I. Vorbemerkung
Es mag zynisch klingen und ist wohl dennoch richtig: Mittel-und langfristig haben die jüngsten Wahl-erfolge der Republikaner der freiheitlichen Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland einen wichtigen Dienst erwiesen. Sowohl in den Massenmedien als auch unter den Politikern aller Parteien hat ein Thema wieder Konjunktur, das seit längerer Zeit ausgeblendet war: Erscheinungsformen und Ursachen rechtsextremen Denkens in weiten Teilen der Bevölkerung.
Die Stimmengewinne der Republikaner sind allerdings nur Zeichen und Symptom für das vorhandene rechtsextremistische Potential und beschreiben keineswegs die Dimensionen des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus als soziale und politische Formation. Die Fassungslosigkeit prominenter Politiker und Journalisten an den Wahlabenden kontrastiert mit den Erkenntnissen, die Sozialwissenschaftler publiziert haben, die aber bis vor kurzem unbeachtet blieben. So kam bereits 1981 die SINUS-Studie zu dem Fazit, daß 13 Prozent der Wahlbevölkerung zum rechtsextremen Einstellungspotential zählen und „über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ verfügen. Wilhelm Heitmeyer wies in einer anderen Studie 1987 darauf hin, daß 16, Prozent der 16— 17jährigen zu einer „rechtsextremistischen Orientierung“ neigen 2).
II. Zur Klärung des Begriffes Rechtsextremismus
Im Zusammenhang mit der Bewertung der Wahlerfolge der Republikaner ist es im öffentlichen Sprachgebrauch zu einer permanenten Vermischung bzw. Gleichsetzung der Begriffe Neonazismus, Neofaschismus, Rechtsradikalismus, Rechtskonservatismus und Rechtsextremismus gekommen. Der Standpunkt war oft abhängig von den jeweiligen politischen Interessen des Betrachters.
Aufgrund heuristischer und didaktischer Erwägungen erscheint es sinnvoll zu sein, mit der Kategorie Rechtsextremismus zu arbeiten und diesen Begriff eindeutig zu klären. Die SINUS-Studie hat erstmals nach Theodor W. Adornos Autoritarismus-Skalierung für die Bundesrepublik versucht, anschaulich zu umschreiben, worin sichrechtsextremes Denken, Fühlen und Handeln manifestieren.
Für ein rechtsextremes Weltbild werden in der SINUS-Studie fünf Faktoren genannt: 1. Die Dominanz eines reaktionären Menschenbildes mit starken aggressiven Grundstrukturen gegen Minderheiten (Homosexuelle, Asoziale, Menschen mit abweichendem Habitus) bei gleichzeitiger Betonung von Zucht, Ordnung, Männlichkeit und Autorität. 2. Latente Bedrohungsängste, mit den Anforderungen der bundesdeutschen Gesellschaft nicht fertig zu werden. Diese Angst richtet sich gegen die genannten Minderheiten und Außenseiter, die als Sündenböcke herhalten müssen. 3. Ein starkes Streben nach Harmonie und Konfliktfreiheit bei gleichzeitigem Ablehnen von Künstlern, Intellektuellen und Parteien, die in der Tradition der Aufklärung stehen. Wunschbild ist eine Staats-und Volksgemeinschaft, in der Pluralismus und Parteienkonkurrenz fehlen. 4. Eine rigide Werte-Hierarchie, in der Volk. Vaterland und Familie dominieren. 5. Eine Art „Siegfried-Komplex“, nämlich die Erfahrung, daß die in Punkt eins bis vier genannten Einstellungen augenblicklich nicht durchsetzbar sind und der „echte“ Deutsche eine Märtyrer-Rolle zu übernehmen und Opfer zu bringen hat, bis die Feinde Deutschlands (Juden, Freimaurer, Russen. Amerikaner, linke Journalisten) ausgeschaltet sind
\ . .
Trotz der gelegentlich geäußerten wissenschaftlichen Methodenkritik gegenüber der Faktorenkonstruktion der SINUS-Studie enthält dieser Versuch einer inhaltlichen Umsetzung der Worthülse „Rechtsextremismus" drei Vorteile für das Verständnis psycho-politischer Prozesse: a) Rechtsextremismus im Sinne der SINUS-Studie ist keine politisch-programmatische Ideologie einer Partei oder Bewegung, sondern eine politische Mentalität gegenüber dem „unübersichtlichen“ Alltag und dessen Bewältigung. Daraus erklärt sich auch, warum über Jahre hinweg rechtsextremistische Wähler durchaus andere Partei-Präferenzen haben konnten, solange es nicht das organisatorische Sammelbecken der Republikaner gab. b) Verhaltensweisen, Einstellungen und Denkmuster rechtsextremistischer Strukturen sind primär emotionale Relikte und Konstrukte des alltäglichen Lebens, die in gemildeter Form auch demokratische und liberale Personen aufweisen So dürften z. B. Werte wie Volk, Vaterland und Familie auch 1989 von den Deutschen in der Bundesrepublik mehrheitlich bejaht werden. Entscheidend ist jedoch das Ausmaß ihrer Verabsolutierung. Bei rechtsextremen „Charakteren“ konzentrieren sich die oben genannten fünf Faktoren zu einem pseudo-logischen Weltbild, das kaum zu durchbrechen ist. Folgerichtig deutete die SINUS-Studie an, daß die Skalierung zwischen autoritativ-konservativer Grundeinstellung bis hin zur rechtsextremistischen Position eben auch eine Frage der Kombination und Fokussierung der einzelnen Faktoren ist. Die relativ problemlose Wanderungsbewegung konservativer Wähler zu den Republikanern findet somit eine schlüssige Erklärung, weil im Bewußtsein der Wähler diese Gruppierung nicht den „braunen Sumpf“ verkörpert, sondern seriöse Anlaufstation von gleichgesinnten und gleichgestimmten „normalen“ Deutschen bildet. In einer Milieustudie hat Bartholomäus Grill den typischen Wähler der Republikaner als den „netten, ruhigen Nachbarn von nebenan“ charakterisiert c) Rechtsextremismus ist folglich nicht gleichzusetzen mit Neofaschismus oder Neonazismus, obwohl er sich aus fast identischen triebpsychologischen Identitätsbrüchen ableitet. Jemand kann durchaus rechtsextremistisch denken, fühlen und handeln, ohne historische Anleihen beim Nationalsozialismus zu machen, was sich insbesondere bei der gegenwärtigen Kinder-und Jugendgeneration zeigt. Anders formuliert: Neofaschistische Idole, Vorbilder, Symbole und Organisationsformen sind nicht mehr als der geschichtlich tradierte Randbereich des Phänomens Rechtsextremismus, der eben seit jeher breite Schichten der Bevölkerung umfaßt hat und sich nicht nur aus dem Wählerpotential der NPD und DVU zusammensetzt. Der „Wahlschock“ der etablierten Parteien resultiert offensichtlich aus der wirklichkeitsverzerrten Gleichsetzung von Neofaschismus/Neonazismus und Rechtsextremismus, während die sozialwissenschaftlichen Analysen diese Nicht-Identität spätestens seit Adorno nachgewiesen haben.
Bei seiner Untersuchung über „rechtsextremistische Orientierungen“ von 16— 17jährigen Jugendlichen hat Wilhelm Heitmeyer im Gegensatz zur SINUS-Studie Rechtsextremismus definiert als „Gegenentwurf 4 zur demokratischen, aufklärerischen Politik mit den zwei Grundelementen der „Ideologie der Ungleichheit als zentralem, integrierendem Kernstück“ (Teilaspekt: Selbstübersteigerung, Fremdenfeindlichkeit, Recht des Stärkeren. Ausgrenzung des „Andersseins“) sowie einer „Gewaltperspektive und -akzeptanz als zentralem, integrierendem Kernstück . . . politischen Verhaltens“ Die entscheidende Weiterführung Heitmeyers liegt in dem Dualismus von ideologischen Deutungsmustern plus verhaltensbereiter Gewaltdisposition als Regelungsmechanismus des Alltags. Die SINUS-Studie hat diese klare Differenzierung von gedanklich-gefühlsmäßigen Versatzstücken und konkreter Verhaltensebene nur immanent in den fünf Faktoren angedeutet und unscharf als „Weltbild“ tituliert, während Heitmeyer auf der analytischen Unterscheidung von Ideologie und Gewalthandeln besteht. Es eint jedoch beide Ansätze, daß sie erstens Rechtsextremismus viel weiter fassen als das parteipolitisch-programmatische Umfeld von entsprechenden Organisationen und Parteien, daß sie zweitens Rechts-extremismus als Wechselwirkung gesellschaftlicher Strukturen und subjektiv-individueller Reaktionen interpretieren und daß sie schließlich die Entstehung rechtsextremistischer Orientierungen als lebensgeschichtlichen, sozialisationsbedingten „Strömungsprozeß“ verstehen, der weder zwangsläufig noch gradlinig verläuft. Dieses dynamische Verständnis eines „soziologischen Rechtsextremismus“ scheint ein wissenschaftlich überzeugendes und die politische Pädagogik veränderndes Konzept zu sein, weil sowohl objektiv soziale als auch subjektive persönliche Aspekte Berücksichtigung finden. x So berechtigt in Detailbereichen der semantischen Skalierung Heitmeyers Kritik auch sein mag, es bleibt ein Faktum, daß die Aussage der SINUS-Studie aus dem Jahre 1981 — 13 Prozent der wahlbe-rechtigten Bevölkerung hätten ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ — mit den Ergebnissender SPIEGEL-Umfrage vom Februar 1989 völlig übereinstimmt, wonach 13 Prozent der westdeutschen Bevö Prozent der wahlbe-rechtigten Bevölkerung hätten ein „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“ — mit den Ergebnissender SPIEGEL-Umfrage vom Februar 1989 völlig übereinstimmt, wonach 13 Prozent der westdeutschen Bevölkerung den möglichen Einzug der Republikaner in den Bundestag „sympathisch“ finden 11).
III. Erscheinungsformen jugendlichen Rechtsextremismus
Das im vorangegangenen Kapitel erläuterte Verständnis des „soziologischen Rechtsextremismus“ als einer ideologischen Bewältigungsstrategie primär des Alltags, verbunden mit der Hinnahme oder Anwendung von Gewalt in Konfliktfällen, führt dazu, daß es außerordentlich vielfältige Phänomene rechtsextremer bzw. „autoritär-nationalisierender Orientierungen“ gibt. Während der Verfassungsschutz seit vielen Jahren die Aktivitäten und Organisationen des neonazistischen Umfeldes genau verfolgt und aufgelistet hat, wobei eine steigende Beteiligung junger Menschen festzustellen war, wurde der „soziologische Rechtsextremismus“ nur in wissenschaftlichen Studien dokumentiert.
Besonders beunruhigend ist, daß der organisierte Neonazismus kalkuliert Strategien entwickelt, um Jugendliche an sich zu binden. In einem Interview des Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatts vom Februar 1982 äußerte sich Michael Kühnen folgendermaßen: „Ich hoffe langfristig darauf, daß es gelingen wird, die Frage Umweltzerstörung und Überfremdung in eine einheitliche systemgegnerische Organisation zu bringen. Das wäre die strategische Langzeitrichtung, diese beiden Themen zusammenzukoppeln und damit gegen das System anzutreten. Das ist meine einzige Sicht, wie wir ’ne Massenbasis bekommen können.“ 12)
Jörg-Ingo Peter und Wilhelm Heitmeyer haben in einer weiteren Untersuchung kürzlich nachgewiesen 13), daß immerhin 59 Prozent von 250 befragten jugendlichen Fußballfans in Bielefeld „Befürworter autoritär-nationalisierender Orientierungen“ sind, von denen 20, 2 Prozent ihre politische Näme zur NPD herausstreichen, ohne Mitglied zu sein. Die folgenden zwei Interviewausschnitte offenbaren eine widersprüchliche, aggressiv-explosive Mischung: „Ich hab was gegen Leute, so eben, die politisch links sind. Die sich total von Deutschland und allem sich absetzen und alle als Nazis beschimpfen. Es ist bei mir eben so, daß ich so eine gewisse Aggression habe gegen solche Leute . . . Die , Falken* meinetwegen, die einen als Nazi ansehen; dann kommt es schon vor, daß ich mich da hinstelle und sage, na gut, ich bin ein Nazi, und was jetzt? Obwohl ich das im Grunde nicht bin, ganz sicher nicht. Ich halte von Adolf Hitler nichts. Es ist immer so eine Art Krieg auf einer anderen Ebene, das eine auf dem Fußballplatz, und das ist eben mehr so politisch ... Ich meine, , Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein*, diesen Aufnäher würde ich vertreten, warum nicht, ich weiß, was in der Vergangenheit passiert ist, aber ich meine, daß diese Vergangenheit genauso zu Deutschland gehört wie alles andere.“ (Maik, 18 Jahre) „Ja, ja doch gegen Ausländer auch, schon allein deswegen, weil das Ausländerproblem ist, glaub ich, ziemlich groß in Deutschland. Aber mir sind sie egal, solange sie mich in Frieden lassen, aber mir wär’s auch lieber, wenn sie nicht hier wären. Und genauso stolz wie Türken sind oder Italiener sind, und die zeigen es uns auch immer wieder, z. B. Türken, Italiener, Griechen, alle Ausländer sieht man auch nur in kleineren Gruppen, nie alleine durch die Stadt gehen, jedenfalls abends nicht, und naja, die pöbeln, motzen, machen unsere Frauen an, und das ist sowas, was mir nicht paßt, und warum soll ich mich denn nicht dazu bekennen, ein Deutscher zu sein? Das hat mit Rechtsradikalismus, glaub ich, gar nichts zu tun.“ (Lars, 18 Jahre)
Die Untersuchung von Peter und Heitmeyer warnt trotz des Nachweises von gewaltsamen, undemokratischen Orientierungen vor vorschnellen Etikettierungen der „Fußballrowdies“, die in erster Linie den Spaß und Erlebnischarakter der Fußballwochenenden betonen, und belegt, wie schwer sich letztlich doch der politische Neonazismus tut, systematisch in die Fußballgemeinden einzusickern und sich dort dauerhaft zu verankern.
Bei der schon erwähnten Jugendstudie Heitmeyers über „rechtsextremistische Orientierungen“ bei 16— 17jährigen unterscheidet der Autor fünf Kategorien von Orientierungsmustern: die Autoritär-Nationalistischen, die Verunsicherten, die Selbstsi-cher-Distanzierten, die Vorsichtig-Zustimmenden und die Selbstkritisch-Distanzierten, wobei er 2 Prozent den Autoritär-Nationalistischen und 34 Prozent den Verunsicherten zuordnet — ein Ergebnis, das weit über die bisherigen Dimensionen rechtsextremistischen Jugendpotentials hinausgeht 16). Teile eines Kurzporträts eines 16jährigen Krefelders aus der Gruppe der Autoritär-Nationalistischen lesen sich so:
„Die . Überlegenheit* der Deutschen mit ihren Eigenschaften sieht er in Gefahr, , weil der totale Egoismus herrscht*. Daher sollte es auch . straffer* zugehen. Die Erziehung der Jugend sollte härter sein. . Man sagt, Ordnung ist das halbe Leben. Die Menschenrechte sollten eingeschränkt werden*. , Die Gewalt sollte abgeschafft werden, schwache Menschen können nicht einmal abends auf die Straße*. Die Fortsetzung von Stereotypen findet sich in weiteren Bereichen: . Demokratie ist dummesGeschwätz*, daher plädiert er auch entschieden für den Gedanken einer einzigen Partei. , Es sollte Ordnung in Staat und Familie herrschen*. Daher ist auch die Forderung nach . Deutschland den Deutschen'für ihn fraglos: . Jeder Staat sollte sich selbst sein'. Damit soll der Begriff . nationale Identität* umschrieben werden, die er in einer spezifischen Form des Nationalsozialismus aufgehen sieht, so daß die Relativierung des Nationalsozialismus entschieden bejaht wird: . Ein Führer, keine Konflikte mehr, keine Gewalt, nur Disziplin*.“
Allerdings halten wir Heitmeyers Behauptung, seine Untersuchungsergebnisse unter Haupt-und Realschülern träfen unterschiedslos auch für Gymnasiasten zu. für unzutreffend. Eigene Erfahrungen und Befragungen bei Nürnberger Gymnasialschülemder achten, neunten und elften Klasse ergaben ein abweichendes Bild. Lediglich 7, 25 Prozent der 80 interviewten Schüler bejahten das Statement „Die Wahlerfolge der Partei der Republikaner in letzter Zeit finde ich gar nicht so schlecht“ und führten folgende Begründungen an:
»Weil sie vielleicht die Ausländer-und vor allem die Asylantenprobleme lösen. Aber es ist beunruhigend, daß sie so populär sind.“
„Weil so die Volksparteien eigentlich merken müßten, daß sie mit ihrer Politik der Versprechungen nichts erreichen. Andererseits finde ich es sehr beunruhigend, weil die Reps äußerst rechts sind, außerdem eine Führerpartei wie damals die NSDAP.“ „Weil meiner Meinung nach die Deutschen ruhig stwas stolz auf ihre Heimat sein dürfen. Seit Hitler ist jeder Deutsche, der ein bißchen Vaterlandsstolz zeigt, gleich ein Nazi. Ich finde, wir leben lange in der Unterdrückung. Auf keinen Fall dür— fen die Republikaner stärker werden, als sie es bis jetzt sind, es müßte nur ihre Richtung ein bißchen in die Politik aufgenommen werden.“ „Weil die Partei sich sehr um das deutsche Volk kümmert und die Wiedervereinigung anstrebt.“
Für das Statement „Mit dem Satz: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein, kann ich mich persönlich identifizieren“ konnten sich nur fünf Prozent der Schüler entscheiden, mit teilweise sehr unterschiedlichen Motiven: „Man kann als Deutscher doch stolz darauf sein, den weltweit höchsten Lebensstandard erreicht zu haben und ein ebenso gutes Sozialsystem zu besitzen.“ „Ich würde es gern. Meiner Meinung nach ist das deutsche Volk schon völlig durch die Medien umerzogen.“ „Weil ich finde, daß unsere Generation mit der Politik Hitlers nichts mehr am Hut hat und wir deswegen ruhig zugeben können, stolz zu sein, Deutsche zu sein. Die meisten meinen immer noch, ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil sie indirekt an der Gewaltpolitik Hitlers beteiligt waren. Man sollte sich endlich davon abgrenzen. **
Die Vermutung der SINUS-Studie, erhärtet an Sozialprofilen, daß mit zunehmender Bildung rechtsextreme Einstellungen an Zugkraft verlieren, halten wir für evident, weil Gymnasiasten ideologische Versatzstücke eher hinterfragen und gewaltlose Formen der Konfliktbewältigung besser kennen. Bei unserer begrenzten Befragung war es jedoch sehr auffällig, daß alle Schüler, die eine gewisse Sympathie für die Republikaner durchblicken ließen, ernsthafte Versetzungsprobleme hatten bzw. das Schuljahr bereits wiederholen mußten, ein Umstand, der darauf verweist, wie durch lebensgeschichtliche Identitätsbrüche neuer ideologischer Halt gesucht wird
Daß Schüler mit niedrigerem Bildungsniveau eher rechtsextremen Argumenten zuneigen, ergab auch unsere Befragung von Wirtschaftsschülern im Alter von 13 bis 15 Jahren. Von 36 der Interviewten gaben 25 Prozent an, auf sie treffe der Satz „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“ voll zu. Ihre Begründungen:. „Ich bin stolz, Deutsche zu sein, da die Deutschen, wenn das mit den Ausländern so weitergeht, bald in der Minderheit stehen.“ „Deutschland hat viel geleistet und geschaffen.“ „Franzosen sind auch stolz auf ihr Land, warum dann nicht wir Deutschen?“ Mit der Aussage „Die Parteien streiten nur, sie bringen nichts zustande. Wir brauchen einen starken Mann, der sich durchsetzen kann“ identifizierten sich 20 Prozent der Wirtschaftsschüler, offenbar enttäuscht von dem, was sie täglich aus den Massenmedien erfahren. Als B Prozent der Wirtschaftsschüler, offenbar enttäuscht von dem, was sie täglich aus den Massenmedien erfahren. Als Begründung wurden aktuelle Versäumnisse genannt wie: „Sie reden alle von Abrüstung und so, aber keiner macht wirklich etwas in Deutschland.“ „Zum Beispiel die Nordsee. Sie reden immer davon, daß sie etwas dagegen tun wollen, aber nichts machen sie.“
In persönlichen Gesprächen mit Wirtschaftsschülern wurde ebenfalls deutlich, wie stark die Akzeptanz rechtsextremer Parolen von der individuellen Situation abhängt, in der sich der einzelne befindet.
So hatten kurz vor der Europawahl acht Schüler in einer Abschlußklasse bekundet, für sie kämen nur die Republikaner in Frage, wenn sie einmal wählen könnten. Zu diesem Zeitpunkt gab es in der Klasse eine Reihe gravierender Probleme: Etliche Schüler fühlten sich überfordert, kamen mit einigen Lehrern nicht zurecht und befürchteten, die Mittlere Reife nicht zu schaffen. Als dann die Abschlußprüfung doch von fast allen bestanden und der Schulstreß vorbei war, bekannten mehrere der „RepAnhänger“ freimütig, sie fänden Schönhuber und seine Partei ziemlich idiotisch, eine Wahl dieser Partei sei gegenstandslos. Der erfolgreiche Schulabschluß hatte ihre Einstellung zur sozialen Umwelt und persönlichen Zukunft verändert.
IV. Ursachen des rechtsextremistischen Trends unter Jugendlichen
1. Sozialpsychologische Faktoren Der von Ulrich Beck geprägte Begriff der „Risikogesellschaft" 19) liefert ein erstes schlüssiges Konstrukt, das erklärt, warum immer mehr Menschen eine demokratisch-humane Politik-Orientierung verlieren und nach neuen Gewißheiten suchen. Beck hat präzise dargestellt, wie gnadenlos und systematisch die Industriegesellschaft Bundesrepublik einerseits „Individualisierung“ erzwingt, z. B. in den Bereichen Familie. Schule, Beruf und Freizeit, andererseits jedoch die im „Säurebad der Konkurrenz“ kollektiv erzeugten „Individuen“ in gesellschaftlich unsolidarische Vereinzelung und Isolierung entläßt. Die ehemals vorhandenen sozialen Kontinuitäten wie Familie, Nachbarschaft, Sport-verein oder Klassenzugehörigkeit sind „weggeschmolzen“, ohne daß neue identitätsstiftende Lebenszusammenhänge entstanden wären. Deshalb können immer weniger Menschen die Individualisierungschancen der „Risikogesellschaft“ realisieren und geraten, vor allem beim Auftreten sozioökonomischer Krisen, in den Sog von Ungleichheitsideologien, Ohnmachts-und Abhängigkeitsgefühlen. Das belastende Empfinden, das eigene Leben letztlich nicht bewältigen zu können, zumindest nicht auf Dauer, kumuliert dann in den bereits von der SINUS-Studie beschriebenen Bedrohungsängsten und macht für politische Lösungen anfällig, die angesichts einer undurchschaubar gewordenen Gesellschaft Sicherheit und Ordnung vortäuscht.
Heitmeyer u. a. haben mehrfach nachgewiesen, wie von Jugendlichen in der Pubertäts-und Adoleszenzphase die oben erwähnten Kontinuitäts-und Identitätsbrüche noch tiefer und schmerzlicher empfunden werden, zumal wenn ökologische und ökonomische Zukunftsperspektiven fehlen, so daß rechtsextremistische Orientierungen die Funktion von Bewältigungsstrategien erhalten: Gewißheiten über „Totalidentifikationen“, über „Normzuweisungen“, „surrogathafte Identitäten“ und „Positionen“. Die Einbettung in „kleinen Gemeinschaften“ bietet somit akzeptable Lösungen für „Norm-und Orientierungslosigkeit, Vereinzelung und Verlassenheit, Angstzustände, Macht-und Hilflosigkeit“ 20). 2. Sozio-ökonomische Faktoren Die bereits in der SINUS-Studie nachgewiesene überrepräsentativ hohe soziale Unzufriedenheit rechtsextremistischer Personen, ihre Angst vor Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard, findet Entsprechungen in den sozialen Ängsten der West-Berliner, die im Januar 1989 die Schönhuber-Partei wählten: 63 Prozent von ihnen hatten Angst vor Arbeitslosigkeit, 64 Prozent klagten über Wohnungsnot, 90 Prozent waren der Ansicht, in West-Berlin gebe es zu viele Ausländer. „Wenn Schönhuber die Reps ... als . Partei der kleinen Leute'rühmt, dann meint er jedenfalls vor allem das: kaputte soziale Milieus, schlecht behauste, von ihrer Arbeit frustrierte (oder .freigesetzte'), gelangweilte Menschen, die bei sich nicht mehr zuhause sind und denen man suggerieren kann, man sei der Fremden wegen in Deutschland insgesamt nicht mehr , chez soi‘. Vertriebene im eigenen Land.“ Daraus läßt sich ableiten, daß das subjektive Gefühl dieser Menschen von sozialer Ungerechtigkeit, Zukurzgekommensein, von Neid und Minderwertigkeit im Vergleich zur übrigen Gesellschaft eine Stimmung schafft, aus der heraus rechtsextreme Parolen als Scheinlösung Gehör finden. Offensichtlich reicht die sozio-ökonomische Notlage allein nicht als Bedingung aus, um rechtsextremistische Wahlentscheidungen herbeizuführen. Die hohen bayerischen Republikaner-Quoten bei den Europawahlen im Juni 1989 in Nürnberg (17, 6 Prozent), Augsburg (19, 6 Prozent), München (15 Prozent) oder Rosenheim (22, 1 Prozent) in Relation zu den Krisenregionen im Ruhrgebiet wie Dortmund (4, 6 Prozent), Duisburg (5, 3 Prozent), Herne (4, 7 Prozent) und Essen (4 Prozent) beweisen eindeutig, daß keineswegs die Tiefe der wirtschaftlichen Krise schlechthin für das Wahlergebnis entscheidend ist, sondern die subjektive Interpretation der persönlichen Lebenssituation hinzukommen muß. Ging es nur um objektive Notlagen, würden die Hochburgen der Republikaner und der DVU im Ruhrgebiet, im Saarland und in den norddeutschen Küstenstädten liegen und nicht in den süddeutschen Wachstumsregionen.
Analog dazu konnte Heitmeyer bei der Untersuchung rechtsextremistischer Orientierung von Jugendlichen konstatieren, daß man mit ausschließlich ökonomischen Erklärungsansätzen nicht weiterkommt, weil „sich Jugendliche, die sich in objektiv vergleichbaren Lagen befinden, so unterschiedlich orientieren“ Neben der sozio-ökonomischen Misere muß offensichtlich ein Bewußtseinsmilieu vorhanden sein, das die Notlage subjektiv überspitzt, emotional überinterpretiert und nach aggressiven Kanalisierungen Ausschau hält, um andere soziale Gruppierungen (Gastarbeiter. Aussiedler, Asylanten) verantwortlich machen zu können.
Resümierend läßt sich also vermuten, daß beruflich unqualifizierte Jugendliche und Erwachsene, Rentner mit geringen Bezügen, vom sozialen Abstieg bedrohte Berufsgruppen wie Arbeiter, kleine Selbständige und Bauern sowie Angestellte und Beamte ohne Aufstiegschance anfälliger für rechtsextreme Verführungen sind, weil sie ihre Lebens-umstände negativer interpretieren, als sie tatsächlich sind, und weil durch die Mythen über die Gefährdung des Sozialstaates infolge angeblicher Überfremdung ein einfaches Erklärungsmuster bereitsteht, das von der eigenen Reflexion über komplexe Lebenszusammenhänge entbindet. 3. Politische Faktoren Jüngste Umfragen haben ergeben: Nur 20 Prozent der Bundesbürger haben Vertrauen zu ihren gewählten Repräsentanten, 85 Prozent glauben, keinen oder nur sehr wenig Einfluß auf die Politik zu haben Der massive Vertrauensverlust, der sich als Folge politischer Affären und Skandale seit langem für die etablierten Parteien abzeichnet, hat auch bei Jung-und Erstwählern Spuren hinterlassen. Bei der Berlin-Wahl im Januar 1989 votierten 18, 9 Prozent der männlichen und 9, 1 Prozent der weiblichen 18— 23jährigen für die Republikaner Die Äußerungen vieler Jugendlicher über ihr Politik-und Demokratieverständnis lassen an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig: „. . . wenn man immer nur Versprechungen zu hören bekommt, daß der Arbeitsplatz gesichert ist, daß jeder Gleichberechtigung hat. Die Demokratie nützt uns heute nichts.“ „Die Politiker reden viel, aber es gibt trotzdem keine Verringerung der Arbeitslosigkeit. Das sind alles dicke Schweine, die ihren Arsch nicht voll kriegen.“ „. . . weil alles sowieso hinter unserem Rücken geschieht.“ „Die Demokratie, dummes Geschwätz.“
Wie wenig sensibel die etablierten Parteien auf Jugendproteste reagieren, zeigte die Tatsache, daß trotz der angeblichen Politiker-„Betroffenheit“ über die Wahlerfolge der Republikaner in der Woche nach den Europawahlen die Diäten erhöht wurden. Es hat ferner den Anschein, als entpersönliche sich die Willensbildung innerhalb der Parteien, was sich darin zeigt, daß nicht mehr für Menschen und deren Ideen geworben wird, sondern um quasi kommerzielle Produkte, nämlich Stimmen. Der persönliche Kontakt im Ortsverein ist auf das monatliche Einzugsverfahren bei der Bank reduziert worden; die Parteimitglieder informieren sich nicht durch Mandatsträger, sondern werden mit einer von Bonn aus zentral gesteuerten Papierflut beglückt. Die eigentliche politische Willensbildung findet vielfach beim Stammtisch, im Gesangs-und Sportverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr, bei den Schützen und Kaninchenzüchtern statt 4. Kultur-historische Faktoren Neben einer politischen Spaltung kann in der Bundesrepublik auch von einer kulturellen Spaltung im Bereich Musik, Theater und Literatur gesprochen werden. Zwischen den volkstümlich anheimelnden Klängen der Bierzelte und den Heimatschnulzen von Volksliedsängern einerseits und der aus den USA importierten Pop-und Rockszene andererseits klaffen ähnliche Welten wie zwischen den Inszenierungen der großen Theater und den Bauern-stücken in ländlichen Gemeinden. Eine demokratisch breit legitimierte kritische und selbstbewußte Volkskultur fehlt in der Bundesrepublik und wird weder von Parteien, Gewerkschaften noch Kirchen propagiert. Das geistige Zurückbleiben hinter den sozio-ökonomischen und industriellen Umwälzun-gen wird kulturell nicht aufgefangen und human integriert. Die Schlagwörter vom „Zukunftsschock“ oder „Kulturschock“ sind Ausdruck dieses Defizits. In das kulturelle Vakuum können mühelos okkultistische, magisch-spirituelle und inhumane politische Ideologien vorstoßen, da sie bei vielen Individuen keine zivilisatorische Immunschwelle durchbrechen müssen.
Die von Hans-Ulrich Wehler beschriebene „Entsorgung der deutschen Vergangenheit“, bei der in der Öffentlichkeit der Eindruck entstehen konnte, daß renommierte Historiker den Konsens über die historische Bewertung der Nazi-Vergangenheit auf-gekündigt hätten und an einer „Revision“ des geschichtlichen Stellenwertes des Dritten Reichs im Sinne einer „Schadensabwicklung“ arbeiteten hat ein übriges getan, demokratische Gemeinsamkeiten erodieren zu lassen. Unter diesen Vorzeichen wird es nachvollziehbar, wenn die „Schrecken der Vergangenheit“ verschwinden und Jugendliche ohne differenzierte Kenntnis der nationalen Vergangenheit eher zum manipulierten Objekt als zum autonomen Subjekt werden. „. .. und auf dem Fußballplatz ist es halt das Wort „Jude’. Dann hörst du das Wort halt, und irgendwann, wenn dann mal irgendwie ’n Scheißding passiert da auf'm Fußballplatz oder der Schiri macht ’ne Fehl entspheidung oder so, dann rutscht es halt raus . Du Jude, bist du bekloppt'? Auf dem Fußballplatz hat für mich das Wort „Jude'nicht mehr zu bedeuten als Arschloch oder Doofmann, das hat mit dem Volk überhaupt nichts zu tun.“
V. Gegenstrategien
Angesichts des komplexen Ursachenbündels über die Motive rechtsextremistischer Orientierungen erscheint es fast verwegen, einen Rahmen für Gegenmaßnahmen abzustecken. Andererseits bleibt eine Analyse, die sich nicht der Anstrengung unterzieht, Konsequenzen zu diskutieren, hinter den Anforderungen einer demokratisch-aufklärerischen Wissenschaft zurück Die folgenden Thesen sind lediglich als Anstoß gedacht und erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
Das Erscheinungsbild rechtsextremistischer Meinungen und Verhaltensweisen im Bereich der Jugendkultur ist so vielschichtig, daß sich jedes Patentrezept verbietet. Erst aus der Kenntnis und Genese der persönlichen oder gruppendynamischen Biographie können Modelle abgeleitet werden, die diesem Verhalten auf demokratische Weise begegnen. Am Beispiel des ehemals terroristischen neonazistischen Jugendlichen Gerald Wagener läßt sich ablesen, daß wirkliche persönliche Zuwendung und ein zwischenmenschliches Vertrauensverhältnis in den Rechtsextremismus abgedriftete junge Menschen zu politischer Umkehr und gesellschaftlicher Neu-Identifikation bewegen können Es wirkt sich sehr negativ aus, wenn die Jugendarbeit mit aggressiven Fußball-Fangemeinden aus Geldgründen aufgegeben wird, sobald einige der Rädelsführer ausgeschaltet sind und die weitere Zukunft Polizei-Einsätzen überlassen wird
Bestimmte Berufs-und Altersgruppen, die durch Belastungen der „Risikogesellschaft“ und persönliche Identitätsbrüche mit rechtsextremen Orientierungen liebäugeln, benötigen gesonderte Konzepte der geistig-kulturellen Zuwendung. Drohgebärden mit dem alten antifaschistischen Verdikt „Nazis raus“ u. ä. werden dem komplexen Sachverhalt in keiner Weise gerecht und verschärfen nur noch das Problem.
Gewerkschaften und Parteien nehmen sich zwar momentan sozialer Notlagen wie Wohnungsknappheit und Beschäftigungslosigkeit intensiver an als bisher, aber es bleibt zu befürchten, daß auf den Schock der Wahlerfolge der Republikaner primär wahltaktisch reagiert wird und nicht demokratisch-konzeptionell. Einen alarmierenden Beleg dafür bietet das Strategie-Papier der SPD Anfang dieses Jahres. Rechtsextreme Protest-und Orientierungswähler wollen keine sozialen Almosen oder sozialpolitische Feuerwehreinsätze, sondern eine überzeugende Verteilungspolitik. Wenn anläßlich der FORSA-Studie die im Dortmunder Norden massive Abwanderungen angestammter SPD-Wähler nachgewiesen hat, der nordrhein-westfälische SPD-Fraktionsvorsitzende Farthmann emotionale Werte wie „Heimat, Vaterland und den Wunsch nach Wiedervereinigung“ reklamiert wird sich zeigen, ob dahinter die notwendige Einsicht steht, in Zukunft emotionale Defizite zu beheben. Ob Volksparteien noch imstande sind, die Menschen der „Risikogesellschaft“ gefühlsmäßig zu integrieren, muß abgewartet werden. Schwedische Untersuchungen haben belegt: Die Hälfte der Kinder zwischen zehn und 14 kann sich einen biologisch „natürlichen“ Tod nicht mehr vorstellen, da sie an Erschießen, Erstechen, Überfahrenwerden oder Erwürgen gewohnt sind. Dieser Sachverhalt macht deutlich, wie notwendig es wäre, im Bereich von Videos und Fernsehen auch inhaltlich eine neue Medienpolitik zu verankern, die statt Gewaltdarstellung und -Verherrlichung bei Kindern undJugendlichen Leitbilder der Friedfertigkeit und Solidarität vermittelt. Die Fernsehspots im Rahmen der Aids-Aufklärung haben dokumentiert, daß im öffentlich-rechtlichen Fernsehen durchaus Potentiale schlummern, die die Übertragung von Erziehungsaufgaben rechtfertigen würden.
Die mehrfach zitierten Veröffentlichungen Heitmeyers veranschaulichen, wie genau und sachkundig mittlerweile die Jugendsoziologie gediehen ist. Zwischen dem sozialwissenschaftlichen Kenntnisstand der Experten und der politischen Umsetzung in Regierung und Verwaltung klafft allerdings ein „schwarzes Loch“. Bei Plenardebatten zum Thema Jugend herrscht in unseren Parlamenten meist gähnende Leere. Darum müssen Mechanismen durchgesetzt werden, die die Übernahme sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse durch die Politiker garantieren. Im Bereich der Natur-und Wirtschaftswissenschaften geschieht dies seit Jahren. Eine Wohlstandsdemokratie, die für Weltraumforschung und Landesverteidigung jährlich Milliarden zur Verfügung stellt, sollte in der Lage sein, entsprechende Programme für die humane Lebensgestaltung ihrer Kinder und Jugendlichen zu finanzieren.
Bildungspolitisch waren die letzten Jahre von Stagnationgeprägt. Fortschrittliche methodisch-didaktische Konzepte sind versandet oder wurden unter dem Ansturm von Curricula, die auf Effizenz und fachliche Spezialisierung getrimmt waren, wieder aufgegeben. An bayerischen Schulen ist z. B.der Pflichtkanon für das Fach Sozialkunde auf eine einzige Wochenstunde in der 10. Klasse zusammengeschmolzen. Politische Bildung wird vielfach als lästiges Anhängsel betrachtet, das in einer auf Textverarbeitung und Programmierung ausgerichteten Ausbildung stört. Abwehr und Immunisierungsfunktion gegen rechtsextremistische Orientierungen kann die politische Bildung wohl nur zurückgewinnen, wenn der Stellenwert gesellschaftsrelevanter Inhalte deutlich angehoben wird. Der von der kritischen Jugendarbeit in den letzten Jahren konzipierte erfahrungsbetonte Lem-und Bildungsbegriff müßte in die Schulen Eingang finden. Modelle der politischen Bildungsarbeit ohne Emotionen, ohne daß sich Schüler wohlfühlen, Spaß haben und Demokratie als phantasievollen, identitätsstärkenden Prozeß erfahren, werden jedoch fehlschlagen und nur neue Frustrationen erzeugen.
Initiativen wie „Rock gegen rechts“ oder „Sportler für den Frieden“ haben bewiesen, daß es auch jetzt noch Identifikationsträger gibt, die humane Positionen vermitteln. Überhaupt könnte dem Sport bei der Stärkung unserer demokratisch-freiheitlichen Rechtsordnung eine bedeutende Aufgabe zufallen, wenn Fair Play und ehrlicher Leistungswettbewerb wieder wichtiger wären als kommerzielle Vermarktung. Nach wie vor füllt der überwiegende Teil der Jugendlichen ihre Freizeit durch sportliche Betätigungen, so daß erfolgreiche Sportler, denen Demokratie und soziale Gerechtigkeit Anliegen sind, und dies auch offen kundtun, zu positiven Leitbildern für verunsicherte junge Menschen werden können.