Vierzig Jahre Grundgesetz — vierzig Jahre parlamentarisch-repräsentativ verfaßte Demokratie — vierzig Jahre Bundesrepublik Deutschland: Diese Jubiläen können für Parteien, Parlamentarier und Politiker nicht nur Anlaß für Feierstunden sein, sondern auch eine willkommene Gelegenheit zum Nachdenken über Erreichtes und Nichterreichtes. Nachdenken zum Beispiel auch über jenen hintersinnigen Satz Richard von Weizsäckers aus seiner großen Rede zum vierzigsten Verfassungstag am 24. Mai dieses Jahres: „Wir haben eine gute Verfassung . . , Sind wir aber auch in guter Verfassung?“ Mit dieser Fragestellung hat unser Staatsoberhaupt genau die Problematik umrissen, die immer mehr Demokraten in allen politischen Lagern beunruhigt: Wie steht es um die innere Verfassung unseres Gemeinwesens? Wo liegen die Ursachen für den Entfremdungsprozeß zwischen Bürgern und Parteien, zwischen Wählern und Gewählten, für den Ansehensverlust der Parlamente und für die Diskrepanz zwischen Verfassungsauftrag und Verfassungswirklichkeit? Richard von Weizsäcker provoziert uns geradezu, über die Verfassung unserer politischen Kultur nachzudenken. Hierzu möchte ich im folgenden am Beispiel des äußeren und inneren Zustands unseres parlamentarischen Systems einen Beitrag leisten.
I. Der Auftrag des Grundgesetzes
Der Ort, an dem unsere politische Kultur „entspringt“, geprägt und hautnah erfahrbar wird, der Schauplatz, auf dem der Verfassungsauftrag zur Verfassungswirklichkeit wird (leider zunehmend auch die Diskrepanz zwischen beiden!), ist das Parlament. Sein Selbstverständnis, seine Arbeitsweise, sein Erscheinungsbild, seine Glaubwürdigkeit und seine Mittlerfunktion zwischen Bürger und Staat entscheiden über das Ansehen der repräsentativen Demokratie. Hier treffen die Verfassungsbestimmungen über Volkssouveränität, Parteienmacht, Staatsräson und personaler Gewissenhaftigkeit des Volksvertreters zusammen und vermengen sich zur Verfassungswirklichkeit.
Die einschlägigen Verfassungsbestimmungen, die so etwas wie die Eckpfeiler unseres repräsentativen Systems ausmachen, lauten wie folgt: -„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. “ (Artikel 20 Abs. 2 GG) -„Die Parteien wirken bei derpolitischen Willensbildung des Volkes mit.“ (Artikel 21 Abs. 1 GG) -„Die Abgeordneten . . . sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“ (Artikel 38 Abs. 1 GG)
Mit diesen drei Eckpfeilern wurde unser parlamentarisches System 1949 im Grundgesetz (wohlgemerkt dem Fundament einer traditionell überlegenen Staatsmacht) abgesteckt. Nach vierzig Jahren ist zu fragen, wie sich ihre Zuordnung und Gewichtung zueinander entwickelt haben: „Stimmen“ die Relationen zwischen ihnen, erweisen sie sich als ausreichend tragbar und belastbar? Hieran hege ich aufgrund meiner jahrzehntelangen parlamentarischen Erfahrung wachsende Zweifel, die ich im Rahmen dieses Beitrages nicht umfassend, vielmehr nur partiell am Beispiel des Teilbereiches „Funktionsfähigkeit des Parlaments“ begründen möchte, eines Teilbereiches allerdings, an dem der Zustand des „Dreipfeilersystems“ deutlich wird.
Bei der Begründung meiner Zweifel berufe ich mich zuerst und vor allem aufjenes Verfassungsgebot des Artikels 38 Abs. 1 des Grundgesetzes, weil mit ihm eine Mitverantwortung des einzelnen Volksvertreters für die Funktionsfähigkeit und das Ansehen des Ganzen konstituiert wurde. Bei dieser Berufung greife ich auf die Entstehungsgeschichte zurück, die für mich und andere Abgeordnete entscheidend für unsere Überlegungen zur Parlamentsreform waren und sind. Unsere Verfassungsväter hatten — wie in den Protokollen des Parlamentarischen Rates nachzulesen ist — zweifellos überwiegend moralische Gründe, den Artikel 38 Abs. 1 GG so zu formulieren, wie er in seiner Lang-fassung schließlich mit folgendem Wortlaut ange-nommen wurde: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Jeder Abgeordnete folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen.“
Der CDU-Abgeordnete Dr. Süsterhenn begründete diese Formulierung in der Sitzung des Haupt-ausschusses am 11. November 1948 wie folgt: „Die sogenannte klassische Fassung, in der gesagt wird, daß die Abgeordneten nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sind, hat den Fraktionszwang mit all seinen unerfreulichen Erscheinungen nicht verhindern können. Ob das überhaupt möglich ist, erscheint mir sehr fraglich. Immerhin sollte man, weil die klassische Formulierung sich jedenfalls nicht bewährt hat, bei Satz dieses Artikels eine Formulierung wählen, die diepersönliche Gewissensentscheidung und auch die persönliche Freiheit des Abgeordneten etwas schärfer herausstellt. Das wäre dann wenigstens eine Mahnung an die Abgeordneten, sich nach ihrer persönlichen Entscheidung zu orientieren . . ." 2)
In den vorangegangenen Diskussionen hatten mehrere Abgeordnete immer wieder die Bedeutung des ethischen Wertes dieser Bestimmung unterstrichen. So der Abgeordnete Dr. Dehler (FDP) als er feststellte, daß diese Bestimmung eine „wesentliche Grundlage unseres politischen Lebens“ darstelle und „daher unentbehrlich“ sei. Schließlich wurde in der Endredaktion des Grundgesetz-Textes die oben zitierte Fassung „gestrafft“ und sprachlich verbessert“ mit dem Ziel, daß „das Recht des Abgeordneten auf freie Entscheidung ausreichend zum Ausdruck kommt“. Also sprachen und entschieden die Väter unserer Verfassung.
II. Die parlamentarische Wirklichkeit
Dieses „Recht auf die persönliche Entscheidung“, durch die Mitverantwortung überhaupt erst möglich wird, was ist daraus geworden? Welche Rolle hat der Artikel 38 Abs. 1 GG in den fast vierzig Jahren seit der ersten Konstituierung des Bundestages am 7. September 1949 für das Selbstverständnis der Volksvertretung und der hierzu gewählten Volksvertreter gespielt?
Auftrag und Begründung des Artikels 38 Abs. 1 sind — wie eben dargestellt — eindeutig. Nach seiner Konstituierung gab sich der erste Deutsche Bundestag eine vorläufige Geschäftsordnung, in der die „Rechte und Pflichten“ seiner Mitglieder im ersten Abschnitt noch ganz an den Anfang gestellt wurden. (Heute sind sie erst im fünften Abschnitt der Geschäftsordnung zu finden.) Der einzelne Abgeordnete hatte zunächst eine größere Zahl von Individualrechten, seine Rederechte wurden freizügig gehandhabt, freie Wortmeldungen waren möglich, und das Abstimmungsverhalten der Fraktionen war sehr viel weniger einheitlich als heute. Hierfür ein Beispiel:
Anläßlich der Abstimmung über die ersten Wiedergutmachungsleistungen an den Staat Israel am 18. März 1953 stimmten in der 146köpfigen CDU/CSU-Fraktion 84 Abgeordnete mit Ja, fünf mit Nein, 40 enthielten sich, und 18 fehlten. In der 49köpfigen FDP-Fraktion gab es 17 Ja-Stimmen, fünf Nein-Stimmen, 19 Enthaltungen, acht Abgeordnete fehlten. Von der 20 Mitglieder zählenden Fraktion der rechtskonservativen „Deutschen Partei“ stimmten fünf Abgeordnete mit Ja Ohne die einstimmige Unterstützung der in Opposition zur Regierung stehenden Sozialdemokraten hätte der Vertrag mit Israel damals im Deutschen Bundestag keine Mehrheit gefunden. Heute wäre ein solch eigenständiges und heterogenes Abstimmungsverhalten völlig undenkbar!
Wenn man die Namen der damals mit Ja, mit Nein oder mit Enthaltung abstimmenden Abgeordneten nachliest, wird eindeutig klar: In diesen Anfangsjahren hat jeder Volksvertreter seine Stimme tatsächlich nach bestem Wissen und Gewissen abgegeben. Weder gab es die heute übliche rigide Fraktions-und Koalitionsdisziplin, noch ließen sich die Abgeordneten in überzogenen Reglementierungen „von oben“ einbinden.
Dieses Selbstverständnis hat sich im Laufe der Jahrzehnte aus vielerlei Gründen in Theorie und Praxis stark geändert. Nicht nur symbolisch, indem die Festlegung der „Rechte der Mitglieder des Bundestages“ vom ersten Abschnitt der Geschäftsordnung in den fünften gerutscht sind. Auch die Rechte selber und damit das Selbstverständnis nachwachsender Volksvertreter haben sich fundamental gewandelt: Die Machtpositionen der Fraktionen wurden, begründet auf Artikel 21 GG, instrumentell, finanziell und organisatorisch so ausgebaut, daß das „freie Mandat“ des Abgeordneten in einem Parlament alles bestimmender Fraktionen im Laufe der Jahrzehnte zur bloßen Proklamation und seltenen Ausnahmen verkümmerte. Unmißverständlich formuliert: Aus dem „Vertreter des ganzen Volkes“ ist der „weisungsgebundene“ Parlamentarier und Fraktionsfunktionär geworden.
Über diese Entwicklung wurde zwar seit Mitte der sechziger Jahre von unabhängigen Abgeordneten immer wieder Klage geführt, leider jedoch vergeblich und wohl auch nicht nachdrücklich genug. Zwei Zitate aus unterschiedlichen politischen Lagern und die Meinung einer Wissenschaftlerin sollen dies belegen.
Der CDU-Abgeordnete Hans Dichgans schrieb 1975: „Die Fraktionsspitzen sollten sich darum bemühen, den Freiraum derAbgeordneten bewußt und systematisch zu erweitern. Könnten nicht dieArbeitskreise, bevor sie Fraktionsmeinungen festlegen, zunächst einmal darüber beraten, bei welchen Punkten aus übergeordneten politischen Gründen die Fraktion wirklich geschlossen abstimmen muß? . . . Wer heute etwas Unorthodoxes betreiben will, wird väterlich darauf hingewiesen, es sei doch für ihn selbst ebenso unangenehm wiefür die Fraktion, wenn diese späterhin den Antrag des eigenen Kollegen nieder-stimmen müsse. Ich habe nie verstanden, warum der einzelneAbgeordnete das Risiko scheuen solle, überstimmt zu werden. In der Plenarsitzung wird doch eine Minderheit überstimmt, ohne daß sie sich deshalb minderwertig fühlt. Liegt das Abbremsen von Initiativen wirklich im Interesse der Partei oder nur im Interesse einer Vorstellung der Fraktionsoberen? Daß in diesem Zusammenhang so oft das Wort Fraktionsdisziplin’ auftaucht, stimmt mich skeptisch . . .“
Der SPD-Abgeordnete Dieter Lattmann stellte Ende der siebziger Jahre fest: „Immer mehr Parlamentarier gestehen sich ein, daß sie nicht einmal mehr wissen, wie oft sie manipuliert werden, denn er kann es nicht mehr kontrollieren . . . Das mindeste, was man von Parlamentariern erwarten sollte, ist, daß sie ihre buchstäblich abgrundtiefe Unsicherheit offen darlegen sollten bei Fragen, in denen sie sich durch den Widerstreit der Experten entmachtetsehen und erfahrungsgemäß auch dem uniformen Votum der Fraktionen nicht trauen können. In dieser Lage gibt es keine glaubhafte Haltung ohne Aufrichtigkeit. . ."
Zu derselben Einschätzung kommt auch Maria Mester-Grüner, die eine Zeitlang als Assistentin eines Abgeordneten tätig war, in ihrer soziologischen Untersuchung „Beruf Abgeordneter“: „Die in der Verfassung vorgesehene Vertretung des ganzen Volkes verengt sich zum Imperativ einer Partei oder von Interessengruppen . . . Die Anwesenheit des Abgeordneten ist zumeist nur noch nominell erforderlich; Geschäftsordnung, Tradition, parlamentarische Spielregeln, Bürokratien sowie diffuse Herrschaftsbeziehungen behindern den politischen Gestaltungswillen . . ,“
Diese Zitate entsprechen exakt der Wirklichkeit, auch wenn dies natürlich offiziell weder zugegeben noch eingestanden wird. Zusammenfassend möchte ich dem Urteil des heutigen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zustimmen, der Anfang der achtziger Jahre — damals noch als Regierender Bürgermeister von Berlin — das Problem treffend charakterisierte: „Insgesamt ist unser repräsentatives System zu einem Parteiensystem geworden . . . Die Parteien sind es, die durch Kandidatenauswahl-monopol, Koalitionsverträge und Fraktionsdisziplin die Abgeordneten in hohem Grade abhängig gemacht haben.“
III. Erster Anlauf zur Wiederentdeckung des Artikels 38 Abs. 1 GG (1984-1986)
Weizsäcker und andere haben die parlamentarische Wirklichkeit zutreffend und nüchtern beschrieben: Indieser Wirklichkeit ist der an „Aufträge und Weisungen nicht gebundene und nur seinem Gewissen Verpflichtete" Volksvertreter — von ganz wenigen Ausnahmen und Sternstunden abgesehen — eine Art „Fata Morgana unserer Verfassungsväter“ gerieben. Allenfalls bei Antrittsreden von Parla-mentspräsidenten o jer in Lehrbüchern wird diese Formel beschworen, wie folgendes Zitat von Karl Carstens nach seiner Wahl zum Bundestagspräsidenten im Dezember 1976 belegt: „Der Deutsche Bundestag ist der sichtbarste Ausdruck des Freiheitswillens des deutschen Volkes. Seine Mitglieder werden infreien Wahlen gewählt, die Debatten sindfrei, die Abgeordneten sind — so heißt es im Artikel 38 des Grundgesetzes — , an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen'. Ich meine, daß dies die Magna Charta des Deutschen Parlaments ist. “
Für diese Worte spendeten die Abgeordneten — so vermerkt das Protokoll — dem Präsidenten anhaltenden Beifall; nahmen sie ihn aber, nahmen sie sich selber beim Wort? Meinte es der damalige Parlamentspräsident ernst mit dem, was er da postulierte? Hat er in der Folgezeit die Abgeordneten ermutigt und dabei unterstützt, diese „Magna Charta“ zum Maßstab ihres parlamentarischen Handelns und Verhaltens zu machen? Dafür gibt es keine Anzeichen.
Episteln wie die über Artikel 38 Abs. 1 als „Magna Charta“ des Bundestages halten dem parlamentarischen Alltag hinsichtlich der Realitäten eines aus Überzeugungs-oder Gewissensgründen abweichenden Abstimmungsverhaltens nicht stand. Dies durchzustehen, bedarf es großer innerer und äußerer Unabhängigkeit, die sich ein nach Positionen und Erfolg strebender — und hierfür vom Wohl-wollen seiner Fraktionsführung abhängiger — Parlamentarier kaum leisten kann.
Ein Abgeordneter, der wegen seines Abstimmungsverhaltens in wirkliche Überzeugungs-und Gewissenskonflikte gerät (und das geschieht öfter, als er zugibt) und der sich schließlich zu Gunsten „seiner Überzeugung und seines Gewissens“ entscheidet, muß dies womöglich um den hohen Preis seiner politischen Karriere tun, und dieser Preis erweist sich einfach als zu hoch. Dies war von den Vätern der Verfassung ganz sicher nicht vorgesehen. Zivilcourage ja, aber kein Selbstopfer! Hier klafft das eigentliche Glaubwürdigkeitsdefizit unseres parlamentarischen Systems.
Nun konstituiert der Wortlaut des Art. 38 Abs. 1 GG aber ganz sicher auch das „freie Mandat“, das heißt eine personale Mitwirkung des Abgeordneten. Als „Vertreter des ganzen Volkes“ soll er nach persönlicher „Überzeugung“ gewissenhaft „reden und handeln“ — und das heißt folgerichtig, daß er Mitverantwortung trägt für die Funktionsfähigkeit und das Ansehen der Volksvertretung als Ganzes. Mitverantwortung auch für ihre Schwachstellen und Defizite.
Genau dieses weiterführende Verständnis für den Auftrag des Grundgesetzes war es, das Abgeordnete aus allen Bundestagsfraktionen vor fünf Jahren zu einer Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform zusammengeführt und seither zu beharrlichem Durchhalten ermutigt hat. In ihrem „Gründungspapier“, das, von etwa hundert Abgeordneten unterzeichnet, im April 1984 dem damaligen Parlamentspräsidenten Rainer Barzel zugesandt wurde, heißt es: „Abgeordnete aus allenFraktionen machen sich verstärkt Gedanken über die Bedeutung des Artikels 38. 1 GG für die parlamentarische Arbeit. Sie gehen davon aus, daß mit dieser Bestimmung begründet wird: — eine persönliche Mitverantwortung des Abgeordneten für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit des Parlaments in der Öffentlichkeit, — eine persönliche Mitverantwortung für das Gesetzgebungsverfahren, bei derpolitischen Willensbüdüng und bei der Kontrolle der Regierung und Exekutive sowie — eine persönliche Verantwortung für die Gewissenhaftigkeit des Verhaltens als, Vertreter des ganzen Volkes“, bei, Reden und Handlungen, Wahlen und Abstimmungen“. . .
Auf dieser Grundlage hat sich ein zunächst kleiner Kreis von Abgeordneten erste grundsätzliche Gedanken gemacht. Dabeiging es vorallem darum, ob und wie eine innerparlamentarische Diskussion überdiesen wichtigen und unerschlossenen Fragenkomplex in Gang gesetzt werden kann . . . Die Unterzeichner bitten den Herrn Bundestagspräsidenten, diese Initiative und weitere vorliegende Anregungen zum Anlaß zu nehmen, um noch vor der Sommerpause eine Plenardebatte über das Selbstverständnis unserer parlamentarischen Arbeit anzusetzen. “
Auf diesen ersten Anstoß folgte am 20. September 1984 eine mehrstündige, teilweise sehr lebendige erste Selbstverständnisdebatte, die zu einer abschließenden Entschließung des Bundestages mit folgendem Wortlaut führte: „Der Deutsche Bundestag hält es im Anschluß an die Debatte vom 20. September 1984 für erforderlich, seine Arbeitsweise und öffentliche Wirksamkeit als unmittelbar vom Volk gewähltem Verfassungsorgan zu verbessern. Zugleich soll die Stellung der einzelnen Abgeordneten, wiesie sich aus Artikel 38 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt, gestärkt werden. Er begrüßt die Initiative des Bundestagspräsidenten, die Stellung des Deutschen Bundestages im Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen und Institutionen deutlich zu machen. Dabei soll insbesondere erreicht werden — eine lebendigere undoffenere Gestaltung von Plenardebatten, — ein verstärktes und wirksameres Kontrollrecht des Parlaments, z-B. durch eine Verbesserung des Frage-und Informationsrechtes, eine aktuellere Befassung des Parlaments mit Kabinettsentscheidungen usw., — weitere Maßnahmen zur Verbesserung der Wirkungsmöglichkeiten und zur Stärkung des Ansehens des Parlaments und seiner Abgeordneten . . .
Der Deutsche Bundestag schlägt die Einsetzung einer vom Präsidenten geleiteten Ad-hoc-Kommission , Parlamentsreform“ vor. Diese Kommission soll bis zum Frühjahr 1985 die vorliegenden Initiativen zur Verbesserung der parlamentarischen Arbeit entwikkein.“ Mitdem Ergebnis dieses erstmaligen Vorstoßes waren die Initiatoren hochzufrieden und voller Hoffnung auf weitere Fortschritte. Leider blieben diese jedoch bis zum Ende der 10. Legislaturperiode aus, weil Rainer Barzel bereits wenige Wochen nach Konstituierung der „ad-hoc-Kommission" als Bundestagspräsident zurücktreten mußte und sein Nachfolger Philipp Jenninger zunächst weder besonderes Interesse noch Engagement in Sachen Parlamentsreform zeigte. Immerhin gelang es noch in der letzten Sitzung der 10. Legislaturperiode im Dezember 1986, den Wortlaut des Artikels 38 Abs. 1 GG in die Geschäftsordnung aufzunehmen und mit folgendem weiterführenden Auftrag zu versehen: „Zur Sicherung der kontinuierlichen Weiterarbeit an der Parlamentsreform in der 11. Legislaturperiode wird festgehalten: , Vom 11. Deutschen Bundestag wird erwartet, daß er die vom 10. Deutschen Bundestag begonnene Arbeit fortsetzt und dabei nicht erledigte Anträge zur Änderung der GO aufgreift und berät, für deren abschließende Beratung im 10. Deutschen Bundestag keine Zeit mehr war. * “
IV. Der zweite Anlauf zur Parlamentsreform (1987— 1989)
Nach der Bundestagswahl im Januar 1987 versuchte ich einen zweiten Anlauf. Zunächst richtete ich eine Anfrage an alle 518 Abgeordneten, in der es hieß: „Wenn sich der Deutsche Bundestag in eigener Sache als reformfähig erweisen will, muß die Weiterarbeit der kaum begonnenen , inneren“ Parlamentsreform sowie an den notwendigen, technisch-organisatorischen Verbesserungen umgehend aufgenommen werden. Eine gründliche Überarbeitung der Geschäftsordnung im Sinne der Beschlußfassung des Deutschen Bundestages vom 20. September 1984 ist die Voraussetzung hierfür. Der Deutsche Bundestag solltesich das Zielsetzen, eine in diesem Sinnegestaltete Geschäftsordnung bis zum 7. September 1989 -dem 40. Jahrestag seiner ersten Konstituierung — abgeschlossen zu haben.
Folgende Bereiche der Geschäftsordnung sind besonders reformbedürftig:
-deutliche Stärkung der Kontrollfunktion der Legislative und ihrerAusschüsse gegenüber der Exekudve (z. B. verbessertes Fragerecht, Kabinettsberichterstattung, Akteneinsicht, Unterstützung der Abgeordneten in der Ausschußarbeit etc.)
-Stärkung des Informations-, Frage-und Initiatiwechtes des Abgeordneten in Ausformung des neu in die GO eingefügten Wortlautes des Grundgesetz-artikels 38. 1Reform der Redeordnung, Ermöglichung freier Wortmeldung und DebattenrundenVerankerung der Grundrechte (Pflichten des Abgeordneten, wie sie sich aus Art. 38 GG ergeben)
Verbesserung des Ansehens des Parlaments und der Transparenz seiner Arbeit (z. B. Verhaltensko-dex, Debattenstil, Anhörung und Petitionsrecht, odrgeranhörungen). “
-------------- Das Ergebnis meiner Anfrage war überaus ermutigend. Trotz spürbarem Mißbehagen bei den Fraktionsführungen wurden die eben zitierten „Überlegungen und Zielsetzungen für die 11. Legislaturperiode“ von knapp 200 Bundestagsabgeordneten aus allen Fraktionen unterschrieben. Der zweite Anlauf konnte beginnen.
Diesmal organisierten wir unsere Zusammenarbeit in neuer Form: in offenen Arbeitsfrühstücken und in Arbeitskreisen (zum Beispiel für Debattenreform, Petitionsrecht, Betreuung der Besuchergruppen, Femsehübertragungen, Einteilung der Sitzungswochen). Wir bestimmten vier Sprecher und suchten regelmäßig Kontakt mit Fraktionsgeschäftsführern und dem Bundestagspräsidium.
Im August 1987 wurde im Bundestag folgender Grundsatzantrag eingebracht: „Der Bundestag möge beschließen:
1. Der Geschäftsordnungsausschuß wird beauftragt — in Zusammenarbeit mit der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform —, bis zur Sommerpause 1988 eine gründliche Überarbeitung der Geschäftsordnung mit folgenden Zielen vorzubereiten:
— Das politische Gewicht des Parlaments und seine Kontrollaufgaben gegenüber der Exekutive sollen in allen Tätigkeitsbereichen des Parlaments (Ausschußarbeit, Fragestunde, Kabinettsberichterstattung, Initiativ-und Informationsmöglichkeiten der Abgeordneten, Anhörungen) deutlich gestärkt werden. — Die Redeordnung soll offener und lebendiger gestaltet werden. Bei größeren Debatten sind freie Wortmeldungen zu ermöglichen. — Die Mitwirkungsmöglichkeiten.des einzelnen Abgeordneten, seine Rechte und Pflichten sollen — in Konkretisierung des § 13 Abs. 1 der Geschäftsordnung (, Die Mitglieder des Bundestages sind verpflichtet, an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen. Jedes Mitglied des Bundestages folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen. ) — im Ab- schnitt V der Geschäftsordnung zusammengefaßt und verdeutlicht werden.
2. Der Geschäftsordnungsausschuß wird gebeten, bei der Vorbereitung von umstrittenen Änderungen der Geschäftsordnung (zum Beispiel Redeordnung, Fragestunde) dem Deutschen Bundestag zunächst Vorschläge zur Erprobung alternativer Lösungen zu machen.
3. Es wird empfohlen, daß die Fraktionen alsbald Arbeitskreise zur Unterstützung und Begleitung der Parlamentsreform bilden.
4. Bis Ostern 1989 soll die Überarbeitung der Geschäftsordnung abgeschlossen sein und am 9. September 1989 — dem 40. Geburtstag des Deutschen Bundestages — in Kraft treten. “, Entsprechend der im Grundsatzantrag genannten Ziele folgten im Juni 1988 50 Einzelanträge. Da sie bei Abfassung dieses Aufsatzes im zuständigen Geschäftsordnungsausschuß noch nicht abschließend „behandelt“ worden sind, kann ich hier nur einen vorläufigen Sachstandsbericht liefern. Befriedigend ist, daß es beim zweiten Anlauf überhaupt weitergegangen ist, und daß es erste Silberstreifen gibt, die zumindest auf Veränderungen im (Selbst) Bewußtsein einzelner Abgeordneter schließen lassen. Als Beispiele sind hier zu nennen:
— Die von der Initiative geforderte und seit Monaten erprobte „Regierungsbefragung“ belebt den öffentlichen Anteil parlamentarischer Arbeit.
— Abgeordnete und Fraktionen beginnen, gegen den Oktroi von Regierung und/oder „Elefantenrunden“ aufzubegehren.
— Das Parlament besteht gegenüber der Regierung häufiger als früher auf Aufklärung (Chemie-waffenfabrik Rhabta, Tornado-Export nach Jordanien, China-Erklärung).
— Die neue Bundestagspräsidentin zeigt offenkundiges Engagement zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit und des Ansehens des Bundestages. Das Verhältnis zwischen Initiative und Fraktionsführungen wird entkrampfter.
— Das kritische Interesse der Öffentlichkeit an Problemen der Parlamentsreform hat deutlich zugenommen, was etwa 40 Bundestagsabgeordnete während des diesjährigen Evangelischen Kirchentages in Berlin hautnah erfahren konnten. — Auch Länderparlamente — vor allem Schleswig-Holstein und Hessen — bereiten weiterführende Reformen vor.
Nicht befriedigend ist nach wie vor das Verfahren bei der Behandlung der Anträge im — ohnehin belasteten, meist schlecht besetzten — Geschäftsordnungsausschuß. Dort ziehen sich die Beratungen nun auch schon wieder über zwei Jahre hin, desgleichen im Ältestenrat, in dem sich der hinhaltende Widerstand gegen alle Reformen verfestigt hat. Es kann und soll hier nicht abschließend gewürdigt werden, ob sich durch diese beiden innerparlamentarischen entscheidenden „Nadelöhre“ überhaupt je Impulse „von unten“ hindurch bringen lassen. Nach fünfjähriger Erfahrung sieht es nicht so aus.
Auf der Passiv-Seite sind ferner die innerparlamentarischen Erschwernisse zu nennen, die eine interfraktionelle Initiative zu überwinden hat, weil sie einfach nicht in das Schema eines Fraktionen-Parlaments paßt. Obgleich nichts hinter verschlossenen Türen erörtert wird und obgleich alle Papiere allen Fraktionsführungen zugeleitet werden — die Vorbehalte der „Machtinhaber“ bleiben greifbar und allgegenwärtig.
Aber auch eigene Fehler und Rückschläge sollen nicht verschwiegen werden, weil sie zu einer ehrlichen Bilanz gehören: Natürlicherweise gibt es gelegentlich auch Meinungsverschiedenheiten in den eigenen Reihen, aufkommende Resignation und die im Parlament ohnehin weitverbreitete »Ichkann-ja-doch-nichts-ändem“ -Mentalität. Außerdem machte mir ein Rückschlag durch falsche Presseschlagzeilen im Herbst 1988 über die angebliche 17-Stunden-Arbeitswoche des Abgeordneten (es handelte sich nur um die Plenarsitzungsstunden) persönlich sehr zu schaffen, von der jahrelangen zusätzlichen Arbeitsbelastung ganz zu schweigen.
V, Der Volksvertreter im Spannungsfeld zwischen Fraktionsräson und Verfassungsauftrag
Alles in allem ist es also — trotz einiger Silberstreifen am Horizont — nicht erlaubt, von einem „Aufbruch“ oder „Durchbruch“ zu einer Parlamentsreform, die diesen Namen verdient, zu sprechen.
Auch wäre es illusionär, die grundlegenden Real täten, die gegen unsere Reformvorstellungen sprechen und die tatsächlichen Machtverhältnisse zu unterschätzen, die jedweder Stärkung der Mitwn kung des einzelnen Bundestagsabgeordneten un der Kontrollrechte des Parlaments insgesamt entge genstehen. Der Bundestag ist ein Parlament der Fraktionen, die ihre Positionen und Befugnisse aus dem anfangs zitierten Artikel 21 GG ableiten (allerdings m. E. mit weit übertriebenen Machtansprüehen). Kein Verfechter von Parlamentsreformen würde bestreiten, daß es auch Tatbestände und Argumente gibt, die die konsequente Anwendung des Art. 38 Abs. 1 GG im „Parlament der Fraktionen“ erschweren und zu Zielkonflikten führen können. Zu nennen ist z. B. die natürliche Abhängigkeit des Abgeordneten von seiner Partei und seiner Fraktion, die ihren Ursprung und ihre Rechtfertigung in dem praktisch unauflöslichen Zusammenhang zwischen Parteizugehörigkeit und Mandatserwerb hat.
Das Bundeswahlgesetz konstituiert ein eindeutiges Parteienprivileg in Form einer praktischen Monopolstellung der Parteien bei der Kandidatenaufstellung. Ein unabhängiger, nicht in Verbindung zu einer Partei stehender Kandidat kann nur dann ein Mandat erlangen, wenn er — wie im Wahlgesetz nachzulesen ist — „in dem ihm belassenen Bereich in der relativen Mehrheitswahl die meisten Stimmen (Erststimmen) auf sich vereinigt“, was — mit Ausnahme in der ersten Wahlperiode des Bundestages — kein unabhängiger Kandidat je geschafft hat. Damit hat die Partei, für den Fall späterer Loyalitätskonflikte, das eigentliche Disziplinierungsmittel gegen den Abgeordneten als „ultimo ratio“ bereits in der Hand: Sie kann dem Berufsparlamentarier, der heute in zumindest temporärer materieller Abhängigkeit vom Mandat steht, die Möglichkeit einer erneuten Kandidatur entziehen und damit seiner parlamentarischen Karriere nach Ablauf der Legislaturperiode praktisch ein Ende setzen.
Diese Abhängigkeit des Abgeordneten beim Mandatserwerb setzt sich folgerichtig in seiner festen Einbindung in die Fraktion und in der praktischen parlamentarischen Arbeit verstärkt fort. Die Fraktion ist es, die im Sinne der Partei zur parlamenta-nischen Willensbildung beiträgt, indem sie deren Programm konkretisiert und durchzusetzen trachtet. Dieser „Charakter“ der Fraktion als Bindeglied zur Partei begründet in erster Linie ihre Forderung nach absoluter Geschlossenheit, leider auch in den nebensächlichsten Fragen. All das potenziert sich in Regierungsfraktionen, deren Abgeordnete auch bei Bagatellen „an Aufträge und Weisungen“ gebunden werden. -ber die Fraktionsdisziplin hinaus wird Anpassung und Einordnung des Abgeordneten auch mit deniotwendigkeiten des parlamentarischen Arbeitsabaufes begründet. Folgerichtig wurden durch Revi-ionen der Geschäftsordnung des Bundestages im aufe der Jahrzehnte Mitwirkungsrechte, Eigenverantwortlichkeit, Initiative-und Redefreiheit des einzelnen Abgeordneten immer mehr eingeengt und die Rechte der Fraktionen gestärkt. Alles und jedes soll möglichst „störungsfrei“ ablaufen, denn: Wo kämen wir hin in einem Parlament mit 518 Einzelkämpfern?
Solcherlei mehr oder weniger berechtigte Sachverhalte und Notwendigkeiten, die mehr oder weniger akzentuiert gegen jedwede Reformvorschläge vorgebracht werden, werden von den „Reformern“
nicht unterschätzt. Natürlich will niemand von uns ein Parlament von Einzelkämpfern oder die Einbindung des Abgeordneten in seine Fraktion in Frage stellen (Regierungen brauchen Mehrheiten). Dennoch scheint uns im Interesse des Funktionierens der Gewaltenteilung und des Ansehens der durch das Parlament repräsentierten Demokratie der für die geforderte Geschlossenheit und Disziplin bezahlte Preis als zu hoch und das Mißverhältnis bei der Anwendung zwischen dem übermächtigen Arti" kel 21 GG und dem ohnmächtigen Artikel 38 Abs. 1 GG als zu groß. Umfang und Ausmaß restriktiver Strukturen in Fraktionen und bei der Parlamentsarbeit wirken sich bei der Erfüllung dieser Aufgaben nachteiliger aus, als es dem parlamentarischen System bekömmlich ist. Wenn Kontrolle, Initiative und Mitverantwortung für das Ganze verkümmern, dann gibt sich die „Vertretung des ganzen Volkes“ auf, dann verliert das Parlament an eigenständigen und unabhängigen „Persönlichkeiten“ und wird der — laut Grundgesetz — an Aufträge und Weisungen nicht gebundene Vertreter des ganzen Volkes zum weisungsgebundenen Fraktionsfunktionär. Heute schon sichtbares Zeichen dafür: der leere Plenarsaal. Es lohnt sich nicht hin-zugehen, wenn man nicht „dran“ ist, weil Debatten von A bis Z vorprogrammiert sind und damit zur Deklamation verkommen.
Im zu hohen Preis inbegriffen sind auch Ohnmachtserfahrungen und schrittweise Resignation, die früher oder später zur „Ich-kann-ja-doch-nichtsändern" -Mentalität verinnerlicht werden. Wen wundert es, wenn unter solchen Bedingungen die „Erste Gewalt“ im Staate schwächer wird, das Übergewicht der Exekutive zunimmt und die Bürger „draußen im Lande“ von ihrer auf den Volksvertreter übertragenen „Staatsgewalt“ nichts mehr verspüren? Diese Entfremdung bekommt jeder Abgeordnete zu spüren, sobald er Bonn verläßt.
All das zusammengenommen läuft auf eine Verarmung des praktizierten und erfahrbaren Parlamentarismus hinaus, auf Vertrauensverlust, auf Entfremdung, schließlich auf Protestwähler. Wenn dann noch — wie leider wiederholt geschehen — Skandale und Affären von „Barschel“ bis zur „Parteienfinanzierung“ oder der Subventionierung von Flugbenzin für Hobbyflieger hinzukommen, dann wird das Ansehen des parlamentarischen Systems als Ganzes gefährdet, dann verschlechtert sich die Verfassung unserer demokratischen Kultur. Das war es, worauf unser Bundespräsident am vierzigsten Geburtstag unserer geschriebenen Verfassung mit dem anfangs zitierten Satz aufmerksam machen wollte, und das ist es, was die Notwendigkeit und Dringlichkeit von Reformen im parlamentarischen System begründet.
VI. Plädoyer für kleine, aber entschlossene Schritte
Anstrengungen, die auf eine Überwindung der beschriebenen kleinen und großen Schwächen, Defizite und Krisensymptome abzielen, können sich nicht mit Änderungen der Geschäftsordnung begnügen. Sie erfordern eine realistische Bereitschaft zu Veränderungen in kleinen, aber entschlossenen Schritten. Einfach „weiterwursteln“ ist ebenso wenig erlaubt wie die Flucht in idealtypische Vorstellungen vom Bilderbuch-Parlament und seinen Repräsentanten. Solche kleinen, aber entschlossenen Schritte hat sich die Interfraktionelle Initiative Parlamentsreform vorgenommen, wohlwissend, daß sie damit zunächst nicht mehr als die Voraussetzungen für weiterführende Bewußtseinsänderungen und damit für Reformen, z. B. die bis zu einer Änderung des Wahlrechts und zu einer stärkeren Bürger-mitwirkung nach Art. 20 GG führen können, schaffen kann.
Voraussetzung für eine wirksame Abfolge solcher kleinen, aber entschlossenen Schritte sind • — die Einsicht der Fraktionsführungen, daß die nötige Ordnung der Fraktionen sehr wohl mit der größtmöglichen Eigenständigkeit, Initiativfreude und Verantwortungsbereitschaft des einzelnen Abgeordneten verbunden werden kann; ’ — die Zivilcourage und das Zutrauen des Abgeordneten, seine Entscheidungen von Fall zu Fall gewissenhaft abzuwägen und durchzuhalten (siehe „Flugbenzin“) und den Verfassungsauftrag nach Artikel 38 Abs. 1 GG wirklich als „Magna Charta“ (Karl Carstens) zu praktizieren;
— die Notwendigkeit einer die Geschäftsordnung, Spielregeln für Ordnungen festlegt, die parlamentarische Initiative und Spontaneität nicht ersticken, sondern möglich machen, ohne daß dies außergewöhnlicher Kraftakte oder Heldentaten bedarf. Erst dann — und nur dann — wird die Arbeit des Parlaments neue Motivation, neues Ansehen und neue Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn die Kluft, die zwischen den genannten drei Eckpfeilern des Verfassungsauftrages und der Verfassungswirklichkeit klafft, Schritt für Schritt überwunden wird. Schritt für Schritt und von Fall zu Fall, gewissenhaft und verantwortungsbewußt.
Ein Parlament, in dem nicht allemal in Blöcken geredet, geklatscht, gebuht und abgestimmt wird, ist ganz sicher attraktiver und glaubwürdiger als das heutige Erscheinungsbild oft nur künstlich, unter Druck erzeugter Einheitlichkeit (Beispiel: Flugbenzin, Gesundheitsreform, Wehrdienstverlängerung). Eine Koalition, die die großen Linien der vereinbarten Politik einhält, wird nicht gefährdet, wenn Abgeordnete unter Umständen unterschiedliehe Meinungen zum Ausdruck bringen, sondern wenn sie in der Öffentlichkeit Glaubwürdigkeit verliert. Keine Regierung stürzt wegen einer Bagatellniederlage, keine Opposition verliert ihre Schlagkraft, wenn sie auch einmal der Regierung zustimmt . . .
Das allerdings erfordert — abgesehen von derprinzipiellen Einsicht — im Einzelfall Augenmaß, Verantwortung und Zivilcourage, und dies läßt sich, wie der CDU-Abgeordnete Norbert Lammert bereits in der Selbstverständnisdebatte 1984 zutreffend festgestellt hat, nicht in der Geschäftsordnung verordnen. Dort wird nur der Rahmen gesetzt. Ohne den Mut, die Schwächen und Defizite unserer parlamentarischen Wirklichkeit beim Namen zu nennen, ohne den Willen, daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen, und ohne die Zivilcourage, Buchstaben und Geist des Verfassungsgebotes in Artikel 38 Abs. 1 des Grundgesetzes zum Maßstab des eigenen Redens, Handelns und Verhaltens zu machen, wird keine noch so gute Geschäftsordnungsreform die innere Verfassung unserer parlamentarischen Kultur spürbar verbessern. Das aber ist das eigentliche Ziel der Interfraktionellen Initiative Parlamentsreform.