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Zum Selbstverständnis des Deutschen Bundestages | APuZ 37-38/1989 | bpb.de

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APuZ 37-38/1989 Der Deutsche Bundestag Bewährung und Herausforderung nach vierzig Jahren Vierzig Jahre Deutscher Bundestag Erfahrungen und Maßstäbe Ist unser parlamentarisches System in guter Verfassung? Zum Selbstverständnis des Deutschen Bundestages Zwischen traditionellem und aufgeklärtem Parlamentsverständnis Der Bundestag in einer gespaltenen politischen Kultur Artikel 1

Zum Selbstverständnis des Deutschen Bundestages

Nevil Johnson

/ 23 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Der Deutsche Bundestag hat seine legislativen Aufgaben ebenso erfolgreich ausgefüllt wie die schwierige Doppelrolle des Parlaments, zugleich Kontrollorgan und Rückhalt für die Regierung zu sein. Er hat das Verständnis für die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie in Deutschland vertieft und ist das Reservoir, aus dem sich die Führungskräfte der Regierung rekrutieren. Wenn aber „das Wesentliche des Parlaments“ diewöffentliche Debatte“ ist (Carl Schmitt), so weist der Bundestag gewisse Defizite auf: Diskussion und Öffentlichkeit kommen in seinem Arbeitsanfall oft zu kurz, die Abgeordneten sind an die Linie ihrer Parteien und Fraktionen gebunden, und die laufenden Geschäfte werden sorgfältig geplant. Der Bundestag arbeitet sehr effektiv, aber es mangelt ihm an politischer Ausstrahlungskraft in der Öffentlichkeit.

Der dritte Teil des Grundgesetzes beginnt mit der nüchternen Feststellung, die Mitglieder des Bundestages seien in freier und geheimer Wahl zu wählen -Mit dieser Bestimmung wird die eher spärlich gehaltene Kennzeichnung der Institution des Parlaments im Grundgesetz eingeleitet; darauf folgt in den übrigen 14 Artikeln die Festlegung der wesentlichsten Rechte und Pflichten seiner Mitglieder sowie einiger wichtiger Aspekte seiner institutioneilen Form. Über die Aufgaben des Bundestages, insbesondere in bezug auf seine Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen, sagt das Grundgesetz wenig aus: Grundsätzlich muß man auf die Regelung des Artikels 0 Abs. 2 zurückgreifen, nach dem die legislative Gewalt besonderen Verfassungsorganen anvertraut ist. Unter diesen gesetzgebenden Organen rangiert der Bundestag an erster Stelle. Aber er nimmt mehr als nur die legislative Gewalt auf Bundesebene wahr; er verkörpert auch das demokratische Prinzip, wie es in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes zum Ausdruck kommt. Denn der Deutsche Bundestag ist nicht nur Legislative, er ist zugleich Träger des demokratisch gefaßten Willens des Volkes und daher dessen oberster Vertreter.

Von einer ausdrücklichen Betonung dieses feierlichen Auftrages sahen die Väter des Grundgesetzes jedoch ab: Statt sich auf großartige Erklärungen über die politische Aufgabe des Parlaments einzulassen, zogen sie es vor. nur die nötige praktische Grundlage für einen erneuten Versuch mit der parlamentarischen Demokratie zu schaffen. Was das Weitere betraf, wußten sie, daß das Gedeihen dieser Staatsform allein durch die Bewährung im politischen Alltag gesichert werden kann. Daß heute die Spielregeln der parlamentarischen Demokratie zu einer Selbstverständlichkeit im politischen Leben der Bundesrepublik geworden sind, ist weitgehend den ständigen Bemühungen des Deutschen Bundestages zuzuschreiben.

Vierzig Jahre lang hat der Bundestag die politische Ordnung der Bundesrepublik maßgebend geprägt und zugleich sich selbst als Institution konsolidiert und bewährt. Darüber kann es keinen Zweifel geben: Von den parlamentarischen Versuchen der letzten 150 Jahre in Deutschland ist der Bundestag so erfolgreich wie kein anderes deutsches Parlament. Seine bedeutendsten Errungenschaften lassen sich wie folgt skizzieren:

An erster Stelle steht die ununterbrochene Wahrnehmung seiner legislativen Aufgaben. Sicher ist der Bundestag nur selten die eigentliche Quelle von Gesetzesvorlagen. Er reagiert vielmehr auf Initiativen, die ihm von der Bundesregierung, meistens nach Konsultationen mit den Ländern, Vereinbarungen innerhalb der Parteien, Diskussionen mit Interessengruppen und Beratungen im Bundesrat, zugeleitet werden und nimmt eher eine kritisch-überprüfende Rolle bei der Behandlung der ihm überwiesenen Vorlagen wahr. Hierfür hat sich der Bundestag in sehr effektiver und rationeller Weise organisiert durch die Herausbildung einer umfassenden, spezialisierten Ausschußstruktur, in der sich die Verteilung der Zuständigkeiten unter den Bundesministerien widerspiegelt 2). Gerade in seinen Ausschüssen tritt der Bundestag als „Arbeitsparlament“ hervor, denn hier haben die einzelnen Abgeordneten sowie die Sprecher der Fraktionen ausreichende Möglichkeiten, Spezialkenntnisse zu erwerben und einzusetzen. Abgeschirmt von der Öffentlichkeit können die Ausschußmitglieder eine bis in die Details gehende Überprüfung der Gesetzesvorlagen vornehmen. Entsprechend dieser Betonung der Ausschüsse in der Wahrnehmung legislativer Aufgaben wird dann das Plenum bei der Behandlung von Gesetzesvorlagen ziemlich weitgehend entlastet. Sicher wird dort über wichtige Vorlagen bei der ersten oder zweiten Lesung und gelegentlich auch in den späteren Stadien des Verabschiedungsprozesses debattiert. Aber in der Regel wird in der Beschlußfassung über Gesetze auf das bloße „Durch-das-Fenster-Hinausreden“ verzichtet: Die Kehrseite des Arbeitsparlaments ist, daß die Funktion des Redeparlaments zu kurz zu kommen droht. Auf diesen Punkt kommen wir später zurück.

Obwohl die legislativen Aufgaben den Bundestag und seine Organe am meisten in Anspruch nehmen erschöpfen sich die Errungenschaften des Bundestages keineswegs nur darin. Das Geheimnis der parlamentarischen Regierungsweise liegt in der Ausbalancierung zweier anscheinend entgegenge-setzter Erfordernisse. Einerseits hat das Parlament die Regierung zu unterstützen, nachdem es den Regierungschef gewählt hat. Ohne effektive Unterstützung im Parlament kann die exekutive Führung so gut wie nichts bewirken. Die schwachen parlamentarisch regierten Demokratien sind gerade jene, in denen keine Regierungsmehrheit zustande-kommt, mit dem Ergebnis, daß die jeweilige Regierung ständig dem Druck wechselnder Minderheiten ausgesetzt ist. Unter solchen Verhältnissen wird ein grundlegendes Anliegen der parlamentarischen Regierungsweise vereitelt, nämlich das, daß mit dem Vertrauen des Parlaments erfolgreich regiert werden soll. Andererseits muß das Parlament, gerade weil der Parlamentarismus auf eine starke exekutive Gewalt ausgerichtet ist, stets auf seine Kontrollfunktionen bedacht sein. Es unterstützt eine Regierung, nimmt aber gleichzeitig die Exekutive ständig unter die Lupe. Selbstverständlich kann die Kontrolle der Exekutive in unterschiedlicher Weise wahrgenommen werden.

In diesem Jahrhundert hat das „Westminstermodell“, wie es im britischen Unterhaus verkörpert ist, das Schwergewicht der kritischen Rolle des Parlaments auf die Opposition verlagert. Das Parlament wird in erster Linie zu einer Bühne, auf der die Opposition ständig im Wettkampf mit der Regierung steht, in der Hoffnung, bei den nächsten Parlamentswahlen eine Mehrheit der Wählerstimmen zu gewinnen Der Bundestag ist Erbe einer anderen Tradition, nach der die einzelnen Fraktionen sowie verschiedene Organe des Parlaments an den Kontrollaufgaben beteiligt sind, obwohl allmählich die Bedeutung der Opposition als Alternativregierung und daher als Mittel der Kontrolle durch die Wähler erheblich gewachsen ist. Einschränkend hierzu muß man jedoch jetzt auf die Zeichen eines Abdriftens von Wählern von den beiden Volksparteien, CDU und SPD. zu neuen Gruppierungen, darunter die GRÜNEN und die Republikaner, hinweisen. Eine Verstärkung dieser Tendenz müßte unvermeidlich den Begriff der Opposition als Alternativregierung unterminieren und daher wieder die ältere Betonung der Machtbalance zwischen Legislative und Exekutive als mehr oder weniger getrennte Institutionen nahelegen.

Im großen und ganzen hat der Bundestag während der letzten vierzig Jahre die schwierige Doppelrolle eines Parlaments — zugleich Kontrollorgan und Quelle des politischen Rückhaltes für die Regierung zu sein — mit Erfolg gespielt. Es mag sein, daß das exekutive Denken — der ausgeprägte Sinn in der deutschen Tradition für den Staat als Exekutivgewalt und für die damit verbundenen Sach-zwänge — gelegentlich die Oberhand gewonnen hat mit dem Resultat, daß die kritische Kontrolle vor der Öffentlichkeit zu kurz gekommen ist. Trotzdem ist es dem Bundestag häufig gelungen, sowohl zur Zeit der Adenauerschen Kanzlerdemokratie als auch in den achtziger Jahren darauf zu insistieren, daß die Regierung Rede und Antwort zu stehen hat. Die Vorstellung, das Parlament sei letzten Endes die kritische Stimme des Volkes, hat sich nicht ganz verloren.

Auch andere Aufgaben hat der Bundestag im Laufe der vergangenen Jahre erfolgreich erfüllt Durch seine Verfahren und Verhaltensweisen hat er erheblich zur Stärkung der Toleranz im politischen Umgang beigetragen und die Tugend der Sachlichkeit in der öffentlichen Diskussion hervorgehoben; durch die stetige Kleinarbeit des Petitionsausschusses ist das Recht des einzelnen Bürgers, sich mit seinen Klagen an den Bundestag zu wenden, geschützt worden mit Hilfe seiner Öffentlichkeitsarbeit hat der Bundestag wie keine frühere parlamentarische Institution in Deutschland das Verständnis für die Spielregeln des Parlamentarismus gestärkt und verbreitet und dadurch die politische Ordnung, wie sie vom Grundgesetz bestimmt wurde, erfolgreich geprägt. Nicht zuletzt besteht die Leistung des Bundestages in der Parlamentarisierung der politischen Eliten in den Nachkriegsjahren. Sicher waren auch die Parteien für diesen Prozeß von großer Bedeutung. Aber die Parteien wirken im Bundestag und durch die mit ihm verbundenen Prozeduren. Wie jedes bewährte Parlament dient der Bundestag heute als Reservoir, aus dem die Führungskräfte für die Regierungsverantwortung hervorgehen. Abgesehen von nurmehr ziemlich seltenen Ausnahmen rekrutiert sich die politische Exekutive aus denjenigen, die sich zur Wahl für den Bundestag gestellt und in ihm parlamentarische Erfahrung gesammelt haben: Sie werden — wenn auch im Einzelfall unterschiedlich stark -von den Gebräuchen des Bundestages geprägt. Den Kontrast zur Weimarer Zeit braucht man kaum zu betonen.

Ein vierzigjähriges Jubiläum bietet aber Anlaß zu mehr als nur einem Loblied auf die beachtlichen Leistungen des Bundestages. Es ist auch Gelegenheit zur Besinnung und gegebenenfalls zur kritischen Reflexion. Trotz der Errungenschaften der Nachkriegsjahre ist es angebracht, zu fragen, wie es eigentlich mit dem Parlamentarismus in der Bundesrepublik beschaffen ist. Natürlich stellt sich diese Frage auch in anderen Landern, in denen es Zeichen für das Erschlaffen parlamentarischer Institutionen gibt. Ferner hat diese Frage an Dringlichkeit gewonnen, weil die Kräfte der Erneuerung in Mitteleuropa und sogar in der Sowjetunion offensichtlich ihre Hoffnungen auf die parlamentarische Demokratie setzen. Allein schon aus diesem Grund müssen wir uns über die Grundlagen unseres eigenen Parlamentarismus so viel Klarheit wie möglich verschaffen. ,

Vor 65 Jahren hat Carl Schmitt in seiner berühmten, oft kritisierten Schrift Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus die Frage nach der Grundlage bzw.dem Grundprinzip des Parlaments gestellt. Seine Antwort war schlicht und richtig: „Das Wesentliche des Parlaments ist also öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion, Parlamentieren . . ." Daß Schmitt seine Bestimmung der Grundlage des Parlamentarismus in einen Rahmen gesetzt hat, aus dem seine tiefe Skepsis gegenüber dem liberalen Gedankengut sehr deutlich wird, darf uns über die Richtigkeit seiner Grundthese nicht hinwegtäuschen. Parlamentarismus heißt „government by discussion", und demzufolge müssen wir uns regelmäßig die Frage stellen, ob eine tragfähige Grundlage für eben diese politische Ordnung vorhanden ist.

Seinerzeit hat Schmitt bekanntlich eine negative Antwort gegeben. Für ihn war das Heraufziehen der Massendemokratie mit der damit zusammenhängenden Betonung der Gleichheit und der Homogenität ein Zeichen dafür, daß die Epoche des Parlamentarismus im Sterben lag. Noch wichtiger war die Entwicklung politischer Parteien, die den Anspruch erheben, den politischen Willen des Volkeszum Ausdruck zu bringen, und die tatsächlich in den Regierungsgeschäften dominant sind. Gerade dadurch wurde für Schmitt die individualistische Grundlage des klassischen Parlamentarismus als .. government by discussion“ untergraben. Diese kritische Beurteilung der Chancen des Parlamentarismus wurde schon damals von vielen nicht akzeptiert, so zum Beispiel von Hermann Heller, der Schmitt u. a. vorgeworfen hat, die Notwendigkeit von Gemeinsamkeiten im politischen und sozialen Zusammenleben zu übersehen, die selbst Grundlage für die Kategorien der Öffentlichkeit und Diskussion seien Und Heller war es auch klar, daß der dezisionistische Kem des politischen Denkens Schmitts kaum mit dem Parlamentarismus in Einklang zu bringen war. Aber trotz aller Kritik, die Schmitt entgegengehalten werden kann, bleibt seine Fragestellung lohnend: Was halten wir heutzutage für das Prinzip des Parlamentarismus? Wie wird es insbesondere von dem Deutschen Bundestag vertreten? Und wie steht es in der sozialen und politischen Wirklichkeit um die Grundlage des Parlamentarismus und seiner Werte? Ich will versuchen, auf diese Fragen mit Hilfe einiger vergleichender Hinweise auf das britische Unterhaus einzugehen.

Die parlamentarische Regierungsform soll das effektive Regieren durch Mehrheitsbeschlüsse ermöglichen Es handelt sich dabei indes um weitaus mehr als um Mehrheiten nur bei Parlamentswahlen oder in den Entscheidungen des Parlaments. Es geht um die ständige Bemühung, Entscheidungen in einer Weise herbeizuführen, daß diese auch von den jeweiligen Minderheiten und von denjenigen, die überstimmt worden sind, getragen werden können. Hier liegt der Grund für die Betonung der Diskussion vor der Öffentlichkeit: Nur dadurch sind Verständnis und Vertrauen in der Gesellschaft aufrechtzuerhalten, die letzten Endes für die Bejahung von Mehrheitsbeschlüssen notwendig sind. Insoweit ist die Antwort von Carl Schmitt auf die Frage nach der geistigen Grundlage des Parlamentarismus noch zutreffend: Es handelt sich um die Diskussion vor der Öffentlichkeit.

Wenden wir uns jetzt dem heutigen Bundestag zu, so wird man nicht übersehen können, daß dort die Diskussion gelegentlich zu kurz kommt, die Öffentlichkeit manchmal übersehen wird. Wie sind diese kritischen Bemerkungen zu rechtfertigen? Das Ausschußsystem des Bundestages wurde bereits als eine Struktur gewürdigt, die eine effektive und spezialisierte Überprüfung der Gesetzesvorlagen gestattet. Die Kehrseite davon ist jedoch die relative Vernachlässigung der öffentlichen Auseinandersetzung im Plenum des Bundestages. In der Regel tagt das Parlament etwa 60 Tage im Jahr, weniger als die Hälfte der Sitzungstage, die im Durchschnitt vom britischen Unterhaus bewältigt werden. Hinzu kommt, daß die Sitzungen oft verhältnismäßig kurz sind: Häufig hat der Bundestag nach drei oder vier Stunden alle Tagesordnungspunkte erledigt.

Ein weiterer Aspekt desselben Problems liegt in der Arbeitsweise der Ausschüsse. Mit Ausnahme der öffentlichen Anhörungen, die seit Mitte der siebziger Jahre im zunehmenden Maße von vielen Aus-schlissen veranstaltet werden erledigen sie das Wesentliche ihrer Arbeit hinter verschlossenen Türen. Ein vollständiges Protokoll ihrer Beratungen wird nicht veröffentlicht; man erfährt von ihrer Arbeit nur durch die Berichte, die dem Plenum des Bundestages vorgelegt werden. So weiß die Öffentlichkeit zwar von den Entscheidungen der Ausschüsse, erfährt aber verhältnismäßig wenig von der Art und Weise, wie sie zustandegekommen sind.

Zum Vergleich sei auf die Veränderung hingewiesen, die im britischen Parlament in den letzten Jahren gerade in der Arbeitsweise der Ausschüsse stattgefunden hat. Die Gesetzgebungsausschüsse, die übrigens trotz ihrer Bezeichnung als „Standing Committees" keineswegs permanent oder spezialisiert sind, haben immer öffentlich getagt und dabei im Stile des Plenums debattiert. Die Select Committees — ihren Aufgaben in der Verwaltungsaufsicht Untersuchungsausschüssen vergleichbar — tagten früher hinter verschlossenen Türen, obwohl das vollständige Protokoll ihrer Diskussionen immer veröffentlicht wurde. Heutzutage tagen fast alle Select Committees (von denen es rund 15 gibt) öffentlich: Zwar finden die Beratungen über ihre Berichterstattung nicht vor den Augen der Öffentlichkeit statt, ansonsten aber darf das Publikum immer zuhören, die Presse kann darüber berichten. Auf diese Weise hat eine wichtige Änderung stattgefunden, durch die die Anteilnahme der Öffentlichkeit grundsätzlich gestärkt worden ist Wäre es nicht möglich, daß auch der Bundestag Schritte in diese Richtung unternehmen könnte?

Bei der Beantwortung dieser Frage kommt man an der Rolle der Parteien bzw.der Fraktionen nicht vorbei. Denn die Vorbehalte gegenüber Öffentlichkeit und Diskussion liegen nicht unbedingt im institutionellen Bereich, etwa in der Struktur des Bundestages oder in seiner Geschäftsordnung. Sie sind vielmehr bei den Parteien, ihren Interessen und Verhaltensweisen zu suchen.

Im Grundgesetz wird der Versuch unternommen, politische Parteien ausdrücklich an die Verfassungsordnung zu binden: Ihre Rolle bei der politischen Willensbildung des Volkes wird anerkannt woraus der Schluß gezogen worden ist, sie seien privilegierte Organisationen, zum Beispiel in bezug auf die Gewährung finanzieller Unterstützung für ihre Wahlkampftätigkeit aus öffentlichen Mitteln, eine Maßnahme, die 1966 vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt wurde. Da_fü_r__a_b_e_r_m_u_ß» ihre innere Ordnung nach demokratisehen Grundsätzen gestaltet werden, und nötigenfalls ist eine verfassungswidrige Partei durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes aufzulösen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus verständlich, daß die Parteien eine ausschlaggebende Rolle sowohl im allgemeinen politischen Leben als auch im Bundestag spielen. An mehreren Stellen in der Geschäftsordnung finden sie volle Anerkennung, zum Beispiel in den Bestimmungen zur Zusammensetzung der Ausschüsse, zur Einbringung von Anträgen im Plenum oder zur Einsetzung von Untersuchungsausschüssen. In der Tat ist es eher der einzelne Abgeordnete, der von der Geschäftsordnung etwas stiefmütterlich behandelt wird, so daß er größere Schwierigkeiten hat, als Unabhängiger oder Fraktionsloser überhaupt an der Arbeit des Bundestages teilzunehmen.

Die Parteien werden in verschiedenerWeise sowohl innerhalb als auch außerhalb des Bundestages befestigt und gestärkt. Im Bundestag verfügen sie seit langem über Fraktionsstäbe, Räumlichkeiten und finanzielle Mittel, die es ihnen ermöglichen, ihre Funktion als Bindeglieder im Bundestag und Träger der parlamentarischen Arbeit in professioneller Weise auszuüben. Daß Professionalisierung und Spezialisierung in der Politik soweit vorangetrieben worden sind, ist nicht zuletzt den Parteien und ihrer großzügigen Ausstattung zu danken. Gleichzeitig erhalten die Parteien außerhalb des Parlaments stattliche Beiträge zu ihren Wahlkosten — ein Verfahren, das in enger Verbindung mit dem System des Verhältniswahlrechtes zu sehen ist. Beide Bedingungen haben über die Jahre hindurch einen starken Konsolidierungseffekt gehabt, obwohl sie interessanterweise den Eintritt neuer politischer Parteien in die Reihe der Etablierten gewissermaßen sogar begünstigt haben Der allgemeine Effekt ist jedoch, daß die Parteien eine gesicherte Grundlage und eine geschützte Stellung im Staat haben, wie man sie in dieser Form nur selten in demokratisch verfaßten Ländern findet. Angesichts dieser Verhältnisse ist es nur verständlich, daß der alltägliche Ablauf der Geschäfte im Bundestag durchgehend von den Fraktionen und ihren Gremien und Vertretern bestimmt wird. Einerseits haben die Parteien ihre jeweiligen Interessen zu pflegen und zu vertreten, um sich die Gunst ihrer Wähler erhalten zu können. Andererseits sind sie als Organisationen meist daran interessiert, ihre einflußreiche Stellung im politischen Geschehen zu 14 sichern. Gelegentlich gibt es Ausnahmen, die diese Verallgemeinerung zu widerlegen scheinen, wie etwa seit 1983 das Verhalten der GRÜNEN im Bundestag zeigt. In der Regel jedoch passen sich alle Parteien allmählich ihrer privilegierten Stellung an: Sie erstreben in erster Linie die Einhaltung der einflußreichen Rolle und der bequemen Verhältnisse, die sie im Parlament haben.

Mit dieser Skizze der Dominanz der Parteien im parlamentarischen Leben der Bundesrepublik sind wir zur Problematik der politischen Grundlage des Parlamentarismus zurückgekehrt. Es gibt keinen Zweifel daran, daß Parlamente von der effektiven Mitwirkung der Parteien abhängen. Allein Parteien sind in der Lage, die politischen Meinungen und die Interessen der Wähler zu bündeln und zu vertreten. Insofern ist die moderne Demokratie notwendigerweise Parteiendemokratie. Zugleich sind jedoch Parteien auch eigennützige Gebilde, die leicht dazu tendieren, den in ihnen vorhandenen Interessen den Vorrang zu geben, einschließlich der Karriere-möglichkeiten, die sich heutzutage durch Parteien eröffnen. Gerade solche Umstände, die festgefügte Aspekte der sozialen und politischen Wirklichkeit unserer Tage sind, laufen manchmal dem Grundsatz der Öffentlichkeit und der Diskussion zuwider Diese Spannungen im Parlamentarismus treten in verschiedenen Ländern auf. Im Falle des Bundestages kommen sie sehr stark zum Ausdruck, weil er eben die Dominanz der Parteien weitgehend gefördert und bejaht hat. Deshalb entsteht für ihn die Gefahr, zu einem überorganisierten, lediglich im Dienste der Parteien stehenden Parlament zu werden. In der Regel wird der Ablauf der Geschäfte sehr sorgfältig vorausgeplant, so daß meistens alles „glatt über die Bühne läuft“. Unerwartete Interventionen sind selten, von der Technik des Filibusters — der von Minderheiten geübten Praktik, durch Marathonreden die Verabschiedung eines Gesetzes zu verhindern — gibt es keine Spur, Obstruktionen kommen heutzutage nur sehr selten vor.

Unter solchen Voraussetzungen droht die Tätigkeit des Bundestages — zumindest vom Äußeren her — ai einer bloßen Routine zu werden, was sich dann selbstverständlich in der Haltung der einzelnen Mitglieder des Parlaments niederschlägt. Der einzelne Abgeordnete wird in seine Fraktion fest eingebun-den, und die Fraktion bestimmt in der Regel seinen Tätigkeitskreis in den parlamentarischen Geschäften. Für den ehrgeizigen und eher unkonventionel-len Abgeordneten, der eine Karriere durch die eigenen Anstrengungen machen will und die Fähigkeit besitzt, erfolgreich an die Öffentlichkeit zu appellieren, gibt es hier nur, wenig Platz.

Diese Verhältnisse können anhand eines kurzen Vergleiches mit dem britischen Unterhaus beleuchtet werden. Eine weitgehende Professionalisierung des Berufes des Politikers hat auch in Großbritannien stattgefunden. Es gibt dennoch beachtliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Für die Erklärung dieser Unterschiede sind zwei Umstände von größerer Bedeutung. Zum einen sind die britischen Parteien eher lockere Organisationen, die vom Staat so gut wie keine materielle Unterstützung erhalten Und durch das Mehrheitswahlrecht sind sie auch nicht in der Lage, die Aufstellung von Kandidaten zentral zu steuern. Dementsprechend ist der einzelne Politiker weitgehend auf sich selbst angewiesen: Er (oder sie) muß seine eigene Karriere machen. Zum anderen liest sich die Geschäftsordnung des Unterhauses immer noch, als ob es keine Parteien gäbe: Grundsätzlich gibt es nur einzelne Abgeordnete, die sich dann in zwei Gruppen aufteilen, Minister und „private members“. Selbstverständlich spielen die Geschäftsführer der zwei maßgebenden Fraktionen — der Regierungspartei und der Opposition bzw. Alternativ-regierung — eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung des Ablaufes der parlamentarischen Arbeit. Darüber vergißt jedoch der einzelne Abgeordnete selten, daß die Spielregeln des Hauses ihm verschiedene — und für den Kenner der Prozeduren sogar zahlreiche — Möglichkeiten anbieten, eigene Initiativen zu entwickeln und sich dabei zu profilieren. Demzufolge dauern die Sitzungen des Unterhauses erheblich länger als die des Bundestages, der Ablauf der Geschäfte ist weniger berechenbar, und das, was sich im Plenum abspielt, ist oft farbiger und dramatischer als der Alltag im Bundestag.

Mit dieser Schilderung wesentlicher Unterschiede zwischen Bonn und Westminster wird keine Beurteilung der Effektivität beider Parlamente beabsichtigt. Obwohl das britische Unterhaus den Anschein erweckt, eine wichtige Rolle im politischen Geschehen zu spielen, spricht einiges für die These, der Bundestag sei in der Routinearbeit im Gesetzgebungsprozeß und in vielen Aspekten seiner Kontrollfunktionen effektiver. Sicher hat es in den achtziger Jahren viele Beispiele dafür gegeben, wie eine mit einer starken Mehrheit ausgestattete britische Regierung auch weniger populäre Vorlagen unangetastet durch das Parlament bringen konnte, während im Gegensatz dazu eine über die Mehrheit der Parlamentsstimmen verfügende Bundesregierung öfters dem Druck des Parlaments und der Koalitionsfraktionen nachgeben mußte. Aber schließlich wird hier nicht in erster Linie die Frage nach der Effektivität gestellt. Es geht vielmehr um einen bedeutenden Aspekt der grundlegenden Kategorien „Öffentlichkeit“ und „Diskussion“, nämlich um die Frage, welche Ausstrahlungskraft das Parlament als politische Institution besitzt.

Es ist wohl bekannt, daß das britische Parlament gerade in dieser Hinsicht immer noch wesentliche Vorteile genießt: Die historische Kontinuität, die sehr lange parlamentarische Tradition, das Selbstbewußtsein der politischen Eliten, das Parlaments-gebäude selbst als dramatische Schaubühne sind in diesem Zusammenhang u. a. zu nennen. Die hier — zu stark kontrastierende Nüchternheit — Sachlichkeit dürfte man vielleicht hinzufügen — des Bundestages ist oft kommentiert worden. Die Unterschiede im politischen Stil und in der damit zusammenhängenden Ausstrahlungskraft der beiden Institutionen werden nicht nur — und sehr wahrscheinlich nicht in erster Linie — von rein äußerlichen Gegebenheiten bestimmt. Ausschlaggebend ist das menschliche Verhalten, einschließlich der Art und Weise, wie die Beteiligten ihre politischen Aufgaben begreifen und wahrzunehmen gewillt sind.

Es ist mehr oder weniger unbestritten, daß der Bundestag seine Stellung im politischen System der Bundesrepublik erfolgreich konsolidiert hat. An seiner Funktionsfähigkeit kann es kaum Zweifel geben. Aber in bezug auf die Ausstrahlungskraft des Parlaments, seine Autorität und seinen Stellenwert in der öffentlichen Meinung liegen die Dinge etwas anders. Sicher lassen sich Bewertungen solcher Verhältnisse nicht leicht auf einen Nenner bringen, geschweige denn quantifizieren. Vieles spricht jedoch dafür, daß der Bundestag in einer etwas distanzierten Weise eher als ein tüchtiger Teil des Staatsgefüges denn als eine Quelle der politischen Autorität und als lebendige Vertretung des Volkes betrachtet wird. Wenn das der Fall sein sollte, so ist es mindestens teilweise auf eine verbreitete Skepsis den Parteien gegenüber zurückzuführen: Für ihre Mängel muß auch der Bundestag als „Versammlungsort der Parteien“ bezahlen.

Zum Schluß kommen wir zu der Frage, ob und wie diesen Verhältnissen entgegenzuwirken wäre. Daß es kein allein gültiges Modell der parlamentarischen Regierungsweise gibt, ist klar. Ebenfalls steht es außer Zweifel, daß kein Land die in seiner Geschichte herausgeformten Traditionen gänzlich abstreifen kann. Deshalb spricht wenig für den Vorschlag, der Bundestag brauche nur etwas mehr vom britischen Unterhaus oder vom amerikanischen Kongreß zu übernehmen, um seine Ausstrahlungskraft mühelos zu erhöhen. In der Politik sind einfache Rezepte für die Übertragung einer Institution in den Kontext einer anderen Tradition immer fehl am Platz. Dies schließt aber die Möglichkeit nicht aus, bei der Diagnose eines Problems einiges aus den Erfahrungen anderer Länder zu lernen. Wie wäre dann im Falle des Bundestages das anstehende Problem aus der Sicht der britischen Erfahrungen anzugehen?

Zwei Aspekte der hier gestellten Diagnose sind hervorzuheben. Erstens hat der Bundestag Schwierigkeiten, sich in überzeugender Weise als politische Institution darzustellen. Zweitens haben sich seine Mitglieder — und das heißt zugleich die Parteien, die in ihm vertreten sind — das Leben etwas zu bequem gemacht: Sie haben die Professionalisierung in der Politik zu weit getrieben. Selbstverständlich sind diese beiden Aspekte des Problems eigentlich nicht getrennt voneinander zu sehen. Was den zweiten Punkt betrifft, ist es jedoch viel einfacher, Empfehlungen zu geben, die möglicherweise die angesprochenen Probleme mildern könnten. Der erste Punkt ist grundsätzlich anderer Art, denn er betrifft eher das Verständnis des sozialen Geflechtes als Möglichkeiten des praktischen Handelns.

Man könnte sich verschiedene Maßnahmen vorstellen, die der allzu großen Berufssicherheit im politischen Leben entgegenwirken würden. An erster Stelle stünde eine erhebliche Reduzierung der Parteienfinanzierung, sowohl für die Rückerstattung der Wahlkampfkosten als auch für die Unterstützung der Fraktionen in ihrer Parlamentsarbeit. Durch einen solchen Schritt würde sehr wahrscheinlich das Ansehen der Politiker und der Parteien zunehmen, während die Parteien sich in der Zukunft erheblich mehr um ihre selbständige finanzielle Versorgung kümmern müßten Eine weitere erwägenswerte Möglichkeit sind Wahlrechtsänderungen, durch die die Rückversicherungschancen, die mit dem System der Landeslisten verbunden sind, vermindert werden würden. Ein solcher Einschnitt in die etablierten Interessen der Parteien braucht nicht unbedingt am Prinzip des Verhältnis-wahlrechtes selbst zu rütteln: Ein Verhältniswahl-recht, das auch Risiken des Scheiterns einbezieht, ist sehr gut vorstellbar Eine weitere bedenkenswerte Maßnahme wäre der Versuch, die engen Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung bzw. Staatsdienst zu entflechten, in der Hoffnung, daß allmählich einige Politiker weniger ihre Karriere als Kostgänger des Staates machen würden.

Ohne Zweifel haben Maßnahmen, wie sie eben skizziert worden sind, im Augenblick keine Chancen, verwirklicht zu werden. Sie berühren direkt und in anscheinend bedrohlicher Weise die Interessen und Besitzverhältnisse derjenigen, die allein in der Lage sind, die Bedingungen ihrer eigenen politischen Existenz zu verändern. Trotzdem ist es nicht ganz unrealistisch, eine Veränderung in der öffentlichen Meinung in bezug auf diesen Zustand der Risikofreiheit in der Politik zu bewirken, so zum Beispiel durch Beiträge aus der Wissenschaft oder Diskussionen in der Presse. Allmählich ließe sich eine starke Stimmung zugunsten des Abbaues einiger Parteienprivilegien herausbilden, die die Parteien selbst nicht ignorieren könnten. Von einer Verminderung der allzu bequemen Verhältnisse in der Politik könnte man sich dann eine größere Lebendigkeit im politischen Leben erhoffen und möglicherweise größere Vielfalt unter dem politischen Nachwuchs. Der einzelne Politiker oder Abgeordnete hätte mehr sich selbst zu behaupten, in einer Weise, wie es heutzutage in den etablierten Parteienstrukturen zumeist nicht mehr notwendig ist. Dies könnte seine persönliche Autorität stärken.

Wenn wir uns dem rein institutioneilen Aspekt des Problems zuwenden, ist die Sache erheblich undurchsichtiger. Eine Institution ist stark, wenn sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Sie erreicht diese Stärke nur, indem sie sich u. a. für die Beteiligten oder Betroffenen erfolgreich darstellt. Das heißt, die Institution muß in überzeugender Weise hervortreten, so daß die Beteiligten sich einigermaßen mit ihr identifizieren können. Dies ist zum Teil eine praktische Frage: Es geht darum, welche Verfahrensweisen die Institution hat, wie sie gegenüber der Öffentlichkeit auftritt, wie ihre Träger sich verhalten usw. Im großen und ganzen hat der Bundestag sich über die Jahre bescheiden und würdig gezeigt. Was jedoch seit den fünfziger Jahren weitgehend fehlt, ist ein Hauch rhetorischen Glanzes und die Fähigkeit, sowohl politische Fragen als auch die eigene Bedeutung als Institution der Öffentlichkeit in aller Klarheit zu verdeutlichen. Die Darstellungsfähigkeit von Institutionen hängt aber auch von der Einsicht der Bevölkerung in die Notwendigkeit verschiedenartiger institutioneller Bindungen für das soziale Zusammenleben ab. Dieses Verständnis ist überall schwächer geworden, es wurde jedoch durch die Erfahrungen vor 1945 in Deutschland besonders stark erschüttert. Nicht von ungefähr kommt die während der letzten Jahrzehnte zu beobachtende Neigung, die institutionalisierten Lebensformen als mehr oder weniger überflüssig zu betrachten, so zum Beispiel im Universitätsbereich, wo der Sinn für das Institutionelle so gut wie verschwunden ist. Der mündige Bürger, so hieß es oft, solle in die Lage versetzt werden, sein Leben ohne den Rückhalt der Institutionen gestalten zu können; „der herrschaftsfreie Diskurs“ sei ein Ziel an sich, das auch außerhalb jedes institutionellen Rahmens zu verwirklichen sei.

Diese Bemerkungen trafen die Zustände der späten sechziger und der siebziger Jahre. Heutzutage ist die Stimmung den Institutionen gegenüber in den westlichen demokratisch regierten Ländern möglicherweise nicht mehr ganz so negativ. Wenn das der Fall sein sollte, wäre dies ein günstiger Ausgangspunkt für eine allmähliche Stärkung der institutionellen Stellung und der Selbsteinschätzung des Bundestages und daher seiner Ausstrahlungskraft als souveräner Institution. Man kann jedoch nicht mit Sicherheit vorhersagen, ob sich solche Tendenzen erfolgreich durchsetzen werden. Es gibt im sozialen Leben sehr viele Gegenkräfte und Gegeneinflüsse, in erster Linie die Dynamik unserer Konsumgesellschaften, in denen die Bedürfnisse anscheinend grenzenlos sind. Unter solchen Vorzeichen verwundert es nicht, daß die rein instrumenteilen Gesichtspunkte meistens vorherrschen und daß man sich nur wenig mit dem normativen Inhalt der Institutionen befaßt.

Der Bundestag steht nicht allein vor dieser Herausforderung an den Parlamentarismus in unserer Zeit: Sie stellt sich überall. Vierzig Jahre sind für die Herausbildung und Verselbständigung einer Institution nur eine kurze Zeitspanne. Dem Bundestag sind in dieser Zeit beachtliche Leistungen für die Konsolidierung der parlamentarischen Demokratie zuzuschreiben. Die Herausforderung der kommenden Jahre wird sehr wahrscheinlich nicht so sehr darin bestehen, die praktische legislative Arbeit möglichst reibungslos zu bewältigen, als vielmehr darin, den Bundestag als eine demokratisch legitimierte Institution im Bild der Wähler über die politische Beschaffenheit ihres Staates und ihrer Gesellschaft stärker zu verankern.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Grundgesetz (GG) Art. 38, Abs. 1.

  2. Ausführlich zu den Ausschüssen des Bundestages und ihrer Rolle N. Johnson. Committees in the West German Bundestag, in: Committees in Legislatures, hrsg. von J. D. Lees und M. Shaw, Duke 1979.

  3. Die Gesetzgebungsfunktion hat in der Meinung der Abgeordneten immer an erster Stelle gestanden, siehe zum Beispiel die Antworten, die 1968 in einer Umfrage gegeben wurden, in: P. Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949— 1982, Baden-Baden 1983, S. 140.

  4. Zum britischen Verständnis der Opposition und ihrer Rolle siehe N. Johnson, Opposition als Staatseinrichtung und Alternativregierung: Das britische Modell, in: Parlamentarische Opposition. Ein internationaler Vergleich, hrsg. von H. Oberreuter, Hamburg 1975.

  5. Es sei darauf hingewiesen, daß die drei Bände des Datenhandbuchs zur Geschichte des Deutschen Bundestages (1949-1982, 1980-1984, 1980-1987, Baden-Baden 1983, 1986. 1988), die jetzt vorliegen, eine unentbehrliche Quelle der Information über die Arbeit und Aufgaben des Parlaments sind. Die Bände enthalten ausführliche statistische Daten über alle Aspekte der Parlamentstätigkeit und stellen eine eindrucksvolle wissenschaftliche Leistung dar.

  6. In der 10. Wahlperiode wurden ungefähr 50 000 Petitionen vom Petitionsausschuß behandelt: Siehe Datenhandbuch 1980-1987 (Anm. 5>, S. 806.

  7. C. Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 19262.

  8. Ebd., S. 43.

  9. Vgl. H. Heller, Politische Demokratie und soziale Homogenität, Berlin 1928.

  10. Diese Einsicht hat sich in England schon sehr früh durchgesetzt. Grundlegend: W. Bagehot, The English Constitution. 1867 (deutsche Übersetzung Neuwied 1971). Bagehot sah die erste Funktion des Parlaments in der Wahl einer Regierung bzw. eines Regierungschefs und in der Unterstützung derselben.

  11. Die Zahl der öffentlichen Anhörungen ist in den letzten Jahren erheblich gestiegen: 8. Wahlperiode (WP) — 70, 9. WP — 51, 10. WP — 165. Weitere Daten in: Datenhandbuch 1980-1987 (Anm. 5), S. 482-497.

  12. Zu der 1979 eingeleiteten Reform der Select Committees siehe The New Select Committees, hrsg. von G. Drewry, Oxford 1985.

  13. Vgl. Art. 21 Abs. 1 GG.

  14. Trotz der Änderung des Parteiengesetzes im Jahre 1967, bei der die Mindestschwelle für die Wahlkampfkostenerstattung auf 0, 5 Prozent der Wählerstimmen abgesenkt wurde, war oft die Meinung zu hören, die Parteifinanzierung müsse notwendigerweise in erster Linie die etablierten Parteien begünstigen. Diese Annahme hat sich als falsch erwiesen: Der Aufschwung der GRÜNEN seit 1978 und zur Zeit der Republikaner sind zum Teil dem finanziellen Sockel zu danken, den sie durch die Bereitstellung öffentlicher Gelder erhalten.

  15. Zahlreiche Aspekte der oligarchisierenden Tendenzen in politischen Parteien hat schon Ende des 19. Jahrhunderts >• Ostrogorski behandelt (M. Ostrogorski, Democracy and 'm Organisation of Political Parties, 2 Bde., 1902). M. Ost-rogorski ist in vielem ein wichtiger Vorläufer von Robert Michels.

  16. Eine Rückerstattung von Wahlkampfkosten findet in Großbritannien nicht statt. Vom Staat werden nur einige Dienstleistungen, wie zum Beispiel eine freie Postzustellung von Wahlkampfmaterial und freie Sendezeit im Fernsehen und Rundfunk, zur Verfügung gestellt. Ferner erhalten die Oppositionsfraktionen im Unterhaus einen bescheidenen Beitrag zur Unterstützung ihrer Aufgaben im Parlament. Siehe M. Pinto-Duchinsky, British Political Finance 1830— 1980, Washington-London 1981.

  17. Hier wird keine Rücksicht auf das damalige Argument zugunsten der Parteifinanzierung aus öffentlichen Mitteln genommen, nämlich, daß solche Subventionen die Parteien von dem allzu großen Einfluß ihrer Geldgeber befreien würden. Heute ist es klar, daß die großzügige Parteifinanzierung ganz andere Schwierigkeiten mit sich gebracht hat, die Anlaß zum Überdenken des Systems geben.

  18. Zum britischen Verständnis einer echten Wahl gehört das iiko des „Durchfallens“ für einzelne Teilnehmer: Es muß en echter Wettbewerb mit Gewinnern und Verlierern herrhen. Zur Bedeutung dieser Vorstellung für die Beibehal-ung des relativen Mehrheitswahlrechtes siehe N. Johnson, The Majority Principle and Consensus in the British Constitutional Tradition, in: Mehrheitsprinzip. Konsens und Verfassung. Kieler Symposium vom 14. — 16. Juni 1984. hrsg. von H. Hattenhauer und W. Kaltefleiter, Heidelberg 1986, S. 165.

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Nevil Johnson, geb. 1929; 1952— 1962 Tätigkeit im höheren Staatsdienst; 1962— 1969 Lehrtätigkeit an den Universitäten Nottingham und Warwick; seit 1969 Nuffield Reader in Vergleichender Regierungslehre an der Universität Oxford und Professorial Fellow am Nuffield College; Gastprofessuren an den Universitäten Bochum (1968/69) und München (1980); Mitglied in zahlreichen öffentlichen Gremien. Veröffentlichungen u. a.: Parliament and Administration. The Estimates Commitee 1945— 1965. 1967; Die englische Krankheit. Wie kann Großbritannien seine politische Krise überwinden?, 1977; State and Government in the Federal Republic of Germany, 1983 2; The Limits of Political Science, 1989; zahlreiche Aufsätze in britischen und deutschen Fachzeitschriften.