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Risikogesellschaft Überlebensfragen, Sozialstruktur und ökologische Aufklärung | APuZ 36/1989 | bpb.de

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APuZ 36/1989 Artikel 1 Risikogesellschaft Überlebensfragen, Sozialstruktur und ökologische Aufklärung Risikogesellschaft als Grenzerfahrung der Moderne Für eine post-moderne Kultur Von der Wohlstandsgesellschaft zur Risikogesellschaft Die gesellschaftliche Bewertung industriewirtschaftlicher Risiken Politische Bildung in der Risikogesellschaft Ein politologischer und fachdidaktischer Problemaufriß

Risikogesellschaft Überlebensfragen, Sozialstruktur und ökologische Aufklärung

Ulrich Beck

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Zusammenfassung

„Industriegesellschaft“ bedeutet u. a. das Ineinander von Reichtums-und Risikoerzeugung. „Risikogesellschaft“ bezeichnet demgegenüber die Phase des Industrialismus, in der das Ausmaß der Folgen und Gefahren immanent in Widerspruch tritt zu den institutionalisierten Kriterien und Verfahren der Risiko-kalkulation, -bewertung und -vorsorge. Nicht nur die technische entscheidungsabhängige Selbstvernichtungsmöglichkeit, sondern die schleichende Katastrophe, d. h. die Überschneidung von Normal-und Ausnahmezustand (in Form ökologischer Zerstörungen, Belastungen von Luft und Trinkwasser etc.) stellt gesellschaftlich die zentrale Herausforderung dar. Atomare, ökologische, genetische und chemische Groß-gefahren sind weder zeitlich noch örtlich noch sozial eingrenzbar. Sie lassen sich nicht kalkulieren und noch weniger kompensieren; sie sprengen damit das gesamte Gefüge der herkömmlichen Risikobewältigung. Damit geraten die Institutionen in den brisanten Widerspruch, einerseits Sicherheit zu garantieren (und angesichts von Katastrophen, Fast-Katastrophen usw. dies immer aufs neue versprechen zu müssen), andererseits Praktiken zu legalisieren, die schleichend oder offen katastrophale, vorsorgelose Zustände verstetigen. Das aber heißt: Der Sozialvertrag des Sicherheitsstaates wird brüchig; die Sozialstruktur verschiebt sich. Es gibt Länder, Branchen und Unternehmen, die von der Gefahrenlegalisierung profitieren, und andere, die dadurch in ihrer ökonomischen Existenz gefährdet werden. So entstehen — quer zu nationalstaatlichen Grenzen und militärischen Bündnissystemen — geopolitische Lagen („GiftschluckerRegionen“), deren wirtschaftliches „Schicksal“ mit der industriellen Zerstörung der Natur zusammenfällt. Dies ermöglicht bzw. erzwingt eine neue europäische Weltinnenpolitik.

I.

Sind Risiken nicht mindestens so alt wie die Industrialisierung, möglicherweise so alt, wie das Menschengeschlecht überhaupt? Steht nicht alles Leben unter dem Risiko des Todes? Sind und waren nicht also alle Gesellschaften, alle Epochen „Risikogesellschaften“? Kann oder muß man nicht gerade umgekehrt davon sprechen, daß seit Beginn der Industrialisierung kontinuierlich Gefahren — Hungersnöte, Seuchen, Naturkatastrophen abgebaut wurden? Hier nur die StichWorte: Rückgang der Kindersterblichkeit, die „gewonnenen Jahre“ (Imhof), die Errungenschaften des Sozialstaates, der enorme Fortschritt an technischer Perfektion im Laufe der letzten einhundert Jahre? Ist nicht insbesondere die Bundesrepublik ein Eldorado an bürokratisch organisierter Sorgfalt und Vorsicht?

Gewiß, da sind die „neuen Risiken“ wie Atomkraft, chemische und gentechnische Produktionen usw. Aber handelt es sich dabei nicht gerade um Gefahren — mathematisch-physikalisch betrachtet — von großer Reichweite, aber äußerst geringer, also vemachlässigbarer Eintrittswahrscheinlichkeit? So daß diese, kühl rational betrachtet, geringer zu bewerten sind als längst akzeptierte Risiken, wie z. B. das unglaubliche Massensterben auf den Straßen oder das Raucherrisiko?

Gewiß, letzte Sicherheit ist uns Menschen versagt. Sind nicht aber die unvermeidlich bleibenden „Restrisiken“ die Kehrseite der Chancen — des Wohlstands, der vergleichsweise hohen sozialen Sicherheit und des allgemeinen Komforts, den die entfaltete Industriegesellschaft der Mehrzahl ihrer Mitglieder in historisch unvergleichlicher Weise bietet? Ist die Dramatisierung der Risiken nicht also letztlich doch ein typisches Medienspektakel, vorbei an dem etablierten Sachverstand — eine „neue deutsche Aufgeregtheit“, unhaltbar und vergänglich wie das Debakel um die „Eisenbahnkrankheit“ Ende des 19. Jahrhunderts?

Und schließlich: Sind Risiken nicht eine Urangelegenheit der Technik-und Naturwissenschaften? Was hat der Soziologe hier eigentlich zu suchen? Ist das nicht wieder einmal typisch?

II.

Menschheitsdramen — Pest, Natur-und Hunger-katastrophen, die drohende Gewalt von Göttern und Dämonen — mögen in ihren tödlichen Folgen, ihrem quantifizierbaren Gefahrengehalt dem Zerstörungspotential moderner Großtechniken gleichen oder nicht. Sie sind wesentlich von „Risiken“ in meinem Sinne dadurch unterschieden, daß sie nicht auf Entscheidungen beruhen — genauer auf Entscheidungen, die technisch-ökonomische Vorteile, Chancen vor Augen haben und Gefahren nur als Schattenseiten des Fortschritts in Kauf nehmen. Dies ist mein erster Punkt: Risiken setzen industrielle, d. h. technisch-ökonomische Entscheidungen und Nutzenabwägungen voraus. Von Kriegsfolgen sind sie durch ihre „Normalgeburt“, genauer: ihre ^friedliche Entstehung“ aus den Zentren von Rationalität und Wohlstand mit dem Segen der Garanten von Recht und Ordnung unterschieden; von vorindustriellen Naturkatastrophen durch ihre Entscheidungsgenese, die allerdings nie nur die einzelner, sondern die ganzer Organisationen und (politischer) Verbände ist

Die Konsequenz ist wesentlich: Vorindustrielle Gefahren, wie groß und verheerend sie auch immer gewesen sein mögen, waren „Schicksalsschläge“, die von „außen“ über die Menschen hereinbrachen und einem „außen“ — Göttern, Dämonen, Natur — zugerechnet werden konnten. Auch hier gab es unendliche Anklagen, aber diese richteten sich gegen Götter oder Gott, waren — vereinfacht gesagt — religiös motiviert, nicht aber — wie industrielle Risiken — politisch aufgeladen. Denn mit der Entscheidungsherkunft stellt sich für industrielle Risiken unaufhebbar das innergesellschaftliche Zurechnungs-und Verantwortungsproblem, und zwar auch dort, wo die geltenden Regeln in Wissenschaft und Recht die Zurechnung nur in Ausnahmefällen erlauben. Für sie sind Menschen, Betriebe, Behörden, Politiker verantwortlich. Ihre gesellschaftliche Entstehungsgeschichte verhindert — wie wir Soziologen sagen — die „Externalisierbarkeit“ des Zurechnungsproblems 2).

Also — nicht die Zahl der Toten und Verletzten, sondern ein gesellschaftliches Merkmal: Die industrielle Selbstproduktion macht großtechnische Gefahren zum Politikum. Doch die Frage bleibt: Müssen die vergangenen zweihundert Jahre nicht als ein kontinuierlicher Zuwachs an Kalkulierbarkeit und Vorsorge im Umgang mit industriell erzeugten Unsicherheiten und Zerstörungen beschrieben und bewertet werden? Tatsächlich ist es ein vielversprechender und bislang nur wenig erschlossener Zugang, die (politische) Institutionengeschichte der sich entfaltenden Industriegesellschaft als die konfliktvolle Entstehung eines Regelsystems im Umgang mit industriell erzeugten Unsicherheiten und Risiken nachzuzeichnen Daß man auf die Abenteuer, die in der Erschließung und Eroberung neuer Märkte und in der Entwicklung und Umsetzung neuer Technologien liegen, mit kollektiven Absprachen reagieren kann oder muß — beispielsweise durch Versicherungsverträge, die den einzelnen durch generelle Abgaben ebenso heranziehen wie sie ihn gegenüber dramatischen Schadensfällen entlasten —, ist eine soziale Erfindung, die zurückreicht zu den Anfängen der interkontinentalen Handelsschiffahrt, aber mit der Entfaltung des Industriekapitalismus in nahezu alle Problemzonen gesellschaftlichen Handels ausgedehnt und mehr und mehr perfektioniert wurde. Folgen, die zunächst den einzelnen treffen, werden zu „Risiken“, d. h. zu systembedingten, statistisch beschreibbaren und in diesem Sinne „berechenbaren“ Ereignis-typen, die damit auch überindividuellen, politischen Anerkennungs-, Ausgleichs-und Vermeidungsregeln zugeführt werden können.

Das Risikokalkül verbindet Natur-, Technik-und Sozialwissenschaften. Es kann auf völlig disparate Phänomene nicht nur innerhalb des Gesundheitsmanagements — vom Raucherrisiko bis zum Atomkraftrisiko usw. — angewendet werden, sondern auch auf ökonomische Risiken, Risiken des Alters, der Arbeitslosigkeit, des Verkehrsunfalls, bestimmter Lebensphasen usw. Im übrigen erlaubt es eine Art technischer Moralisierung, die sich nicht mehr moralischer und ethischer Imperative bedienen muß. An die Stelle des „kategorischen Imperativs“ treten — beispielhaft gesprochen — Sterblichkeitsquotienten unter Smogbedingungen. In diesem Sinne kann man sagen, daß das Risikokalkül eine Art Moral ohne Moral, die mathematische Moral des technischen Zeitalters versinnbildlicht. Der Siegeszug des Risikokalküls wäre wohl nicht möglich gewesen, wenn damit nicht auch zentrale Vorzüge verbunden wären.

Ein erster liegt darin, daß Risiken die Chance eröffnen, Folgen, die zunächst immer „individualisiert“, auf die einzelnen abgewälzt werden, statistisch zu dokumentieren und auf diese Weise als Ereignisse zu entdecken, die systembedingt sind und entsprechend auch einer allgemeinen politischen Regelung bedürfen. Mit der statistischen Beschreibung von Risiken (etwa in Form von Unfallwahrscheinlichkeiten) wird die Sichtbarriere der Individualisierung aufgebrochen (was bei Umweltkrankheiten wie Pseudokrupp, Asthma, Krebs usw. bislang immer noch nicht zureichend der Fall ist) und ein entsprechendes politisches Handlungsfeld erschlossen: Unfälle am Arbeitsplatz werden beispielsweise nicht demjenigen angekreidet, dessen Gesundheit sie sowieso schon ruiniert haben, sondern ihrer individuellen Entstehungsgeschichte entkleidet und auf die betriebliche Organisation, Vorsorge usw. bezogen.

Ein zweiter Vorzug ist eng damit verbunden: Versicherungsleistungen werden verschuldensunabhängig vereinbart und gewährt (die Extremfälle grober Fahrlässigkeit oder Vorsätzlichkeit einmal ausgenommen). Damit kann der Rechtsstreit um die Verursachung entfallen, und die moralische Empörung wird abgemildert. Statt dessen entsteht je nach Höhe der Versicherungskosten für die Unternehmen ein Anreiz zur Prävention — oder eben gerade nicht.

Entscheidend aber ist wohl letztlich, daß auf diese Weise das Industriesystem (mit dem ja die industrielle Revolution institutionalisiert wurde) in bezug auf seine eigene, unabsehbare Zukunft handlungsfähig wird. Risikokalküle und Versicherungsschutz versprechen, leisten sogar das Unmögliche: Noch nicht eingetretene Ereignisse werden Gegenstand gegenwärtigen Handelns — Prävention, Kompensation, vorsorgende Nachsorge. Wie der französische Soziologe Franois Ewald in detaillierten theoreB tisch-historischen Studien aufzeigt liegt die „Erfindung“ des Risiko-Versicherungs-Kalküls in diesem Sinne darin, das Nichtkalkulierbare kalkulierbar zu machen — mit Hilfe von Unfallstatistiken, durch die Verallgemeinerbarkeit von Lösungsformeln sowie dem generalisierten Tauschprinzip „Zerstörung gegen Geld“. Auf diese Weise schafft ein (in seinen Einzelheiten immer umstrittenes) System gesellschaftlicher Zurechnungs-, Kompensations-und Vorsorgeregeln gegenwärtige Sicherheit angesichts einer offenen, ungewissen Zukunft. Die Moderne, die Unsicherheiten in alle Nischen der Existenz hineinträgt, findet ihr Gegenprinzip in einem aus öffentlichen und privaten Versicherungsverträgen geknüpften „Gesellschaftsvertrag“ gegen die industriell erzeugten Unsicherheiten und Zerstörungen.

Dieser Pakt zur Eindämmung und „gerechten“ Verteilung von Folgen der industriellen Normalrevolution ist politisch-programmatisch irgendwo zwischen Sozialismus und Liberalismus angesiedelt, weil er die systemische Entstehung der Folgen und Gefahren zur Grundlage hat, zugleich aber die einzelnen ah deren Kompensation und Prävention beteiligt. Der durch ihn herstellbare, erreichbare Fortschrittskonsens bleibt immer labil, konfliktvoll, revisionsbedürftig. Doch stellt er gerade deswegen das eigentliche Kernstück, die innere „soziale Logik“ dar, die die technisch-ökonomische Entwicklung in der ersten Phase des Industrialismus — im Prinzip — konsensfähig gemacht hat. Wo gegen diesen „Sicherheitsvertrag“ pauschal, eklatant und systematisch verstoßen wird, steht infolgedessen der Fortschrittskonsens selbst zur Disposition.

III.

Mein entscheidender weiterführender Gedanke ist nun, daß genau dies bei einer Serie von technischen Herausforderungen, mit denen wir es heute zu tun haben — Atomkraft, viele chemische und gentechnische Produktionen sowie die laufenden und drohenden ökologischen Zerstörungen — der Fall ist: Die Grundlagen der etablierten Risikologik werden unterlaufen oder außer Kraft gesetzt 5).

Anders gesagt: Die gesellschaftlichen Institutionen der Industriegesellschaft sehen sich seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts mit der historisch völlig neuartigen entscheidungsbedingten Selbstvernichtungsmöglichkeit allen Lebens auf dieser Erde konfrontiert; dies unterscheidet unsere Epoche nicht nur von der ersten Phase des Industrialismus, sondern auch von allen anderen Kulturen und Gesellschaftsformen, so vielfältig und gegensätzlich diese auch im einzelnen gewesen sein mögen. Wenn ein Brand ausbricht, kommt die Feuerwehr; bei einem Verkehrsunfall zahlt die Versicherung. Dieses Zusammenspiel von vorher und nachher, von Sicherheit im Jetzt, weil auch Vorkehrung für den schlimmstdenkbaren Fall getroffen wurde, ist im Atom-, Chemie-, Genzeitalter aufgehoben. Atomkraftwerke haben im Glanze ihrer Perfektion das Versicherungsprinzip nicht nur im ökonomischen, sondern auch im medizinischen, psychologischen, kulturellen und religiösen Sinne außer Kraft gesetzt. Die „Restrisikogesellschaft“ ist eine versiche-rungslose Gesellschaft, deren Versicherungsschutz paradoxerweise mit der Größe der Gefahr abnimmt.

Es gibt keine Institution, keine reale und auch wohl keine denkbare, die auf den drohenden GAU, dem größten anzunehmenden Unfall, vorbereitet wäre, und keine gesellschaftliche Ordnung, die die kulturelle und politische Verfassung auch für diesen Fall der Fälle gewährleisten könnte — viele dagegen, die sich auf die nun einzig mögliche Leugnung der Gefahren spezialisieren. Denn an die Stelle der Nachsorge, die Sicherheit auch in der Gefahr verbürgt, tritt das Dogma technischer Irrtumslosigkeit, das der nächste Unfall widerlegt. Hüter des Tabus wird die Königin des Irrtums, die Wissenschaft. Nur „kommunistische“ Reaktoren, nicht aber deutsche, sind empirische Gebilde von Menschenhand, die all ihre Theorien über den Haufen werfen können. Schon die simple Frage: „was aber, wenn doch?“ trifft ins Leere einer Nichtvorsorge der Nachsorgemöglichkeit. Entsprechend ist die politische Stabilität in Risikogesellschaften die des Nichtdarübernachdenkens.

Genauer gesagt, heben atomare, chemische, genetische und ökologische Großgefahren die vier tragenden Säulen des Risiko-Sicherheits-Kalküls auf. Es handelt sich erstens um nicht eingrenzbare, globale, oft irreparable Schädigungen: Der Gedanke der geldlichen Kompensation versagt. Zweitens ist die vorsorgende Nachsorge für den schlimmsten denkbaren Unfall im Fall von Vemichtungsgefahren ausgeschlossen: Die Sicherheitsidee der antizipatorischen Folgenkontrolle versagt. Drittens ver- liert der „Unfall“ seine (raum-zeitliche) Begrenzungen und damit seinen Sinn; er wird zu einem „Ereignis“ mit Anfang ohne Ende, zu einem „openend-festival" der schleichenden, galoppierenden und sich überlagernden Zerstörungen. Das aber heißt, Normalitätsstandards, Meßverfahren und damit die Kalkulationsgrundlagen für Gefahren werden aufgehoben; Unvergleichbares wird verglichen; Kalkulation schlägt in Verschleierung um.

Besonders eindringlich wird das Problem der Nichtkalkulierbarkeit von Folgen und Zerstörungen an ihrer fehlenden Zurechenbarkeit deutlich. Die Anerkennung und Zurechnung von Gefahren erfolgt bei uns wissenschaftlich und rechtlich nach dem Kausalprinzip, dem Verursacherprinzip. Was allerdings Technikern und Juristen ganz selbstverständlich, geradezu ethisch gefordert erscheint, hat im Kontext von Großgefahren äußerst fragwürdige, paradoxe Konsequenzen. Ein Beispiel: das Verfahren gegen eine Bleikristallfabrik in der oberpfälzischen Gemeinde Altenstadt

Über den Ort waren pfenniggroße Staubflocken aus Blei und Arsen niedergegangen, Fluorschwaden färbten Äste braun, verätzten Fenster und ließen Ziegel zerbröckeln. Bewohner litten unter Hautausschlägen, Übelkeit und Kopfschmerzen. Woher das alles kam, war keine Frage. Aus dem Schornstein der Fabrik quoll sichtbar der weiße Staub. Ein klarer Fall. Ein klarer Fall? Am zehnten Verhandlungstag bot der Vorsitzende Richter an, das Verfahren gegen eine Geldbuße von 10 000 DM einzustellen. Ein Ausgang, wie er für Umweltdelikte in der Bundesrepublik die Regel ist (1985: 13 000 Ermittlungen, 27 Verurteilungen mit Freiheitsstrafe, 24 davon zur Bewährung ausgesetzt, der Rest eingestellt). Wie ist das möglich? Nicht (nur) die fehlenden Gesetze, nicht (nur) das legendäre Vollzugsdefizit schützen die Täter. Die Gründe liegen tiefer und sind durch den strammen Ruf nach Polizei und Gesetzgeber, der gerade auch aus den Reihen der Umweltschützer immer lauter erklingt, nicht aus der Welt zu schaffen. Was die Verurteilung herbeiführen soll, verhindert sie: die strikte Anwendung des (individuell ausgelegten) Verursacherprinzips.

Die Täterschaft war auch im Fall der Bleikristallfabrik nicht zu leugnen, wurde auch von niemandem geleugnet. Es kam für sie nur — entlastend — hinzu: In der Nähe gab es drei weitere Glasfabriken, die denselben Dreck produzierten. Merke: Je mehr vergiftet wird, desto weniger wird vergiftet. Genauer: Je liberaler die Grenzwerte fixiert werden, je größer die Anzahl der Schornsteine, Abflußrohre, durch die Schadstoffe und Gifte ausgestoßen werden, desto geringer ist die „Restwahrscheinlichkeit", daß ein Täter für das kollektive Schniefen und Keuchen verantwortlich gemacht werden kann, desto weniger wird also vergiftet. Wobei gleichzeitig — das eine schließt das andere nicht aus — das allgemeine Verseuchungs-und Vergiftungsniveau steigt. Willkommen im Realkabarett der Gefährdungstechnokratie!

Die organisierte Unverantwortlichkeit beruht wesentlich auf einer Verwechslung der Jahrhunderte. Die Gefahren, denen wir ausgesetzt sind, entstammen einem anderen Jahrhundert als die Sicherheitsversprechen, die sie zu bändigen versuchen. Darin liegt beides begründet: das periodische Hervorbrechen der Widersprüche hochorganisierter Sicherheitsbürokratien und die Möglichkeit, diese „Gefahrenschocks“ immer wieder zu normalisieren. Die Herausforderungen des Atom-, Chemie-und Genzeitalters an der Wende ins 21. Jahrhundert werden in Begriffen und Rezepten verhandelt, die der frühen Industriegesellschaft des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts entnommen sind

Gibt es ein operationales Kriterium, um zwischen Risiken und Gefahren zu unterscheiden? Die Wirtschaft selbst deckt mit ökonomischer Präzision die Grenzlinie des Zumutbaren auf, und zwar durch die Verweigerung der privatwirtschaftlichen Versicherung. Wo die privatwirtschaftliche Versicherungslogik ausklingt, wo den Versicherungskonzemen das ökonomische Risiko der Versicherungsleistung zu groß oder unkalkulierbar erscheint, wird offenbar immer wieder im Kleinen und Großen die Grenze überschritten, die „berechenbare“ Risiken von nicht beherrschbaren Gefahren trennt.

Mit dieser Grenzüberschreitung sind dann prinzipiell zweierlei Konsequenzen verbunden: Erstens versagen die gesellschaftlichen Säulen des Risiko-kalküls; Sicherheit degeneriert zur nur-technischen Sicherheit. Das Geheimnis des Risikokalküls aber ist, daß technische und gesellschaftliche Komponenten Zusammenwirken: Eingrenzung, Zurechnung, Kompensation, vorsorgende Nachsorge. Diese laufen leer, und gesellschaftliche, politische Sicherheit muß ausschließlich über ein widerspruchsvolles Maximieren technischer Superlative hergestellt werden.

Zentral für die politische Dynamik ist — zweitens — der gesellschaftliche Widerspruch zwischen hochentwickelten Sicherheitsbürokratien einerseits und der offenen, nachsorgelosen Legalisierung von nie dagewesenen Großgefahren andererseits. Eine vom Kopf bis zu den Zehen auf Sicherheit und Gesundheit getrimmte Gesellschaft wird mit dem Schock des Gegenteils, nämlich allen Vorkehrungen hohnlachenden Zerstörungen und Gefahren konfrontiert.

Zwei gegenläufige historische Entwicklungslinien treffen also am Ende des 20. Jahrhunderts im Zentrum Europas zusammen: ein Sicherheitsniveau, das auf der Perfektionierung technisch-bürokratischer Normen und Kontrollen gegründet ist und die Verbreitung und Zumutung historisch neuartiger Gefahren, die durch alle Maschen von Recht, Technik und Politik fallen. Dieser nichttechnische, gesellschaftlich-politische Widerspruch bleibt in der Verwechslung der Jahrhunderte verdeckt, und zwar solange die alten industriellen Rationalitäts-und Kontrollmuster halten; er bricht auf in dem Maße, in dem unwahrscheinliche Ereignisse wahrscheinlich werden. „Normale Katastrophen“ nennt Charles Perrow in seinem Buch diese Vorhersehbarkeit, mit der das Ausgeschlossene eintritt — und zwar um so eher, verheerender und schockartiger, je nachdrücklicher es geleugnet wird. In der Verkettung öffentlich ausgeleuchteter Katastrophen, Fast-Katastrophen, vertuschter Sicherheitsmängel und Skandale zerschellt nun aber — ganz unabhängig von dem etablierten Maßstab für Gefahren: der Zahl von Toten, Gefährlichkeit von Verseuchungen usw. — der technisch zentrierte Kontrollan-spruch staatlich-industrieller Autorität.

Das zentrale gesellschaftsgeschichtliche, politische otential der ökologischen, atomaren, chemischen und genetischen Gefahren liegt in dem Verwal! ungskollaps, in dem Kollaps wissenschaftlich-technischer, rechtlicher Rationalität und institutionell-Politischer Sicherheitsgarantien, die sie vor aller ugen heraufbeschwören. Es hegt in der Enttarnung der real existierenden Anarchie, zu der die gesellschaftliche Produktion und Verwaltung der Großgefahren unter den Bedingungen ihrer Leugnung ausgewuchert sind

Gefahren des Atom-und Chemiezeitalters haben also neben ihrer physikalischen auch eine soziale Explosivität. Die Institutionen werden mit dem Hervortreten der Gefahren, für die sie zuständig und auch wieder nicht zuständig zeichnen, in einen Wettlauf mit ihren abgepreßten Sicherheitsbehauptungen geschickt, aus dem sie nur als Verlierer hervorgehen können. Einerseits geraten sie in den Dauerzwang, das Sicherste immer noch sicherer zu machen; andererseits wird auf diese Weise der Erwartungsbogen überspannt, und es werden Aufmerksamkeiten eingeschärft, so daß am Ende nicht mehr nur Unfälle, sondern bereits ihr Verdacht die Fassaden der Sicherheitsbehauptungen zusammenbrechen läßt. Die andere Seite der Anerkennung von Gefahren ist das Versagen der Institutionen, die aus der Nichtexistenz der Gefahr ihre Berechtigung ableiten. Daher ist die „soziale Geburt“ einer Gefahr ein ebenso unwahrscheinliches wie dramatisches, traumatisches, die gesamte Gesellschaft erschütterndes Ereignis.

Gerade aufgrund ihrer Explosivität im sozialen und politischen Raum bleiben Gefahren in ihrem Wirklichkeitscharakter Zerrgüter, vieldeutig, ausdeutbar, ähneln modernen Fabeltieren, die je nach Blickrichtung und Interessenlage einmal als Regenwurm, einmal als Drachen erscheinen. Mehrdeutigkeit von Risiken ist auch eine Funktion der politischen Erdrutsche und Umwälzungen, die ihre amtUche Eindeutigkeit auslösen müßten. Die Institutionen der entwickelten Industriegesellschaft — Politik, Recht, Technikwissenschaften, Industrieunternehmen — verfügen entsprechend über ein breites Arsenal der . Normalisierung'nichtkalkulierbarer Gefahren; diese können kleingerechnet, wegverglichen, kausal und rechtlich anonymisiertwerden. Diese Instrumente einersymbolischen Entgiftungspolitik erfreuen sich entsprechend großer Bedeutung und Beliebtheit

Umweltminister, welcher parteipolitischen Couleur auch immer, sind nicht zu beneiden. Sie müssen — eingebunden in den Handlungsradius ihres Ministeriums und dessen finanzieller Ausstattung — die Ursachen weitgehend konstant halten und dem Selbstlauf der Zerstörungen primär symbolisch entgegenwirken. Ein „guter“ Umweltminister ist am Ende derjenige, der öffentlichkeitswirksam Aktivitäten inszeniert — Gesetze auf Halde legt, behörd-liehe Zuständigkeiten schafft, Informationen zentralisiert, auch schon einmal todesmutig-lächelnd in den Rhein springt oder verseuchtes Molkepulver löffelt, vorausgesetzt die Medienaugen der verschreckten Öffentlichkeit sind auf ihn gerichtet. Das sture Festhalten am Kurs gegen alle öffentlichen Proteste muß wie der Kurswechsel um 180 Grad mit dem gleichen Fernsehlächeln und immer „guten Argumenten“ verkauft werden: Erst wird Wackersdorf mit Polizeigewalt durchgepeitscht, um dann — nachdem andere, die es offenbar besser wissen, nein gesagt haben — April, April! zu rufen.

Doch allmählich, Unfall für Unfall, kann sich die Logik der institutionalisierten Nichtbewältigung in ihr Gegenteil umdrehen: Was besagen Wahrscheinlichkeitssicherheiten — und damit die gesamte naturwissenschaftliche Diagnostik — noch für die Beurteilung eines GAUs, dessen Eintritt zwar die Theorien der Experten intakt läßt, aber das Leben vernichtet?

Irgendwann stellt sich die Frage, was ein Rechtssystem taugt, das die technisch handhabbaren Klein-risiken bis in alle Einzelheiten hinein regelt und verfolgt, aber die Großgefahren, soweit sie sich einer technischen Minimierung entziehen, kraft seiner Autorität letztlich legalisiert und allen — auch den vielen, die sich dagegen zur Wehr setzen -zumutet?

Wie läßt sich demokratisch-politische Autorität aufrechterhalten, die dem ausufernden Gefahrenbewußtsein mit energischen Sicherheitsbehauptungen entgegentreten muß, aber gerade dadurch sich in den Zustand der Daueranklage versetzt und mit jedem Unfall oder Anzeichen eines Unfalls ihre gesamte Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzt?

IV.

Wenn Risikogesellschaft nicht nur eine technische Herausforderung meint, dann stellt sich die Frage: Welche politische Dynamik, welche Sozialstruktur, welche Konfliktszenarien entstehen aus der Legalisierung und Normalisierung globaler, nicht beherrschbarer Systemgefährdungen? Auf eine — zugegeben grobe — Formel gebracht: Hunger ist hierarchisch, auch im letzten Krieg haben nicht alle gehungert, aber atomare Verseuchung ist egalitär und insofern „demokratisch“. Nitrate im Trinkwasser machen auch nicht halt vor dem Wasserhahn des Generaldirektors

Alles Leid, alle Not, alle Gewalt, die Menschen Menschen zugefügt haben, kannte bisher die Kategorie der „anderen“ — Arbeiter, Juden, Schwarze, Asylanten, Dissidenten, Frauen usw. —, hinter der die scheinbar Nichtbetroffenen sich zurückziehen konnten. Es ist das „Ende der anderen“, das Ende all unserer hochgezüchteten Distanzierungsmöglichkeiten, das mit der atomaren und chemischen Verseuchung erfahrbar geworden ist. Not läßt sich ausgrenzen, die Gefahren des Atom-, Chemie-und Genzeitalters nicht mehr. Darin liegt ihre neuartige kulturelle und politische Kraft. Ihre Gewalt ist die Gewalt der Gefahr, die alle Schutzzonen und sozialen Differenzierungen innerhalb und zwischen Nationalstaaten aufhebt.

Es mag sein, daß in der Sturmflut der Gefahr — wie es immer so schön heißt — „alle in einem Boot sitzen“. Aber wie so oft gibt es auch hier Kapitäne, Passagiere, Steuermänner, Maschinisten und Ertrinkende. Es gibt m. a. W. Länder, Branchen und Unternehmen, die von der Risikoerzeugung profitieren, und andere, die mit ihrer gesundheitlichen zugleich auch ihre ökonomische Existenz bedroht sehen. Wenn z. B. die Adria oder die Nordsee sterben oder sozial als „gesundheitsgefährdend“ wahrgenommen werden — für die wirtschaftlichen Effekte hebt sich die Differenz auf —, dann sterben nicht nur die Adria und die Nordsee mit dem Leben, das diese Meere beinhalten und ermöglichen, sondern es erlischt auch das wirtschaftliche Leben in allen Orten, Branchen, Küstenländern, die direkt und indirekt von der Vermarktung dieser Meere leben. An den Spitzen der Zukunft, die in den Horizont der Gegenwart hineinreichen, verwandelt sich die Industriezivilisation in eine Art „Länderkampf“ der Weltrisikogesellschaft. Hier fallen Naturzerstörungen und Marktzerstörungen zusammen. Nicht was einer hat oder kann entscheidet über seine gesellschaftliche Stellung und Zukunft, sondern wo er lebt und wovon er lebt, und inwieweit andere sein Haben und Können in vorbestimmter Unzurechenbarkeit als „Umwelt“ vergiften dürfen.

Auch die engagierte Leugnung, die sich aller amtlichen Unterstützung gewiß weiß, hat also ihre Grenzen. Die Rache des abstrakten Expertenstreits um Gefährdungen ist deren geographische Konkretion. Man kann alles abstreiten, die amtliche Maschinerie der Schönfärberei auf Hochtouren laufen lassen. Das verhindert nicht, sondern beschleunigt die Zer-B Störung. So entstehen — quer zu Nationalgrenzen und politisch-industriellen Konfliktlinien — geographische Lagen — „Giftschlucker-Regionen“ —, deren „Schicksal“ mit der industriellen Zerstörung der Natur zusammenfällt

Der „Treibhauseffekt“ beispielsweise wird die Luft-temperaturen und die Meeresspiegel durch Abschmelzen des Eises weltweit steigen lassen. Die Warmzeit wird ganze Küstenregionen ertränken, Ackerland verwüsten, die Klimazonen unkalkulierbar verschieben und das Artensterben dramatisch beschleunigen. Die Ärmsten der Welt wird es am schlimmsten treffen. Sie werden sich am wenigsten der Veränderung der Umwelt anpassen können. Wer sich aber um seine Existenzgrundlage gebracht sieht, der wird dem Ort des Elends entfliehen. Wahre Völkerwanderungen von Ökoflüchtlingen und Klima-Asylanten werden den reichen Norden überfluten; Krisen der Dritten und Vierten Welt könnten zu Kriegen eskalieren. Auch das weltpolitische Klima wird sich schneller verändern als es uns heute vorstellbar ist. Das alles sind bisher nur Projektionen, aber wir müssen sie ernst nehmen. Wenn sie erst einmal Wirklichkeit geworden sind, wird es zum Gegenhandeln zu spät sein.

Dabei wäre vieles einfacher, wenn jenen Ländern auf dem Wege der Industrialisierung die Fehler der hochindustrialisierten Länder erspart werden könnten. Doch der ungehemmte Ausbau der Industriegesellschaft gilt immer noch als Königsweg, der die Bewältigung vieler Probleme — nicht nur der Armut — verspricht, so daß die vorherrschende Not die oft abstrakten Fragen der Zerstörung verdrängt. „Naturgefährdungen“ sind also gerade nicht nur „Naturgefährdungen“, sondern ihr Aufweis gefährdet auch Besitz, Kapital, Arbeitsplätze, gewerkschaftliche Macht, die wirtschaftliche Grundlage ganzer Branchen und Regionen, das Gefüge der Nationalstaaten und der Weltmärkte. Anders formuliert: Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Konfliktfeld der Reichtumsproduktion, aus dem das 19. Jahrhundert die Erfahrung und die Prämissen der Industrie-und Klassengesellschaft abgeleitet hat, und dem Konfliktfeld der Gefahren-produktion im entwickelten Atom-und Chemie-Zeitalter, für das wir erst langsam soziologisch sensibel werden, liegt wohl darin, daß die Reichtums-produktion Klassengegensätze zwischen Arbeit und Kapital hervorgebracht hat, hingegen die atoma-en, chemischen und ökologischen Systemgefährungen Polarisierungen zwischen Kapital und Kapi•al — und damit auch zwischen Arbeit und Areit -quer zur gesellschaftlichen Ordnung entste-

en lassen. Mußte der Sozial-und Wohlfahrtsstaat 8egen den geschlossenen Widerstand der privaten Investoren durchgesetzt werden, die in Gestalt von Lohn-und Lohnnebenkosten zur Kasse gebeten wurden, so spalten ökologische Gefährdungen das wirtschaftliche Lager, und es ist auf den ersten Blick gar nicht auszumachen, wo und wie die Grenze verläuft; oder genauer: wer wodurch die Macht erhält, die Grenze wie verlaufen zu lassen.

Mag es noch möglich sein, auf einzelbetrieblicher Ebene von „Umwelt“ zu sprechen, so wird diese Rede auf gesamtwirtschaftlicher Ebene schlechterdings fiktiv, weil hier hinter den dünner werdenden Wänden von „Umwelt“ faktisch eine Art „russisches Roulett“ praktiziert wird. Wenn plötzlich aufgedeckt und in den Massenmedien verbreitet wird (die Informationspolitik gewinnt angesichts der meist für den Alltag nicht wahrnehmbaren Gefahren eine Schlüsselbedeutung), daß bestimmte Produkte bestimmte „Gifte“ enthalten (nach den gängigen Definitionsnormen — hier liegt die Abhängigkeit vom Recht, wissenschaftlichen Kausalregeln, Grenzwerten usw.), dann brechen ganze Märkte zusammen, investiertes Kapital und Arbeitsleistung werden auf einen Schlag entwertet.

So abstrakt die Gefahren sind, so irreversibel und regional identifizierbar sind also am Ende ihre Konkretisierungen. Was geleugnet wird, sammelt sich in geographischen Lagen, in „Verliererregionen“, die die Zeche der Zerstörung und ihrer . Unzurechenbarkeit'mit ihrer wirtschaftlichen Existenzbasis bezahlen müssen. Es handelt sich bei dieser „ökologischen Enteignung“ um das historische Novum einer Kapital-und Leistungsentwertung bei konstanten Besitzverhältnissen und manchmal sogar unveränderten Eigenschaften der Waren. Davon sind gerade auch Wirtschaftszweige betroffen — Landwirtschaft, Ernährungs-Lebensmittelbranchen, Tourismusindustrie, Fischerei, aber auch Einzelhandel, Teile des Dienstleistungsgewerbes usw. —, die ursächlich mit der Gefahrenproduktion wenig zu tun haben.

Wo sich die (Welt) Wirtschaft (schwer abgrenzbar) in Risikogewinner und Risikoverlierer aufspaltet, schlägt diese Polarisierung auch auf die Erwerbs-struktur durch. Es entstehen erstens neuartige, länder-, branchen-, Sektoren-, unternehmensspezifische Gegensätze zwischen Erwerbsgruppen und entsprechend auch innerhalb und zwischen gewerkschaftlichen Interessenorganisationen; zweitens sind diese sozusagen Gegensätze aus dritter Hand, abgeleitet aus den Gegensätzen zwischen Kapital-fraktionen, die das „Arbeiterschicksal“ in einer weiteren, wesentlichen Dimension zum „Schicksal“ werden lassen; und drittens kann es mit dem Verschärfen und Bewußtwerden der entsprechenden Konfliktlinien zu einem branchenspezifischen Zusammenschluß der alten „Klassengegner“ Kapital und Arbeit kommen und in der Folge zu einer Konfrontation dieses Gewerkschafts-Unternehmer-Blocks mit anderen gemischten Teilfraktionen über die unter dem Druck „ökologischer Politisierung“ zusammengedrückten Klassengräben hinweg

Man muß sich vor Augen halten, was dies für die Arbeiter-und Gewerkschaftsbewegung heißen könnte. Die Gefährdungsproduktion und -definition zielt weitgehend auf die Produktebene, die sich dem Einfluß der Betriebsräte und Arbeitnehmer-gruppen fast ganz entzieht und vollständig in den Hoheitsbereich des Managements fällt. Dies ist dabei noch die innerbetriebliche Ebene. Gefährdungen werden zwar betrieblich erzeugt, aber gesellschaftlich definiert und bewertet — in den Massenmedien, im Streit der Experten, im Dickicht der Interpretationen, Zuständigkeiten, vor Gerichten, mit strategisch-intellektuellen Winkelzügen — also ganz und gar in einem Milieu und in Zusammenhängen, denen die Mehrzahl der Arbeiter völlig fremd gegenübersteht. Es handelt sich um „Wirtschaftskämpfe“ über die Köpfe der Arbeiter hinweg, die in intellektuellen Milieus mit intellektuellen Strategien ausgetragen werden. Die Definition von Gefahren entzieht sich dem Arbeiter-Zugriff, sogar, wie die Dinge liegen, weitgehend dem Gewerkschafts-Zugriff. Sie sind noch nicht einmal die Primärbetroffenen — das sind die Unternehmen und das Management. Sie müssen aber als Sekundärbetroffene schlimmstenfalls mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes bezahlen.

Auch trifft sie schon die latente Gefährdungsdefinition im Zentrum ihres Leistungsstolzes, ihres Gebrauchswertversprechens. Arbeit und Arbeitskraft können sich nicht länger nur als Quelle des Reichtums, sondern müssen sich der sozialen Wahrnehmung nach auch als Motor der Bedrohung und Zerstörung begreifen. Der Arbeitsgesellschaft geht nicht nur die Arbeit aus und damit, wie Hannah Arendt ironisch formulierte, das einzige, was dem Leben in ihr Sinn und Rückgrat verleiht, sie gefährdet auch noch diesen Restsinn.

Etwas vergröbert kann man zusammenfassend sagen: Was für die Verursacherindustrie „Umwelt“ ist, ist für die betroffenen Verliererbranchen und -regionen die Basis ihrer wirtschaftlichen Existenz. Die Folge ist: Politische Systeme in ihrer national-staatlichen Architektur einerseits und großräumige, ökologische Konfliktlagen andererseits verselbständigen sich gegeneinander und lassen „geopolitische“ Verschiebungen entstehen, die das inner-und zwischenstaatliche Gefüge von Wirtschafts-und Militärblöcken vor völlig neue Belastungen, aber auch Chancen stellen. Die heute gerade im Umfeld von Abrüstung und Entspannung im Ost-West-Verhältnis sich ankündigende Phase risikogesellschaftlicher Politik ist nicht mehr national zu begreifen und zu betreiben, sondern nur noch international, weil die soziale Mechanik von Gefahrenlagen den Nationalstaat und seine Bündnissysteme mißachtet. Insofern geraten scheinbar eherne politische, militärische und wirtschaftliche Konstellationen in Bewegung, und dies erzwingt bzw. ermöglicht auch eine neue europäische „Weltinnenpolitik“ (Genscher).

V.

Wo Fortschritt und Verhängnis ineinander verwoben erscheinen, werden die Ziele der gesellschaftlichen Entwicklung von der obersten bis zur untersten Etage gegensätzlich buchstabiert. Dieses ist gewiß nicht der erste Konflikt, den moderne Gesellschaften zu bestehen haben, aber einer der grund-sätzlichsten. Klassenkonflikte, Revolutionen verändern die Machtverhältnisse, tauschen die Eliten aus, halten aber an den Zielen des technisch-ökonomischen Fortschritts fest, stehen im Streit gemeinsam unterstellter Menschen-und Bürger-rechte. Das Doppelgesicht des „Selbstvernichtungsfortschritts“ bringt dagegen Konflikte hervor, die die gesellschaftliche Rationalitätsbasis — Wissenschaft, Recht, Demokratie — in Zweifel ziehen. Damit wird die Gesellschaft in den Dauerzwang versetzt, Grundlagen ohne Grundlagen auszuhandeln. Sie gerät in eine institutioneile Destabilisierung, in der alle Entscheidungen — von der Geschwindigkeits-und „Parkplatz-Politik“ der Kommunen über die Herstellungsdetails industrieller Güter bis zu den Grundfragen der Energieversorgung, des Rechts und der Technikentwicklung -urplötzlich in den Sog politischer Grundsatzkonflikte geraten können.

Bei intakten Fassaden entstehen so im Milieu der definitions-und öffentlichkeitsabhängigen Gefah-ren nebenregierungsähnliche Machtpositionen in den Forschungslabors, Kernkraftwerken, Chemie-fabriken, Redaktionen, Gerichten usw. Anders formuliert: Systeme werden mit dem Schüren sicherheitsstaatlicher Widersprüche handlungsanfällig und subjektabhängig. Die mutigen Davids erhalten ihre Chance. Die kolossale Interdependenz der Gefahrendefinitionen — der Zusammenbruch von Märkten, Besitzrechten, gewerkschaftlicher Macht und politischer Verantwortung — läßt Schlüsselstellungen und -medien der „Risikodefinition“ entstehen, die quer zu der politischen und beruflichen Hierarchie liegen.

Man kann auf der einen Seite die ganze Überzeugungskraft für die institutionellen Nichtexistenz-Argumente von Selbstvernichtungsgefahren auftürmen, muß auch der Übermacht kein Hoffnungsquentchen absprechen, kann vielmehr die Zerstreutheit der sozialen Bewegungen und die Begrenztheit ihrer politischen Wirkungsmöglichkeiten noch hinzuziehen, um doch mit gleichem Realismus zu erkennen — alles dies wird konterkariert durch die objektive Gegenmacht der Gefahr: Sie ist konstant, dauerhaft, an sie leugnende Interpretationen nicht gebunden, auch dort präsent, wo Demonstranten längst ermüdet sind. Die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Unfälle wächst mit der Zeit und Zahl durchgesetzter Großtechnologien; jedes „Ereignis“ weckt Erinnerungen an alle anderen, nicht nur in Deutschland, sondern überall in der Welt.

Man hat verschiedene Formen von Revolutionen gegenübergestellt: Staatsstreich, Klassenkampf, zivilen Widerstand usw. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie soziale Subjekte er-und entmächtigen. Revolution als verselbständigter Prozeß, als verdeckter, latenter Dauerzustand, in dem die Verhältnisse gegen sich selbst verwickelt werden, und zwar bei konstanten politischen Strukturen, Eigentums-und Machtverhältnissen — diese Möglichkeit ist meines Wissens bisher weder in Erwägung gezogen noch durchdacht worden. Genau in dieses begriffliche Schema paßt aber die soziale Kraft der Gefahr. Sie ist keiner keines Tat, der die Ermächtigung, Ausweises bedarf, sich in den Gewändern durchsetzt, in denen der Fortschritt alle Kontrollen passiert: Wissenschaft, Produktivitätsgewinn, Arbeitserleichterung, Beschäftigungswirkung. Einmal auf der Welt, gefährdet ihre Bewußtwerdung aber alle Institutionen — von der Wirtschaft über die Wissenschaft, vom Recht bis zur Politik —, die sie produziert und legitimiert haben.

Alle fragen: Woher kommt die Gegenkraft? Es dürfte wenig erfolgversprechend sein, noch einmal in Klein-oder Großanzeigen in Subkultur-Blättern eine Vermißtenanzeige nach dem „revolutionären Subjekt“ aufzugeben. Natürlich tut es gut und kann schon deswegen nichts schaden, mit aller zu Gebote stehenden Härte an die Vernunft zu appellieren, weil dies in einer wirklichkeitsnahen Betrachtungsweise erfahrungsgemäß wenig Spuren hinterläßt. Man könnte noch einen Zirkel zur Lösung der Weltprobleme gründen. Auf die Einsicht von politischen Parteien sollte durchaus gehofft werden. Sollte alles dies aber vielleicht doch nicht hinreichen, um das politische Gegenhandeln anzustacheln, dann bleibt noch die Einsicht in die aktivierbare politische Reflexivität des Gefahrenpotentials Harrisburg, Tschernobyl, Hanau, Biblis, Wackersdorf usw.; Das Weltexperiment Kernenergie (Gefahrenchemie) hat die Rolle seiner Kritiker inzwischen mit übernommen, vielleicht sogar überzeugender und wirkungsvoller, als es die politischen Gegenbewegungen allein jemals gekonnt hätten. Dies wird nicht nur in der weltweiten, unbezahlten Antiwerbung zu den besten Nachrichtenzeiten und auf den ersten Seiten der Zeitungen deutlich, sondern auch daran, daß über Nacht alle Welt — von den Halligen bis zur Almhütte — die Sprache der Atomkritiker versteht und spricht. Die Menschen haben unterm Diktat der Not eine Art Blitzkurs über die Widersprüche der Gefahrenverwaltung in der Risikogesellschaft absolviert: über die Willkürlichkeit von Grenzwerten, die Beliebigkeit von Berechnungsgefahren, die Unvorstellbarkeit von Langzeitfolgen und die Möglichkeiten, sie statistisch zu anonymisieren usw. — mehr, deutlicher und anschaulicher, als die kritischste Kritik ihnen jemals hätte beibringen oder zumuten können. 1 Die ausdauerndsten, überzeugendsten, wirkungsvollsten Kritiker der Atomenergie (der Chemieindustrie usw.) sind nicht die Demonstranten vor den Bauzäunen, die kritische Öffentlichkeit (trotz aller Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit); der einflußreichste Gegner der Gefahrenindustrie ist — die Gefahrenindustrie selbst. Die Macht der sozialen Bewegungen liegt — anders gesagt — nicht nur in diesen begründet, sondern auch in der Qualität und Reichweite der Widersprüche, in die sich die gefahrenproduzierenden und -verwaltenden Institutionen der Risikogesellschaft verwickelt sehen. Diese werden durch die Nadelstich-Aktivitäten der sozialen Bewegungen öffentlich und skandalös. Es gibt also nicht nur einen Selbstlauf der Verdrängung von Gefahren, sondern auch Gegentendenzen der Aufdeckung dieser Verdrängung — wenn auch sehr viel schwächer ausgeprägt, immer angewiesen auf die Zivilcourage einzelner und die Wachsamkeit sozialer Bewegungen: Katastrophen, die an die Überlebensnerven der Gesellschaft im Milieu hochentwickelter bürokratischer Sicherheit und Wohlfahrt rühren, wecken die Sensationsgier der Massenmedien, bedrohen Märkte, machen Absatzchancen unkalkulierbar, entwerten Kapital, bewirken globale Marktverschiebungen und setzen Wählerströme in Bewegung. So übertrifft die abendliche Tagesschau am Ende sogar die Phantasie subkultureller Gegenexpertisen; die tägliche Zeitungslektüre wird zur Einübung in Technikkritik.

Diese Gegenmacht einer unfreiwilligen Selbstdemaskierung von Gefahren beruht allerdings auf gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die bislang nur in wenigen Ländern erfüllt sind: parlamentarische Demokratie, (relative) Unabhängigkeit der Presse und fortgeschrittene Reichtumsproduktion, in der für die Mehrheit der Bevölkerung die unsichtbare Krebsgefahr nicht übertrumpftwird durch akute Unterernährung und Hungersnot.

Im Zusammenwirken von innen und außen über die Grenzlinien der Teilsysteme hinweg gibt es insofern auch Anzeichen einer Stärke, die bislang fast unbemerkt geblieben sind. Das gesellschaftlich erstaunlichste, überraschendste und wohl am wenigsten begriffene Phänomen der achtziger Jahre ist in der Bundesrepublik die unverhoffte Renaissance einer „enormen Subjektivität“ — außerhalb und innerhalb der Institutionen. In diesem Sinne ist es nicht übertrieben zu sagen: Die Bürgergruppen haben thematisch in dieser Gesellschaft die Initiative ergriffen. Sie waren es, die gegen den Widerstand der etablierten Parteien die Themen einer gefährdeten Welt auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt haben. Nirgendwo wird dies wohl so klar wie an dem Gespenst der „neuen Einigkeit“, das durch Europa geistert: Der Zwang zu ökologischen Lippenbekenntnissen ist universal — er vereint die CSU mit den Kommunisten, die chemische Industrie mit ihren grünen Kritikern. Alle, wirklich alle Produkte sind „umweltverträglich“ — um das Mindeste zu sagen. Es gibt Gerüchte, die Chemiekonzerne wollen ihre mehrseitigen Glanzreklamen wahrmachen und sich als eingetragener Naturschutzverein neu gründen.

Zugegeben: alles Verpackung, programmatischer Opportunismus, hier und da vielleicht auch wirklich beabsichtigtes Umdenken. Das Handeln, die Orte, aus denen die Fakten entstehen, sind davon noch weitgehend unberührt. Dennoch bleibt: Die Zukunftsthemen, die jetzt in aller Munde sind, sind nicht der Weitsichtigkeit der Regierenden oder dem Ringen im Parlament entsprungen — schon gar nicht den Kathedralen der Macht in Wirtschaft, Wissenschaft und Staat. Sie sind gegen den geballten Widerstand dieser institutionalisierten Ignoranz von den in sich verhaspelten, moralisierenden, sich um den richtigen Weg streitenden, vom Zweifel geplagten und zerstrittenen Gruppen und Grüppchen auf die gesellschaftliche Tagesordnung gesetzt worden. Die demokratische Subversion hat einen ganz unwahrscheinlichen thematischen Sieg errungen. Und dies in Deutschland, im Bruch mit einer autoritätsgläubigen Alltagskultur, die noch jeden amtlichen Unsinn und Wahnsinn durch vorweg-eilenden Gehorsam ermöglicht hat.

Wie die jüngsten Entwicklungen in Frankreich, in Holland, in den skandinavischen Ländern, in England, in einigen osteuropäischen Staaten, in der Sowjetunion, aber auch in einigen Ländern Lateinamerikas zeigen, bleibt dieser Themenwechsel auch nicht auf den „deutschen Irrationalismus“ der reichen Bundesrepublik beschränkt, wie sich die Verfechter der alten Ordnung wechselseitig Mut zusprechen Die wirtschaftliche Bedeutung des Umweltschutzes, seine Bedeutung für die Sicherung von Arbeitsplätzen ist längst erkannt. Vielleicht folgt ihr die Entdeckung der außenpolitischen Bedeutung und der Bedeutung für das demokratische Selbstbewußtsein einer Gesellschaft nach.

VI.

Europa ist zu einem neuen Gesellschaftsprojekt aufgerufen, aufgebrochen. Der Ost-West-Gegensatz als ideologische Festungsmentalität löst sich hier wiedrüben auf. In das entstehende Vakuum könnten die übernationalen Themen der Risikozivilisation treten. Dafür spricht der Zwang zu weltweiten Absprachen, den Technik, Wissenschaft und Ökonomie erzeugen. Dafür spricht auch das Dämmern der kleinen und großen, schleichenden und galoppierenden Vernichtungsgefahren überall auf der Erde, und dafür sprechen schließlich die hochgesteckten Maßstäbe der versprochenen Sicherheit und Rationalität im entfalteten Wohlfahrtskapitalismus. Es sind dies die Chancen des Schreckens, die sich einer europäischen Weltinnenpolitik bieten, und zwar nicht nur bei der Fundierung und Errichtung des „europäischen Hauses“, sondern auch, indem die hochindustrialisierten Länder einen Großteil der Verantwortung und die Kosten für das notwendige Gegensteuem übernehmen. Dort, wo die industrielle Entwicklungsdynamik ihren Aufschwung genommen hat, in Europa, könnte auch Aufklärung über und gegen die Industriegesellschaft beginnen. Dieses Projekt einer ökologischen Aufklärung wäre im Großen und im Kleinen zu entwerfen. zu erstreiten. Auch im Alltäglichen deshalb, weil die Gefahren überall die eingeschliffene Routine umwerfen und einen eklatanten Aufrufzur Zivilcourage darstellen — am Arbeitsplatz in der Industrie, in der Praxis der Ärzte, in die die Menschen mit ihren Ängsten und Fragen kommen, in der Forschung, die abblocken oder aufdecken kann, in den Gerichten, in der kontrollierenden Verwaltung und nicht zuletzt in den Redaktionen der Massenmedien, in denen das Unsichtbare kulturell erfahrbar gemacht werden kann. Es geht im Verhältnis des „europäischen Hauses“ zu seinen Nachbarn auf dieser Erde um viel Konkretes. Es geht aber auch darum, daß wir nicht länger in der Selbstgewißheit der gebenden Reichen auftreten können, sondern uns zu unserer industriellen Zerstörerrolle bekennen und diese im Denken und Handeln korrigieren.

Das Technikprojekt, der technologische Dogmatismus des Industrialismus darf nicht einfach auf die ökologische Krise verlängert werden, sonst entsteht mit der öffentlichen Dramaturgie der Gefahr eine immer perfektere Technokratie. Die Industriegesellschaft hat eine „halbierte Demokratie“ hervorgebracht, in der die Fragen der technischen Gesellschaftsveränderung der politisch-parlamentarischen Entscheidung entzogen bleiben. Wie die mge stehen, kann man zum technisch-ökonomischen Fortschritt zwar nein sagen, das ändert aber nichts an seinem Vollzug. Er ist der Blankoscheck auf Durchsetzung — jenseits von Zustimmung oder Ablehnung. Das ist hergestellter zivilisatorischer „Naturzwang“, „industrielles Mittelalter“, das es durch mehr Demokratie — Herstellung von Zurechenbarkeit, Umverteilung der Beweislasten, Gewaltenteilung zwischen Produzenten und Begutachtung der Gefahren, öffentliche Dispute über technologische Alternativen — zu überwinden gilt Dies wiederum erfordert andere Organisationsformen von Wissenschaft und Wirtschaft, Wissenschaft und Öffentlichkeit, Wissenschaft und Politik, Technik und Recht, usw.

Zum Schluß eine Frage: Was wäre, wenn Radioaktivität jucken würde? Realisten, auch Zyniker genannt, werden antworten: Man würde irgend etwas erfinden, beispielsweise eine Gegensalbe, um das Jucken „abzuschalten“. Ein großes Geschäft also. Gewiß kämen schnell Erklärungen auf und würden sich großer Öffentlichkeitswirksamkeit erfreuen: daß der Juckreiz gar nichts zu bedeuten haben, möglicherweise mit anderen Phänomenen als Radioaktivität korreliere, jedenfalls nicht schädlich sei; unangenehm, aber eindeutig bewiesenermaßen unschädlich. Anzunehmen wäre — und wenn alle kratzend, und mit geröteter Haut herumlaufen würden, und Fototermine mit Mannequins wie Managementsitzungen der vereinigten Leugnerinstitute unter dauerndem Kratzen aller Beteiligten stattfänden —, daß derartige Wegerklärungen keine große Überlebenschance hätten. Damit stünde die Atompolitik wie überhaupt der Umgang mit modernen Großgefahren vor einer völlig veränderten Situation: Es wäre kulturell erfahrbar, worüber gestritten und verhandelt wird.

Genau daran entscheidet sich die Zukunft der Demokratie: Sind wir in allen Einzelheiten der Über-lebensfragen von Experten, auch von Gegenexperten, abhängig, oder gewinnen wir mit einer kulturell herzustellenden Wahrnehmbarkeit der Gefahren die Kompetenz des eigenen Urteils zurück? Lautet die Alternative nur noch: autoritäre oder kritische Technokratie? Oder gibt es einen Weg, der Entmündigung und Enteignung des Alltages in der Gefahrenzivilisation entgegenzuwirken?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Auf diesen Unterschied zwischen vorindustriellen Gefahren, die nicht beherrschbar, aber auch nicht entscheidungsbedingt sind, und industriellen Risiken, die aus Entscheidungen und Nutzenabwägungen hervorgehen, hat Niklas Luhmann (Die Moral des Risikos und das Risiko der Moral, in: G. Bechmann [Hrsg. ]. Risiko und Gesellschaft, im Erscheinen) hingewiesen. Wobei er — der Systemtheoretiker — allerdings die Entscheidungen paradoxerweise ausschließlich den Individuen zuordnet, die doch sonst innerhalb von Organisationen und Bürokratien in seiner Theorie überhaupt nicht vorkommen.

  2. Wichtige Überlegungen dazu finden sich bei F. Ewald, L’Etat providence, Paris 1986, auch bei A. Evers/H. Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit, Frankfurt 1987; C. Bohret (Hrsg.), Herausforderungen an die Innovationskraft der Verwaltung, Opladen 1987, sowie in dem Aufsatz von Klaus M. Meyer-Abich in diesem Heft.

  3. Vgl. F. Ewald (Anm. 3).

  4. Insofern haben die Auseinandersetzungen beispielsweise um die sogenannte „Katastrophenmedizin“ exemplarischen Charakter.

  5. Von dem vor einiger Zeit Der Spiegel (49/1986, S. 32 ff.) berichtete.

  6. Entsprechend hat die Diskussion um Aufgaben und Funktion des Rechts in den Risikogesellschaften in den letzten Jahren beträchtlich zugenommen: R. Wolf, Die Antiquiertheit des Rechts in der Risikogesellschaft, in: Leviathan. 15 (1987), S. 357-391; ders. „Herrschaft kraft Wissen“ in der Risikogesellschaft, in: Soziale Welt, (1988) 2, S. 164187; K. M. Mayer-Abich/B. Schefold, Die Grenzen der AtomWirtschaft, München 1986; E. -H. Ritter, Umweltpolitik und Rechtsentwicklung, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht, (1987) 11, S. 929— 938; Th. Blanke, Autonomie und Demokratie, in: Kritische Justiz, (1986) 4, S. 406— 422; G. Heinz/U. Meinberg, Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz, insbes. in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht? Gutachten D für den 57. Dt. Juristentag, in: Ständige Deputation des Dt. Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des 57. Dt. Juristentages in Mainz, 1988, Bd. I, Teil D, München 1988; R. -P. Calliess, Strafzweck und Strafrecht. 40 Jahre Grundgesetz — Entwicklungstendenzen vom freiheitlichen zum sozial-autoritären Rechtsstaat?, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW), (1989) 21, S. 1338-1343; G. Bruggemeier, Umwelthafts recht. Ein Beitrag zum Recht in der „Risikogesellschaft“?, in: Kritische Justiz, (1988) 2, S. 209— 230.

  7. In der Folge handelt es sich nicht nur, nicht primär um Fragen einer neuen Ethik zivilisatorischen Handelns, sondern darum, daß die etablierten Handlungskategorien und -kriterien der Institutionen einer anderen Welt entstammen. Beispielsweise auch in der experimentellen Logik der Wissenschaft wird unterstellt, daß Umsetzung nach Überprüfung kommt. Für Reaktortechnologie, aber auch Gentechnik usw. gilt der umgekehrte Satz: Erst herstellen, dann überprüfen-Sicherheit muß behauptet werden, um die ihr zugrunde-liegenden Annahmen überhaupt testen zu können: Gesellschaft wird zum Labor. Dazu U. Beck (Anm. 2), Kap. V, sowie W. Kohn/J. Weyer, Gesellschaft als Labor, in: Soziale Welt, (1989) 3.

  8. Bis Tschernobyl war Katastrophenschutz beispielsweise nur im Umkreis von 29 km zu einem Kernkraftwerk vorgesehen, ausländische Unfälle wurden amtlich ausgeschlossen.

  9. Dies zeigt anschaulich und mit dem Blick von innen J. Fischer, Der Umbau der Industriegesellschaft, Frankfurt 1989, S. 29-54.

  10. Dazu ausführlich U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986, S. 48 ff. Dabei sind die Konflikte und Krisen der klassischen Industriegesellschaft ja nicht beendigt, so daß es realistischerweise zu Über-lagerungen zwischen industrieller und risikogesellschaftlicher Sozialstruktur und Konfliktdynamik kommt, die hier ausgeklammert bleibt.

  11. Vgl. U. Beck (Anm. 2), S. 247 ff.

  12. „Daß es Anzeichen für eine solche Blockbildung gibt, zeigte sich nach Tschernobyl in der westdeutschen Atomindustrie: gemeinsam verteidigten Betriebsräte und Arbeitgebervertreter der Kernkraftwerke die bisherige westdeutsche Energiepolitik gegen jede Kursänderung“ (M. Schumann, Industrielle Produzenten in der ökologischen Herausforderung, Göttingen 1987, S. 18f.). In der entsprechenden Untersuchung „Industriearbeiter contra Umweltschutz“ (Frankfurt 1989) kommen H. Heine und R. Mautz gegenläufig zu den vorherrschenden Annahmen zu dem Schluß: „Mit dem Trend zur Professionalisierung von Produktionsarbeit in der Großchemie könnten Chemiearbeiter ein künftig noch wachsendes Potential ökologisch wachsamer industrieller Produzenten bilden, die die ökologischen Bedingungen und Folgen der eigenen Arbeit kritisch zu reflektieren vermögen und eine unterstützende Kraft für ökologisch motivierte politische Interventionen im Industriebereich bilden“ (S. 187).

  13. Dieser Sicht liegt allgemein die bislang ungenügend ausgearbeitete, theoretische Unterscheidung zwischen einfacher und reflexiver Modernisierung zugrunde. Während, grob gesagt, einfache Modernisierung im Rahmen industriegesellschaftücher Kategorien und Organisationsprinzipien verläuft, handelt es sich im zweiten Fall um eine Phase gesamtgesellschaftlichen Wandels, in der Modernisierung kraft ihrer Eigendynamik, ihre industriegesellschaftliche Gestalt verändert: Klasse, Schicht, Beruf, Geschlechtsrollen, Betrieb, Branchenstruktur und eben gerade auch die Voraussetzungen und Verlaufsformen des „naturwüchsigen“ technisch-ökonomischen Fortschritts. Die Welt der klassischen Industriegesellschaft wird ebenso zur Tradition, die überrollt, entzaubert wird, wie im 19. Jahrhundert industrielle Modernisierung die ständische Feudalgesellschaft überrollt und entzaubert hat. Ohne Bewußtsein, gegen die planvolle Tätigkeit untergräbt Modernisierung die Modernisierung. Dadurch aber entstehen Umschichtungen in den Sozialstrukturen, Machtverschiebungen, neue Konfliktlinien, Koalitionsmöglichkeiten und -zwänge: die Frage nach der Politik stellt sich neu. Soziale Bewegungen, Öffentlichkeit, Ethik, Zivilcourage Einzelner, die Netzwerke differenzieller Politik erhalten ihre historischen Einflußchancen; vgl. dazu U. Beck (Anm. 12), S. 176ff. und Kap. VII und VIII.

  14. Als Indikator mag beispielsweise das Abschneiden der „Grünen“ bei den Europawahlen 1989 um zehn Prozent in nahezu allen Ländern der Europäischen Gemeinschaft gelten.

  15. Siehe dazu ausführlicher Kap. VII in den „Gegengiften“; die dort entfalteten Argumente werden oft als politische Lösungsvorschläge für die ökologische Krise mißverstanden, während sie doch gemeint sind, um institutionelles Lernen politisch in Gang zu setzen.

Weitere Inhalte

Ulrich Beck, Dr. phil., geb. 1944; Ordinarius für Soziologie an der Universität Bamberg; Herausgeber der „Sozialen Welt“. Veröffentlichungen u. a.: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt 1986; (Hrsg. zus. mit Wolfgang Bonss) Weder Sozialtechnologie noch Aufklärung? Analysen zur Verwendung sozialwissenschaftlichen Wissens, Frankfurt 1987; Politik im Atomzeitalter, Frankfurt 1988; Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit, Frankfurt 1988.