Die jüngste Pressekonferenz des französischen Staatspräsidenten am 18. Mai 1989 hat sich im Zeichen einer symbolträchtigen zeremoniellen Innovation vollzogen. Der Empfangssaal im Elysee-Palast war erstmals mit dem Duo von Trikolore und Europa-Flagge geschmückt, und nicht zufällig beherrschten inhaltlich zwei große Themenkomplexe die von Franfois Mitterrand in dieser Konferenz präsentierten Visionen zur Außenpolitik Frankreichs: der Aufbau Europas und der Rang Frankreichs in der internationalen Machthierarchie. Drei Jahre zuvor hatte Franfois Mitterrand in seinen „Betrachtungen zur Außenpolitik Frankreichs“ ähnlich duale Gedanken zur Orientierung französischer Außenpolitik vorgelegt. Auch hier standen nationale Unabhängigkeit und europäische Mission Frankreichs im Zentrum der Reflexion.
Die Frage nach der Kompatibilität beider Ziele im Rahmen der französischen Außenpolitik liegt auf der Hand. Dies um so mehr als Frankreich sich heute als führende Macht definiert im Streben nach raschen Fortschritten der europäischen Integration hin zur politischen Union. Wie aber ist das Drängen nach beschleunigter Vollendung des europäischen Binnenmarktes, nach Schaffung einer Wirtschaftsand Währungsunion (die, so die Pläne der Delors-Kommission, in naher Zukunft zur Errichtung einer Europäischen Zentralbank führen soll), vereinbar mit den Idealen nationaler Unabhängigkeit, wie sie die Gedankenwelt des französischen Präsidenten prägen? Nach den bekannten Kalkulationen, die der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors, vor dem Europa-Parlament dargelegt hat, müßten sich im Verlauf der nächsten zehn Jahre 80 Prozent der wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungskompetenzen der Nationalstaaten auf Gemeinschaftsebene verlagern.
Die Ambivalenz französischer Außenpolitik ist nicht nur ein semantisches Problem. Nationale Superfestivals wie die jüngsten Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der französischen Revolution geben zu denken und regen zu Fragen an — nicht nur nach dem Entwicklungsstand einer europäisch-politischen Kultur. Wie umfassend ist eigentlich das Europa-Engagement Frankreichs? Wie tiefgreifend ist der Wandel, den heute Frankreich als „Motor der Integration“ trägt? Die folgenden Ausführungen sind ein Versuch, Antwort auf diese Fragen zu finden (Fragen, die gewiß mit ähnlicher Dringlichkeit auch an die Bundesrepublik zu richten wären). Zwei Untersuchungsebenen bieten sich an: Die eine bezieht sich auf das aktuelle Feld der EuropaPolitik Frankreichs. Welche Interessen tragen dieses prononcierte Europa-Engagement, und welche Reichweite ist diesem zuzuschreiben? Die andere Untersuchungsebene richtet sich auf das Kontrast-spektrum der klassischen Bastionen nationaler Unabhängigkeit und der mondialen Mission Frankreichs: die Sicherheitspolitik und das Engagement in der Dritten Welt. Es geht um das Aufzeigen von Veränderungstendenzen, die als das Resultat eines wachsenden Europa-Engagements — will es glaubhaft sein — zwangsläufig auch hier zu Buche schlagen müßten. Die abschließenden auswertenden Überlegungen knüpfen an die aktuelle Debatte um die Harmonisierung von nationalen und europäischen Interessen Frankreichs an.
I. Europäische Dimensionen der französischen Außenpolitik
Das Verhältnis zwischen nationaler und mondialer sowie europäischer Mission Frankreichs hat im Laufe der Entfaltung der Außenpolitik der V. Republik unterschiedliche Akzente gewonnen. Für de Gaulle hatte die nationale und mondiale Komponente eindeutig Vorrang vor der europäischen.
Europäische Kooperation war aus seiner Perspektive eine fundamentale und notwendige Rahmenbedingung französischer Außenpolitik; aber die Einfügung Frankreichs in ein supranationales Arrangement war für ihn wirklichkeitsfremd und inakzeptabel. „Gibt es denn ein Frankreich, ein Deutschland, ein Italien, ein Holland, ein Belgien, ein Luxemburg, das bereit wäre, in einer bedeutsamen nationalen oder internationalen Frage etwas zu akzeptieren, was ihm schon deswegen schlecht erschiene, weil es ihm von anderen befohlen wurde?“ fragte de Gaulle in seiner Pressekonferenz vom 15. Mai 1962 um seine Präferenz für den von der Fouchet-Kommission vorgelegten Plan für ein kooperatives Europa der Staaten zu begründen. Und drei Jahre später geißelte er mit noch heftigeren Worten das „wirklichkeitsfremde Projekt“, Europa unter das Regiment eines „technokratische(n) vaterlandslose(n) und niemand verantwortlichen Areopag“ zu stellen 1, Entwicklungen nach de Gaulle Pompidou und Giscard d’Estaing haben als Präsidenten die negativen Akzente der gaullistischen Europa-Politik nicht wiederholt. Beide haben der Entwicklung der EG wichtige neue Impulse verliehen. Pompidou hatte in Den Haag (1969) den Weg für den Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft freigegeben und das (rasch gescheiterte) Projekt der Wirtschafts-und Währungsunion initiiert; Giscard d’Estaing konzipierte mit Helmut Schmidt das Europäische Währungssystem. Dennoch ist nicht zu übersehen, daß beide Präsidenten einem pragmatischen kooperativen Europa den Vorzug gaben und letztlich supranationale europäische Experimente, die den unabhängigen nationalen Handlungsspielraum französischer Außenpolitik gravierend hätten einschränken können, ablehnten. Projektionen über Frankreichs Stellung in der internationalen Machthierarchie waren ihnen ebenso geläufig wie Bekenntnisse zur europäischen Solidarität. Eine Ambivalenz der Rhetorik, die übrigens F. Mitterrand unbefangen von seinen Vorgängern übernommen hat, wie seine Erklärung über Frankreichs internationale Spitzenstellung andeutet; sie greift in manchen Passagen fast wörtlich aufzehn Jahre zuvor von Giscard d’Estaing verwendete Formulierungen zurück, allerdings bereichert um de Gaulles berühmte Kategorie des „Ranges“: „Frankreich muß seinen Platz in der Welt behaupten. Es nimmt unter den Nationen der Welt einen hohen Rang ein. Es ist heute und war immer eines der vier oder fünf ersten Länder weltweit, was wirtschaftliche Entwicklung . , . angeht. Es steht sicher an vierter Stelle, was seine Exportfähigkeit angeht. Es ist die dritte Militärmacht . . ."
Unter den großen, in der Europa-Politik engagierten Franzosen hat nur Jean Monnet der Europa-MissionFrankreichs eindeutig Vorrang verliehen und dem Kurs der Integration in die „Vereinigten Staaten von Europa“ — zumindest in seinem frühen Denken — klare Priorität zugeschrieben Bekanntlich hat de Gaulle Jean Monnet als „großen Amerikaner“ deklassiert; auf Initiative Präsident Mitterrands aber ist Jean Monnets Asche im November 1988 in das Pantheon in Paris überführt worden, und das Jahr 1988 — in dem Jean Monnet 100 Jahre alt geworden wäre — wurde zum „Europäischen Jahr Jean Monnets“ erklärt. Damit stellt sich die Frage, inwieweit die gegenwärtige Wieder-entdeckung des Vaters des Schumanplans und der Supranationalität als mehr als ein lediglich symbolischer Akt zu bewerten ist. Hat unter der Präsidentschaft Francois Mitterrands die französische Europa-Politik qualitativ neue Akzente gewonnen?
Beobachter der französischen Außenpolitik der achtziger Jahre zeigen sich zumeist geneigt, die Europa-Politik Frankreichs unter Mitterrand vornehmlich unter dem Vorzeichen der Kontinuität gegenüber der prägenden Tradition der Vorgänger zu betrachten; Mitterrand wird zwar ein pragmatisches Interesse an europäischen Reformen (z. B. im Bereich von Sozial-, Regional-, Agrar-, Technologie- und Forschungspolitik) zugeschrieben, aber kein Interesse an grundlegenden Veränderungen des Systems der Gemeinschaft Doch wo wäre, dieser Perspektive folgend, derjüngste französische Einsatz für den Europäischen Binnenmarkt anzusiedeln?
Bekanntlich hat sich die Reformpolitik, die die Sozialisten aus ihrer Oppositionszeit in die Regierungsverantwortung zu transferieren suchten, bescheidener ausgenommen als mancher erwartet hatte. Von der Sicherheitspolitik bis hin zur Entwicklungspolitik hat sich im außenpolitischen Bereich sehr rasch ein starkes Element der Kontinuität durchgesetzt; innenpolitisch haben hingegen die unverminderten Strukturschwächen der französischen Wirtschaft und ein dramatisch wachsendes Handelsbilanzdefizit den linkskeynesianischen Reformansätzen der Sozialisten einen Strich durch die Rechnung gemacht. Mitterrands Einschwenken auf den konservativ-liberalen wirtschaftspolitischen Kurs der europäischen Nachbarländer vollzog sich im Schatten dieser Erfahrung. Die dritte Abwertung des Franc seit RegierungsÜbernahme der Sozialisten (1981) im Verbund des Europäischen Währungssystems im März 1983 markierte die endgültige Wende der Reformexperimente sozialistischer Konjunkturpolitik und ihre Anpassung an den restriktiven Austeritätskurs der Nachbarländer. Eine Wende, die jedoch nicht ohne Konsequenzen für das europapolitische Engagement Mitterrands bleiben konnte und somit nicht ohne weiteres in die Kontinuitätsthese zur französischen Außenpolitik einzufügen ist. 2. Die Wiederbelebung des Europa-Gedankens in den achtziger Jahren Sowohl in seinen „Betrachtungen“ über die französische Außenpolitik von 1986 als auch im Rahmen derjüngsten Pressekonferenz vom 18. Mai 1989 hat es Franfois Mitterrand nicht versäumt, den bedeutenden Anteil seiner Administration an der Wiederbelebung der von Agrarüberschüssen, Haushalts-querelen, Währungs-und Erweiterungsturbulenzen krisenhaft gezeichneten EG hervorzuheben. Und in der Tat, die entscheidenden Initiativen zur Reform der Europäischen Gemeinschaft in den Jahren 1984/85, die schließlich in der Einheitlichen Europäischen Akte (1987) und dem Binnenmarkt-Projekt der Kommission Substanz gewannen, waren mit getragen von starken französischen Bemühungen unter der Doppelregie von Jacques Delors und Franpois Mitterrand.
Mitterrand, der sich 1984, dem Jahr der Europa-Wahl, auf dem Tiefstand seiner Popularität in Frankreich befand, hat auf dem Gipfel von Fontainebleau im Juni 1984 entscheidende Initiativen zur Weiterentwicklung der EG ergriffen. Die wichtigen Anstöße zur Lösung der Beitragsquerelen mit Großbritannien, der Agrarmisere und der Probleme der Süderweiterung kamen damals von französischer Seite. Und ein Jahr später, auf dem Mailänder Gipfeltreffen, war wiederum Frankreich entscheidend beteiligt am Drängen auf Einsetzung einer Regierungskonferenz zur Änderung der Römischen Verträge — eine Initiative, die schließlich über das Luxemburger Gipfeltreffen (Dezember 1985) in die Reformen der Einheitlichen Europäischen Akte führte: Frankreichs wichtiger Beitrag zur Wiederbelebung (Relance) der EG in den achtziger Jahren ist unbestreitbar
Die französischen Interessen, die diese Erneuerung der achtziger Jahre getragen haben, sind vielschichtig. Sie beruhen nicht nur auf einem innen-und wirtschaftspolitischen Kalkül: Werben um die politische Mitte Frankreichs, Verbesserung des angeschlagenen präsidialen Profils, Modernisierung der Wirtschaft über das Projekt Binnenmarkt. Wer die Ergebnisse der vom Commissariat Gnral du Plan in Auftrag gegebenen Studie über „eine Europa-Strategie Frankreichs in den 80er Jahren“ überfliegt, stößt neben der Betonung der ökonomischen und sozialen, technologischen und monetären Herausforderungen (deren Bewältigung mit Hilfe neuer europäischer Initiativen für Frankreich als zwingend gesehen werden) insbesondere auf die Sorge vor den „deutschen Ungewißheiten“ (incertitudes allemandes), die den europäischen Reform-willen auf französischer Seite beflügelt haben: „deutsche Ungewißheiten“ im Hinblick auf die drohende Gefahr des „Abdriftens“ der Bundesrepublik aus der Europäischen Gemeinschaft aufgrund wachsender neutralistischer und pazifistischer Tendenzen oder gar als Ergebnis einer Verlagerung ökonomischer Interessen auf die weltweite Ebene Nicht zufällig hat Frankreich seine Bemühungen um die Aktivierung der sicherheitspolitischen Kooperation mit der Bundesregierung auf der Basis des Elyse-Vertrages von 1963 parallel zur Renaissance des Europa-Gedankens verstärkt. Die Bildung des deutsch-französischen Sicherheitsrates von 1983 ist ein zentraler institutioneller Ausgangspunkt in diesem Versuch.
Alles deutet darauf hin, daß Frankreich — anders als beispielsweise Großbritannien, das seine Interessen am Europäischen Binnenmarkt-Projekt immer aus der Perspektive eines international erweiterten Deregulierungsprogramms definierte — das Reformpaket von Einheitlicher Europäischer Akte und Binnenmarkt im Sinne langfristiger integrationspolitischer Kalkulationen forciert hat; das Bemühen um eine Verknüpfung von Markt-und Politikintegration ist fundamental eingeschrieben in die Delors-Strategie zur Vollendung des Binnenmarktes ebenso wie das Bemühen um den Stufenplan zur Realisierung der Wirtschafts-und Währungsunion. Die Wiederentdeckung von Jean Monnet im heutigen Frankreich ist somit mehr als ein zufälliger symbolischer Akt. Monnets funktionaler Integrationsansatz hat nicht nur den Schumanplan und die von der Messina-Konferenz (1955) und vom Spaak-Ausschuß ausgehende Wiederbelebung in Richtung auf die Römischen Verträge inspiriert. Auch die EG-Renaissance der achtziger Jahre ist vom Geist Jean Monnets entscheidend geprägt. Über Sinnhaftigkeit und Erfolgschancen der nochmaligen Auflage der technokratisch-ökonomistischen Monnet-Strategie im Rahmen der Neubelebung der heutigen EG wird noch zu diskutieren sein (siehe unten, Abschnitt IV); Monnet selbst hat gegen Ende seines Lebens Zweifel an der ökonomistischen Ausrichtung seiner funktionalen Strategie geäußert: „Wenn ich noch einmal anfangen könnte. würde ich bei der Kultur beginnen.“ Frankreich hat jedoch auf der Basis des Binnenmarktprojektes ein europäisches Engagement akzeptiert, das nicht ohne gravierende Rückwirkungen auf etablierte gaullistische Positionen nationaler Unabhängigkeit und mondialer Mission Frankreichs zu vertreten ist, wenn es seriös sein soll. Insbesondere die Sicherheitspolitik als Bastion nationaler und globaler Projektionen Frankreichs müßte von diesem Wandel in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie bietet sich als privilegiertes Medium der Kontrolle an, wenn es darum geht, die Reichweite des gegenwärtigen Europa-Engagements Frankreichs zu beurteilen.
II. Der französische Sicherheitskomplex
Francois Mitterrand hat die Verbindung zwischen europäischer Solidarität und französischer Sicherheitspolitik im Rahmen seiner jüngsten Pressekonferenz (18. Mai 1989) deutlich hervorgehoben, indem er zwischen einem europäischen Sofortprogramm in Einzelbereichen — Wirtschafts-und Währungsunion, soziales und kulturelles Europa, Umwelt, Europa der Bürger — und dem darauf aufbauenden Weg zu „neuen politischen Realitäten“ differenzierte, ein Weg, der „Konsequenzen — davon kann man natürlicherweise ausgehen — einer gemeinsamen Verteidigung“ notwendig impliziert. Gefragt, ob Frankreich nicht einen Beitrag zur Abrüstung leisten könne (z. B. durch Verzicht auf umstrittene Rüstungsprogramme wie die Atomversuche im Pazifik, Hades-Flugkörper, Neutronenbombe und schließlich die neue Generation strategischer U-Boote), verweist Mitterrand auf die prinzipiell autonome Abschreckungsstrategie Frankreichs für deren Glaubwürdigkeit diese Programme unverzichtbar seien.
In den „Betrachtungen über die Außenpolitik Frankreichs“ steht das Bekenntnis zur Einheit Europas ähnlich unvermittelt neben beschwörenden Worten zur nationalen Unabhängigkeit. Die französischen Streitkräfte werden als „drittstärkste Militärmacht der Welt“ gefeiert, die in ihrer Rolle als Garant der nationalen Unabhängigkeit Frankreich die Möglichkeiten verschaffen müssen, „jederzeit und an jedem Ort des Planeten vorgegebene Ziele zu erreichen“ „Mein Land ist unabhängig. Seine Abschreckungsstreitmacht untersteht ausschließlich dem Befehl des Präsidenten der Republik“, erklärte Mitterrand im September 1983 vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen Mit fast denselben Worten hatte er wenige Monate zuvor das Prinzip der nationalen Unabhängigkeit — „principe essentiel de notre souverainet" -vor dem Bundestag verteidigt, einem Gremium, das er im selben Atemzug auf neue europäische Initiativen einzustimmen suchte Im sicherheitspolitischen Bereich hat der französische Präsident den Gaullismus unter Verweis auf das ererbte fait accompli der Atomstreitmacht (Force de frappe) offensichtlich unbefangen übernommen. Europäische Solidaritätsbekenntnisse, insbesondere im Bereich der Verteidigung, lassen sich aber mit dieser bislang unwiderrufenen Grundposition nicht glaubhaft vereinbaren. Dennoch, auch die französische Sicherheitspolitik ist in den achtziger Jahren in Bewegung geraten und hat die europäische — und deutsche — Ebene nicht völlig übergangen. Doch wie tiefgreifend ist diese Metamorphose verlaufen?
Technologischer und geostrategischer Wandel ebenso wie ökonomische Zwänge haben schon in den siebziger Jahren dazu beigetragen, die drei Kernbereiche der gaullistischen Nuklearstrategie — Beschränkung der Verteidigung auf das unberührbare Sanktuarium des nationalen Territoriums. Abschreckung ohne Fixierung auf einen spezifischen Gegner (d. h. Rundumverteidigung nach dem Konzept von Ailleret), Eingrenzung der Verteidigungsoptionen auf die massive Vergeltung -aufzuweichen. Das Ideal der nationalen Unberührbarkeit und Handlungsfreiheit, das die Force de frappe verkörpern und sichern sollte, wurde von der wachsenden Einsicht in die Grenzen französischer Zweitschlagskapazität (trotz Ausbaus der nu-klearen strategischen Arsenale) zunehmend in Frage gestellt
Bereits unter Giscard d’Estaing erweiterte sich der Operationshorizont der französischen Streitkräfte auf Zonen von „vitalem Interesse“, ohne daß allerdings damit bindende Verpflichtungen gegenüber der Bundesrepublik akzeptiert wurden. Die Einführung taktischer Nuklearwaffen schuf, dem Vorbild der amerikanischen Strategie folgend, neue flexible Reformen und Optionen der Verteidigung und Vorwarnung. Schließlich konnte man auch nicht umhin, eine Feindbildfixierung nach Osten einzuleiten. Der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 hatte den hierfür notwendigen Anlaß geliefert.
Am Ende dieser Entwicklung steht nicht nur eine erweiterte und auch kostspieligere Palette strategischer und „prästrategischer“, d. h. taktischer Atomwaffen unter französischer Kontrolle, sondern auch die jetzt auch von den Sozialisten geteilte Einsicht, daß ohne massive amerikanische Nuklear-garantie für Europa und ohne ein konventionell abgesichertes deutsches Vorfeld die Force de frappe als Mini-Abschreckungsmacht keine Glaubwürdigkeit erlangen kann. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis, die zusätzlich durch die wachsenden ökonomischen Kosten der nuklearen Modernisierungs-und Diversifizierungsprogramme gefördert wurde, hat Frankreich unter Mitterrand den ambivalenten Weg in eine atlantisch-europäische Orientierung der Sicherheitspolitik eingeschlagen -ein Weg, der aber die Grundprinzipien der autonomen Abschreckungsstrategie und den mondialen Anspruch französischer Sicherheitspolitik bislang nicht in Frage gestellt hat. Die Kernelemente der sicherheitspolitischen Programmatik sind unter Mitterrand: Rückendeckung für die amerikanische Nachrüstung in Westeuropa, symbolische kleine Schritte zur bilateralen Kooperation auf konventioneller Ebene mit der Bundesrepublik — deutsch-französischer Sicherheitsrat, gemeinsame Brigade, schnelle Eingreiftruppe (FAR), gemeinsame Manöver etc. —, Ablehnung einer dritten Null-Lösung im Bereich nuklearer Gefechtsfeldwaffen und die Weigerung, die eigenen atomaren Systeme in mögliche Abrüstungsvereinbarungen einzubringen. Damit ist Frankreich in erster Linie auf die Konservierung des Status quo in Europa orientiert, der amerikanische nukleare Schutzschirm wird offensichthöher eingeschätzt eigene als die Feuerkraft „Wir leben zur Stunde von Jalta. Diese Realität diktiert uns die Hierarchie unserer Pflichten und unserer Interessen“ schreibt Francois Mitterrand 1986 im Schatten von Perestroika. Jalta, das ist das System der antagonistischen Supermächte, die sich Europa aufgeteilt haben, ohne Frankreich darüber zu befragen — eine Welt, die aber zugleich die ideale Konstellation bietet, in der sich ein auf die Symbolik der Force de frappe gestütztes Frankreich eine Nische der nationalen Unabhängigkeit und der Mondialität erhalten kann.
Politik der Kooperation gestaltet sich aus dieser Perspektive in erster Linie strukturkonservativ: einerseits bestimmt vom Primat der Einbindung der Bundesrepublik, deren Abschirmung gegen neutralistische und pazifistische Tendenzen im Kontext des atlantischen Bündnisses; andererseits getragen vom Primat des Nationalen gegenüber dem europäischen Handlungsrahmen. Daß der lang etablierte nukleare Sicherheitskonsens Frankreichs heute angesichts der Schwierigkeit, veraltete Bedrohungsvisionen glaubhaft zu vermitteln, und dank wachsender ökonomischer Lasten an Kohäsion eingebüßt hat, soll hier nicht ignoriert werden. Grundsätzlich aber hat sich — vor allem auf der Regierungsebene — der tiefverwurzelte „MaginotKomplex“ aus dem die Force de frappe hervorgegangen ist, nicht aufgelöst. Der Dualismus von nationaler Unabhängigkeit und europäischer Solidarität im sicherheitspolitischen Denken Mitterrands reflektiert das spannungsreiche Verhältnis historischer Erfahrung (von Waterloo bis zur Maginot-Linie) und struktureller Zwänge der Gegenwart — ein Spannungsverhältnis, das bislang nur symbolisch durch ein Bekenntnis zur europäischen Solidarität auflösbar erscheint.
Nationale Unabhängigkeit und mondiale Mission Frankreichs haben in der Force de frappe ihre stärkste Instrumentalität und Symbolik gefunden. Aber nicht nur der sicherheitspolitische Bereich französischer Außenpolitik bleibt vom Spannungsverhältnis zwischen dem Prinzip nationaler Unabhängigkeit und wachsenden europäischen Solidaritätsansprüchen gezeichnet. Frankreichs Sonderbeziehungen zur Dritten Welt bieten eine weitere wichtige Plattform dieser Ambivalenz.
III. Frankreichs Mission in der Dritten Welt
Wer von der Dritten Welt im französischen Kontext spricht, muß zunächst differenzieren: zwischen mondialen Ansprüchen, afrikanischer Realität und schließlich direkten territorialen Herrschaftsansprüchen, die Frankreich noch heute gegenüber seinen überseeischen Departements und Territorien erhebt, den Departements und Territoires d’OutreMer (DOM-TOM). Auf der deklaratorischen Ebene vertritt Frankreich traditionell universale Ambitionen mit der Tendenz, weltweit als Anwalt aller Unterdrückten zu fungieren.
Aufder realen politischen und ökonomischen sowie militärischen Ebene dagegen sind es die ehemaligen Kolonien in Schwarz-Afrika (Französisch Äquatorial-[AEF] und Französisch West-Afrika [AOF]), die zusammen mit den DOM-TOM fast exklusiv Frankreichs Engagement in der Dritten Welt absorbieren. Hier konzentriert sich auch der überwiegende Anteil französischer Entwicklungshilfe. Allein 80 Prozent der Mittel für technische Zusammenarbeit (TZ) werden von den ehemaligen Kolonien südlich der Sahara und im Maghreb absorbiert „Die über Jahrzehnte kaum veränderten Ziele der französischen Kooperationspolitik (Solidarität mit den ehemaligen Kolonialgebieten bzw. Bekenntnis zum . afrikanischen Erbe', Verbreitung französischer Sprache und Kultur, Sicherung militärischer und wirtschaftlicher Interessen) haben das Profil französischer Kooperationspolitik nachhaltig geprägt: Der hohe TZ-Anteil ist zugleich Instrument der Kulturpolitik und der Stabilisierung des Einflusses Frankreichs in seiner , chasse gardee'in Afrika.“ 1. Die afrikanische Interessensphäre Frankreich hat den Dekolonisierungsprozeß in Afrika nicht verhindern können. Alle Versuche, auch über transkontinentale Verfassungskonstruktionen wie die Union Franaise von 1946 oder die Communautö und Communaute Renove von 1958 und 1960 das Unabhängigkeitsstreben der afrikanischen Besitzungen integral oder auch assoziativ abzufangen, waren vergebens. Zwischen 1956 und 1962 löste sich das afrikanische Kolonialreich auf (nur die Komoren und Djibouti folgten erst 1975 bzw. 1976). Aber Frankreich hat es verstanden, diese Verluste zu kompensieren mit dem Aufbau einer klassischen Interessensphäre im Afrika südlich der Sahara — einer Einflußzone, die heute noch expansive Tendenzen aufzeigt, wie die Einbeziehung der ehemaligen belgischen Kolonial(Zaire) und Mandatsgebiete (Ruanda und Burundi) sowie die wachsenden Teilnehmerzahlen bei den jährlichen franko-afrikanischen Gipfeltreffen andeuten. Die Force de frappe ist das spatiale, Schwan-Afrika das terrestrische, die DOM-TOM bilden das maritime Standbein des französischen Mondialismus. „Die afrikanische Dimension der Macht Frankreichs war seit Ende des Zweiten Weltkriegs und insbesondere seit der Entkolonisierung entscheidend dafür, wie die französischen Präsidenten den Standort ihres Landes in der Welt definiert haben.“
Die Politik der dritten Kraft, die in Europa zu formieren Frankreich bislang versagt blieb, hat in der afrikanischen Einflußsphäre ihre kompensatorische Erfüllung gefunden, auch wenn die ökonomischen, militärischen und logistischen Kapazitäten -der militärische Einsatz im Rahmen des Shaba-Konflikts (Zaire) 1978 Heß sich z. B. nur mit amerikanischer Transporthilfe realisieren — für diese Mission mehr als begrenzt geblieben sind. „Ohne Afrika wird es im 21. Jahrhundert keine Geschichte Frankreichs geben“, schrieb Mitterrand 1957, damals in der Funktion als Minister für Überseefragen. 25 Jahre später, als Präsident der französischen Republik auf dem franko-afrikanischen Gipfeltreffen von Kinshasa sprechend, modifizierte er diese Worte, aber der Inhalt deutet in eine ähnliche Richtung: „Die Zukunft Afrikas ist von vorrangiger Bedeutung für die Sicherheit Frankreichs.“
Es gibt zahlreiche Bekenntnisse französischer Präsidenten zur franko-afrikanischen Schicksalsgemeinschaft, und Afrikapolitik ist ein besonderes Profilierungsfeld französischer Führung von de Gaulle bis Mitterrand geblieben. Im Hintergrund des französischen Afrikakomplexes stehen vielfältige Erfahrungen und Interessen. Nicht nur die koloniale Mission, auch die Erschütterungen zweier Weltkriege haben Frankreich mii Afrika aufs engste verbunden: Zunächst — im Ersten Weltkrieg -war Afrika funktional für Frankreich als großes Reservoir von Rohstoffen und vor allem von Menschen (275 000 Afrikaner kämpften zwischen 1914 und 1918 auf französischer, 372 000 auf britischer Seite) später — im Zweiten Weltkrieg — ge-wann die Bedeutung des Schwarzen Kontinents als strategische Rückzugsbasis Übergewicht (nur noch 80 000 Afrikaner kämpften im Zweiten Weltkrieg auf französischer Seite). Die Schlacht um das französische Kernland ging verloren, aber Afrika blieb strategische Reserve und Rückzugsbasis der Resistance. Brazzaville avancierte zur Hauptstadt des „freien Frankreich“, de Gaulle konnte von hier am 27. Oktober 1940 seinen „Conseil de Defense de I’Empire" kreieren. Leclerc, mit seinen Reserven aus dem Tschad anrückend, wurde zum Helden der Befreiung Frankreichs. „Ohne sein Empire wäre Frankreich heute nur ein befreites Land. Dank seines Empire ist Frankreich eine Siegermacht“, erklärte Gaston Monerville am 25. Mai 1945 vor der Assemblee Consultative Frankreich konnte zwar in Jalta übergangen werden, die „Teilung der Welt“ aber galt nicht für Afrika. Hier blieb Frankreich Sieger und Herr und übernahm die mondiale Rolle einer „Dritten Kraft“.
Das französische Selbstverständnis in Afrika — das bestätigt die oben zitierte Perspektive Mitterrands zum Sicherheitsinteresse Frankreichs in SchwarzAfrika — bleibt fundamental geprägt von der geostrategischen Optik des Zweiten Weltkrieges; eine Vision, nach der Afrika, begünstigt und nach Norden abgesichert durch den doppelten „Panzergraben“ von Mittelmeer und Sahara, in erster Linie als Rückzugsbasis und strategisches Reservat für den Gegenschlag im Ringen um die Vorherrschaft auf dem euro-asiatischen Kontinent ins Spiel kommt Allerdings heute mit dem Unterschied, daß inzwischen die Sowjetunion die Rolle des potentiellen Aggressors und damit des Katalysators französischer Mission auch im afrikanischen Kontext übernommen hat.
So hat sich im Ringen um die globalstrategische Reserve Afrikas die französische Entwicklungspolitik der post-kolonialen Ära aufs engste verzahnt mit dem Aufbau eines von den Kapverden bis hin zu den Komoren, von Dakar (Senegal) über Port Bouet (Elfenbeinküste) und Libreville (Gabun) bis hin nach Djibouti reichenden Netzwerks von militärischen Stützpunkten, Kooperationsverträgen, Ausrüstungs-und Ausbildungsprogrammen (Militärberater), die Frankreich, flankiert von seiner schnellen Eingreiftruppe FAR (Force d’action rapide) zum unbestrittenen „Gendarm Afrikas“ haben werden lassen
Uber Nutzen und Effizienz der zahlreichen militärischen Interventionen — über 22 im Verlauf der vergangenen 25 Jahre —, denen schließlich auch der von Giscard d’Estaing mitgekrönte Kaiser Bocassa (Zentralafrika) zum Opfer fiel, ist viel geschrieben worden. Daß eine eigenständige Entwicklung im frankophonen Afrika unter den Bedingungen der Dauerpräsenz des französischen Gen-darmes (und seiner Rüstungslieferungen) sowie der engen monetären Einbindung über die Communaute Financire d'Afrique (CFA) problematisch ist, liegt auf der Hand. Andererseits wird betont, daß Frankreich als Gegenmacht der Sowjetunion und Kubas sowie als Ordnungsfaktor im turbulenten Afrika nützliche Dienste leistet. Ökonomischen Nutzen kann Frankreich in nur noch sehr begrenztem Maße aus seinen ehemaligen afrikanischen Kolonien ziehen. Obgleich Frankreich strategisch wichtige Rohstoffe aus dem frankophonen Afrika bezieht (vor allem Uran aus Niger und Gabun, Erdöl aus Gabun und Kongo-Brazzaville), beschränkt sich der Außenhandel mit diesen Ländern auf einen sehr bescheidenen, in der Tendenz sinkenden Umfang; dies gilt auch für Schwarz-Afrika als Abnehmer französischer Rüstungsexporte
Grundsätzlich aber bleibt die Ambivalenz einer Mission, die sich prinzipiell in einem strikt nationalen Handlungsrahmen vollzieht, obgleich Afrika schon frühzeitig in die Römischen Verträge eingeschrieben wurde (vgl. Präambel und Artikel 131— 136) und gegenwärtig über die Lome-Konvention im Zentrum der europäischen multilateralen Entwicklungshilfe steht. Es gibt heute viele französische Europa-Initiativen; sie reichen von der Technologiegemeinschaft bis zur Wirtschafts-und Währungsunion. Eine Initiative Frankreichs zur Entwicklung einer gemeinsam konzipierten europäischen Strategie für Afrika, die den globalen Realitäten der Post-Jalta-Epoche Rechnung tragen könnte, ist ebenso schwer denkbar wie die „Europäisierung“ der Force de frappe. 2. Das „Konfetti des Empire“ Frankreichs Schicksal als globaler Akteur steht und fällt mit Afrika und der Force de frappe; nicht unerheblich ist allerdings der Beitrag, den die überseei-sehen Gebiete (DOM-TOM) zur Sicherung der Infrastruktur dieses Mondialismus leisten. Sie bilden die zweite Dimension der Dritten Welt, mit der das französische Kernland aufs engste verbunden ist
Als eigenständige Größe, ob in wirtschaftlicher oder demographischer Hinsicht, spielen die meisten dieser zahlreichen, über den Indischen Ozean (Reunion, Mayotte, die Karibik (Martinique, Guadeloupe, Französisch Guayana), den Atlantik (St. Pierre-et-Miquelon vor der Küste Kanadas) und den Südpazifik (Französisch Polynesien, Neu-kaledonien, Wallis und Futuna) verstreuten Besitzungen eine geringe Rolle; nur Neukaledonien mit seinen beachtlichen Nickelvorkommen durchbricht das Maß der Marginalität. Die DOM-TOM stellen mit rund 1, 7 Millionen Einwohnern nur drei Prozent der Gesamtbevölkerung Frankreichs, absorbieren aber nach den Statistiken der OECD jährlich etwa 25 bis 30 Prozent der französischen Entwicklungshilfe an die Dritte Welt. Klammert man die Landmasse der unbewohnten „Terres australes et antarctiques“ (439 603 qkm) aus, so bedecken die DOM-TOM eine Fläche von rund 120 000 qkm (das französische Kemland ist 547 026 qkm groß).
Ein Konfetti insularer Relikte aus kolonialer Epoche zu besitzen, ist nicht nur ein französisches Privileg. Insbesondere Großbritannien — wie der Falkland-Krieg zeigte —, aber auch die Niederlande, Portugal, Spanien, die USA, Australien und Neuseeland verfügen über insulare Restbestände kolonialer Provenienz, manche von ihnen, wie etwa Pitcairn unter britischer Schirmherrschaft im östlichen Pazifik mit seinen 72 Einwohnern, sind zu klein, um vom Dekolonisierungsprozeß erfaßt zu werden. Die Sonderheiten der französischen Verbindung mit den DOM-TOM liegen auf anderer Ebene: — Die meisten dieser Besitzungen sind mit Frankreich bereits über einen langen Zeitraum sehr eng verbunden. Sie gehören in die Kategorie der alten Kolonien, die, wie Reunion oder die karibischen Zuckerinseln, noch aus der Zeit des ersten Empire stammen. Nur die pazifischen Inseln sind Erwerbungen des 19. Jahrhunderts, also dem zweiten Empire zuzuordnen
— Frankreich hat diese über drei Ozeane verstreuten Besitzungen gemäß seiner kolonialen Tradition (unmittelbare Herrschaftsausübung, Assimilation) noch heute aufs engste administrativ, aber auch ökonomisch, militärisch und audio-visuell in die Metropole eingebunden. Die DOM-TOM sind parlamentarisch in Paris vertreten, die Übersee-Departements verfügen sogar über Repräsentanten im Straßburger Europa-Parlament. — Schließlich nehmen die DOM-TOM eine eminent wichtige strategische Bedeutung für Frankreich ein. Zum ersten bilden sie die Infrastruktur der Force de frappe: Französisch Polynesien bietet das maritime Testgelände der französischen Atomwaffen (Tuamotu Atoll), Kourou (Französisch Guayana) fungiert als französisches — und zunehmend europäisches — Raumfahrtzentrum, in dem die Trägersysteme der Force de frappe erprobt werden. Zum zweiten bilden die maritimen Stützpunkte gleichsam unversenkbare Flugzeugträger, über die sich Frankreich als weltweit operierende Militärmacht definiert: „Frankreich ist noch immer eine Großmacht, dank Kourou ist es eine Weltraummacht (puissance spatiale) und dank Mururoa eine Nuklearmacht. Es verfügt zudem mittelsseiner überseeischen Gebiete über die drittgrößte maritime Zone der Welt.“
Letzterer Aspekt der maritimen Bedeutung der DOM-TOM hat im vergangenen Jahrzehnt zunehmende Beachtung gefunden. Durch die Erweiterung der Meereswirtschaftszonen auf 200 Seemeilen ist Frankreich in der Tat zu einer maritimen Großmacht avanciert, mit einer Verfügungsgewalt über ozeanische Flächen, die an Umfang (11 Mio. km 2) dem zweiten Empire gleichkommen. Zwar haben die Pläne zur Ausbeutung dieser Ressourcen noch kein konkretes Stadium erreicht, der Glaube an die zukünftigen wirtschaftlichen Möglichkeiten ist dagegen ungebrochen und verstärkt den Willen zum bedingungslosen Festhalten an diesen überseeischen Besitzungen. Francois Doumenge, der gegenwärtige Präsident der prestigeträchtigen „Organisation de Recherche sur les Territoires d’Outre-Mer“ (O. R. S. T. O. M.) hat das folgendermaßen begründet: „Dank des neuen Seerechts besitzt Frankreich die drittgrößte Meereswirtschaftszone (EEZ) der Welt, vor den USA und der UdSSR. Wenn wir diese aufgeben, würde Frankreich damit sein Entre in das nächste Jahrtausend verspielen.“
Vieles deutet darauf hin, daß Frankreich nicht geneigt ist, seine Schicksalsgemeinschaft mit den überseeischen Besitzungen (ähnlich wie mit Afrika) zukünftig zu modifizieren bzw. zu lockern. Zu sehr sind sie Bestandteil und Grundlage eines noch akzeptierten mondialen Selbstverständnisses und einer mondialen Mission geworden, die allerdings wenig Konvergenz zeigt mit den gleichzeitig verfolgten Ansprüchen und Erwartungen auf europäischer Ebene. Gewiß, ökonomische Zwänge führen Frankreich auch im Bereich der DOM-TOM zur Öffnung gegenüber Europa. Die Subventionierung dieser zahlreichen abgelegenen und weitverstreuten Inseln, deren eigenständige ökonomische Entwicklung aufgrund ihrer Funktionalisierung im Kontext der französischen Globalstrategie und zentralistischer administrativer Eingriffe zerstört wurde und die alle mit hoher Arbeitslosigkeit — sie liegt in der Regel auf doppeltem Niveau des Kern-landes, auf Rdunion liegt sie sogar bei 32 Prozent — belastet sind, ist kostspielig. Die DOM-TOM bilden eine eigene Kategorie der Dritten Welt; sie sind hochsubventionierte Entwicklungsgesellschaften, die auf einem artifiziellen Niveau der Wohlfahrt gehalten werden, das in der Regel bei etwa 1000 US $pro Kopf im Jahr liegt
Eine europäische Lastenumverteilung hat diese Kosten bislang nur begrenzt dämpfen können. Die Übersee-Territoren sind in das Lom-Abkommen einbezogen; die Übersee-Ddpartements profitieren von den Strukturfonds der EG wie jede andere strukturschwache Region der Gemeinschaft. Aber neue Initiativen zur Vertiefung des finanziellen Engagements der Gemeinschaft sind in Vorbereitung. Die Kommission hat inzwischen den Entwurf eines besonderen „Programm(es) zur Lösung der spezifischen auf die Abgelegenheit und Insellage der französischen überseeischen Departements zurückzuführenden Probleme“ (POSEIDOM) vorgelegt
Frankreichs Privileg, über enge Beziehungen zur Dritten Welt zu verfügen, ist somit eine ambivalente Segnung. Die mondiale maritime Infrastruktur, die die DOM-TOM bieten, zwingt zum globalen militärischen Engagement über die Force de frappe hinaus. Um als Weltmacht glaubwürdig und operationabel zu sein, muß Frankreich seine weit-gestreute Interessensphäre auch konventionell verteidigen können. Europa wird aus dieser Perspektive zu einem Szenario neben anderen.
Nicht unerhebliche Teile der französischen Streitkräfte müssen die vielfältigen überseeischen Verpflichtungen zwischen Neukaledonien im Südpazifik (18 000 km von Paris) und Reunion, im Indischen Ozean (9 300 km von Paris) gelegen, absichern. Die Anfang der achtziger Jahre gebildete schnelle Eingreiftruppe FAR von derzeit 47 000 Mann ist nicht nur für den Überraschungseinsatz an der Elbe, sondern auch in Übersee ausgebildet; das gilt insbesondere für die in Südfrankreich und auf Korsika stationierten Einheiten. Das DOM-TOM-Szenario, zusammen mit der afrikanischen Interessensphäre, zwingt zur breiten Streuung und hochgradigen Diversifizierung von Streitkräften — eine Anforderung, die für eine Mittelmacht wie Frankreich, die zugleich ein wachsendes Arsenal von strategischen und prästrategischen Waffensystemen unterhält, nicht unproblematisch ist.
Aufgrund ihrer Einbindung in ein globalstrategisches Konzept werden die DOM-TOM zu unverzichtbaren Bausteinen der „unteilbaren Nation“; sie besitzen eine Funktionalität, die unvereinbar ist mit langanstehenden Dekolonisierungsforderungen, wie sie z. B. gegenwärtig auf Neukaledonien artikuliert werden. Insbesondere konservative Kreise in Frankreich reagieren sensibel auf die Separationsbestrebungen der Kanaken. Der Domino-Theorie folgend, wird eine kontinuierliche Auflösung der überseeischen Dependenzen, die auch vor Korsika nicht halt machen würde, als Schreckensvision an die Wand gemalt Frankreichs notorische Schwierigkeiten, mit dem Phänomen der Dekolonisierung umzugehen — die Loslösung von Indochina und Algerien vollzog sich in einem zehnjährigen Krieg —, birgt in sich ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotential für die Zukunft, das die europäische Handlungsebene nicht unberührt lassen kann. Sowohl im Südpazifik als auch im Indischen Ozean hat Frankreich, wie schon seit längerem in Afrika, die expansive Mission einer regionalen Ordnungs-und Interventionsmacht übernommen; Verpflichtungen, die nicht ohne weiteres mit einer vertieften europäischen Integration zu vereinbaren sind.
IV. Die große Illusion?
Die Fluchtlinien des französischen Mondialismus ließen sich weiterzeichnen, die „Frankophonie“ als wichtigste institutioneile Plattform der mondialen kulturellen Mission Frankreichs sollte in diesem Zusammenhang nicht übersehen werden. Kultur und Sprache haben eine lange Tradition der Instrumentalisierung im Ringen Frankreichs um Einflußsphären, und Schwarz-Afrika ist besonders gezeichnet vom Ehrgeiz französischer Assimilationsversuche, während Kanada die Frankophonie nutzbar macht, um Identität und Eigenständigkeit gegenüber dem mächtigen Nachbarn im Süden zu akzentuieren.
Daß mondiale Mission und nationale Unabhängigkeit im heutigen Frankreich mehr als nur ein rhetorisches, für Wahlkampfveranstaltungen und Presse-konferenzen genutztes Instrumentarium darstellen, haben die vorausgegangenen Betrachtungen verdeutlicht. Es gibt nicht nur psychologische Probleme im Umgang mit der Maginot-Erfahrung, sondern auch strukturelle Zwänge, die an Europa vorbeiführen: vermittelt über einen lang etablierten sicherheitspolitischen Konsens und eingeschrieben in das Netzwerk eines spatialen (Force de frappe), maritimen (DOM-TOM), terrestrischen (Afrika) und kulturellen (Frankophonie) Mondialismus.
Allerdings haben Enthüllungen der jüngsten Vergangenheit nicht unerheblich dazu bigetragen, einige Mythen zu zerschlagen, die das französische Projekt der Unabhängigkeit und Mondialität getragen haben. Das Prinzip der „independance“ im nuklearen Bereich war offensichtlich für Frankreich nur realisierbar im Rahmen einer engeren und sorgsam verdeckten nuklearen Kooperation mit den USA. Wie Ullmann aufzeigt, haben die USA seit 15 Jahren erhebliche technische Hilfe geleistet, um die Modernisierung und Diversifizierung der Force de frappe in für Frankreich tragbaren Kosten zu ermöglichen. Frankreichs erstaunliche Bereitschaft zur Kooperation mit den Vereinigten Staaten — am Persischen Golf, in Djibouti durch die Beibehaltung französischer Truppen nach amerikanischen Vorstellungen sowie im Rahmen der Unterstützung des Nato-Doppelbeschlusses — erscheint damit in einem neuen Licht. Man kann von einer großen Illusion der eigenständigen Sicherheit und Unabhängigkeit sprechen, aber auch von Problemen der europäischen Solidarität und des Vertrauens: „Frankreichs Verbündete haben allen Grund, sich die Frage nach der Festigkeit und Dauerhaftigkeit militärischer Verbindungen zu einer Regierung zu stellen, die nicht das Selbstvertrauen besitzt, deren ganzen Umfang ihrer eigenen Öffentlichkeit mitzuteilen.“
Gewichtiger aber erscheint das Problem der „Illusionen“ auf einer zweiten, spezifisch europäischen Ebene, die Alain Mine in seiner Streitschrift „La Grande Illusion“ angesprochen hat; mit ihr erfolgt die abschließende Frage nach der möglichen Versöhnung der dualen Komposition französischer Außenpolitik im Spannungsfeld von mondialer Mission und europäischer Solidarität. Bietet nicht das Projekt „Vollendung des Europäischen Binnenmarktes“ eine auf die Zukunft projezierte Vermittlung zwischen beiden Polen? Liefert doch der Glaube an den Binnenmarkt und die Dynamik seiner politischen Nebeneffekte eine attraktive (Zauber) -Formel, nicht nur für die Einbindung der „deutschen Ungewißheiten“, sondern zugleich auch für die Befriedung nationaler Ambitionen — die Modernisierung der französischen Industrie — bei gleichzeitiger Fixierung auf eine unverbindliche Zukunftsvision: die europäische Union. Birgt nicht der von Monnet geprägte funktionale Integrationsansatz, der im Binnenmarktprojekt gegenwärtig seine Renaissance feiert, eine — wenn auch ungewollte — Strategie der Selbsttäuschung? „La Grande Illusion“ erscheint in deutscher Über-setzung unter dem Titel „Die deutsche Herausforderung“. womit natürlich gewichtige Akzente dieses Buches verschoben werden. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem deutschen Phänomen zeigt Mine erhebliche Schwächen bzw. Befangenheit in spezifisch französischen Klischees über den östlichen Nachbarn. „Drang nach Osten“, „Anstieg des Neutralismus“, „Rückkehr des Mitteleuropa-Konzeptes“ — das Gespenst von Rapallo schwebt über allem, was nicht nur bedeutet, daß die gegenwärtigen deutschen Kapazitäten überschätzt werden, sondern daß Mine über eine äußerst statische — vermutlich von D. Calleo inspirierte — Vision internationaler Beziehungen verfügt, eine Sicht, die die strukturellen Veränderungen der Post-Jalta-Ära und insbesondere den Wandel in Osteuropa nicht zur Kenntnis nehmen kann. Mit einem Osthandel, der in der Regel fünf Prozent des gesamtdeutschen Außenhandels nicht überschreitet, relativiert sich zwangsläufig der deutsche „Drang nach Osten“. Die deutsche Einbindung in die westliche Welt, ökonomisch wie sicherheitspolitisch und kulturell, ist — wie im Falle Frank-reichs -ein fait accompli. Bleibt die Frage, wie diese Einbindung politisch überbaut wird.
Alain Mine bietet ansonsten gute Argumente, um die Wiederbelebung des Europa-Gedankens in den achtziger Jahren — damit ist in erster Linie die gegenwärtige Binnenmarktstrategie, die Frankreichwesentlich mitgetragen hat, gemeint — als illusionär zu betrachten:
-Illusion im Hinblick auf die Methode: das „marxistische Paradox“ — ein ökonomistisch technokratischer Glaube an die Macht des Marktes im Dienst politischer Zielsetzungen.
-Illusion auch im Hinblick auf die zu erwartenden Ergebnisse: Mines Stichwort ist hier das „Trauma derKonkurrenz“, der „Darwinsche Alptraum“, das brutale Erwachen in einem von Umwälzungen zerrissenen und polarisierten Europa, in dem die Deutschen dominieren werden, weil sie am besten auferweiterte Konkurrenzbedingungen vorbereitet sind.
-Illusion schließlich im Hinblick auf die erwarteten politischen Nebeneffekte des Binnenmarkts; damit kommt die von Mine aufgezeigte Unterschätzung existenter Hemmnisse, insbesondere das Fehlen einer europäischen „civil society“ und einer eigenständigen europäischen Kultur ins Spiel.
Wer „La Grande Illusion“ gelesen hat, muß der gegenwärtigen Europa-Euphorie mit Skepsis begegnen. Mine aber schließt seine Ausführungen gegen den Binnenmarkt und das technokratische Konzept der Delors-Kommission mit einer recht unvermittelten Beschwörung einer deutsch-französischen Union — la solidarite, la plus complte avec h Röpublique föderale —, von der eigentlich niemand recht begreifen kann, wie sie zustande kommen sollte, nach allem was zuvor an Defiziten der Gemeinsamkeit dargelegt wurde.
Damit schließt sich der Kreis: Die anfangs aufge2eigte Dualität französischer Außenpolitik zwisehen europäischer Solidarität und Mondialismus ist eine Realität, deren Überbrückung bislang bestenfalls symbolisch gelingen kann. Ebenso ambivalent wie real sind übrigens auch die privilegierten Ost-und Deutschlandbeziehungen der Bundesrepublik und deren globale wirtschaftliche Interessen gegenüber dem vielbeschworenen Ziel der europäischen Union angelegt Auch der Binnenmarkt — so Mines eindringliche Aussage — wird dieses Dilemma nicht beheben. Er wird dem Markt, aber keinen ehrgeizigen Integrationsidealen dienen, dabei neue Verwerfungen und Konfliktlinien schaffen, die alten aber nicht auflösen.
Man mag diesen Zustand beklagen, könnte ihn aber auch nutzen, um neu und vielleicht auch ehrlicher über dauerhafte Formen europäischer Kooperation nachzudenken, die der Realität besser angepaßt wären und von der Finalität wie von den Zwängen der Harmonisierung und technokratischen Steuerung her weniger anspruchsvoll ausgelegt sein müßten. Das hieße Abschied nehmen vom verschwommenen und schillernden Ideal einer Union, das heute hinter dem Binnenmarkt lauert; Abschied nehmen aber auch von sich zum Selbstzweck verfestigenden Harmonisierungs-und Integrationsbestrebungen. Eine solche Rückbesinnung auf das Machbare und Erstrebenswerte in Europa könnte vielleicht auch die Mobilisierung von „Gespenstern“, die gleichsam als Ersatzföderatoren
— sei es in Form einer „deutschen“ (Mine) oder „amerikanischen Herausforderung“ (ServanSchreiber) — dienstbar gemacht werden, überflüssig erscheinen lassen. Die „große Illusion“ wäre auf diese Weise ein Anstoß zur „großen Illumination“.