Die aktuellen Agrarprobleme des Vorderen Orients sind nicht allein auf die beschränkten natürlichen Agrarpotentiale zurückzuführen. Sie hängen vielmehr eng mit den strukturellen Veränderungen zusammen, die eine erdölabhängige Entwicklung seit Mitte der siebziger Jahre hervorrief. Eine Skizzierung der Ressourcenausstattung Und ihrer Inwertsetzung verdeutlicht, daß die Region bis in die sechziger Jahre hinein Nahrungsmittel-Selbstversorger war und einige Länder sogar bedeutende Getreide-Exporteure waren. Dies änderte sich in den letzten beiden Jahrzehnten, die von großen Widersprüchen geprägt waren. In den Jahren 1974 bis 1981 herrschte das Agrarmodell des Petrolismus vor. Der Petrolismus brachte der Gesamtregion ökonomische Prosperität, von der der Agrarsektor jedoch ausgeschlossen blieb. Trotz der belegbaren Vernachlässigung der Landwirtschaft in den siebziger Jahren konnte die Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung gesichert werden. Mit Petrodollars finanzierte massive Lebensmittel-Importe machten die Region zum größten Nahrungsmittel-Importeur der Welt, verschonten sie aber davor, eine Hungerregion zu werden. Vor dem Hintergrund verengter Finanzierungsspielräume und zunehmender Legitimationsprobleme geriet dieses Agrarmodell in die Krise. Die Reaktionen auf diese Herausforderungen führten Anfang der achtziger Jahre zu der „neuen“ Agrarentwicklungspolitik. Obwohl der finanzielle Handlungsspielraum zur Bewältigung der Agrarprobleme stark eingeschränkt ist, kann eine deutliche Aktivierung des staatlichen Engagements im Agrarbereich beobachtet werden. Aber solange keine soziostrukturelle Wende in der Agrarentwicklungspolitik erfolgt, bieten die zwischen Etatismus und Marktorientierung praktizierten Agrarmodelle keine befriedigende Lösung der Agrarprobleme im Vorderen Orient.
In der entwicklungspolitischen Diskussion und Praxis gewinnen der Agrarsektor und die Problematik der Nahrungsmittelsicherheit zunehmend an Bedeutung. Das gilt besonders für die Region des Vorderen Orients die von der Türkei im Norden bis zum Sudan im Süden, von Iran im Osten bis Marokko im Westen reicht. Sicherlich ist Erdöl heutzutage die wichtigste regionale Ressource, die zeitweiligen Wohlstand sichert, Handlungsspielräume in der internationalen Politik eröffnet und für strukturelle Wandlungsprozesse der regionalen Binnen-differenzierung verantwortlich ist. Aber Erdöl ist ein sehr junges Phänomen in der Region, das allzu häufig vergessen läßt, daß der Vordere Orient die Wiege der ältesten Ackerbauzentren der Welt ist und daß dem Agrarsektor im Entwicklungsprozeß peripherer Staaten — und seien es Wüstenstaaten — ein wichtiger Stellenwert zukommt.
Unterschiedliche Agrarpotentiale und verschiedene Agrarentwicklungsstrategien bestimmen die Agrarentwicklung im Vorderen Orient. Die Größe der Region, ihre Zugehörigkeit zu den beiden Kontinenten Asien und Afrika, ihre kulturelle Zusammensetzung, die arabische Welt plus Iran, Israel und die Türkei, erst recht aber die sozioökonomische und politische Heterogenität ihrer Mitglieds-staaten,alle Faktoren verweisen auf ein breites Variationsspektrum von Agrarproblemen. Gegenwärtig repräsentieren die beiden Randstaaten im Norden und Süden der Region die extremen Pole der Entwicklungsaltemativen auf exemplarische Weise. Der Türkei gelang auf der einen Seite der Sprung vom einstigen Agrar-Importland zum Spitzenproduzenten und führenden Exporteur agrarischer Erzeugnisse. Auf der anderen Seite kämpft der Sudan, dem Entwicklungsexperten noch vor zwanzig Jahren eine große Zukunft als „Brotkorb der Region“ voraussagten, heute gegen Hungersnöte und eine „Afrikanisierung" seiner Landwirtschaft. Trotz der verschiedenen einzelstaatlichen Anstrengungen versucht die folgende Problemanalyse, zusammenfassend — und daher unvermeidlich auf'Kosten mancher nationaler Besonderheiten und einzelner Details — die Grundzüge der Agrarentwicklung im Vorderen Orient aufzuzeigen. Dabei wird die These verfolgt, daß die aktuellen Agrarprobleme im Vorderen Orient nicht allein auf die beschränkten natürlichen Agrarpotentiale zurückzuführen sind, sondern vielmehr eng mit der seit den siebziger Jahren einsetzenden Erdöl-abhängigen Entwicklung Zusammenhängen.
I. Naturräumliche Ressourcenausstattung
Die eigentlich wertvollen Ressourcen der Region sind ihre mineralischen Bodenschätze, die aber die Landwirtschaft nur indirekt beeinflussen. Hierzu zählen rund 60 Prozent der gesicherten Erdölvorkommen der Erde, wobei sich die Hälfte der Welt-vorkommen auf das Territorium Irans, Iraks und des Arabisch-Persischen Golfs erstrecken, ergiebige Erdgasvorkommen, zehn Prozent der Weltreserven an Eisenerz und die durch die Gesamtregion verlaufenden Adern von Kobalt, Chrom, Kupfer, Phosphat, Antimon, Eisen, Blei u. v. m. Hauptsächlich aber wird die Art und Weise der Agrarproduktion vom Klima und von den unmittelbar die Landwirtschaft determinierenden natürlichen Res-sourcen bestimmt. Der Vordere Orient zählt zur ariden und semi-ariden Klimazone, wo starke Sonneneinstrahlung, hohe Lufttemperaturen und Verdunstung sowie geringe Niederschläge vorherrschen. Der Westen ist von mediterranen, ostwärts-ziehenden Frontensystemen, der Osten von Sommer-und Wintermonsum beeinflußt. Im Zentrum der Region herrscht Kontinentalklima mit langen Trockenperiöden und saisonalem Niederschlag. In keinem der Regionalstaaten übersteigt der Anteil des kultivierbaren Landes 35 Prozent des Territoriums. Ägypten, die Demokratische Volksrepublik (DVR) Jemen, Libyen und Saudi Arabien verfügen sogar über jeweils nur ein bis drei Prozent Acker-land Die Bodenqualität ist recht unterschiedlich. Neben einem hohen Anteil einer stickstoffarmen, flachgründigen Ackerkrume mit geringem Gehalt organischer Substanz beschränken sich fruchtbare Böden auf Küstenebenen und die Beckenlandschaften großer Ströme (Ägyptens Nil-Delta, Iraks Zweistromland). Besonders fruchtbare Ackerlandschaften finden sich im Norden Syriens und des Iraks, dem „Fruchtbaren Halbmond“, in der iranischen Gorgan-Ebene und in kleineren Anbaugebieten wie in Israel und Palästina oder den Wüsten-oasen in Saudi Arabien und Ägypten Extensive Formen der Landnutzung sind vor allem in den sechziger Jahren in Ägypten, Sudan und Iran angewandt worden. Aber der frühere Optimismus, horizontal ungenützte Landreserven erschließen zu können, verflog rasch angesichts des geringen zusätzlichen Landgewinns und des enormen finanziellen Aufwands.
Wichtigste Grundlage für die Agrarproduktion ist Wasser. Gegenwärtig sind in der Region zirka 17 Prozent des kultivierten Landes bewässert, was gegenüber den sechziger Jahren eine Steigerung von 37 Prozent bedeutet Da die starken Schwankungen der Niederschläge die jährlichen Ernteerträge bis um ein Vierfaches differieren lassen können, bestimmten von jeher Fluß-Fluten und hydrographische Systeme die Landwirtschaft. Bewässerungslandwirtschaft wirft vom Klima unabhängig höhere Roherträge je Hektar ab und ermöglicht mehrere Ernten jährlich. Den Vorzügen stehen allerdings hohe Investitionen (Kanalisierung, Boden-planierung usw.), laufende Pflege zur Erhaltung der Bewässerungssysteme und ein Mindestmaß an sozialer und zentral koordinierter Organisation gegenüber. Schließlich ist auch die flächenmäßige, zeitliche und mengenmäßige Verfügbarkeit an Wasser entscheidend für den landwirtschaftlichen Erfolg. Der klassische Gürtel des Bewässerungsfeldbaus erfaßt die traditionellen Bewässerungslän-der Ägypten und Irak, die seit Jahrtausenden die großen Ströme Euphrat, Tigris, Nil nutzen, und durchzieht Syrien, Israel und Iran, die über ein Drittel ihrer Anbauflächen mit Kanalsystemen bewässern. In Algerien, Tunesien, Libyen, Jordanien, den beiden jemenitischen Staaten und der Türkei wird der Bewässerungsanbau auf weniger als zehn Prozent der gesamten Agrarfläche angewandt.
Das 20. Jahrhundert mit seinen technischen Möglichkeiten brachte teilweise nicht unproblematische Manipulationen der Wasserressourcen. Die Politik des Wassermanagements mit Rückstaubecken, Wehren, Grundwasserbrunnen, Einführung elektrischer und Diesel-Pumpen usw. zielt auf die Dekkung des gesamtwirtschaftlichen Wasserbedarfs. Landwirtschaftliche Wassernutzung tritt in Konkurrenz zum industriellen und städtischen Verbrauch. Ein höherer Lebensstandard und Bevölkerungswachstum haben den Wasserkonsum derart anschwellen lassen, daß der Stellenwert der Bewässerungslandwirtschaft neu überdacht werden muß, was vor allem für Israel mit seiner Spitzen-Agrartechnologie und die Golfstaaten samt Saudi Arabien mit ihren kostspieligen Hydrokulturen gilt
Aber nicht allein die Verfügbarkeit, auch die Qualität von Wasser schafft Probleme. Die Abwässer von Dörfern und Städten, toxische Chemikalien der neuen Industrien, die in die Landwirtschaft eingeführten Herbizide und Pestizide usw. finden ihre Wege ins Oberflächen-und Grundwasser-System. Diese Verunreinigungen stellen relativ junge Umweltbelastungen dar, deren Bekämpfung von den meisten Regierungen noch nicht als Notwendigkeit erkannt und in Angriff genommen wird. Eine Ausnahme bildet hier Saudi Arabiens meteorologische und Umweltschutz-Agentur (MEPA).
Die Desertifikation, also das Vordringen von Trokken-und Wüstengebieten, verringert die landwirtschaftlich nutzbare Fläche und schreitet besonders in Ägypten. Tunesien, Syrien, Iran und Libanon weiter voran. Erfolge in der Eindämmung des Desertifikationsprozesses konnten DVR Jemen, Marokko, Jordanien, die Emirate, Oman und Saudi Arabien verbuchen.
II. Agrarentwicklungspotentiale
Abbildung 6
Ägypten Algerien Irak Iran Israel AR Jemen DVR Jemen Jordanien Kuwait Libanon Libyen Marokko Oman Saudi Arabien Sudan Syrien Türkei Tunesien VA Emirate Tabelle: Indikatoren der Agrarentwicklung im Vorderen Orient 2, 9 3 12, 6 9, 7 20, 3 14, 3 0, 6 4, 1 0, 1 34 1 17 0, 2 0, 5 5, 2 30, 9 34 28 0, 2 (100)
Die bisher skizzierten Einzelkomponenten der natürlichen Ressourcenausstattung zusammengenommen, führen zu dem Schluß, daß der Agrarentwicklung naturräumlich enge Grenzen gesetzt sind. Eine allgemeine Klassifizierung der Staaten des Vorde-ren Orients auf der Basis der landwirtschaftlichen Produktivität, gemessen nach Ernteerträgen, Bestellungsintensität und Arbeitskraftnutzung sowie der Wasser-und Boden-Entwicklungspotentiale kommt zu folgenden Ergebnissen:
Länder der Gruppe A besitzen die größten Entwicklungspotentiale. Sie verfügen über kultivierbare Gebiete, die aber noch nicht intensiv genug bewirtschaftet werden, und rangieren im Bereich ihrer Produktivität im Mittelfeld. Die Staaten der Ländergruppe B haben hinsichtlich ihrer Entwicklungsressourcen nur mäßige Chancen, künftig landwirtschaftliches Wachstum zu erzielen, wenngleich sie wie die A-Gruppe im Mittelfeld ihrer Produktivitätskapazitäten liegen. Mitglieder der C-Gruppe nehmen zwar hinsichtlich der effektiven Produktivität obere bzw. mittlere Plätze ein, aber es mangelt ihnen am stärksten an Land-und Wasserressourcen. Schließlich umfaßt die D-Gruppe jene Länder mit spärlicher Ackerlandausstattung und niedriger Produktivitätsnutzung.
Auf der Grundlage der naturräumlichen Agrarpotentiale entwickelten sich in der Region drei traditionale Nutzungssysteme, die sich durch große Anpassungsfähigkeit und hohe Flexibilität an die Umweltbedingungen auszeichnen: die extensive Weidewirtschaft, der Regenfeldbau und die Bewässerungslandwirtschaft Regenfeldbau, der lediglich den natürlichen Niederschlag nutzt, ist vor allem in den nördlicheren und höher gelegenen Regionen möglich. Der Bewässerungsfeldbau wird zusätzlich in Trockengebieten und nur in Ägypten ausschließlich angewandt. Er ist von Wasserverfüg barkeit, geneigten Bodenflächen, feuchtigkeitsabsorbierender Erde sowie der gesellschaftlichen Organisationsfähigkeit zur Aufrechterhaltung und Kontrolle der Bewässerungssysteme abhängig-Charakteristisch für die Landwirtschaft im Vorde-* ren Orient ist der Dualismus von Anbau-und Weidewirtschaft, wobei sich der Nomadismus als mobile Lebens-und Wirtschaftsweise jedoch stark im Rückgang befindet
Bis zum ersten Drittel dieses Jahrhunderts waren die Staaten des Vorderen Orients reine Agrargesellschaften, die weitgehend in Subsistenzwirtschaft lebten oder wie im Falle Ägyptens und Iraks monokulturellen Agrarexport (Baumwolle) betrieben. Die Landwirtschaft bot als einziger Wirtschaftssektor Arbeitsplätze, war Heimat für subsistenzwirtschäftende Bauern und für Großgrundbesitzer und Agrarbourgeoisie die ökonomische Basis ihrer Macht. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzten alle Staaten, gleich welcher politischen Ausrichtung, auf eine die Industrialisierung der westlichen Länder nachahmende Entwicklung. Damit wurde dem Agrarsektor lediglich eine dienende Rolle innerhalb der Entwicklungsstrategie zugewiesen. Die Produktions-, Markt-, Faktor-und Sozialbeiträge des Agrarsektors für die Industrialisierung waren aber bescheiden. Auf der Basis agrarischer Rohstoffe (Baumwolle, Zuckerrohr, Getreide und Ölpflanzen) entstanden in Ägypten, Syrien, Irak und Algerien erste Ansätze von einheimischer Textil-und Nahrungsmittelindustrie. Irak, Iran, Syrien, Marokko und Tunesien avancierten sogar zu bedeutenden Getreide-Exporteuren Obst-und Gemüse-Exporte aus dem Libanon, dem Nil-und Jordan-Tal nutzten die komparative Kostenvorteile mancher Zonen.
Bis in die sechziger Jahre hinein waren die Länder der Region Nahrungsmittel-Selbstversorger und mußten nur bei Dürrezeiten auf Lebensmittel-Importe zurückgreifen. Diese Inwertsetzung der Agrarpotentiale und eine generelle Modernisierung der Landwirtschaft wurden durch staatliche Eingriffe in den Agrarsektor beschleunigt. Die soge-nannte „Grüne Revolution“ brachte mit der Einführung neuer Sorten (Weizen, Reis) in Verbindung mit komplementären Betriebsmitteln (Dünger, Pflanzenschutz) und einer Mechanisierung der Landwirtschaft nur zeitweilige Ertragssteigerungen. Tiefgreifendere Auswirkungen auf die ländliche Entwicklung hatten die diversen Agrarreformen. Ägypten (1952, 1962) und Irak (1958, 1970) setzten Landreformprogramme in der Absicht durch, die ökonomische Basis und damit die Macht der politischen Elite und Großgrundbesitzerschicht zu brechen. In Syrien zog die Vereinigung mit Ägypten (1958— 1961) ähnliche Reformgesetze nach sich. Irans sogenannte „Weiße Revolution“ (1962— 1972) sollte dem Agrarsektor den Weg in die Moderne bahnen und präventiv gegen soziale Unruhen auf dem Land wirken. Tunesien und Algerien befreiten sich von der Erblast des Kolonialismus, indem sie Land französischer Siedler nationalisierten. Die Mobilisierung der Agrarentwicklungspotentiale wird also neben den naturabhängigen Faktoren entscheidend von sozialem und technischem Wandel in der Landwirtschaft sowie staatlichen Fördermaßnahmen beeinflußt.
III. Das Agrarentwicklungsmodell des Petrolismus
1. Die erdölabhängige Entwicklung Mit dem Aufstieg des Erdöls zum Hauptenergieträger im weltweit industriellen Produktionsprozeß und verstärkt durch die Erdölpreisrevolution von 173 eröffneten sich in der Region völlig neue Handlungsspielräume für verstärkte Entwicklungsanstrengungen. Erdöl-Exporte und Waren-Importe LPetrodollar-Recycling“) machten den Vorderen nent zur stärksten in die Weltwirtschaftsordnung Integrierten Dritte-Welt-Region Gleichzeitig wurde auch die regionale Binnenstruktur auf eine neue Grundlage gestellt. Der Petrolismus d. h. nicht nur die bloße Anhäufung von Petrodollars, sondern deren strukturelle Prägungskraft gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen wird zum herausragendsten Merkmal der neuen Regionalordnung. Während die Erdöl exportierenden Staaten direkt von steigenden Öl-Exporten, horrenden Öl-Preiserhöhungen und Öl-Renten profitierten, waren die nicht Erdöl exportierenden Länder Nutznießer von Sekundär-Effekten.
Die massive Migration von Arbeitskräften der Nicht-Ölländer (Arabische Republik [AR] Jemen, Jordanien, Ägypten) in die aufstrebenden, aber bevölkerungsarmen Erdölstaaten entlastete deren heimischen Arbeitsmarkt und stärkte durch die Rücküberweisungen der Gastarbeiterdie Kaufkraft in den jeweiligen Heimatländern. Kapitaltransfers, Investitionen und arabische Auslandshilfe sicherten den Regierungen der Nicht-Erdölländer rentenähnliche Einkünfte und bestritten einen Großteil ihres Staatsbudgets. Den vom Petrolismus geprägten, strukturellen Verknüpfungen verdankt die Gesamt-region einerseits eine ökonomische Prosperitätsphase, andererseits eine asymmetrisch beeinflußte Entwicklungsrichtung. Durch die Inwertsetzung einer einzigen Ressource werden die Erdöl-Industrie, die Dienstleistungssektoren und der Ausbau der Staatsverwaltung begünstigt. Der Agrarsektor wurde in den Jahren 1974 bis 1981 nicht nur vom ökonomischen Aufschwung ausgespart, sondern teilweise sogar deformiert. Aber der Einfluß des Petrolismus auf die Agrarentwicklung ist ambivalent. Zwar ist er für eine stagnierende bzw. regressive Landwirtschaft mitverantwortlich, aber zugleich bietet er auch die Möglichkeit, die agrarpolitischen Defizite zu überbrücken. 2. Nahrungsmittelsicherheit trotz Vernachlässigung der Landwirtschaft Ein Blick auf die verschiedenen Indikatoren für die Agrarentwicklung belegt die Vernachlässigung der Landwirtschaft in den siebziger Jahren Wenn auch die absolute Agrarproduktion seit den sechziger Jahren in allen Ländern der Region anstieg, so wurde diese Entwicklung durch das Bevölkerungswachstum konterkariert. Die Agrarproduktion pro Kopf weist jedenfalls für Algerien, Ägypten, Irak. Jordanien, Marokko, Saudi Arabien, Sudan und die beiden Jemen eine negative Bilanz auf. In allen Ländern bis auf Iran und Libanon verringerte sich der Beitrag der Landwirtschaft zum Sozialprodukt in Relation zu anderen Wirtschaftssektoren. Der Sudan hat den größten Rückgang von 52 Prozent (1960) auf 35 Prozent (1986) zu verbuchen, aber auch in Ägypten sinkt der Anteil von 30 Prozent (1960) auf 20 Prozent (1986), in Syrien von 29 Prozent (1960) auf 22 Prozent (1986) und in Jordanien von 15 Prozent (1960) auf acht Prozent (1986). Die Landwirtschaft ist heute in keinem dieser Länder mehr der dominierende Sektor. Allgemein geht die Zahl der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft zurück. Heutzutage liegen Israel, Jordanien, Libanon und Libyen mit einer landwirtschaftlichen Beschäftigungsquote unter 30 Prozent bei Werten, wie sie sonst nur von Industriestaaten erreicht werden. Dieser Abwärtstrend ist weniger auf die fortgeschrittene Entwicklung des Industrie-und Dienstleistungssektors als vielmehr auf die begrenzte Kapazität des Agrarsektors zurückzuführen. In den siebziger Jahren wurden bisherige Netto-Getreide-Exporteure wie Ägypten, Marokko, Iran und Syrien zu Netto-Importeuren. Nur der Türkei gelang der umgekehrte Weg. Der Vordere Orient wandelte sich in den siebziger Jahren zum größten Nahrungsmittel-Importeur der Welt. Zwischen 1974 und 1985 stiegen die Getreide-Importe massiv an, in Saudi Arabien um das Zehn-, in Kuwait um das Sechs-, in der Arabischen Republik Jemen und Jordanien jeweils um das Vierfache, in Ägypten und DVR Jemen verdoppelten sie sich jeweils Paradoxerweise zeitigt der Verfall des Agrarsektors keine parallel verlaufende Verschlechterung des Lebensstandards. Im Gegenteil, es ist sogar ein gesamtregionaler Trend zu Mehrkonsum festzustellen. Trotz des Niedergangs der lokalen Nahrungsmittelproduktion und des rasanten Bevölkerungszuwachses ist der Vordere Orient keine Hungerregion. Litten in den Jahren 1969 bis 1971 zwischen 24 und 34 Mio. Menschen an Unterernährung, so sind es ein Jahrzehnt später zwischen 16 und 25 Mio. Auch das tägliche Kalorienangebot pro Kopf hat zugenommen. Es hungern zwar noch immer schätzungsweise 25 Mio.der Ärmsten der Armen in der Region Vor dem Hintergrund des regionalen Agrarsektorverfalls ist es jedoch erstaunlich, daß die Ernährungssituation sich verbessert hat. Im wesentlichen sind dafür zwei Phänomene verantwortlich: 1 Das Phänomen der regionalen Migration schadet dem Agrarsektor zwar dadurch, daß es ihm landwirtschaftliche Arbeitskräfte entzieht und die Landflucht forciert, es sorgt aber auch für Entlastungen. Meist emigriert nur ein Familienmitglied, so daß die Familie auf dem Lande wohnhaft bleibt und das Landleben nicht völlig zerstört wird. Durch Gastarbeiterüberweisungen in die Heimat wird der Unterhalt der Landfamilie gesichert und ihre Kaufkraft gestärkt. Längst kann nicht mehr von der landwirtschaftlichen Betriebsgröße in der Region auf den Lebensstandard geschlossen werden. Außerdem kennzeichnen Mehrfachbeschäftigung und Mischexistenzen das Leben auf dem Lande. Die Landjugend verfolgt kaum noch das einstige Lebensziel ihrer Väter, mehr Zugang zu Land zu bekommen, sondern sie strebt nach angemessenem Einkommen. Auf diese Weise tragen strukturelle Veränderungen. dazu bei, jenes Verhalten zu stärken, das allzu häufig als „orientalische Mentalität“
mißverstanden wird, nämlich produktiver, besonders bäuerlicher Arbeit eine tiefverwurzelte Verachtung entgegenzubringen, gleichwohl aber wache Erwerbsinteressen zielstrebig zu verfolgen.
2 , Eine der vorrangigen staatlichen Aufgaben — die im Vorderen Orient zugleich zentraler Bestandteil der Legitimationsstrategie zur Erhaltung von Massenloyalität ist — ist die Gewährleistung einer ausreichenden Versorgung der Bevölkerung.
In den siebziger Jahren erfolgte die Realisierung der Nahrungsmittelsicherheit durch Lebensmittel-Importe, deren Finanzierung Petrodollars sicherten, die entweder direkt erwirtschaftet oder durch diverse Transfermechanismen von den nicht Erdöl exportierenden Staaten — mit Ausnahme von Israel und der Türkei — politisch angeworben wurden. Die Ursachen dieser massiven Nahrungsmittel-Importe liegen im Zusammentreffen mehrerer Faktoren begründet. Zunächst konnte die landwirtschaftliche Produktivität mit der galoppierenden demographischen Entwicklung nicht Schritt halten. Betrug die Gesamtbevölkerung der Region 1920 noch 7, 5 Mio., waren es 1950 bereits 130 Mio. und Anfang der achtziger Jahre 270 Mio. Einwohner. Die durchschnittliche Bevölkerungswachstumsrate von 1965 bis 1980 belief sich auf 3, 9 Prozent und pendelt sich seit 1985 auf 2, 9 Prozent ein Dadurch wächst nicht nur das Problem der Versorgung mit Nahrungsmitteln, sondern es steigt der Druck, landwirtschaftliches Gebiet zu Siedlungszwecken zu nutzen. Besonders in Ägypten und in der DVR Jemen nimmt die Bevölkerungsdichte auf landwirtschaftlicher Nutzfläche stark zu.
Der Urbanisierungsprozeß schreitet voran. Jordanien, Iran, Irak, Libanon, Libyen. Saudi Arabien, Kuwait und die Emirate haben heutzutage eine mehrheitlich städtische Bevölkerung Je größer die Landflucht, desto schneller wächst die Stadtbevölkerung an und läßt die Nahrungsmittel-Nachfrage in die Höhe schnellen. Dies konnte besonders im Iran, in Saudi Arabien und Syrien beobachtet werden. Für die Region trifft zu, was einer alten Faustregel zufolge für alle ärmeren Entwicklungsländer gilt, daß dort nämlich zirka zwei Drittel des verfügbaren Einkommens für Nahrung aufgewandt werden. Als regionale Besonderheit ist aber der zusätzlich angeheizte Lebensmittel-Pro-Kopf-Verbrauch zu werten. Denn erstens stiegen infolge des Erdöl-Booms die persönlichen Einkommen schneller als die Nahrungsmittelpreise, und zweitens herrscht in der Region ein positiver Zusammenhang zwischen dem Verzehr von Lebensmitteln und per-sönlichem Status. Selbst im wohlhabenden Saudi Arabien werden immer noch 30 Prozent eines Monatslohnes für Lebensmittel ausgegeben, wohingegen die Durchschnittswerte in Europa bei 15 Prozent liegen. Aber nicht nur der Umfang, auch die Qualität der konsumierten Lebensmittel ist mit Sozialprestige verbunden. In der Region ist eine Änderung der Konsumgewohnheiten in Aufwärtsrichtung der Nahrungsmittelkette festzustellen. Gemüse und Getreide werden von Fleisch und Geflügel abgelöst, und immer mehr verarbeitete Agrarerzeugnisse werden konsumiert. Daß Getreideimporte neben der Versorgung der eigenen Bevölkerung auch den Bedarf großer Mengen von Futtergetreide abdecken, ist bisher nur in Israel der Fall, aber als künftiger Trend für andere Staaten der Region nicht auszuschließen.
IV. Die Agrarentwicklung vor neuen Herausforderungen
Während der „sieben fetten Jahre“ 1974 bis 1981 konnte eine gewisse Vernachlässigung des Agrarsektors als produktiver Bereich durch die Existenz externer Geldquellen (Erdölexporte, Auslandshilfe u. v. m.) kompensiert werden. Spätestens seit dem 1981/82 einsetzenden Verfall des Erdölpreises und der damit einhergehenden Einschränkung des Finanzierungsspielraumes haben nicht nur Regional-experten, sondern auch die Politiker der Region die Gefahren der bisherigen Agrarentwicklungsstrategie erkannt. Ob tribalistisch bzw. religiös legitimierte Monarchie, ob laizistische Einparteienherrschaft, ob autoritäres System mit charismatischem Führer oder ob Mehrparteiensystem, kein Staat des Vorderen Orients kann sich den veränderten Rahmenbedingungen, die die nationale Agrarentwicklungsstrategie beeinträchtigt, entziehen.
Die ökonomischen und politischen Kosten des Agrarmodells des Petrolismus sind unter entwicklungspolitischen Aspekten hoch zu veranschlagen. Der Olpreisverfall bzw. weniger externe Staatseinnahmen, hohe Nahrungsmittel-Import-Rechnungen, die politische Angst vor zu starker Abhängigkeit von außen, ökologische Probleme, der Wunsch, die eigene Wirtschaft zu diversifizieren und die aufgetretenen Dysfunktionen der bisherigen Agrarentwicklung zu beseitigen, all dies bewirkt eine krisenhafte Zuspitzung, die die politischen Entscheidungsträger zu einer Revision ihrer Agrarentwicklungsstrategie zwingt.
Die Reaktionsmuster auf die Krise des Agrarmodells des Petrolismus hängen dabei nicht nur von den strukturellen Rahmenbedingungen wie Bevölkerungswachstum, naturräumliche und finanzielle Ressourcen ab, sondern auch vom politischen Willen der Elite und den soziopolitischen Auswirkungen des staatlichen Agrarinterventionismus. Es stellt sich die Frage, ob überfällige strukturelle Eingriffe, die der Landwirtschaft aus entwicklungspolitischen Gründen mehr Gewicht einräumen, in Angriff genommen werden oder ob unter den Vorzeichen einer progressiven politischen Rhetorik lediglich alter Wein in neuen Schläuchen präsentiert wird.
Keine entwicklungspolitische Theorie bestreitet, daß ein eindeutiger Zusammenhang zwischen Agrarmodernisierung und Industrialisierung besteht Obgleich die naturräumlichen Hindernisse einer politischen Gestaltung des Agrarsektors in Rechnung zu stellen sind, kann davon ausgegangen werden, daß dieser Zusammenhang in modifiziertet Form auch für den Vorderen Orient Gültigkeit besitzt. Das Beispiel Syriens und Israels lehrt jedenfalls, daß es nicht unmöglich ist, die Landwirtschaft im Vorderen Orient zum Motor der Entwicklung werden zu lassen. Nichtsdestotrotz können im Hinblick auf eine langfristige Erschließung von brachliegendem landwirtschaftlichem Potential im Vorderen Orient drei Regeln aufgestellt werden, gegen die die bisherige Agrarentwicklungspolitik verstoßen hat: 1. Eine langfristige Ertragssteigerung kann nur erfolgen, wenn die Landbevölkerung mobilisiert wird, ohne dabei der politischen Instrumentalisierung unterworfen zu sein. 2. Eine Stärkung der bäuerlichen Masseneinkommen muß aus dem Agrarsektor selbst und nicht vermittelt über den Erdöl-Boom erfolgen.
3. Landwirtschaftliches Mehrprodukt darf weder von den Großgrundbesitzern noch vom Staat nur abgeschöpft werden. Ohne Investitionen, die die Vernetzung von Landwirtschaft, ländlichem Hand-werk und Kleinindustrie anstreben, ist langfristig keine Entwicklung des ländlichen Raumes möglich.
Ob sich — gemessen an diesen Kriterien — eine qualitative Wende in der Agrarpolitik künftig vollziehen wird, bleibt abzuwarten. Die gegenwärtigen Bemühungen stimmen jedoch eher skeptisch.
V. Optionen für die Bewältigung der Agrarprobleme
Zur Behebung der aktuellen Agrarprobleme stehen zwei prinzipielle Optionen zur Verfügung: die Mobilisierung eigener Ressourcen und die effektivere Nutzung staatlicher Mittel. Beide Krisenstrategien schließen sich gegenseitig nicht aus. Bei der Gestaltung einer „neuen“ Agrarpolitik verfügen die Ölstaaten, die trotz der ökonomischen Krise seit Beginn der achtziger Jahre noch immer kapitalkräftig sind, über günstigere Voraussetzungen als andere Regionalstaaten. Letztere bleiben eher auf eine Austeritätspolitik angewiesen, verfügen aber andererseits über größere Agrarpotentiale, so daß sie eigentlich gute Chancen zur Mobilisierung eigener landwirtschaftlicher Ressourcen besäßen. Betrachten wir die grundlegenden Reaktionsmuster auf das obsolet gewordene Agrarmodell des Petrolismus am Beispiel der Nahrungsmittelsicherheit. 1. Mobilisierung eigener Ressourcen Die Chancen für eine Steigerung der einheimischen Nahrungsmittelproduktion sind gering. Der Exten-sivierung landwirtschaftlicher Flächen sind enge Grenzen gesetzt. Nach hypothetischen Berechnungen, die davon ausgehen, daß bis zum Jahr 2000 die Gesamtbevölkerung der Region auf 420 Mio. Einwohner anwächst, wären 93, 75 Mio. Hektar Neuland nötig, um in absehbarer Zukunft 150 Mio. Menschen zusätzlich ernähren zu können Allein schon die Größenordnung dieser Zielvorgabe -ohne Berücksichtigung der ökonomischen und ökologischen Kosten —, die fast einer Verdoppelung der gegenwärtig kultivierten Gesamtfläche in der Region entspräche, beraubt diese Option eindeutig jeder echten Realisierungschance. Bei der Intensivierung der Landwirtschaft liegen im Vorderen Orient Chancen zur Steigerung der Hektarerhäge. Im Regenfeldbau ist die Getreideproduktion Jährlich starken Ertragsschwankungen ausgesetzt. Hier könnte mit gezielten Maßnahmen (Getreide-reservoire, Lagerhaltung) Abhilfe geschaffen werden. Die Türkei und Syrien haben seit den achtziger ahren auch durch den Einsatz von Dünger große roduktivitätssteigerungen erzielt. Was den Bewäs-serungsfeldbau anbetrifft, so sind mehr als 70 Prozent des bewässerten Landes in Ägypten, Iran und Irak ernsthaft von Versalzung bedroht. Die Versalzung der Böden, Grundwasserstau, Überwässerung usw. müssen durch einen ökologisch verantwortlichen Umgang mit Wasser vermieden werden. Dies wiederum bedarf dringend flankierender Maßnahmen wie landwirtschaftliche Beratung, keiner kostenlosen Bereitstellung von Wasser, was zur Verschwendung verführt usw. Auch muß das Problem der engen Symbiose von Mensch und Bewässerungskanal, der zugleich als Trink-und Waschwasser-Spender, Toilette und Bad genutzt wird, durch soziale Infrastrukturmaßnahmen angegangen werden. 2. Effektivierung der Allokation staatlicher Mittel Alle Regionalstaaten betreiben ein mehr oderweniger aufwendiges Subventionssystem. Agrarkredite und Input-Subventionen beeinflussen die Agrarproduktivität, Agrarpreis-und Grundnahrungsmittel-Subventionen die Nahrungsmittelpolitik. Eine Effektivierung der Ressourcenallokation, die auf den Abbau des staatlichen Subventionswesens zielt, trifft unweigerlich den legitimatorischen Nerv aller politischen Systeme im Vorderen Orient. Jeder Angriff aufdie Nahrungsmittelversorgung in Form von Lebensmittelpreiserhöhungen oder Subventionskürzungen wird als Aufkündigung des „Sozialvertrages“ betrachtet. Die Region kennt zur Genüge Nahrungsmittel-Krisen als Brot-Revolten (Ägypten 1977, 1986; Marokko 1981, 1984; Tunesien 1983, Sudan 1981, 1985). Das Verlaufsmuster der Unruhen ist dabei immer ähnlich: Die Regierung kündigt Preiserhöhungen der Grundnahrungsmittel an bzw. kürzt die staatlichen Subventionen. Es kommt zu spontanen Demonstrationen, die sich rasch ausweiten. Die Regierung nimmt ihre Sparmaßnahmen ganz oder teilweise zurück. Die Proteste flauen ab. Ob es bei bloßen Unmutsbekundungen und einzelnen Plünderungen bleibt oder ob es zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen bis hin zur Verkündung des Ausnahmezustandes kommt, hängt sowohl von der Politisierung der Unruhen als auch vom staatlichen Einsatz von Polizei und Militär ab.
Brot-Unruhen sind jedenfalls Symptome soziale! Verteilungskämpfe. Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet eine staatliche Austeritätspolitik bei der Nahrungsmittelversorgung eine unmittelbare Existenzbedrohung. Für die politischen Systeme wiederum sind Brot-Unruhen Ausdruck einer Legitimationskrise, da bei den meisten Regionalstaaten die elementaren Grundbedürfnisse im Vorderen Orient vom Staate befriedigt werden. Aus Sicht der Regierung sind deshalb Einsparungen bei Nahrungsmittel-Importen und -Subventionen nicht einfach nur finanzpolitische Maßnahmen, sondern gravierende sozialpolitische Entscheidungen, durch die manche Bevölkerungsgruppen von der staatlichen Wohlfahrtspolitik abgekoppelt werden.
Es bleibt festzuhalten, daß trotz eventuell beachtlicher Erfolge — bei entsprechender Wiederbelebung der einheimischen Erzeugung von Grundnahrungsmitteln — der Netto-Effekt nicht ausreichend wäre, um das Versorgungsniveau für die Gesamtbevölkerung aufrechterhalten zu können. Da aber aus 'politischen Gründen eine radikale Einsparung staatlicher Ressourcenallokation blockiert ist, werden die Nahrungsmittel-Importe auf hohem Niveau bis ins 21. Jahrhundert weitergehen. 3. Die „neue“ Agrarpolitik: Zwischen Etatismus und Marktorientierung Ein Blick auf die konkreten Veränderungen der Agrarentwicklungspolitik verdeutlicht, daß die „sieben fetten Jahre“ von 1974 bis 1981 von einer agrarpolitischen Abstinenz des Staates gekennzeichnet waren, während für die mehr als sieben „mageren Jahre“ in vier Bereichen ein größeres staatliches Engagement im Agrarbereich zu beobachten ist. 1. Saudi Arabien, Marokko, Algerien, Libyen, Irak und Syrien investieren wieder öffentliche Mittel in die Landwirtschaft. Zum Teil Hegen die staatlichen Investitionen über dem Anteil, den der Agrarsektor am Sozialprodukt erwirtschaftet 2. Staatliche Fördermaßnahmen zielen auf die Modernisierung der Agrartechniken. In unterschiedlichem Umfange existieren überall staatliche Kredit-hilfen oder Preiskontrollen für den Kauf von landwirtschaftlichen Ausrüstungsgütern. In Algerien, Tunesien, Syrien und Ägypten stieg in den letzten fünf Jahren der Bestand an Traktoren, und fast überall werden landwirtschaftliche Vorprodukte (Dünger, Viehfutter, Saatgut usw.) subventioniert.
Mittlerweile verfügen Kuwait, Saudi Arabien und die Emigrate über moderne Hydrokultur-und Massentierhaltungssysteme (Geflügel-und Eierproduktion), die teilweise bereits den hohen Stand der israelischen Agrartechnologie erreicht haben, nicht aber die dortige Vernetzung der modernen Agrobusiness-Enklaven mit anderen Wirtschaftssektoren. 3. Von der Agrarpreispolitik der sechziger und frühen siebziger Jahre, die als Instrument zur Gewinnabschöpfung aus dem Agrarsektor rigoros die Preise für Agrarrohstoffe und Nahrungsmittel unter das Preisniveau des Weltmarktes drückte, wurde abgerückt. Seit den achtziger Jahren stiegen die staatlich kontrollierten Preise für Getreide, Baum-wolle, Milch, Speiseöl und Zucker, oder es wurde von den staatlichen Preisfixierungen Abstand genommen, wie z. B. für Fleisch, Früchte und Gemüse in Ägypten, Algerien und Tunesien. 4. Im Hinblick auf die Nahrungsmittelsicherheit ist auf der Ebene der politischen Einsichten die agrarpolitische Wende bereits vollzogen. Seit Beginn der achtziger Jahre finden sich in den Entwicklungsplänen fast aller Regionalstaaten Absichtserklärungen hinsichtlich ehrgeiziger Selbstversorgungsanstrengungen. Für eine Umsetzung wird jedoch kaum gesorgt.
Allein die Tatsache, daß dem Agrarsektor in den achtziger Jahren mehr staatliche Aufmerksamkeit gezollt wird, beinhaltet noch keine Aussagen über den materiellen Gehalt und den sozioökonomischen Charakter der „neuen“ Agrarpolitik. Die Vielfalt der Reaktionsmuster der Länder zur Über-windung des obsolet gewordenen Agrarmodells des Petrolismus ist ein Indiz dafür, daß weniger die natürlichen Rahmenbedingungen als vielmehr die jeweilige nationale Agrarpolitik die Agrarentwicklung determinieren. An dieser Stelle muß eine plakative Skizzierung der extremen Pole der Agrarentwicklungsalternativen genügen, um einen Eindruck von der Varianzbreite und Problemweite der aktuellen Agrarproblematik im Vorderen Orient zu vermitteln. Erdölländer mit niedrigsten Agrarentwicklungspotentialen (Golfstaaten, Saudi Arabien, Libyen) betreiben mittels dirigistischer staatlicher Eingriffe in den Agrarbereich die Förderung eines modernen kapitalintensiven Landwirtschaftstypus. Repräsentatives Beispiel für dieses etatistische Agrarmodel ist Saudi Arabien. Seit 1980 wurde im Namen der Nahrungsmittelsicherheit und der Diversifikation der Wirtschaft eine agrarpolitische Wende eingeleitet. Enormer Technologieeinsatz und umfangreiche staatliche Agrarförderprogramme sollten eine moderne Agroindustrie aufbauen. Die Regierung subventionierte in großem Ausmaße landwirtschaftli-ehe Vorprodukte, stellte zinsfreie Agrarkredite und Staatsland zur Verfügung und garantierte über dem Weltmarkt liegende Produzentenpreise. Legehennenbatterien, Gewächshäuser, computergestützter Dünger-, Futter-und Wassereinsatz, Kühl-und Meerwasserentsalzungsanlagen bestimmen das Bild der modernen Landwirtschaft in Saudi Arabien. Bei einer beschränkten Produktpalette sind beeindruckende Erfolge vorzuweisen. Zwischen 1975 und 1985 verzehnfachte sich die Weizenproduktion, und bei Geflügel und Milchprodukten wurde eine 70-bzw. 40prozentige Selbstversorgungsrate erreicht
Regionalstaaten mit (ehemals) dominantem öffentlichen Sektor (Ägypten, Irak, Syrien, Tunesien, Algerien) räumen sukzessive der privaten Landwirtschaft mehr Spielraum ein und experimentieren mit einem marktorientierten Agrarmodell Gerade jene Länder, die in den sechziger Jahren Agrarreformen durchführten, erlauben eine schleichende Privatisierung von Landbesitz (z. B. Irak), lösen ihr staatliches Genossenschaftssystem auf (z. B. Algerien) oder annullieren teilweise frühere Landenteignungsbestimmungen (z. B. Ägypten). Ihre staatliche Kreditpolitik begünstigt private Landwirte, was sich inzwischen in einem Mechanisierungsvorsprung der privaten Landwirtschaft vor dem öffentlichen Sektor niederschlägt. Eine teilweise Aufhebung des staatlichen Vermarktungssystems eröffnet Ägrarhändlern neue Gewinnchancen. Die Liberalisierungspolitik im Agrarbereich weckte das Interesse an der Landwirtschaft als einem gewinnbringenden Wirtschaftszweig. Der Modernisierung aufgeschlossen gegenüberstehende Großbauern, wohlhabende städtische Unternehmer und hohe Staatsbeamte investieren in die Landwirtschaft, besonders in den Obst-und Gemüseanbau sowie in die Geflügelbranche.
Die etatistischen und marktorientierten Agrarmodelle bemühen sich auf unterschiedliche Weise um eine Steigerung der Agrarproduktivität. Jedoch 'erlangen beide Agrarentwicklungsstrategien ihren Preis. Nur auf den ersten Blick scheint die etatistische Losung die Thesen zu widerlegen, daß unter extremen naturräumlichen Verhältnissen keine Nahrungsmittel-Selbstversorgung möglich sei und daß Olreichtum zwangsläufig zur Vernachlässigung des Agrarsektors führe.
Eine kritische Bewertung des „saudischen Agrarwunders“ relativiert die Erfolge: Das Land ist immer noch der drittgrößte Nahrungsmittel-Importeur der Welt; die wirtschaftliche Rentabilität ist angesichts horrender Subventionen und fünffach höheren lokalen Weizenproduktionskosten im Vergleich zum Weltmarktpreis mehr als zweifelhaft; die ökologischen Folgeschäden sind unübersehbar, da die Ausbeutung fossiler Süßwasservorräte den Grundwasserspiegel sinken läßt. Das der Faszination der technischen Machbarkeit unterlegene etatistische Agrarmodell ist unter entwicklungspolitischen Aspekten kein empfehlenswertes Agrarszenarium für die Region.
Aber auch gegenüber dem marktorientierten Agrarmodell sind Zweifel angebracht. Zunächst ist noch offen, ob mit der Begünstigung der Privat-initiative ein echter Wandel zu marktwirtschaftlichen Agrarstrukturen eingeleitet wurde oder ob nicht vielmehr die Indienstnahme von Marktmechanismen durch autoritäre Herrschaftssysteme vorliegt. Aber ungeachtet dessen stimulierte die Liberalisierung des Agrarmarktes bisher nicht die Produktion von Grundnahrungsmitteln. Die private Agrarwirtschaft operiert in gewinnträchtigen, exportorientierten agrarischen Teilsektoren. Damit stellt sich auch im Vorderen Orient die entwicklungspolitische Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Nahrungsmittel-und Agrarexportproduktion. Auch die Entkoppelung des staatßchen Engagements im Agrarbereich von der sozialen Verantwortung ist höchst problematisch. Sicherlich gibt es keine Alternative zu einem Sparkurs, aber eine rigorose Abschaffung der Nahrungsmittel-Subventionen — ohne Einbettung in soziostrukturelle Reformen — bringt den ärmsten Bevölkerungsschichten unweigerlich Unterernährung und Hunger.
Selbst weitreichendste Agrarmaßnahmen wie eine enorme Steigerung der Agrarproduktivität, eine Einschränkung des Nahrungsmittel-Konsums durch zielgruppenorientierte Subventionen, verbesserte Getreide-Lagerhaltung, effizientes Wassermanagement u. v. m. würden die Agrarprobleme der Region lindern, nicht beseitigen. Ohne einer eurozentristischen Helferideologie das Wort reden zu wollen, muß doch festgehalten werden, daß die künftige Agrarentwicklung im Vorderen Orient den entwicklungsbürokratischen Strukturen der Regionalstaaten Rechnung tragen, ökologisch und sozial verträglich sein muß und vor allem einer soziostrukturellen Wende bedarf.
Claudia Schmid, geb. 1957; Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik an der Universität Tübingen; Wissenschaftliche Angestellte am Institut fürPolitikwissenschaft der Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Staatliche Hochschulpolitik in der Bundesrepublik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3— 4/84; (zus. mit M. Mendler) Auf dem Weg zu einer „Weltmilitärordnung“?, in: SOWI, (1987) 4; Wohin steuert Hosni Mubarak?, in: Hannoversche Beiträge zur Geschichte des Mittleren Ostens, (1987).
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