Im Herbst 1989 legt das Land Baden-Württemberg ein umfassendes Kulturkonzept vor. Mit der ihm eigenen Dynamik verkündet und praktiziert Lothar Späth, was auch anderen Ortes nicht nur in der Luft liegt: Ohne Kultur kann High-tech nicht tragfähig sein; die High-culture spektakulärer Prestigeprogramme reicht aber nicht aus, um die Herausforderungen des postindustriellen Zeitalters zu bewältigen. Der kulturelle Aufbruch in die Kommunikationsgesellschaft muß breit angelegt sein. Es geht dabei um nichts geringeres als um die Stiftung neuen Sinns und neuer Motivationen gerade auch in den abgelegenen und benachteiligten Winkeln des Landes. „Kulturpolitik wird in gewisser Weise zum Äquivalent der Technologiepolitik, und dem Aufbau wissenschaftlich-technischer Infrastrukturen müssen adäquate kulturelle Infrastrukturen folgen — wobei es in beiden Fällen nur um das Bereithalten von Angeboten gehen kann, niemals um Determinierungen. Es gibt keinen Anschluß-und Benutzungszwang, weder technologisch noch kulturell. Aber es muß genügend Optionen zur Selbstverwirklichung geben, ob sie nun auf ökonomischem, auf sozialem oder auf kulturellem Gebiet gesucht werden“, so umschreibt Matthias Kleinert das Programm der baden-württembergischen Landesregierung -Hier geht es der Intention nach um mehr als um bloße Serviceleistungen: „Ein solch weitgefaßter, integrierender Kulturbegriff ist notwendig unscharf. Indem er Kunst und Technik, Geistes-und Naturwissenschaften, Muße und Arbeit umfaßt, verliert er an definitorischer Klarheit, wird ein Stück weit subjektivistisch, ja gerät in die Gefahr der Beliebigkeit. Das ist ein nicht zu unterschätzender Nachteil, gerade im Hinblick auf die Kulturpolitik. Deren Grenzen und Kriterien müssen zwangsläufig verschwommener sein als zu jenen Zeiten, da nur das Gute, Wahre und Schöne als förderungswürdig galt . . . Dieser Kulturbegriff bewahrt aber die Chance, aus den Segmentierungen des modernen Lebens ein Stück Ganzheitlichkeit zurückzugewinnen.“ Die Kritiker wenden dagegen ein, dies sei eine letztlich doch technokratische Instrumentalisierung von Kultur im Dienste der Wirtschaft und der herrschenden Verhältnisse, ein Mißbrauch also
Die neue Kulturwelle — in Frankreich hat sie in beiden Richtungen Tradition. Es lohnt sich deshalb, das französische Beispiel daraufhin zu überprüfen, was dort (unter ganz anderen Bedingungen als in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland) staatliche Kulturpolitik leisten konnte und was nicht. Es kann ermutigen, aber auch nachdenklich stimmen.
I. Kultur als staatliche Repräsentation
Die Festlichkeiten zur Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution boten erneut ein spektakuläres Beispiel. Die Glaspyramide des erweiterten Louvre-Museums, die „Volks“ -Oper an der Bastille, der die Perspektive der Champs-Elyses und des Triumphbogens vollendende „Arche de la Defense“ (welcher mit einer Gipfelkonferenz der reichsten Industriestaaten eingeweiht wurde), die Multimediaschauen zum hundertjährigen Bestehen des Eiffelturms, zum Gedenken an die Erklärung der Menschenrechte und zur Apotheose der Marseillaise — unter dem sozialistischen Präsidenten Francois Mitterrand wie unter seinen Vorgängern vermag es der französische Staat, sich in seiner Hauptstadt Paris in Szene zu setzen. Vergleichbares in nationaler Selbstdarstellung bieten nur die Krönungsriten englischer Könige oder die Amtseinsetzungen amerikanischer Präsidenten.
Anders als die Imponierspektakel faschistischer und kommunistischer Diktaturen versteht sich dieses Schauspiel — wie auch schon die Gedenkfeiern vor hundert Jahren — als republikanisch, als eine der Freiheit verpflichtete Selbstdarstellung des souveränen Volkes in seiner Verpflichtung auf Menschenrechte und Demokratie. Grundmuster dieser Form des hochstilisierten, zugleich die Nation und die Menschheitsideale in Szene setzenden republikanischen Festes war die „Fete de la Convention“ von 1790, bei der König und Bürgertum noch einig den neu errungenen (und höchst prekären) Gleichklang von Einheit, Freiheit und Brüderlichkeit zelebrierten. Hochstilisiert auch die revolutionären Akte als Sprengung der herrschenden Autorität. Noch die Studentenunruhen des Mai 1968 folgten dem durch Literatur und Schule tradierten Ritual: Eine Barrikade auf einer Straße des Quartier Latin erschütterte zwar nicht die Funktionsfähigkeit des modernen Staates, aber seine symbolische Autorität. Nur durch eine publikumswirksame, im Fernsehen übertragene Gegeninszenierung konnte de Gaulle seine Macht wieder stabilisieren. Nationale Identität als künstlerische Inszenierung hat in Frankreich eine lange Tradition. Ludwig XIV. hatte die Mobilisierung aller kulturellen Ressourcen zur Selbstdarstellung der Monarchie aufdie Spitze getrieben. „L’etat c’est moi“, das war nicht so sehr der Spruch eines monomanen Tyrannen, sondern die totale Einbringung der eigenen Person als „Sonnenkönig“ in das große hochstilisierte Ballett des Hofes als neue Form der Macht-darstellung und Machtausübung des absolutistischen Staates, der damals modernsten Ausprägung des Nationalstaates in Europa. Macht ist Stil; Stil prägt Macht. Nach diesem Prinzip war Versailles nicht nur der Kem zentralistischer HerrschaftsausÜbung, sondern auch ein gewaltiges Atelier, wo für Literatur und Musik, für Dekoration, Tanz, Gartenbau und Feuerwerk unter unmittelbarer Anteilnahme des Königs jener besondere Stil der Zentral-perspektive, jene Form der Autoritätsausübung und des hierarchischen Denkens entwickelt wurden, die bis heute weiterwirken. Nicht nur die Verwaltungsstrukturen haben, wie Tocqueville gezeigt hat, alle Revolutionen überlebt, sondern auch die prägekräftigsten Symbole. Das Verhältnis zwischen Macht und künstlerischer Qualität — und allen Werten, die diese bedingen — ist dabei durchaus dialektisch. Symbolkräftig kann auf die Dauer nur bleiben, was auch künstlerische Qualität hat. Künstlerische Qualität kann nur haben, was nicht bloß willkürliche Herrschaftsgeste ist. Zwischen Inszenierung und Identität bestehen tiefere Zusammenhänge, die sich totalitärem und technokratischem Zugriff entziehen.
Alle groß angelegten Versuche zur Erneuerung des französischen Staates waren immer auch große Inszenierungen. Napoleon hat es versucht und durchaus stilbildend gewirkt. Die III. Republik wollte mit Eiffelturm und Weltausstellung Paris in Konkurrenz zu London als Zentrum der Modernität etablieren. Nun aberstand kein Monarch oder Kaiser, kein „höchstes Wesen“ revolutionärer Ideologie mehr im Mittelpunkt. Das Volk als Souverän und seine wechselnden, wenig dekorativen Repräsentanten wurden zum Zuschauer und nur noch vorübergehend und am Rande auch zu Akteuren des selbstinszenierten Spektakels. Die Symbolkraft des bürgerlichen Staates war ebenso gering wie seine Mobilisierungsfähigkeit. Frankreich war müde geworden.
Hiergegen war de Gaulle bereits angetreten, als seine militärische und politische Rolle noch in weiter Ferne lag. Der persönlich anspruchslose und durchaus bescheidene General verstand sich von vorneherein als Repräsentant jener „gewissen Idee von Frankreich“, mit der seine Memorien beginnen. In dieser Eigenschaft sprach er von sich selbst in der dritten Person, stilisierte Sprache und Auftreten, um das Vakuum zu füllen, als das er die Selbstabdankung der Nation empfand. Konsequenterweise war der Versuch einer Wiederherstellung staatlicher Autorität und nationaler Größe durch Schaffung der V. Republik — mit ihm als deren ersten Präsidenten — mit einer Intensivierung der Kulturpolitik verbunden. De Gaulle schuf 1958 nicht nur eine neue, inzwischen von allen seinen Widersachern akzeptierte und in mehrfachem Machtwechsel bewährte Verfassung, sondern auch ein eigenes Ministerium für Kultur. Als ersten Minister ernannte er den bekannten Schriftsteller und Kulturanthropologen Andre Malraux.
Die von Malraux veranlaßte große Wäsche der schwarz gewordenen Pariser Fassaden war nicht nur eine Großtat der Denkmalpflege, sie war ein symbolischer Akt. Alle symbolträchtigen „Stätten der Erinnerung“ erstrahlten nach und nach in neuer Frische: Notre Dame, das Königsschloß Louvre, die Bauten des 18. Jahrhunderts, die Monumente Napoleons I. und schließlich auch der Bürgerprotz aus den Zeiten Napoleons III. und der III. Republik. Geschichte wurde glanzvoll herausgehoben, um de Gaulles Anspruch auf nationale Sendung und Größe den Rahmen zu geben. Im Sinne eines traditionell-repräsentativen Kulturbegriffes — zu dem in Frankreich immer auch das intellektuell-kritische Element gehörte — förderte Malraux Museen, Oper, Musik und insbesondere das Theater.
Auch de Gaulles Nachfolger Georges Pompidou nutzte gezielt kulturelle Symbole als Sinnbilder seiner Politik und als Projektion für die angestrebte Weiterentwicklung nationaler Identität. Pompidous zentrales Ziel war die industrielle Modernisierung Frankreichs nach amerikanischem Vorbild und damit die vom Futurologen Hermann Kahn für den Beginn der achtziger Jahre vorausgesagte Überrundung des Rivalen Bundesrepublik Deutschland. Pompidou pflegte das eigene Image als Literat und Liebhaber avantgardistischer Kunst — er ließ sogar Räume des ehrwürdigen Elyse-Palastes avantgardistisch ausgestalten.
Das eigentliche Monument des „Pompidolismus" aber ist das erst nach seinem Tod vollendete „Centre Pompidou“, jener in Umkehrung traditioneller Architekturprinzipien Treppen und grell bemalte Rohrleitungen nach außen kehrende, Technizität provokant darbietende Riesenbau im Viertel der alten Markthallen — Symbol des großen Sprungs nach vorne, den das alte Frankreich vom Agrarzum Industrieland vollziehen sollte. Einen kulturpolitischen Sprung in ein neues Zeitalter bedeutete das „Centre Pompidou“ auch in anderer Hinsicht: Angelegt wie ein großes Warenhaus mit Bibliothek, Mediathek, Museum für zeitgenössische Kunst und vielfältigen Ausstellungs-und Begegnungsräumen sollte es den modernen Kunstbetrieb nicht mehr nur den Eliten, sondern auch den Massen zugänglich machen. Der überwältigende und seit mehr als einem Jahrzehnt anhaltende Besucher-und Benutzerstrom zeigt, daß es hier tatsächlich gelungen ist, die Schwellenangst breiter Kreise vor den Stätten der Kultur zu überwinden.
In der Nachfolge Pompidous ist nun jeder Präsident bemüht, sich und seinem Konzept von Kultur durch Museen und im Haushalt des Kulturministeriums gesondert ausgewiesene „große Projekte“ ein Denkmal zu setzen. Von Giscard d’Estaing zu Franois Mitterrand ergibt sich hierbei eine Kontinuität, die auch durch die zweijährige Periode der „cohabitation“ (1986— 1988) zwischen Mitterrand und dem Gaullisten Chirac nicht unterbrochen wurde. Nach und nach umfaßt sie immer mehr Aspekte nationaler Geschichte und Kultur, von der Umwandlung des historischen Orsay-Bahnhofs in ein Museum für die Kunst des 19. Jahrhunderts (das sowohl die einst revolutionäre Kunst der Impressionisten als auch die akademische Repräsentationskunst als gemeinsames Kulturerbe vereint) überdas von einer Glaspyramide gekrönte Projekt der Louvre-Erweiterung bis zum in ein Technologiemuseum umgewandelten Schlachthof von La Villette. Gemeinsam ist all diesen Projekten das Bestreben, in spektakulärer Form nationale Tradition und technologische Modernität in Szene zu setzen. Die gerade in der Ära Mitterrand besonders hervorstechend gestalteten Pariser Großbauten — so auch das Institut du Monde Arabe — verkörpern jenen Modernitätsmythos, der „als identitätsstiftendes Projekt sowohl der sozialen Modernisierungwie der nationalen Selbstvergewisserung“ dienen soll. Die Intemationalität der beauftragten Architekten mag die französische Zunft verärgern; sie ist jedoch ein zusätzliches Symbol für Selbstbewußtsein und Weltoffenheit, mit denen sich die Grande Nation heute präsentiert. Der Voluntarismus kulturbezogener großer Projekte ist auch heute noch die Form, in der sich der französische Staatsgedanke selbst darstellt. Die Kühnheit der Architektur ist nicht nur ästhetisches Spiel, sondern Projektion von Traditionen in die Zukunft.
II. Die Selbstdarstellung kulturpolitischer Dynamik
Die französischen Sozialisten haben von alters her eine andere kulturelle Tradition als der nationale Voluntarismus der Gaullisten oder der bürgerliche Liberalismus ä la Giscard. Seit Victor Hugo und Leon Blum ist sie romantisch-humanistisch, gefühlvoll dem Kleinen zugewandt und universalistisch zugleich. Francois Mitterrands Selbststilisierung als Wanderer und Homme de Lettres, Selbstpräsentation in Präsidentschaftswahlkampfvon 1981 als „ruhige Kraft“, seine Auftritte im Kreise von Intellektuellen und Künstlern beziehen sich symbolisch auf dieses Erbe: Der französische Sozialismus verstand sich schon immer als kulturelles Projekt, das die Traditionen der Aufklärung und den nationalen Universalismus der Französischen Revolution mit Volksbildung und Intemationalität zu verbinden* suchte Entsprechend wurde der Wahlsieg von 1981 als Zeitenwende zelebriert: Der einsame Gang Francois Mitterrands mit der Rose in der Hand zu den Gräbern des Panthdon in Anwesenheit führender Persönlichkeiten der Sozialistischen Internationale und prominenter Vertreter der Dritten Welt war mehr als nur ein fernsehwirksames Schauspiel. Vor den Augen der Welt sollte er Geschichtsverbundenheit und internationale Solidarität verkörpern — die Kontinuität zu den Revolutionsfeiem von 1989 liegt auf der Hand.
Maßgeblich für die erste wie für die zweite Inszenierung war der Theatermanager und Rechtsprofessor Jack Lang, den Mitterrand alsbald zum Kulturminister ernannte. Er blieb durch alle Regierungsumbildungen bis 1986 in diesem Amt und ist in der 1988 von Michel Rocard gebildeten Regierung erneut „Minister für Kultur, Kommunikation, Großbauten und die Zweihundertjahresfeiern“. Jack Lang war als Organisator des internationalen Studententheaterfestivals von Nancy schon in den sechziger Jahren bekannt geworden. Manche Elemente der Kulturrevolution von Mai 1968 waren hier bereits angeklungen. In den siebziger Jahren setzte er seine Karriere am Pariser Thtre National Populaire fort und wurde bald zu einem der engsten Gefolgsleute Mitterrands in der Sozialistischen Partei. Bei seinen Gegnern gilt Jack Lang als einer der Prototypen jener links-libertinistischen Schickeria bürgerlicher Herkunft, deren Snobismen Pierre Bourdieu in seiner kultursoziologischen Analyse der „feinen Unterschiede“ durchleuchtet
Jack Lang verstand es, mit rastloser Aktivität und ungezählten spektakulären Auftritten — zu denen auch seine vielbeschrieenen rosa Jackets und sonstigen Outfits gehören — staatliche Kulturpolitik als permanentes Fest der Kreativität zu inszenieren. Die Öffentlichkeit wurde dabei, soweit möglich, in das Schauspiel einbezogen. So beim Fest der Musik am Abend des 21. Juni 1982, als in ganz Frankreich jedermann aufgefordert war, sich geräuschvoll zu manifestieren. Diese Auftritte fanden auch auf internationaler Bühne statt, so beispielsweise — mit weltweitem Aufsehen — Langs Angriff gegen die Dominanz der amerikanischen Film-und Fernsehindustrie auf der UNESCO-Konferenz in Mexiko im Juli 1982. Lang zelebrierte aktivistische Kultur-politik als ständiges Happening. Jedenfalls war er Anfang 1986 allen Meinungsumfragen zufolge der bei weitem beliebteste Minister der bald abgewählten Regierung Fabius. Er hatte es verstanden, zumindest dem Anschein nach kulturelle Dynamik unters Volk zu bringen. Auch sein ähnlich telegener liberaler Nachfolger Franfois Ldotard konnte und wollte sich den Erwartungen dieses Stils und seiner Dynamik nicht entziehen.
L Kultur als Haushaltspriorität Auch die größten Selbstdarstellungskünste hätten es indessen nicht vermocht, eine derartige Dynamik zu schaffen, ohne den erklärten Willen Francois Mitterrands, 1981 Kultur und 1988 Bildung zum Aushängeschild und zu einer der Prioritäten seiner Präsidentschaft zu machen. Wie im Wahlkampfversprochen, wurde das Budget des Kulturministeriums verdoppelt und erreichte 1983 fast ein Prozent des gesamten Staatshaushaltes. Dieser Zuwachs Wurde auch durch die im Jahre 1983 beginnende Sparpolitik nicht unterbrochen. Nach einem Rückgang in den Jahren 1987 und 1988 (der Regierungs-zeit Chiracs) erreicht es 1989 ein Gesamtvolumen von 959 Mrd. Francs, allerdings nur noch 0, 86 Prozent des Staatshaushalts. Es weist mit einer Steigerung von 12, 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr neben Bildung und Forschung eine der stärksten Zuwachsraten auf 9). Die Priorität für Kultur besteht in Mitterrands zweiter Amtszeit fort.
Der Budgetanteil des Kulturministeriums im Staatshaushalt macht aber keineswegs die gesamten französischen Kulturausgaben aus. Maßnahmen der Kulturförderung f 5 Prozent gegenüber dem Vorjahr neben Bildung und Forschung eine der stärksten Zuwachsraten auf 9). Die Priorität für Kultur besteht in Mitterrands zweiter Amtszeit fort.
Der Budgetanteil des Kulturministeriums im Staatshaushalt macht aber keineswegs die gesamten französischen Kulturausgaben aus. Maßnahmen der Kulturförderung finden sich auch in anderen Haushalten, insbesondere beim Erziehungsministerium. Hinzu kommen die erheblichen Kulturausgaben von Gemeinden, vor allem der großen Städte und Gebietskörperschaften (Regionen und Departements), deren Gesamtvolumen ständig zugenommen hat und schwer zu schätzen ist. Diese betrugen bereits 1984 54 Prozent der gesamten öffentlichen Kulturhaushalte 10). Heute werden vermutlich mehr als zwei Drittel der Kulturausgaben nicht mehr unmittelbar von Pariser Ministerien getätigt. Das französische System vielfacher Mischfinanzierungen und Subventionen ist jedoch alles andere als transparent.
Zur stärkeren Finanzierung der Kultur dient schließlich die 1985 geschaffene — für Frankreich neue — steuerliche Begünstigung der Stiftungen und des Mäzenatentums. Das Sponsorenwesen nimmt rasch zu, allerdings besteht wie auch in anderen Ländern die Gefahr, daß auf diesem Wege nur gefördert wird, was ohnehin erfolgreich ist, und daß die oft illusorische Aussicht auf Finanzierung durch die Wirtschaft als Alibi für die Zurücknahme staatlicher Verantwortung dient. 2. Dezentralisierung und Aktivierung In einem administrativ und geistig von jahrhundertealtem Zentralismus geprägten Land wie Frankreich war das Postulat der Dezentralisierung nicht erst vom Mitterrandschen Sozialismus erhoben und auch in praxi versucht worden 11). „Paris und die französische Wüste“, so lautete bereits Anfang der siebziger Jahre der alarmierende Titel einer Bestandsaufnahme zur Raumordnung Frankreichs 12). Gerade im kulturellen Bereich war die Paris-Orientierung besonders ausgeprägt, „nach Paris aufzusteigen“, das war der Traum jedes Künstlers und Wissenschaftlers. Nur in einigen starken Provinzstädten wie Bordeaux, Lille. Lyon, Straßburg und Toulouse konnte sich ein eigenstän-diger, allerdings meist recht konventioneller Kulturbetrieb halten.
Auf seine Weise versuchte bereits Andre Malraux, kulturelle Initiative in die Provinz zu tragen. Er errichtete insgesamt zwanzigjener als „Kathedralen des XX. Jahrhunderts“ bezeichneten, architektonisch meist modernistischen „Kulturhäuser“ (heute sind noch zwölf in Betrieb), in denen auch fern von Paris traditionelle und moderne Kulturproduktionen gezeigt werden sollten. Nach dem Muster des stark von Brechtschem Einfluß geprägten Pariser Thtre National Populaire der fünfziger und frühen sechziger Jahre waren viele ihrer Leiter bestrebt, das Theater zur Volksaufklärung und Agitation zu benutzen — mit dem Effekt, daß das Publikum der Kulturhäuser letztendlich doch wieder vor allem jenes gebildete Bürgertum war, das sich an Paris und an traditionelleren kulturellen Werten orientierte.
Gelungenes Musterbeispiel jener Allianz zwischen gaullistischer Kulturpolitik und sozialistisch geprägter Modernität war die Entwicklung der Stadt Grenoble zu einem Zentrum für Forschung (insbesondere im Nuklearbereich) und Kultur. Hierdurch wurde Grenoble zum Anziehungspunkt für jene wissenschaftliche und technische Intelligenz (der auch der damalige sozialistische Bürgermeister Dubedout entstammte), in deren Umkreis das Malrauxsche Konzept der Kulturhäuser gedeihen konnte. Auch das symbolträchtige Thtre National Populaire war aus Paris in die dynamische Region Rhone-Alpes nach Villeurbanne bei Lyon verlegt worden, wo es unter seinem Regisseur Roger Planchon erhebliche überregionale Ausstrahlung entfaltete.
Dezentralisierungsversuche waren also nichts Neues; sie waren vor allem dort erfolgreich, wo sie auf lokaler Tradition und wissenschaftlich-technischer Innovation aufbauen konnten. Trotz aller programmatischer Bekundungen folgte die Kultur einer vom alten Zentralismus erst zögernd sich lösenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklung.
Dies sollte nun anders werden. 1983 wurde das große Gesetzgebungsprogramm verabschiedet, das Gemeinden und Gebietskörperschaften mehr Autonomie und auch mehr Verfügung über eigene Haushaltsmittel gewährte. Die 22 Regionen erhielten direkt gewählte Parlamente, eigene Mittel und Zuständigkeiten gerade auf den Gebieten Bildung und Kultur Wiederum sind es die starken Regionen, Departements und Gemeinden, die diese neuen Möglichkeiten voll zu nutzen verstehen. Auf den Wegen der Mischfinanzierung entstehen jetzt nicht mehr einseitige Kooperationsbeziehungen zwischen Paris und der Provinz; lokale Initiativen wie beispielsweise die Errichtung eines Museums für zeitgenössische Kunst in Saint-Etienne können erhebliche Mittel des zentralen Staatshaushaltes mobilisieren. Zur regionalen Kunstförderung wurden die paritätisch von Staat und Region finanzierten Fonds R 6gionaux d’Art Contemporain (FRAG) gebildet.
Die Verlagerung von Entscheidungs-und Finanzierungskompetenzen auf eine Vielfalt unterer Ebenen muß noch keineswegs jene Dynamisierung der Kulturpolitik bewirken, die Mitterrand und Lang mit solchem Elan verkündeten. Im Gegenteil, je näher die Gestaltung kultureller Vorgänge den gesellschaftlichen Legitimationszwängen lokaler Politiker in der Provinz rückt, desto größer ist die Gefahr, das nur geschehen kann, was vor Ort gefällt oder opportun erscheint. Hinzu kommen die Risiken politischer Polarisierung zwischen rechts und links, für die sich kulturpolitische Fragen in besonderem Maße eignen. Wenn sich einmal ein globaler kulturpolitischer Gegensatz zwischen „konservativer“ und „fortschrittlicher“ Kulturauffassung hergestellt hat, ist es um die Kultur selbst schlecht bestellt. In der Tat entwickelten sich zwischen 1983 und 1986 in einem Klima zunehmender parteipolitischer Konfrontation insbesondere dort Spannungen, wo die damalige bürgerliche Opposition die Mehrheit in bisher linken Gemeinden. Departements und Regionalräten errang. An einigen Orten führte dies sogar zur Schließung von Kulturhäusern (so in Brest, Nantes, Saint-Etienne, Chlons-sur-Saöne, Poissy
Insgesamt aber hatte sich trotz rhetorischer Auseinandersetzungen im Spannungsfeld zwischen Bewahrung und Erneuerung ein weitgehender kulturpolitischer Konsens entwickelt, der eine erhebliche und für die Usancen französischer Politik erstaunliche Kontinuität der Kulturpolitik seit 1981 (Jack Lang 1981 — 1986; Francois Leotard 1986— 1988; Jack Lang ab 1988) ermöglichte. Paris hat jedoch trotz aller administrativen Dezentralisierungsmaßnahmen nicht alle Instrumente einer voluntaristischen Kulturpolitik aus der Hand gegeben. Die projektbezogenen „Conventions de developpement culturel" (mehrjährige kulturelle Entwicklungspläne, die zwischen Kulturministerium und Gebietskörperschaften vereinbart und gemeinsam finanziert werden) erweisen sich als wirksames Mittel kultureller Modernisierungsstrategien.
Wirklich greifen können diese aber erst, wenn sich Kulturpolitik auch in der Provinz nicht auf das Restaurieren des Alten und das Vorführen bewährter Produktionen beschränkt, sondern die örtlichen Kreativitätsreserven zu mobilisieren versteht, die Bevölkerung also wenigstens teilweise vom Publikum zum Akteur wird.
Die von lokalen Instanzen und Paris gemeinsam verfolgten Projekte stützen sich auf die Initiativen von Vereinigungen (associations) aller Art, die im Gefolge des Mai 1968 in den siebziger und frühen achtziger Jahren in großer Zahl entstanden — und sich oft bald wieder auflösten. Dieses häufig der Sozialistischen Partei nahestehende „Mouvement associatif“, das mit dem traditionsreichen, aber behäbigen deutschen Vereinswesen nur teilweise zu vergleichen ist, bildet gegenüber der „Kultur von oben“ einen Nährboden gesellschaftlicher Animation und Innovation.
Zugleich wurde das Feld förderungswürdiger Kulturaktivitäten erheblich erweitert: Die finanzielle Unterstützung von Filmtheatern gehört nun ebenso dazu wie die Errichtung eines Comic-Museums in Angoulöme, der weite Bereich der Industrie-und Arbeiterkultur, Chanson und Rock. Durch spektakuläre Auftritte bekundet Lang seine Verbundenheit mit Jugend-und Minoritätenkulturen. Die kulturellen Manifestationen der in Frankreich zahlreichen, insbesondere maghrebinischen und afrikanischen „Ausländer“ werden gezielt gefördert. Auch hier zeigen sich die Querverbindungen zwischen Kulturpolitik und der gegen die Fremdenfeindlichkeit gerichteten Bewegung „SOS-Racisme".
Insgesamt bedeutet dieses Konzept kultureller Demokratisierung nicht nur die Öffnung des Zugangs zu traditioneller Kultur für breitere Bevölkerungskreise, sondern auch die Aufnahme bisher marginaler Initiativen und deren spezifischer Kulturformen in den Bereich förderungswürdiger Projekte. Eine in vieler Hinsicht multikulturelle Gesellschaft braucht eine multidimensionale Kulturförderung. Entsprechend werden bevorzugt Starthilfen für die Schaffung neuer Theatergruppen und für Schulungsprogramme aller Art gegeben, die geeignet scheinen, Kreativität und Professionalität zu heben. Die in Frankreich lange wenig entwickelte musikalische und künstlerische Schulung breiter Bevölkerungskreise soll im Bildungswesen, in Institutionen der Fortbildung und des Freizeitbereichs ausgebaut werden. Kulturelle Mobilisierung als nationale Aufgabe, so lautet zumindest die Parole.
III. Allgemeinbildung für die Kommunikationsgesellschaft
Wie dringlich diese Mobilisierung nicht nur in Frankreich ist, zeigen übereinstimmend alle Expertenaussagen zu den Anforderungen, die sich aufgrund der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung an die Qualifikation für den Arbeitsmarkt, aber auch an die Herausbildung gesellschaftlicher Identität und an die Eigenständigkeit des Individuums stellen. Die Informatikspezialisten Lussato und Messadie warnen dringlich vor der drohenden „Dekulturierung des Westens“ und fordern die Aufwertung ästhetischer Erziehung als Ergänzung zur technologischen Schulung
In einem Gutachten für das französische Erziehungsministerium weist der Soziologe Jacques Lesourne auf die zunehmende Abkoppelung zwischen Erstausbildung und späterer, ständigen Veränderungen unterworfener Berufstätigkeit hin und zieht daraus die gleiche Konsequenz wie die deutschen Arbeitsmarktspezialisten: Aufwertung der Allgemeinbildung, Stärkung der Persönlichkeit, umfassende Entwicklung der intellektuellen, technischen und künstlerischen Fähigkeiten statt einengender spezialistischer Schulung
In einem von Franfois Mitterrand erbetenen, unter der Leitung des Bildungssoziologen Pierre Bourdieu erstellten Gutachten des angesehenen College de France zum Bildungswesen der Zukunft aus dem Jahre 1985 heißt es: „Bei aller Bedeutung von Theorie, die richtig verstanden weder Formalismus noch Verbalismus bedeutet,. . . muß das Bildungswesen in allen Bereichen versuchen, auch Produkte erstellen zu lassen und den Lernenden Gelegenheit zu geben, selber Entdeckungen zu machen ... In diesem Geist kommt auch den künstlerischen Fächern ein hervorragender Platz zu, und zwar im Sinne einer vertieften praktischen Beschäftigung mit einem Kunstgebiet (etwa Musik, Malerei, Film), das frei gewählt (anstatt wie heute indirekt vorgeschrieben) ist. Hier wie auf allen anderen Gebieten müßte das bloße Reden dem praktischen Tun (ein Instrument spielen, gar Komponieren, Zeichnen oder Malen, praktische Umweltgestaltung usw.) untergeordnet werden. Enthierarchisierung würde hier bedeuten, daß insbesondere auf den unteren Schulstufen neben der Kunst im engeren Sinne gleichberechtigt die für den Alltag höchst nützlichen kunstgewerblichen Gebiete wie graphische, Buch-oder Reklamegestaltung, industrielles Design, Tonfilm-, Video-oder Fernsehproduktion oder Photographie Unterrichtsgegenstände sind.“ Wer das bisher fast ausschließlich lernorientierte französische Schulwesen kennt, weiß, daß dies geradezu revolutionäre Vorschläge sind. Wie schwer sie umzusetzen, welche Hindernisse zu überwinden sind, bis das erklärte Ziel aller französischen Erziehungsminister seit 1984 erreicht ist, im Sinne höherer Allgemeinbildung 80 Prozent der Schüler eines Jahrgangs bis zum Baccalaurat zu führen (das dann allerdings stark differenziert sein soll und nicht mit allgemeiner Hochschulreife nach dem Muster des deutschen Abiturs zu verwechseln ist) zeigen die immer wieder steckenbleibenden Ansätze zu tiefergreifenden Bildungsreformen. Die Reformresistenz, um nicht zu sagen die Trägheit des Bildungswesens gegenüber den Anforderungen der Modernität ist ein Problem, das nicht nur Frankreich zu schaffen macht.
IV. Kultur als Wirtschaftsfaktor
„Die Champagne-Ardenne wird sich ihre Zukunft durch Kultur schaffen“, erklärte der Sozialexperte Bernard Stasi, als er die Präsidentschaft dieser Region übernahm Hinter einem solchen vielerorts vertretenem Konzept steht nicht nur die auch in Frankreich gültige Spekulation, daß erfolgreiche Festspiele und attraktive Museen wirtschaftlich insgesamt mehr einbringen können als die in sie investierten öffentlichen Subventionen.
In Frankreich ist man sich der Tatsache bewußt, daß kulturelle Produktionen aller Art einen nennenswerten Wirtschaftsfaktor darstellen. Dies gilt für ganze Branchen wie Film-und Fernsehproduktionen, für Mode, Kochkunst, Tourismus und Parfümerie, aber auch für Design und attraktives Image, die ganzen Industriezweigen Absatz-und Exportchancen erschließen können. Die Langsche Kulturpolitik schafft deshalb in enger Zusammenarbeit mit einzelnen Regionen für all diese Bereiche neue Ausbildungs-und Entwicklungszentren, Akademien und Preise.
Da kulturell geprägte Luxusgüter einen erheblichen Anteil der französischen Exporte ausmachen und Exportförderung eines der Hauptanliegen aller französischen Regierungen sein muß, ist die auswärtige Kulturpolitik in erheblichem Ausmaß der Imagepflege gewidmet. Das Bild Frankreichs als Industrienation und modernistische Kreativitätsschmiede muß gegenüber dem weitverbreiteten Stereotyp der liebenswert altmodischen „vieille France“ vielfach noch durchgesetzt werden. Französische Kulturinstitute in der ganzen Welt sind bestrebt, Frankreichs wissenschaftlich-technologische Leistungen als kulturelle Leistungen zu präsentieren, die enge Verbindung zwischen künstlerischer und wirtschaftlicher Modernität zu dokumentieren: Die in den Generalkonsulaten gezeigten Multimediaschauen zur Zweihundertjahrfeier der Französischen Revolution waren ein sprechendes Beispiel dieser Art von Imagepflege.
Das entscheidende Feld für die Verflechtung von Wirtschaft und Kultur ist die sich rasch entwikkelnde Welt der alten und neuen Medien, in Frankreich PAF (paysage audiovisuel franais) genannt. Hier geht es nicht nur um die Verteidigung der traditionsreichen, aber in ihrem Bestand bedrohten französischen Filmindustrie — die Langschen Kampagnen gegen die Überfremdung der europäischen Kultur durch amerikanische und japanische Film-produktionen sind auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Der Ausbau der Kommunikationsgesellschaft stellt vielmehr — von der Verkabelung über den in Frankreich mit gewaltigen öffentlichen Investitionen erfolgreich durchgesetzten Minitelservice, der Vielfalt lokaler Radiostationen, den Zeitschriftenmarkt bis zu der entsprechend raschen Zunahme von Gestaltungsaufgaben aller Art — ein Wirtschaftspotential dar, das nicht mehr nur im Rahmen des nationalen Marktes, sondern europäischer und weltweiter Verflechtung zu sehen ist. Um sich hier rechtzeitig und angemessen placieren zu können, müssen Kapital und Kooperationsbeziehungen in einem Ausmaß mobilisiert werden, das über die bisherigen Größenordnungen nationaler Medienpolitik und nationaler Produktionsmöglichkeiten weit hinausgeht.
Die sozialistischen Regierungen wie auch die Regierung Chirac betrieben deshalb auf persönliche Initiative Franfois Mitterrands die Aufhebung des traditionellen Staatsmonopols für Telekommunikation. die Privatisierung von Rundfunk und Fernsehanstalten und die Mobilisierung französischen und europäischen Kapitals für den Medienmarkt. Betrachtet man aber die Programmwirklichkeit des französischen und europäischen Fernsehalltags, bleibt das Ergebnis weit hinter den proklamierten Zielen zurück. Privatwirtschaftlicher Wettbewerb bedeutet zunächst jedenfalls offenbar vor allem Banalisierung und Standardisierung. Es ist offen, inwieweit sich die geplanten, bisher nur in Ansätzen bestehenden nationalen, deutsch-französischen und europäischen Kulturkanäle auch tatsächlich durchsetzen können. Besteht doch die Gefahr, daß sie als öffentlich finanzierte Kulturreservate nur als Alibi für eine noch weitergehende Kommerzialisierung des Massenfernsehens dienen können.
Klaus Wenger, einer der besten Kenner der Materie, beurteilt die Entwicklung deshalb auch skeptisch: „Die französische Medienlandschaft hat seit 1984 eine geradezu revolutionäre Umwälzung der rechtlichen Voraussetzungen, der ökonomischen und institutioneilen Strukturen erlebt — radikaler, tiefgreifender und rascher als in fast allen anderen westeuropäischen Ländern. Diese strukturelle Umgestaltung hat dem audiovisuellen Sektor zusätzlich finanzielle Quellen in Milliardenhöhe erschlossen. Die im Vergleich zur Bundesrepublik weitaus engere Kapitalverflechtung mit anderen Wirtschaftssektoren bedeutet eine dauerhafte und solide Finanzgrundlage und läßt eine zunehmend nach wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten gesteuerte Unternehmens-und Programmpolitik — auch der Anstalten des Service public — erwarten. Das wirtschaftspolitische Ziel ist damit weitgehend erreicht, das kulturpolitische liegt noch in weiter Feme. Die erhoffte Ausweitung des nationalen und europäischen Produktionspotentials und gar eine Vitalisierung der kreativen Ressourcen lassen auf sich warten. Gewiß, international operierenden Medienunternehmen wurden neue Marktchancen eröffnet, die damit angestrebte Stärkung der kulturellen Identität und Ausdruckskraft Frankreichs wie Europas aber liegt — noch — im ungewissen. Erst wenn die medienpolitischen Rauchschwaden verzogen sind, wird sich zeigen, ob im Medienlabor Frankreich eine für die kulturelle Vielfalt Europas explosive oder kreative Mixtur angerührt wurde.“
V. „Der Zeit Zeit lassen“
So lautet die Maxime, mit der die neue Regierung Rocard 1988 angetreten ist, um „anders zu regieren“ In der Tat zeigt die Entwicklung in der Medien-und Bildungspolitik ebenso wie in vielen Bereichen der Industriepolitik die Problematik der Ungleichzeitigkeit zwischen den raschen, oft durch Politik voluntaristisch beschleunigten Veränderungen durch neue Technologien, internationale Verflechtung, wirtschaftliche Konkurrenz und neu-geschaffene Strukturen einerseits und der tatsächlichen Innovationsfähigkeit und -bereitschaft der Gesellschaft und ihrer Institutionen andererseits.
Hieraus entstehen Disparitäten und Spannungen, die aufdie Dauer den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Erfolg der seit Anfang der sechziger Jahre mit großer Konsequenz betriebenen französischen Modernisierungspolitik gefährden müssen. Diese ist zur Erhaltung und Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit Frankreichs in Europa und auf den internationalen Märkten unerläßlich; zugleich muß aber darauf geachtet werden, daßdie unausweichlichen Veränderungen der internationalen, europäischen und innerfranzösischen Landschaft auch gesellschaftlich nachvollzogen werden können. Dies gilt um so mehr, als moderne Technologien und modernes Management gerade dadurch gekennzeichnet sind, daß sie sich eben nicht mehr in industriellen Großstrukturen beherrschen lassen, sondern auf die Eigeninitiative von einzelnen und Kleingruppen angewiesen sind. Motivierung, Qualifizierung und Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts müssen deshalb zentrale Anliegen französischer Politik für die neunziger Jahre werden.
Es ist deshalb konsequent, daß sich die nun Präsident Mitterrand und die Regierung Rocard (stärker, als dies in der Aufbruchsstimmung des Jahres 1981 der Fall war) den Alltagsproblemen — so beispielsweise den Wohnverhältnissen und der Lebensqualität in den rasch wachsenden Vor-und Satellitenstädten — zuwenden. Nach dem politischen Voluntarismus der großen Projekte und kühnen technokratischen Planungen steht heute die „socit civile“, die reale Gesellschaft auf der Tagesordnung. Modernisierung heißt hier nicht unbedingt die weitere Beschleunigung des von oben dekretierten Innovationstempos, sondern die Schaffung und Einübung von Konsultations-und Partizipationsformen aller Art.
Außerdem ist das auch in Frankreich rasch wachsende Umweltbewußtsein nur ein Symptom dafür, daß nach einer lange anhaltenden modernistischen Aufbruchseuphorie die „Schwierigkeiten mit der Moderne“ bewußt werden.
Die Antwort auf diese Schwierigkeiten kann aber nicht Abwendung von der Moderne bedeuten, sondern die geistige Durchleuchtung und konkrete Ge-staltung einer Fülle neuartiger Herausforderungen. Dies ist eine im wahren Sinne des Wortes kulturelle Aufgabe.
Nach dem expansiven Aktionismus der letzten Jahrzehnte, der viele neue Strukturen und Möglichkeiten geschaffen hat, müßte nun auf allen Ebenen eine Phase intensiven Gestaltens folgen. Wie weit dies gelingen kann, läßt sich von Politik und Verwaltung nur über die Schaffung besserer Rahmenbedingungen beeinflussen. Die geforderte Kreativität muß aus der Gesellschaft selbst erwachsen. Das Bewußtsein hierfür ist geweckt -nun hängt es von den einzelnen Künstlern, Architekten, Lehrern, Wissenschaftlern, Technikern, Administratoren und politischen Instanzen aller Ebenen ab, ob Neugestaltung in einem mehr als nur spektakulären Sinne gelingt, ob aus Kultur-politik eine für die Zukunft tragfähige Kultur erwachsen kann.
VI. Vergleichende Schlußbemerkung
Die Herausforderungen des technologischen und wirtschaftlichen Wandels stellen sich in allen hoch-entwickelten Industrieländern in ähnlicher Weise dar; sie bedingen entsprechend höhere Anforderungen an Qualifikation, Lernfähigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Individuen und an den Zusammenhalt und die Reaktions-und Innovationsfähigkeit gesellschaftlicher Gruppen — von Betrieb und Gemeinde bis zu ganzen Regionen und Nationen im internationalen Wettbewerb. Die kulturpolitische Diskussion und auch die konkreten technologie-, bildungs-und medienpolitischen Maßnahmen sowie Formen und Inhalte der Kunstförderung und der Versuche zu ästhetischer Aktivierung breiter Bevölkerungskreise stimmen deshalb in weiten Bereichen überein.
In Europa stoßen die Herausforderungen der Modernität auf jahrhundertealte staatliche und gesellschaftliche Strukturen und Traditionen, die national und teilweise auch regional höchst unterschiedlich sind. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich bestehenden tiefgehenden historischen Unterschiede gerade im kulturpolitischen Bereich besonders zum Ausdruck kommen.
Der deutsche Föderalismus und die alten Traditionen kultureller Eigeninitiative in Gemeinden und Vereinigungen aller Art vom Gesangsverein bis zur Volkshochschule bilden sicherlich einen Dezentralisierungsvorsprung — aber auch ein Element der Unbeweglichkeit, sobald es um überregionale oder gar europäische und internationale Zusammenarbeit geht (wie die ständigen Schwierigkeiten zeigen, europäische Bildungs-, Medien-oder Kulturpolitik mit der Kulturhoheit der Länder in Einklang zu bringen). Hier hat es Frankreich leichter, international Strategien zu verfolgen, die dem neuen Stellenwert kulturpolitischer Fragen angemessen sind. Eingespielter Föderalismus und der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik Deutschland (der aber gerade in den innovativen und besonders kulturabhängigen Kommunikationsbranchen keineswegs gesichert ist) führen allzuoft zu selbstzufriedener Behäbigkeit, die sich — so intensiv sich auch einzelne Bundesländer wie Baden-Württemberg, Berlin oder Nordrhein-Westfalen darum bemühen -nur schwer aufrütteln läßt. Allzu leicht bleiben kulturelle Initiativen in regionaler Repräsentation stecken.
Am eklatantesten ist der Unterschied in dem fürdie Bewußtseinslage einer Nation wichtigen Bereich identitätsbildender staatlicher Selbstdarstellung. Nach den Verirrungen des Wilheiminismus, den Entsetzlichkeiten des Nationalsozialismus und der tiefen Verunsicherung durch Teilung und die Ungewißheiten der deutschen Frage hat es das „schwierige Vaterland“ hier besonders schwer. Da Identitätsfindung und ihre Darstellung nie nur politisch, sondern immer auch kulturell sein müssen, ist die Frage, ob es eine Kultur der Bundesrepublik Deutschland geben kann und wie sich diese darzustellen versteht, von einer Bedeutung, die weit über die gängigen Debatten zum Geschichtsmuseum oder zur Gestaltung der Vierzigjahrfeiern hinausgeht. Geistig und ästhetisch ist es die alte Frage „Was ist des Deutschen Vaterland?“. Eine Nation, die sich aufgrund ihrer Geschichte überhaupt nur als Kulturnation verstehen kann, ist hier besonders gefordert.
Es ist deshalb bedenkenswert, wie sich die seit de Gaulle mit großer Intensität und Kontinuität betriebene Konsolidierung und Mobilisierung des französischen Staats-und Kulturverständnisses unter Francois Mitterrand bevorzugt auf die universalen Werte der Französischen Revolution und auf europäische Gemeinsamkeiten beruft, die vor allem kultureller Art sind. Es mag wohl sein, daß auch die Lösung der deutschen Identitätsprobleme nur in einer kulturellen Besinnung auf Europa zu finden ist.