politischen Schlüsselpositionen für sich monopolisiert • Die Politik wurde durch rivalisierende Cliquen innerhalb dieser militärisch-bürokratischen Elite bestimmt, die miteinander um Machtanteile und gesellschaftliche Ressourcen konkurrierten. Machtwechsel wurden in der Regel auf dem Wege des Militärputsches herbeigeführt. Die 19 Coups, die seit 1932 zu verzeichnen sind, verliehen Thailand das wenig schmeichelhafte Image eines nicht nur autoritären, sondern auch notorisch instabilen Staatswesens.
Seit 1973 jedoch wich dieses archaische Regierungssystem komplexeren Formen der Willensbildung.
Zwar überlebte das Experiment mit der parlamentarischen Demokratie nur drei Jahre, bevor es in den Turbulenzen unterging, die ein zunehmend militanter und sektiererischer Linksextremismus sowie organisierter Terror der Rechten hervorgerufen hatten. Doch der blutige Putsch vom 6. Oktober 1976 konnte das Rad der Geschichte nicht mehr entscheidend zurückdrehen. In der Rückschau stellt sich das militant antikommunistische und repressive Regime unter Thanin Kraivichien lediglich als eine Überreaktion der alten Ordnung dar. Es wurde bereits ein Jahr später zu einer untragbaren Belastung für die es stützenden Militärs. Industrialisierung, Urbanisierung und die Expansion des Bildungssystems hatten neue gesellschaftliche Gruppen entstehen lassen (urbane Mittelschichten, Intelligenz, Business), deren Forderungen an den Staat nicht mehr ohne weiteres ignoriert werden konnten und ein flexibleres System der politischen Entscheidungsfindung erforderlich machten. Der „stille“ Putsch vom Oktober 1977 war dann auch der Ausgangspunkt für eine allmähliche Liberalisierung. die nach zaghaften Ansätzen unter Premierminister Kriangsak Chomanand (1977 — 1980) in der Amtszeit von General Prem Tinsulanonda (1980— 1988) stärker an Konturen gewann.
Unter Kriangsak wurde 1978 eine neue Verfassung verabschiedet, die bis zum heutigen Tag in Kraft ist. Die Gesetzgebung wurde einem Zweikammerpar3 lament — bestehend aus Senat und Repräsentantenhaus — übertragen. Politische Parteien und Interessengruppen wurden wieder zugelassen, die Pressezensur wurde gelockert, eine Amnestie für politische Gefangene gewährt. Im April 1979 fanden Wahlen zum Repräsentantenhaus statt, die — wie die Urnengänge im April 1983, im Juli 1986 und im Juli 1988 zeigten — inzwischen zu einem integralen Bestandteil des politischen Prozesses geworden sind.
Allerdings hatte das Militär Vorkehrungen getroffen, die ihm auch weiterhin eine einflußreiche Stellung als „Wächter über die nationalen Interessen“ und als „Schiedsrichter“ in gesellschaftlichen Interessenkonflikten garantieren sollten. So braucht der vom König zu ernennende Premierminister kein gewählter Parlamentsabgeordneter zu sein. In der Tat waren sowohl Kriangsak als auch Prem pensionierte Generale. Beide waren vor bzw. noch während ihrer Amtszeit Oberbefehlshaber der Armee und beide gehörten keiner Partei an. Wenn sich Kriangsak und Prem auch auf eine aus mehreren politischen Parteien gebildete Koalitionsregierung stützen mußten, so blieb doch der Einfluß des Militärs und der Bürokratie auf das Kabinett beträchtlich. Da auch die Kabinettsmitglieder keine gewählten Parlamentarier sein müssen, besaßen die Premiers u. a. die Möglichkeit, Schlüsselressorts (Verteidigung, Inneres, Finanzen und das Prime Minister’s Office) mit ihren Vertrauensleuten zu besetzen.
Mit Hilfe des Senats, dessen 268 Mitglieder mit Zustimmung des Königs vom Premier ernannt werden, vermochte das Militär zudem, den Gesetzgebungsprozeß zu kontrollieren. So besaß der Senat für die Dauer einer Übergangsperiode von vier Jahren das Recht, in gemeinsamer Sitzung mit dem Repräsentantenhaus über Fragen der nationalen Sicherheit, des Thrones, der Volkswirtschaft sowie über Mißtrauensvoten abzustimmen. Aufgrund seiner homogenen Zusammensetzung — drei Viertel der Senatsmitglieder sind Militärs — und der stark fragmentierten Parteienlandschaft im Repräsentantenhaus (jetzt 357 Abgeordnete) war davon auszugehen. daß der Senat, und mithin das Militär, in politisch wichtigen Entscheidungen seinen Standpunkt durchzusetzen vermochte. 1. Erosion der Macht der Militärs? Überraschenderweise scheiterte das Militär jedoch bei dem Versuch, Verfassungsänderungen zu erzwingen, die die gemeinsamen Sitzungen von Senat und Repräsentantenhaus zu einer permanenten Einrichtung gemacht hätten. Infolge eines unvorhergesehenen Kurswechsels der damals durchaus militärfreundlichen Chart Thai Party wurden die Verfassungsänderungen vom Parlament mit hauchdünner Mehrheit zurückgewiesen. Gleichzeitig mit dieser Beschneidung der legislativen Kompetenz des Senats traten Verfassungsbestimmungen in Kraft, die es öffentlichen Bediensteten und Militärs untersagten, politische Ämter zu übernehmen, ohne vorher aus dem Staatsdienst ausgeschieden zu sein
Weitere Niederlagen für das Militärestablishment folgten. So konnte sich Armeechef Arthit mit seiner Ablehnung der Baht-Abwertung im November 1984 ebensowenig durchsetzen wie eineinhalb Jahre später mit dem Versuch, im Zusammenspiel mit Oppositionsparteien und Dissidenten aus den Reihen der Social Action Party (SAP) Premierminister Prem zum Rücktritt zu zwingen. Vielmehr endeten seine Manöver, den Ausgang der Wahlen im Juli 1986 zu beeinflussen, mit seiner vorzeitigen Entlassung.
Auch Arthits Nachfolger, General Chaovalit Yongchaiyudh, konnte den Machtschwund des Militärs nicht entscheidend aufhalten Entgegen früheren Verlautbarungen, das Militär aus der Politik herauszuhalten, entfaltete Chaovalit schon bald nach seinem Amtsantritt im Mai 1986 Aktivitäten, die genau auf das Gegenteil hinausliefen. Ziel seiner Vorstöße war, den Boden, den das Militär eingebüßt hatte, wiedergutzumachen und die Initiative in der Willensbildung zurückzugewinnen — ohne dabei allerdings auf das altprobate, doch zunehmend unpopuläre Mittel des Coups zurückgreifen zu müssen.
Wie so oft, wenn Generale politische Ziele verfolgen, wurden diese Pläne sorgfältig mit einer antikommunistischen nationalen Rhetorik verschleiert. So erklärte Chaovalit im November 1986, daß die Communist Party of Thailand (CPT) noch immer eine ernsthafte Bedrohung darstelle, obwohl deren Ende der siebziger Jahre noch rund 16 000 Rebellen umfassende Armee aufgrund interner Konflikte. veränderter außenpolitischer Konstellationen erfolgreicher Verhaftungsaktionen der Sicherheitskräfte sowie großzügiger Amnestieangebote der Regierung für Überläufer in kleine isolierte Banden von insgesamt nicht mehr als 500 Mann zerfallen und bereits 1982 für militärisch besiegt erklärt worden war. Dennoch wurde die angebliche Bedrohung durch die CPT zu einem Standardthema des Armeechefs, in das zuweilen auch Premier Prem miteinstimmte. Begleitet wurde diese Polemik von einer harschen Parteien-und Parlaments-schelte sowie einer Kritik an der gegenwärtigen Entwicklungsstrategie. Beide Aspekte führen zum Kern der politischen Ziele Chaovalits.
Der Hauptgrund für die kommunistische Bedrohung ist laut Chaovalit das „undemokratische“ politische System Thailands. Ein Großteil der Minister und Abgeordneten sei korrupt und unqualifiziert, die Parteien nicht mehr als ein Vehikel für eigennützige Wirtschaftsinteressen. Damit werde der kommunistischen Agitation der Weg bereitet und die politische Stabilität des Landes unterminiert. Da politische Stabilität eine Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit sei — diese aber der Zuständigkeit der Streitkräfte unterstehe —.sei es für das Militär nicht nur legitim, sondern absolut notwendig, politisch aktiv zu werden. Politik und militärische Angelegenheiten überlagern sich folglich in Fragen der nationalen Sicherheit.
Als Ausweg aus diesem Dilemma schlug Chaovalit eine „friedliche Revolution“ (patiwat) vor, die er als „umfassende Demokratisierung“ der Gesellschaft verstanden wissen wollte. Obwohl der dabei verwandte Demokratiebegriff vage blieb, scheint doch sicher, daß er nur wenig mit den Inhalten westlicher Demokratietheorien gemein hat. In Chaovalits politischem Denken, das weitgehend von der Gruppe der „Democratic Soldiers" geprägt wurde besitzt der Begriff Demokratie einen vorwiegend paternalistischen Inhalt. Demokratie wird hierbei interpretiert als „Regieren für das Volk“. Eine Regierung kann demnach so lange als „demokratisch“ gelten, wie sie die Interessen des gesamten Volkes im Auge hat. wobei die Art und Weise, wie sie an die Macht und zu politischen Entscheidungen gelangt, eine untergeordnete Rolle spielt.
Solche Vorstellungen, die in Teilen der aufgeklärten, vorwiegend urbanen politischen Öffentlichkeit aufgrund einschlägiger historischer Erfahrungen verständlicherweise auf Ablehnung stießen, wurden seither von Chaovalit in ihrer Bedeutung heruntergespielt. Dennoch stand das „patiwat“ -Konzept unausgesprochen hinter einem Bündel von Initiativen Chaovalits: Verfassungs-und Wahlrechtsänderungen, die Gründung einer „Massenpartei“ und die „Begrünung“ des Nordostens (Green Isam Project). Alle diese Projekte dienten zwei übergeordneten Zielen: — der Schaffung institutioneller Voraussetzungen für eine putschlose Veränderung der Machtbalance und — der Schaffung einer politischen Massenbasis, die es dem Militär und den mit ihm verbündeten Kräften erlaubt, auf quasi-parlamentarischer, demokratisch legitimierter Grundlage zu regieren.
Die Massenbasis, die das Militär für sich zu gewinnen sucht, läßt sich unschwer ausmachen: die Gesamtheit der in den Sicherheitsapparat integrierten militärischen und para-militärischen Einheiten und Organisationen (Militär, Polizei, Border Patrol Police, Village Scouts, Thai Territorial Defense Volunteers und Self Defense Villages), in denen mehr als sechs Millionen Thais erfaßt sind Daneben sollen vor allem die bäuerlichen Schichten gewonnen werden. Auf sie zielen Vorschläge für Wahlrechtsänderungen wie die Einführung einer Wahl-pflicht bei gleichzeitiger Herabsetzung des Wahl-alters, von denen wohl in erster Linie eine an traditionelle Werte (König, Nation, Religion) appellierende Massenpartei profitieren würde, da die schweigende Mehrheit (d. h. die in Thailand große Zahl der Nichtwähler) konservativ wählen würde. An die ländliche Bevölkerung richten sich auch populistische Versprechungen (Schuldenerlaß für Bauern) und eine vage Kapitalismuskritik, die allerdings keinesfalls mit sozialistischem Gedankengut in Zusammenhang gebracht werden darf Im Kontext populistischer Mobilisierungsstrategien muß auch die geplante „Begrünung“ des Nordostens durch Bewässerung und Wiederbeforstung gesehen werden, durch die die Armee innerhalb von nur fünf Jahren den verarmten trockenen Nordosten entwickeln will.
Spätestens seit dem Frühjahr 1988 ist jedoch deutlich geworden, daß die Initiativen Chaovalits weitgehend im Sande verlaufen. Zwar wurden einzelne Vorschläge wie z. B. die Trennung von Legislative und Exekutive oder die Wahlrechtsänderungen von Zeit zu Zeit neu aufgegriffen, doch der Widerstand der politischen Parteien und die zum Teil scharfe Kritik aus den Reihen der Presse und namhafter Sozialwissenschaftler erwiesen sich als stärker. Mehr noch: Seit dem Wahlkampf 1986 nahm der Druck jener Kräfte zu, die sich für eine weitere Öffnung des politischen Systems einsetzen. Vor allem General Prem stand dabei im Mittelpunkt der Kritik, da dieser es immer wieder abgelehnt hatte, bei Parlamentswahlen selbst zu kandidieren. Thailand, so wurde argumentiert, könne nur dann Fortschritte auf dem Wege zur Demokratie erzielen, wenn der Premier — vorzugsweise der Chef der stärksten Partei — zugleich ein Parlamentsmandat besitze.
Die Armee hatte dieser Gegenoffensive der „Parlamentarier“ nicht allzuviel entgegenzusetzen, vielmehr erwiesen sich tragende Teile ihrer Vorwärts-strategie als brüchig. Das mit großem publizistischen Aufwand inszenierte „Green Isam“ -Projekt etwa ließ deutlich werden, wie wenig die Armee in der Lage ist, Vorhaben mit komplexen sozialen, ökologischen und technischen Detailproblemen zu planen, zu finanzieren und durchzuführen. So erschöpfte sich das Projekt bislang in wenigen unkoordinierten Einzelmaßnahmen, die zudem vorwiegend strategischen Zielen in Grenznähe zu Kambodscha untergeordnet waren und zum Teil erhebbehen Protest bei der betroffenen Bevölkerung auslösten. Prems Entscheidung, das Projekt zivilen Behörden zu übertragen, wurde zu Recht als Niederlage für Chaovalit gewertet.
Versuche einzelner Militärfraktionen, das Blatt mit Gewalt zu wenden, scheiterten ebenfalls. Die im April 1981 sowie im September 1985 von einer Gruppe jüngerer Offiziere inszenierten Putsche brachen rasch in sich zusammen Die rasche Diversifizierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die zunehmende organisatorische Komplexität des Staatsapparats und die damit verbundenen, stets komplizierter werdenden Prozesse der Entscheidungsfindung erfordern planerisches und admini-stratives Spezialwissen, das im Militär nicht vorhanden ist. Eine Militärjunta wäre schon nach kurzer Zeit gezwungen, die Macht mit spezialisierten Funktionsgruppen zu teilen, wollte sie nicht einen raschen Legitimationsverfall als Folge administrativer Inkompetenz und defizitärer Staatsleistungen riskieren. Doch gibt es innerhalb des Militärs noch immer Gruppen, die auch heute nicht vor Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung zurückschrecken — und sich dabei sogar der Zustimmung von Teilen der großen unpolitischen Öffentlichkeit sicher sein können. Die Gefahr politischen Abenteurertums wächst tendenziell in Phasen wirtschaftlicher Rezession und ungeklärter politischer Nachfolge.
Bremsende Wirkung aufdie politischen Aktivitäten des Militärs ging wiederholt auch vom Königshaus aus. Die Monarchie erfuhr während des Regimes von Feldmarschall Sarit Thanarat (1957— 1963) eine starke Aufwertung ihrer politischen Rolle und muß heute als eine immens wichtige Quelle politischer Legitimation betrachtet werden So war es die unmißverständliche Haltung von König Bhumiphol Adulyadej, welche die Putsche von 1981 und 1985 frühzeitig zum Scheitern verurteilte. 2. Parlament und Parteien: Mehr Freiraum bei anhaltender Instabilität Die Liberalisierung während der letzten zehn Jahre erweiterte den politischen Einfluß von Parlament und Parteien beträchtlich. Was sich seither herauskristallisierte, kann als eine Art semi-demokratisches System („democracy Thai style“) umschrieben werden, mit dem sich allerdings weder das Militär und die mit ihm verbündeten konservativen bürokratischen Kräfte noch die liberale städtische Mittelschicht voll identifizieren können. Dennoch hat sich eine Art Konsensus über politische Spielregeln herausgebildet.
Erstmals seit 1932 konnten sich politische Parteien über einen längeren Zeitraum hinweg relativ frei entfalten. Die Tatsache, daß in der Vergangenheit Parteien von den Militärmachthabern ins Leben gerufene Gebilde waren — mit dem primären Ziel, einem autokratischen Regime einen Anschein demokratischer Legitimität zu verleihen — und nach kurzer Zeit infolge des nächsten Putsches wieder verboten wurden, erklärt ihre organisatorische und funktionale Schwäche. Mit Ausnahme der Democrat Party besitzen die Parteien keinen Apparat in den Provinzen. Parteien sind von politisch ambitionierten Individuen kontrollierte Wahlvereine, die lediglich im Vorfeld von Wahlen nennenswerte Aktivitäten entfalten. Ihre Mitgliederzahl liegt meist nur unwesentlich über dem gesetzlich festgelegten Minimum von 5 000. Obwohl das Wahlgesetz zwingend vorschreibt, daß die Parteien mindestens für die Hälfte der zu vergebenden 357 Parlamentsmandate Kandidaten aufstellen müssen, gelingt ihnen dies mit wenigen Ausnahmen nur durch die Nominierung von Strohmännern. So ist auch kaum verwunderlich, daß die meisten Parteien allenfalls im regionalen Maßstab eine nennenswerte politische Kraft darstellen. Ihre Mobilisierungskraft ist folglich gering, worin einer der Hauptgründe für die gewöhnlich niedrige Wahlbeteiligung zu suchen ist -Die meisten Parteien sind ideologielos, programmatisch vage und als durchgängig konservativ zu bezeichnen. Bezeichnenderweise ist derzeit keine einzige Linkspartei im Parlament vertreten.
Die organisatorische Schwäche der Parteien erklärt die hochgradig zerklüftete Parteienlandschaft. Auch die großen Parteien — die Democrat Party, die SAP und Chart Thai Party — sind weit davon entfernt, allein eine Regierung bilden zu können. Die Notwendigkeit zu Mehrparteienkoalitionen und die Existenz nur schwer in eine Parteidisziplin einzubindender opportunistischer Seilschaften sind denn auch wesentliche Ursachen für die instabilen Mehrheitsverhältnisse im Parlament. Parteiwechsel, Spaltungen und Neugründungen gehören zum politischen Alltag und machen jede wichtige Abstimmung zu einem Vabanquespiel, dem gewöhnlich ein intensives Werben um jede einzelne Stimme vorausgeht.
Die gegenwärtigen Fronten innerhalb des Parlaments sind das Ergebnis der Wahlen vom 24. Juli 1988. Dabei avancierte Chart Thai mit 87 Sitzen zur stärksten Partei, gefolgt von der SAP (54 Sitze), den Democrats (48), Ruam Thai (35), Prachakorn Thai (31) und Rassadorn (21). Die Koalitionsparteien der Prem-Regierung — Chart Thai, SAP. Democrat Party und Rassadorn — bildeten daraufhin zusammen mit zwei Splittergruppen eine neue Koalition. Alle Welt erwartete, daß der neue Regierungschef wieder Prem heißen würde. Sein Rücktritt kam einer Sensation gleich Erstmals seit 1976 übernahm nun mit Major General a. D. Chatichai Choonhavan, dem Vorsitzenden der größten Partei im Parlament, wieder ein gewählter Abgeordneter das Amt des Regierungschefs. Ob jedoch ein gewählter Premier Thailand auf dem Wege zu einer vollwertigen parlamentarischen Demokratie tatsächlich viel weiter bringen wird, muß dahingestellt bleiben. Viel wird davon abhängen, inwieweit es nach dem Rücktritt Prems, der ein Meister im Ausbalancieren gegensätzlicher Interessen war, zu Verschiebungen in dem labilen Allianzensystem der verschiedenen militärischen und zivilen Macht-blöcke kommt. 3. Die lokale Ebene und die Entwicklung von Interessengruppen Eine Liberalisierung läßt sich auch in anderen Bereichen des politischen Systems feststellen, so z. B. auf lokaler Ebene. 1974, 1980 und 1985 fanden in regelmäßigem Turnus Wahlen zu den Provinz-und Munizipalparlamenten statt. Während die bis dato ernannten Bürokraten und Militärs aus kommunalen Ämtern verschwanden, fanden nun in zunehmendem Maße auch mittelständische Gruppen Zugang zu kommunalen Entscheidungsgremien.
Die Auflockerung autokratisch verkrusteter Willensbildungsstrukturen zeigt sich auch in der Ausbreitung von Interessengruppen. Versuche des Staates, diese Vereinigungen in korporatistischen Dachorganisationen zusammenzufassen, wurden mittlerweile stillschweigend aufgegeben Während bis vor kurzem die meisten „pressure groups“ in ihrem Wirkungskreis auf die Hauptstadt beschränkt blieben, greifen sie nun auch zunehmend auf die Provinzen aus. Die Mehrzahl dieser Verbände vertritt jedoch eindeutig Interessen der städtischen Mittelschichten, des Big Business und der Agrarunternehmerschaft. Bauemorganisationen, die wie die Farmers Federation of Thailand für bessere ökonomische Bedingungen der Pächter und landlosen Agrarbevölkerung sowie für eine Landreform eintraten, waren 1975 und 1976 durch den organisierten Terror gedungener Killerbanden und rechtsgerichteter para-militärischer Trupps so nachhaltig zerschlagen worden, daß es seither zu keiner Neubelebung kam.
Auch die Industriearbeiterschaft ist nur schwach organisiert. Zwar schnellte die Zahl der registrierten Gewerkschaften seit 1972 von neun auf 444 empor doch noch immer sind weniger als fünf Prozent der Lohnabhängigen gewerkschaftlich organisiert. Abgesehen von restriktiven Bestimmungen, die die Organisierung der Arbeitnehmerschaft erschweren, behindern auch interne Konflikte eine wirkungsvollere Interessenvertretung. Nicht weniger als vier Dachverbände rivalisieren miteinander um Einfluß im Arbeitnehmerlager. Dennoch gelang es den Gewerkschaften, die Minimumlöhne seit 1973 zu versechsfachen und Reformen im Arbeitsrecht zu erkämpfen. Insgesamt jedoch ist das Mißtrauen auf Seiten der Administration gegenüber Interessenorganisationen mit sozialen Reform-anliegen nach wie vor recht groß. Der Zugang dieser Gruppen zu Entscheidungsträgern ist daher noch immer sehr begrenzt.
II. Thailand — ein „Tiger“ auf dem Sprung?
Thailand erlebte seit den späten fünfziger Jahren einen ungebrochenen wirtschaftlichen Aufschwung. Zwischen 1960 und 1980 wuchs das Bruttosozialprodukt jährlich um durchschnittlich sieben Prozent. Erst Mitte der achtziger Jahre trat eine Verlangsamung ein. Doch mit einem Wachstum von immerhin noch vier Prozent schnitt Thailand selbst in dieser kritischen Rezessionsphase deutlich besser ab als alle anderen ASEAN-Staaten. Mehr noch, ein neuer Boom ist bereits in vollem Gange. Die Prognosen für die kommenden Jahre sind viel-versprechend. So wurde das im 6. Fünfjahresplan (1987— 1991) eher vorsichtig veranschlagte Wirtschaftswachstum von jährlich fünf Prozent mit 7, 1 Prozent (1987) und 10, 3 Prozent (1988) bislang deutlich übertroffen. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt damit heute schon über 1 000 US-Dollar. Auch die ausländischen Direktinvestitionen legten sprunghaft zu und verdeutlichen die zunehmende Attraktivität des Standortes Thailand. Zwar ist die Auslandsverschuldung mittlerweile bei 7 Milliarden US-Dollar angelangt, dennoch genießt Thailand in der internationalen Finanzwelt hohe Bonität. Die meisten Verbindlichkeiten sind langfristiger Natur zu vergleichsweise günstigen Zinskonditionen 15). Die Inflation bewegt sich seit 1982 konstant zwischen einem und vier Prozent, und auch die internationalen Währungsreserven von über sieben Milliarden US-Dollar signalisieren eine robuste Ökonomie. Problematisch sind jedoch die chronisch hohen Budgetdefizite und die passive Handelsbilanz.
Mehrere Faktoren lassen sich zur Erklärung dieser generell günstigen makro-ökonomischen Entwicklung heranziehen. 1. Eine bedeutende Rolle spielte vor allem das sorgfältige Wirtschaftsmanagement, das im Kern auf einer konservativen fiskalischen und monetären Politik beruht. So manövrierte die Regierung trotz heftiger Opposition aus den Reihen der Privatwirtschaft das Land mit einer strikten Austeritätspolitik um die Klippen der Rezession der Jahre 1984 und 1985. Hinzu kommt eine behutsame Investitionspolitik, die verhinderte, daß wertvolle Ressourcen wie andernorts in „Entwicklungsruinen“ versickerten. Dieses umsichtige Wirtschaftsmanagement und eine vergleichsweise eigenständige Bürokratie trugen maßgeblich dazu bei, daß die Volkswirtschaft trotz Korruption und Patronage von einem übermäßigen Ressourcenentzug verschont blieb. Im Unterschied auch zu vielen anderen Entwicklungsländern transferieren die Wirtschaftseliten ihre Gewinne nicht auf ausländische Konten, sondern reinvestieren Sie im Lande. 2. Ein Schlüssel zur Erklärung der erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung Thailands liegt zweifellos auch in der wirtschaftlichen Diversifizierung, die in den sechziger Jahren einsetzte. Dies gilt sowohl für die Branchenstruktur als auch für den Außenhandel. Besonders bemerkenswert sind die zweistelligen Wachstumsraten im verarbeitenden Gewerbe, das mit 22 Prozent mittlerweile mehr zum Bruttosozialprodukt beiträgt als der Agrarsektor (17 Prozent). Vor allem die Exportindustrien (Textil, Bekleidung, Spielwaren, Schmuck und Elektronik) entwickelten sich in den letzten Jahren zum Motor des Wirtschaftswachstums. Trotz zahlreicher Probleme im Agrarsektor machte die Diversifizierung der Produktpalette auch hier Fortschritte. Neben den traditionellen Exportprodukten Reis, Mais, Tapioka, Zucker und Gummi mauserte sich Thailand zu einem erfolgreichen Exporteur von tropischen Früchten, Kaffee, Schnittblumen, Geflügel, Shrimps, Gemüse, Nüssen u. a. 3. Thailands aggressive Tourismusförderung — aufgrund negativer sozio-kultureller Begleiterscheinungen berechtigterweise immer wieder Zielscheibe harscher Kritik — hat die Branche zum größten Devisenbringer des Landes aufsteigen lassen. Seit 1980 stieg die Zahl der Touristen von 1, 8 auf 5, 1 Millionen (1989), was rund 75 Milliarden Baht in Thailands Kassen bringen wird. 4. Seit den sechziger Jahren bemühte sich Thailand erfolgreich um einen raschen Ausbau seiner Transportinfrastruktur. Es profitierte dabei zweifelsohne von den Militär-und Entwicklungshilfezuwendungen der USA während des Vietnamkrieges. Neben dem Straßennetz wurde — allerdings bislang primär in der Zentralregion — das Bewässerungswesen ausgebaut. In der laufenden Planperiode wird der Schwerpunkt der Infrastrukturentwicklung nun auf den Bereich der Telekommunikation verlagert. 5. Des weiteren hat der Ölpreisverfall kurzfristig enorme Ressourcen — jährlich rund eine Milliarde US-Dollar — für Entwicklungsvorhaben freigesetzt. Die reduzierte Abhängigkeit von Rohölimporten ist zugleich eines der zentralen Anliegen des 6. Entwicklungsplanes, der hier an erfolgreiche Bemühungen seit Anfang der achtziger Jahre anknüpfen kann. So konnte die Abhängigkeit von externen Energiequellen seit 1981 von 90 auf 58 Prozent vermindert werden Allein die Ausbeutung der Naturgasfelder im Golf von Siam deckt heute ein Drittel des thailändischen Energiebedarfs. 6. Schließlich ist die „demographische Revolution“ zu nennen. Mit Hilfe eines einfallsreichen Familienplanungsprogramms gelang es der Regierung, das Bevölkerungswachstum von drei Prozent (1970) auf 1, 5 Prozent herunterzudrücken. Daraus resultierten vermehrte Kaufkraft, mehr Wohlstand, Entlastungseffekte auf dem Arbeitsmarkt, ein Anstieg der Reallöhne sowie höhere Aufwendungen für Bildungszwecke. Die positive makro-ökonomische Entwicklung verleitet dazu, Thailands aktuelle Entwicklungsprobleme aus den Augen zu verlieren. Die exportorientierte Industrialisierung birgt Problempotentiale in sich, die Zweifel nähren, ob das im Entwicklungsplan vorgegebene Ziel, bis 1991 den Status eines Schwellenlandes zu erlangen, tatsächlich realisierbar ist.
Thailands Entwicklungsplaner scheinen in der allenthalben anzutreffenden Wachstumseuphorie zunehmend den Verteilungsaspekt aus den Augen zu verlieren. Unter dem Einfluß der Weltbank und anderer internationaler Entwicklungsorganisationen kehrte der 6. Entwicklungsplan zu neoklassischen ökonomischen Theorien zurück. Die starke Betonung von Kostensenkungen im öffentlichen Sektor und von Privatisierung wird den Kostendruck auf untere Sozialschichten erhöhen — mit der Folge von Konsumverzicht bzw.dem Versuch, ordnungspolitische Vorgaben des Staates zu unterlaufen. Sollten diese Entwicklungsvorstellungen tatsächlich voll umgesetzt werden, dann wäre dies gleichbedeutend mit einem Abschied von jenem traditionellen Paternalismus des Thai-Staates, der in der Vergangenheit auch in Armut lebenden Gruppen das Überleben ermöglichte.
In zahlreichen Branchen der Wirtschaft bilden sich oligopolitische Strukturen heraus. Einige wenige Familienclans zumeist chinesischer Herkunft brachten in den letzten 30 Jahren zahlreiche Wirtschaftszweige so fest unter ihre Kontrolle, daß der Aufstieg technisch innovativer Kleinbetriebe in den erlauchten Kreis der großen Industrie-und Finanzkonglomerate kaum mehr möglich ist. Hinzu kommt, daß die staatlichen Investitionsanreize bestehende Großbetriebe begünstigen. Dennoch wäre es grundfalsch, in den thailändischen Businessclans eine Art willfährige Kompradorenbourgeoisie zu erblicken. Entgegen landläufiger Annahme hat sowohl das thailändische Finanzkapital als auch die heimische Industrie einen erstaunlichen Grad an Unabhängigkeit von ausländischen Interessen erreicht. Die meisten Finanz-und Industriekonglomerate befinden sich heute fest in thailändischer Hand 1. Die Landwirtschaft — Thailands Sorgenkind Das große Sorgenkind ist zweifelsohne die Landwirtschaft, von der noch immer 60 Prozent der Be-völkerung ökonomisch abhängig sind. So verringerte sich das Wachstum des Agrarsektors von 5. 4 Prozent in den sechziger Jahren auf nur noch 2, 1 Prozent zwischen 1982 und 1986. Dürren und Hochwasser führten 1986 und 1987 gar zu einem Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion. Trotz Diversifizierungs-und Exporterfolgen in einzelnen Subsektoren litt die Landwirtschaft (insbesondere bei den traditionellen Exportprodukten Reis, Mais. Tapioka, Zucker und Gummi) unter einer drastischen Verschlechterung der terms-oftrade, d. h.der Austauschrelationen zwischen den Import-und den Exportgütern (rund 50 Prozent zwischen 1978 und 1985). Dies ist zum einen die Folge eines Überangebots auf dem Weltmarkt, zum anderen die Folge protektionistischer Maßnahmen der USA und der EG
Die in den sechziger Jahren in großem Stil eingeleitete Kommerzialisierung der Landwirtschaft, die damit verbundene wachsende Weltmarktabhängigkeit und die Steigerung der Produktionskosten (Mechanisierung, Bewässerung u. a.) führte verschiedenen Autoren zufolge zu einer fortschreitenden Proletarisierung und Verarmung der Bauernschaft Als Belege für diese These werden die Zunahme von Pachtverhältnissen, Landkonzentration einerseits und abnehmende Betriebsflächen andererseits herangezogen. Obwohl diese „Verelendungsthese“ zumindest regional Plausibilität für sich beanspruchen kann, sollte nicht übersehen werden, daß das Bild der landwirtschaftlichen Entwicklung Thailands doch komplexer ist. So bewegt sich die ländliche Entwicklung trotz unbestrittener Probleme noch immer in günstigeren Bahnen als in den anderen ASEAN-Staaten. Agrarzensusdaten zeigen keinesfalls eine dramatische Zunahme der Landpacht in allen Regionen. Im Gegenteil: Nach einer leichten Zunahme in den sechziger und siebziger Jahren ist ihr Anteil seit 1978 sogar wieder leicht rückläufig. Wohl aber hat sich der Anteil der Teilpächter signifikant erhöht — jener Bauern also, die zu ihren eigenen Betriebsflächen fremdes Land hinzupachten. Dies mag vor allem im Norden und Nordosten ein Resultat von Landverlusten durch Verschuldung sein, doch besteht dieser Zusammenhang nicht notwendigerweise überall. In der Zentralregion — häufig als Paradebeispiel für die sozialen Ungleichgewichte des sich ausbreitenden Agrarkapitalismus herangezogen — pachten häufig gerade die erfolgreichen Bauern Land hinzu, um ihre Betriebe rationeller bewirtschaften zu können
Auch die These der schrumpfenden Betriebsgrößen hält der Empirie nur partiell stand. Zwischen 1963 und 1978 vergrößerte sich die durchschnittliche Betriebsfläche von 3, 47 auf 3, 72 Hektar, um dann mit 3, 56 Hektar 1983 wieder eine leicht rückläufige Tendenz anzuzeigen. Zweifelsohne ist das Land heute ungleicher verteilt als noch zu Zeiten des Regimes von Sarit Thanarat (1957— 1963) Dennoch war — nach einer geringfügigen Zunahme in der Periode von 1963 bis 1978 — der Anteil der Betriebe mit über 6. 5 Hektar nach 1978 wieder rückläufig: Er sank von 16, 4 auf 15, 1 Prozent (1983). Umgekehrt ist auch keine markante Zunahme der Landfragmentierung erkennbar — etwa als Folge von Landverlusten durch Verschuldung oder Erbteilung. Zwischen 1978 und 1983 nahm der Anteil von Farmen mit weniger als einem Hektar von 15, 9 auf 14, 7 Prozent sogar geringfügig ab
Bei der Einschätzung der Lebensbedingungen auf dem Lande ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Agrarzensusdaten keinen Aufschluß über das Ausmaß der Landlosigkeit geben. So ist denkbar, daß sich hinter den Daten Transaktionen verbergen. bei denen traditionelle Reisbauem ihr Land an städtische Agrarunternehmer veräußern (müssen) und letztere dazu übergehen, diese Flächen durch Lohnarbeiter zu bewirtschaften. Insofern trifft die These von einer zunehmenden sozialen und regionalen Differenzierung innerhalb der Bauernschaft zweifelsohne zu. Die Entstehung einer bäuerlichen Zweiklassengesellschaft schreitet erkennbar voran. Dort, wo — wie in der Zentralebene — die kommerzielle Landwirtschaft voll Fuß gefaßt hat und sich Hand in Hand mit einem rasch wachsenden nicht-landwirtschaftlichen Sektor entwickelt, profitierte gut die Hälfte der ländlichen Haushalte von dieser Dynamisierung. Die damit verbundenen ökonomischen Chancen gingen jedoch an all jenen Bauern vorbei, die nicht über bewässertes Land, landwirtschaftliches Gerät oder nur über sehr kleine Betriebsflächen verfügten. Die Mehrzahl dieser Landbewirtschafter mußte in der Tat wiederholt schmerzliche Einkommensverluste hinnehmen. Ländliche Armut wie etwa im Nordosten und Norden Thailands, wo fast die Hälfte bzw. ein Viertel der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle leben, blockiert die Entwicklung der für den Binnenmarkt produzierenden Konsumgüterindustrie. 2. Umweltprobleme Landwirtschaftliches Wachstum und Produktionszuwächse waren nicht das Resultat einer Intensivierung des Anbaus, sondern sind in erster Linie auf Neulanderschließung zurückzuführen. Damit ging eine fortschreitende Zerstörung der Umwelt einher. Die Landreserven, die seit Anfang der sechziger Jahre rund 15 Millionen Siedler aufnahmen sind heute erschöpft. Die (illegale) Urbarmachung ist neben illegalem Holzeinschlag und dem Wanderfeldbau der Bergvölker eine der Hauptursachen für eine besorgniserregende Entwaldung. Seit 1961 schrumpfte die Waldfläche von 53 auf 17 Prozent. Daraus wiederum resultierten Klimaveränderungen, Dürren, Überschwemmungen und Boden-erosion. Wohl hat die Regierung inzwischen mit einem generellen Holzeinschlagsverbot sowie einem Wiederaufforstungsprogramm reagiert. Letzterem hegt die Zielvorgabe zugrunde, daß 40 Prozent der Landesfläche bewaldet sein sollen Um jedoch diesen Wert zu erreichen, müßten über einen Zeitraum von 35 Jahren hinweg jedes Jahr mindestens 160 000 Hektar wiederaufgeforstet werden. Im besten Falle gelingt es den Forstbehörden ge-rade ca. 49 000 Hektar aufzuforsten — also weniger als zehn Prozent des auf in etwa 520 000 Hektar bezifferten jährlichen Waldverlusts 3. Wachsende soziale und räumliche U ngleichgewichte Von den „success stories“ der kommerziellen Landwirtschaft in Zentralthailand abgesehen, gingen die wirtschaftlichen Wachstumsgewinne der letzten Dekaden an großen Teilen der ländlichen Bevölkerung vorbei. Thailands Entwicklung teilt damit ein wesentliches Merkmal mit den anderen ASEAN-Staaten: Sie begünstigt durchweg die urbane Bevölkerung vor allem in der Region um die Metropole Bangkok — mit der Folge wachsender sozio-ökonomischer und räumlicher Ungleichgewichte. Verschiedene Studien, die das Ausmaß der Einkommensungleichheiten empirisch zu ermitteln suchten, kamen ausnahmslos zu dem Schluß, daß diese seit Beginn der sechziger Jahre zugenommen haben. Dies ist vor allem auf wachsende Ungleichheiten im Agrarsektor zurückzuführen während sich die Disparitäten im urbanen Bereich leicht verringerten. Insgesamt hat sich damit das Stadt-Land-Gefälle weiter vergrößert.
Die Verteilung des Bruttoinlandprodukts zeigt, daß alle Regionen zum Teil erhebliche Einbußen zugunsten Bangkoks hinnehmen mußten. Das Pro-Kopf-Einkommen im Nordosten etwa beträgt mit ca. 300 US-Dollar weniger als ein Siebtel dessen von Bangkok (ca. 2 300 US-Dollar), und selbst in der vergleichsweise wohlhabenden Zentralregion wird nur wenig mehr als ein Drittel des metropolitanen Einkommensniveaus erwirtschaftet Mit der Realisierung des Eastern Seabord-Projektes, einem großangelegten Versuch, eine thailändische Schwerindustrie aufzubauen, wird sich der Metropolitanisierungsdruck auf die Greater Bangkok Region verstärken und werden sich die Entwicklungsdisparitäten verschärfen.
III. Perspektiven der Demokratie in Thailand
Damit stellt sich die Frage nach den Zusammenhängen von politischer Liberalisierung und sozio-ökonomischem Wandel. Hat wirtschaftliches Wachstum in Thailand für mehr Demokratie gesorgt, oder war es die sich allmählich öffnende Gesellschaft, die das rapide Wirtschaftswachstum begünstigt hat?
Die Tatsache, daß Thailand bereits unter der Sarit-Diktatur und in der gleichfalls autoritären Thanom-Praphat-Ära hohe wirtschaftliche Wachstumsraten erzielte, scheint darauf hinzudeuten, daß hier die kausale Beziehung in erster Linie von wirtschaftlichem Wachstum in Richtung auf mehr Demokratie wirkte. Die wirtschaftliche Entwicklung und Diversifizierung haben zweifellos zu einer erheblichen organisatorischen Differenzierung des Thai-Staates, zunehmender Arbeitsteiligkeit und gesellschaftlicher Komplexität geführt. Industrialisierung, Urbanisierung, die Kommerzialisierung der Landwirtschaft und die Expansion des Bildungswesens schufen neue Interessenkonfigurationen und artikulationsfähige (mittelständische) Funktionsgruppen, die ein Mitspracherecht bei politischen Entscheidungen einforderten, zumal dann, wenn es um die Durchsetzung ihrer eigenen gruppenspezifischen ökonomischen Interessen ging. Die soziale Basis des politischen Führungspersonals verbreitert sich. Wenngleich dieser Wandel von einer „bureaucratic polity“ in eine „bourgeois polity“ in einem konservativen Umfeld weitaus langsamer vonstatten geht als die ökonomische Modernisierung, so bleibt doch festzuhalten: Langsam, aber sicher bewegt sich das politische System Thailands in Richtung auf größere „Inklusivität“.
Ein offeneres politisches System, das auf Verhandlungen und Kompromissen zwischen gegensätzlichen gesellschaftlichen Interessen beruht, macht Entscheidungen, die die ökonomischen Grundlagen der mittelständischen Aufsteigergruppen betreffen, kalkulierbarer, risikoloser und nicht mehr zu einer permanenten Existenzbedrohung, wie sie die Entscheidungsmuster nach dem „the-winnertakes-all“ -Prinzip unter autokratischen Regimen implizierten. Jeder Regimewechsel hatte für diejenigen Gruppen der Wirtschaftselite, die mit der entmachteten Herrschaftsclique liiert waren, einschneidende Eingriffe in ihre Besitzverhältnisse zur Folge. Da die Allianz mit den jeweiligen Machthabern für die überwiegend sino-thailändische Unter-nehmerschicht (begrenzten) Schutz bedeutete und somit lebensnotwendig war, neue Machthaber jedoch zunächst darauf aus waren, zur Konsolidierung ihrer Herrschaft die wirtschaftliche Basis ihrer Gegner zu zerschlagen, ergaben sich Interventionen nach Piratenmanier in die Privatwirtschaft geradezu zwangsläufig. Erzwungene „take overs“ von lukrativen Unternehmen politischer Gegner lassen sich während der vergangenen Diktaturen verschiedentlich nachweisen
Einen weiteren Aspekt gilt es zu berücksichtigen: In einer sich industrialisierenden Gesellschaft werden Entscheidungsabläufe zwangsläufig komplexer, komplizierter und interdependenter. Sie erfordern mithin Fachkompetenz, die innerhalb der alten militärischen und zivilen bürokratischen Eliten nur unzureichend vorhanden ist. Die wenig erfolgreiche Rolle der Armee im „Green Isarn“ -Projekt etwa mag diesen Zusammenhang unterstreichen. Entscheidungen im modernen Staat erfordern Teamwork, Kooperation und Koordination. Interdisziplinäre Problemlagen sind aber nur dann zu meistern, wenn ihnen subtilere Entscheidungsabläufe zugrunde liegen, als sie der herkömmliche militärisch-autoritäre Führungsstil zuläßt. Wenngleich letzterer in einer stark hierarchisierten Gesellschaft wie Thailand noch immer Akzeptanz findet. unterminieren doch die im Kontext langanhaltender, rascher sozio-ökonomischer Entwicklung auftretenden Sachzwänge die traditionellen Herrschaftsstrukturen in zunehmendem Maße
Wie gezeigt, nimmt das Militär trotz seiner Macht-einbußen nach wie vor eine Schlüsselstellung ein. Daß die Streitkräfte jedoch nicht mehr eo ipso ein Demokratisierungshindernis darstellen, ist u. a. darauf zurückzuführen, daß technologischer und sozialer Wandel die bewaffnete Macht selbst verändert haben. Obwohl Thailands Militärs aufgrund ihrer oft ländlich-mittelständischen Herkunft stärker als urbane Gruppen traditionelle Konzepte von Macht und Autorität verinnerlicht haben, werden sie im Laufe ihrer Sekundärsozialisation durch Auslandsstudium und Lehrgänge weit mehr mit westlichen politischen Vorstellungen konfrontiert als sei-nerzeit die militärischen Führungsgruppen der Diktaturen der fünfziger und sechziger Jahre. Hinzu kommt, daß die Modernisierung der Armee auch ihre interne Fragmentierung beschleunigt — die Armee wird „arbeitsteiliger“. Insofern entstehen innerhalb der Armee neue, zum Teil gegensätzliche Interessenlagen — etwa hinsichtlich finanzieller und materieller Zuwendungen, Fortbildungsmaßnahmen, aber auch in bezug auf strategische, außen-und sicherheitspolitische Kernfragen. Diese Fraktionierung ist ein wesentlicher Grund dafür, warum es für die Armee heute wesentlich schwieriger ist, erfolgreich zu putschen als noch vor zehn oder fünfzehn Jahren.
Viele Übergangsgesellschaften sind dadurch gekennzeichnet. daß Klientelbeziehungen als Muster der sozialen Organisation noch nicht vollständig versachlichten, entpersonalisierten Beziehungen gewichen sind. Patrpnage besitzt folglich noch immer einen hohen Stellenwert bei der Mobilisierung und Organisierung gesellschaftlicher Gruppen für politische Zwecke. Doch gerade hier zeigt sich einmal mehr, wie wichtig wirtschaftliches Wachstum als Voraussetzung für eine erfolgreiche Demokratisierung ist. Denn im Kontext wirtschaftlicher Stagnation oder gar Schrumpfung wächst die Gefahr, daß es zu erheblichen Erschütterungen im Demokratisierungsprozeß kommt — dann nämlich, wenn die Patronagemittel nicht ausreichen, gut organisierte Gruppen zufrieden zu stellen bzw. wenn der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung dringend erforderliche Ressourcen durch ein Übermaß an Korruption und Patronage entzogen werden.
Dies ist in Thailand nicht der Fall. Wirtschaftliches Wachstum trug hier zu einer beeindruckenden realen Steigerung der öffentlichen Ressourcen bei. Zwar ist auch in Thailand Korruption verbreitet, doch angesichts des erheblichen Ressourcenzuwachses kann es sich — im Gegensatz zu vielen anderen Entwicklungsländern — ein bestimmtes Maß an Korruption „leisten“. Hinzu kommt, daß in Thailand Korruption durch öffentliche Kontrolle (parlamentarische Opposition, Presse) sowie durch ein ausgeklügeltes inneradministratives System von „checks and balances" ein bestimmtes Niveau selten übersteigt.
Der Gewaltpegel der politischen Auseinandersetzung ist in Thailand geringer als anderswo in Südostasien. Coups verliefen meist unblutig — unrühmliche Ausnahmen stellen die Putsche von 1951. 1973 und 1976 dar. Politische Gegner werden — sofern sie den Zirkeln der etablierten Eliten angehören — häufig nach einer gewissen Schamfrist amnestiert und folglich weniger massiv mit ökonomischer und physischer Vernichtung bedroht als in anderen Ländern. Terror zur Beeinflussung von Wahlen ist auch in Thailand nicht unbekannt, doch alles in allem trug das höhere Toleranzniveau dazu bei. politischen Akteuren ein größeres Maß an Sicherheit zu vermitteln. Beides sind essentielle Voraussetzungen für die Herausbildung eines Minimalkonsenses über die Regelungsmechanismen gesellschaftlicher Konflikte.
Es soll hier nicht einem simplen Determinismus das Wort geredet werden, der politische Entwicklung ausschließlich als Ausfluß bestimmter sozio-ökonomischer Konstellationen begreift. Es muß daher betont werden, daß ökonomisches Wachstum für sich allein allenfalls eine notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung für eine dauerhafte Fortsetzung des Liberalisierungstrends darstellt. Zu Recht verweist Samuel Huntington darauf. daß es einer ganzen Palette von interdependenten Faktoren bedarf, um Entwicklungsgesellschaften aus der Grauzone zwischen Autoritarismus und Demokratie herauszuführen ,
Daß Thailands ökonomische Entwicklung zu einem Mehr an politischem Pluralismus führte, wurde bereits dargelegt. Ein bedeutendes Hemmnis für diesen Prozeß sind die zum Teil erheblichen räumlichen und sozialen Ungleichgewichte. Der traditionelle Paternalismus hatte in der Vergangenheit gewährleistet, daß die Schmerzgrenze sozialer Belastbarkeit nur selten erreicht wurde. Ob dies auch in Zukunft gelingen wird, ist angesichts des Vormarsches neoklassischer ökonomischer Theorien in der thailändischen Entwicklungsplanung fraglich. Verschärfte sozio-ökonomische Gegensätze jedoch vermögen unter entsprechenden Rahmenbedingungen einen wenig demokratieförderlichen Zyklus von Ereignissen auszulösen: zunehmende politische Polarisierung, Wiederaufbrechen des nur mühsam unterdrückten nationalen Sicherheitssyndroms im Militär, zunehmende Repression und damit Beendigung des Öffnungsprozesses. Mit anderen Worten: Ohne soziale Demokratie gibt es keine politische Demokratie.
Von Bedeutung für die Beständigkeit demokratischer Entwicklung sind zweifelsohne auch die externen Einflüsse, denen ein politisches System ausgesetzt ist. Huntington hat in diesem Zusammenhang vor allem die Wirkkraft der anglo-amerikanischen politischen Kultur im Auge, die er durch koloniale, bündnispolitische und kulturelle Beziehungsgeflechte auf Dritte-Welt-Staaten einwirken sieht Thailand war niemals kolonialisiert, und auch sonst stehen die Thais in ihrer ausgeprägten Ethnozentrik fremden Werthaltungen — zumal politischen — reserviert gegenüber, adaptieren diese allenfalls selektiv. Elemente einer demokratisch-pluralistischen Kultur fanden daher in nennenswertem Ausmaße nur über kulturelle Beziehungen (Auslands-studium) bzw. über die globalen Interaktionen der neuen Business-. Technokraten-und Intellektuelleneliten Eingang in die thailändische politische Kultur. Sie sehen sich jedoch einer starken Konkurrenz tief verwurzelter autoritärer und hierarchischer Werthaltungen gegenüber: ein nicht unwesentliches Hindernis für eine Verfestigung liberaler Strukturen.
Andererseits hat die nachlassende äußere Bedrohung die für Thailand in ihrer Dauer einzigartige Liberalisierungsphase begünstigt. So kam es in den Beziehungen zur Volksrepublik China in den letzten Jahren zu einer weitgehenden Annäherung — ja sogar einer Quasi-Allianz. Damit hat sich aus der Sicht Thailands die Gefahr des chinesischen Revolutionsexports erheblich verringert. Geringere Revolutionsgefahr implizierte mehr Liberalität, und mehr Liberalität verminderte u. a. auch die Schlagkraft der kommunistischen Bewegung in Thailand. Seit Anfang der achtziger Jahre wurde die frühere harte Politik von einem sehr flexiblen Ansatz abgelöst.der vor allem die politische Dimension des Kampfes gegen die kommunistische Infiltration betont. Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen während der Repressionsphase unter Thanin Kraivichien (1976/77) zu verstehen, dessen antikommunistische Hexenjagd sich als hochgradig kontraproduktiv erwies: Nie zuvor in der thailändischen Geschichte war die CPT stärker und aktiver als während und kurz nach seiner Amtszeit. In der Folge setzten sich innerhalb des Militärs und der Regierung jene Kräfte durch, die in einem liberaleren politischen System ein Mittel sahen, Legitimationskrisen des Staates und sozialrevolutionäre Alternativen durch ein größeres Maß an „Kontrollelastizität“ aufzufangen. Daß das Militär dabei empfindliche Machteinbußen hinnehmen mußte, war in diesem Kalkül allerdings nicht eingeplant.
Von gelegentlichen Grenzverletzungen abgesehen, hat auch der Sieg des Kommunismus in Indochina nicht zu einer akuten Sicherheitsbedrohung Thailands geführt. Der Truppenabzug der Vietnamesen aus Kambodscha und die Entspannung der Beziehungen zwischen China und der Sowjetunion werden mit Sicherheit abschwächende Wirkung auf das nationale Sicherheitssyndrom des thailändischen Militärs haben. Die kommunistische Bedrohung hatte in der Vergangenheit immer wieder als Grund dafür dienen müssen, Demokratisierungsbestrebungen im Keime zu ersticken.
Wenn es darum geht, die Demokratisierungschancen eines Landes einzuschätzen, müssen freilich immer auch kulturspezifische Faktoren berücksichtigt werden. Huntington etwa führte hierzu aus, daß vor allem Gesellschaften mit einer innerweltlichorientierten, toleranteren und auf Kompromißfindung angelegten Kultur größere Chancen besitzen, demokratische Strukturen aufzubauen Die häufig vertretene Meinung, daß Thailands buddhistische Kultur demokratiefeindlich sei, wird in aller Regel auf die Karma-Lehre zurückgeführt, die nach Meinung vieler Autoren politische Partizipation blockiert, weil ihr zufolge ausschließlich das Individuum, nicht etwa der Staat oder gesellschaftliche Mißstände für erlittene Schicksalsschläge verantwortlich sind. Unglück wird danach allein als Ausfluß schlechter Taten des einzelnen im gegenwärtigen oder in einem früheren Leben interpretiert. Ferner wird behauptet, daß dieser Individualismus dauerhafte Gruppenbildung und kooperative Zusammenschlüsse verhindert habe.
Solche Argumente stellen jedoch eine unzulässige Vereinfachung der komplexen Zusammenhänge zwischen Kultur und politischem Verhalten dar. Genausogut ließen sich demokratieförderliche Elemente des Buddhismus anführen: z. B. die dieser Religion eigene Toleranz oder das von der Orthodoxie postulierte Gleichheitsgebot in der Sangha, der Ordensgemeinschaft der buddhistischen Mönche. So hat Sri Lanka, ein Land, das wie Thailand ebenfalls stark vom Theravada-Buddhismus beeinflußt wird, seit über einem halben Jahrhundert sehr wohl partizipative Strukturen hervorgebracht. Ja, es waren gerade die buddhistischen Klöster, von denen noch vor der Unabhängigkeit des Landes unüberhörbare Forderungen nach Demokratie und Mitbestimmung ausgingen. Auch in Burma kristallisierte sich der buddhistische Klerus im letzten Jahr als Träger des Widerstands gegen die marode Ne Win-Despotie heraus, und in Thailand entstanden zwischen 1973 und 1976 linksgerichtete Mönchsgruppierungen, die für eine Demokratisierung der Sangha sowie für die Rechte unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen eintraten und zum Teil enge Beziehungen zu den damals neu formierten (allerdings kurzlebigen) sozialistischen Parteien unterhielten Der sozio-ökonomische Wandel in Thailand hatte ab Mitte der sechziger Jahre auch vor der Sangha nicht Halt gemacht. Zwar blieb die Mehrzahl der Mönche konservativ und beschränkte sich darauf, Buddhas Lehren zu studieren und zu verbreiten, doch traten nun zunehmend „modernizing monks“ in Erscheinung, die die Auffassung vertraten, daß die Sangha eine größere Rolle als Entwicklungsagentur spielen müsse. Schließlich bleibt abzuwarten, inwieweit sozio-ökonomische Modernisierung nicht säkularisierende Wirkung entfaltet und so demokratiefeindliche religiöse Inhalte im Laufe der Zeit abschwächt. Es ist wohl kaum ein Zufall, daß gerade in Bangkok und anderen städtischen Zentren die Religiosität der Bevölkerung stark nachläßt.
All dies soll nicht heißen, daß es nicht doch Strukturen im thailändischen Buddhismus gibt, von denen anti-demokratische Wirkungen ausgehen. Diese liegen jedoch weniger in der Lehre selbst begründet, als vielmehr in der Art und Weise, wie diese vom Staat für Herrschaftszwecke instrumentalisiert wurde. Seit jeher stand der Buddhismus — vermittelt über das Königtum — in einer engen Beziehung mit der weltlichen Herrschaft. Während die weltlichen Eliten den Buddhismus materiell förderten, war die Sangha eine der zentralen Legitimationsquellen politischer Herrschaft. Der Staat sieht in einer starken Sangha ein wichtiges Instrument zur sozialen Integration und einen effektiven Schutz gegen fremde Ideologien (d. h. in erster Linie marxistisches Gedankengut). Daher auch die weitgehende bürokratische Kontrolle des Staates über die Sangha und die ihr übergestülpte hierarchische Organisationsstruktur, die keinesfalls in Einklang mit der orthodoxen Lehre steht. Erst die Instrumentalisierung durch autokratische Herrschaftsformen — z. B. durch das absolute Königtum vor 1932 oder später die Sarit-Diktatur — ließen den Buddhismus mit Hilfe der konstruierten Triade Monarchie, Nation und Religion als anti-demokratische Kraft erscheinen Die Berufung konservativer und reaktionärer Kräfte auf diese Staatsideologie — so zwischen 1973 und 1976 bei ihrem Versuch, überfällige gesellschaftliche Strukturreformen zu vereiteln — verstärkten dieses Bild.
Während der Buddhismus für sich allein nicht überzeugend als Hindernis für die Herausbildung demokratischer Willensbildungsprozesse angeführt werden kann, kommt den traditionellen Autoritätsund Machtvorstellungen wesentlich mehr Plausibilität zu Macht und Autorität werden in Asien positiver bewertet als im Westen. Vor dem Hintergrund der wiederholten Erfahrung von Chaos und Anarchie sowie von „primitiver Macht“ bedeuteten Macht und Autorität immer zugleich auch Schutz. Aufgabe des hinduistischen Gottkönigs etwa (ein Konzept, das auch in Thailand Fuß gefaßt hatte) war es, Unglück und Leid durch den Einsatz seiner Macht und mit Hilfe entsprechender Rituale von seinen Untertanen femzuhalten. Macht diente hier als Mittel, Mensch und Gesellschaft mit der kosmischen Ordnung in Einklang zu bringen — und erhielt so einen ganzheitlichen Stellenwert. Alle mußten bei der Durchführung der Rituale kooperieren, da die gesamte Gemeinschaft — nicht nur die Elite — in die kosmische Ordnung eingebunden war. Für Opposition, Kritik und Partikularismen blieb in diesen Wertvorstellungen kein Raum; vielmehr wurden sie als Angriff auf das soziale System in seiner Gesamtheit betrachtet. Hinzu kam, daß diejenigen, die über Macht verfügten, sich als Verkörperung des gesamten Sozialwesens verstanden. Macht besitzt im asiatischen Kontext eine paternalistische Dimension. Sie wird als einer Person inne-wohnend begriffen, als Statusmerkmal, nicht — wie im Westen — als in Institutionen und Ämtern begründet. Diese Macht wird immer als ambivalent empfunden. Sie kann schützend und wohlwollend sein, aber auch strafend und feindselig. Insofern versuchen Thais, in der gesellschaftlichen Hierarchie höher angesiedelte Personen durch formal korrekte Etiquette, d. h. die Bezeugung von Respekt, ja Unterwürfigkeit, gewogen zu stimmen Dort aber, wo mächtige Personen zu Objekten der Verehrung werden, kann nur schwerlich ein kompetitiver politischer Prozeß entstehen. Kritik wird hier nicht als Versuch verstanden, politische Alternativen aufzuzeigen, sondern lediglich als normabweichendes Verhalten und fehlender Anstand. Personen und Gruppen, die offen den politisehen Konsens in Frage stellen, werden daher schnell zu unwürdigen Außenseitern abgestempelt, die aus der Gemeinschaft entfernt werden müssen. Politische Prozesse sind damit nicht Ausdruck konfligierender Gruppeninteressen, sondern a priori auf Harmonie. Einheit und Konsens hin angelegt Weil Politik in Thailand ganz generell mit Kritik. Konflikt und Uneinigkeit assoziiert wird, werden politische Aktionen in weiten Bevölkerungskreisen mit einer negativen Konnotation belegt.
Faßt man nun alle diese Faktoren zusammen, besitzt Thailand dennoch recht günstige Chancen, sein politisches System dauerhaft zu liberalisieren. Sicherlich wird dies angesichts kulturell tief verwurzelter und über die familiäre Sozialisation tradierte, mithin langlebiger Autoritätsvorstellungen kein klassisches Westminstermodell sein. Dennoch könnte Thailand den für viele Entwicklungsländer typischen Circulus vitiosus von autoritärer Herrschaft, vorübergehender Öffnung und erneutem Coup durchbrechen — auch wenn der Machtverlust des Militärs sich mit Sicherheit nicht unbegrenzt fortsetzen wird. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen des Landes wird es weiterhin ein wesentlicher Machtfaktor bleiben. Allerdings wächst — je länger die derzeitige Liberalisierung andauert und damit an Legitimität gewinnt — auch für das Militär der Zwang, sich an parlamentarische Spielregeln der Konfliktregelung zu halten. Jedenfalls nehmen mit fortschreitender sozio-ökonomischer Modernisierung und anhaltender Liberalisierung die politischen Kosten der Repression unaufhaltsam zu. Das heißt aber nicht, daß die politische und wirtschaftliche Transformation Thailands gewissermaßen automatisch fortschreitet. Ob Thailand auf seinem Weg zu mehr Demokratie und zu dem Status eines Schwellenlandes erfolgreich sein wird, hängt letztendlich auch davon ab. daß sich die neuen, in die politische Verantwortung gelangten Sozialschichten nicht „nach unten“ abschließen und es der Regierung gelingt, die sozio-ökonomischen Probleme in den Griff zu bekommen.