I. Gesellschaftspolitische Grundvoraussetzungen für Selbsthilfe
1. Begriffsklärung Selbsthilfe, Partizipation — im Sinne von Mitentscheidung und Kontrolle der Durchführung —, Self-Reliance (Vertrauen auf die eigene Kraft) und relative Autonomie stehen für entwicklungspolitische Ziele und Programme, die eine Entwicklungsstrategie anstreben, welche sich von der nachkolonial dominanten, „von unten und oben“ mehr oder weniger zentralistisch bestimmten Politik unterscheidet. Eine solche Entwicklungsstrategie ist nicht primär hierarchisch, sondern horizontal gegliedert und „von unten“ durchlässig. Die Umsetzung dieser Politik und die Modifikationen des allgemeinen Plans erfolgen „am Ort des Geschehens“
Eine solche Strategie kann auch vorliegen, wenn ihr nur lokal oder innergesellschaftlich-regional bzw.sektoral eine mitbestimmende, wenn auch (noch) nicht entscheidende Rolle zufällt. Oft wirkt sie nur teilweise auf einen politischen Prozeß ein, der lange „unter der Oberfläche schlummert“, bevor er die Tagespolitik bestimmt. Ein zu dieser Strategie passender Begriff von Selbsthilfe ist im Partizipationsverständnis Orlando Fais Bordas enthalten: „Partizipation bedeutet das Aufbrechen traditioneller Beziehungen der Unterwerfung und Abhängigkeit, in der die Subjekt-Objekt-Asymmetrie umgewandelt wird in eine echte offene Beziehung zwischen Subjekten in allen Aspekten des Lebens von den wirtschaftlichen und politischen bis zu den innenpolitischen und wissenschaftlichen.“
Diese Partizipationsvorstellung ist die entwick-lungsstrategische Formel einer Schule der Sozial-Forschung die nicht nur mit ihrem Konzept der „investigaciön y acciön“ die Diskussion von Lateinamerika aus in Afrika und Asien anregte, sondern auch Theorie und Praxis in den Industrieländern zu beeinflussen begonnen hat. 2. Einige regierungsamtliche Positionen Eine Gruppe, die Fais Bordas Beiträge neben vielen anderen teilweise verwertet hat, ist die entwicklungspolitische Arbeitseinheit „Armutsbekämpfung durch Selbsthilfe“ des Bundesministeriums für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ). Sie ist konzeptionell zu einem Problem-und Strategieverständnis vorgestoßen, das Entwicklungsansätze vergangener Jahrzehnte hinter sich läßt.
Neben dem einführend erwähnten weiten Begriff von Partizipation aus der Sicht der Dritten Welt soll ein im Dialog mit Projektpartnem aus der Praxis abgeleitetes Grundmuster von Selbsthilfe, Prinzipien und Handlungsmaxime klären helfen.
Partizipation der Armen zur Befriedigung der Interessen der Armen (Selbsthilfe) wird demnach für möglich gehalten. Einige Bausteine und Grundelemente sind:
1. Arme sind individuell und gemeinschaftlich zu vielfältig produktiven Arbeitsleistungen fähig und imstande, Produktivität zu erhöhen.
2. Sie können kreditwürdig werden und Kredite sinnvoll verwenden und zurückzahlen. Die Ärmsten erweisen sich als besonders zuverlässig.
3. Selbsthilfegruppen entstehen freiwillig und können ihre Aktivitäten verbindlich regeln.
4. Sie tragen zu einer gleichmäßigen Entwicklung aller Gruppenmitglieder bei und hemmen weder die Dynamik noch die Initiative einzelner.
5. Sie gründen Keimzellen und Kristallisationspunkte für demokratische Entwicklungsprozesse. Die Existenz eines solchen Prozesses ist, soziologisch betrachtet, oft wichtiger als der kurz-bis mittelfristig meßbare wirtschaftliche Erfolg, denn er kann langfristig die politische und wirtschaftliche Konjunktur günstig beein-Aussen — vor allem auch durch landesweit vernetzte Selbsthilfeprojekte und -aktionen.
6. Für den Erfolg der Selbsthilfegruppen sind leistungsfähige einheimische Förderinstitutionen und Trägerorganisationen wesentlich, die — je nach politischen Verhältnissen — für den Zweck des Selbstschutzes über gute und stabile Beziehungen zum Ausland verfügen sollten. Solche Förderinstitutionen haben die Funktion zu beraten, zu motivieren, Entscheidungen vorzubereiten und vor störenden Einflüssen von außen und oben (evtl, auch von innen) zu warnen bzw. die Selbsthilfegruppe davor abzuschirmen. 3. Zum Subsidiaritätsprinzip Initiativen der Hilfe zur Selbsthilfe können sich in vielfältiger Weise entfalten — in Basisgemeinden; autochthonen Dorf-bzw. Stammesgemeinschaften, in Nachbarschaftsgruppen oder unter Katastrophenopfem (z. B. nach Erdbeben oder nach Dürrekatastrophen). Je stärker und erfahrener die Selbsthilfe, je politisch bewußter und wenigstens partiell erfolgsgewohnt (wenn auch zuerst oft „nur“ durch gesteigerten Zusammenhalt und Autonomiegewinn), desto mehr wird der Staat vemachlässigbare Aufgaben delegieren können oder solchen Gruppen oder Gemeinschaften der Selbstbestimmung überlassen müssen.
Je stärker die Förderinstitution ist, je mehr überregionale Vernetzungen vorliegen und je mehr (klassenübergreifende) Allianzen eingegangen wurden, desto lebensfähiger und erfolgversprechender scheint die Einzelinitiative zu sein. Desto stabiler ist auch der durch sie gespeiste politische Prozeß der Demokratisierung — welche Formen und Inhalte dieser Demokratisierungsprozeß auch immer in der jeweiligen Kultur annehmen kann.
Wenn eine Vernetzung vieler tausender Initiativen von Gruppen oder Gemeinschaften wie der Basis-gemeinden in Lateinamerika vorliegt, dann wird langfristig ein Prozeß des Wandels am Leben erhalten bleiben. In Haushaltsjahren oder Legislaturperioden denkende Analytiker werden statistisch nicht faßbare Strömungen kaum erwägen (können), obwohl sich ein in Generationen zu erwartender Strukturwandel in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat unterschwellig vorbereiten und abzeichnen mag.
Zwei Strukturelemente für Wirtschaft und Gesellschaft können besonders richtungsweisend sein.
Einmal ist das Subsidiaritätsprinzip förderlich für die Eigeninitiative der Armen und der zur Problemlösung fähigen gesellschaftlichen Gruppen. Zum anderen ist die Verschuldung der Dritten-Welt-Staaten nicht unbedingt nur negativ zu sehen: Wo Finanzmittel fehlen, werden den Staatsapparaten Macht und Einfluß schwinden. Eigeninitiative und Kreativität können sich dort entfalten, wo sonst Großbürokratien (wie bisher) Entwicklung hemmten und einer Problemlösung für die ärmeren 40 Prozent des Volkes im Weg standen. Wenn sich der Zentralstaat in der Dritten Welt erfahrungsgemäß als wesentliches Entwicklungshindemis erwiesen hat, dann ist Lamentieren fehl am Platz, wenn sein Einfluß sinkt. Dieser Machtverlust kann einhergehen mit mehr politischer und Wirtschaftsdemokratie, vor allem wenn der sozialphilosophische Grundsatz der Subsidiarität als Chance verstanden wird, die Staatsfunktionen neu zu überdenken. Wo Mittel fehlen, sollten Aufgaben nicht vom Staat übernommen werden, wenn sie von kleinen Glied-gemeinschaften — wie jahrhundertelang bewiesen — selbst allein geregelt werden können.
Da dieser Grundsatz der staatlichen Selbstbeschränkung in der Entwicklungspolitik noch nicht gebührend berücksichtigt wurde, wollen wir ihn in seiner klassischen Version unverkürzt darstellen „In Auswirkung des individualistischen Geistes ist es so weit gekommen, daß das einst blühend und reichgegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltete menschliche Gesellschaftsleben derart zerschlagen und nahezu getötet wurde, bis schließlich fast nur noch die Einzel-menschen und der Staat übrig blieben, — zum nicht geringen Schaden für den Staat selber. Das Gesellschaftsleben wurde ganz und gar unförmlich; der Staat aber, der sich mit all den Aufgaben belud, welche die von ihm verdrängten Vergemeinschaftungen nun nicht mehr zu leisten vermochten, wurde unter einem Übermaß von Obliegenheiten und Verpflichtungen zugedeckt und erdrückt.
Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, daß unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muß doch allzeit unverrückbarjener oberste sozialphilosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: Wi dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initia tive und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.
Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müßten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur umso freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Zügelung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: je besser durch strenge Beobachtung das Prinzip der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen inne-gehalten wird, umso stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt.“
Die Moderne erreichte über die Vereinzelung des Individuums und die Zerschlagung jahrhundertelang existierender intakter Gemeinschaften, die in relativer Autonomie die Befriedigung ihrer Alltags-bedürfnisse selbst und äußerst kostengünstig organisiert hatten, eine Abhängigkeit vom Staat, welche oft einem Ausgeliefert-Sein gleichkommt.
Zur Renaissance innergesellschaftlicher Souveränitätsvorstellungen
Wo sich der Staat mit Aufgaben überlastet, die bislang Gemeinschaften selbst befriedigend übernehmen konnten, läuft er Gefahr, ineffizient zu werden. Als Folge hiervon kann er diejenigen Funktionen nur begrenzt wahrnehmen, die von ihm bewäldgt werden müssen, wie z. B. die Außenpolitik, die pinanz und Handelspolitik, um nur drei staatliche unktionsbereiche zu nennen, die keinen gesell-schaftlichen Gruppen und Konzernen überlassen weden dürfen. Der Staat im „peripheren Kapitalismus ist daher auch wegen Funktionsüberlastung tendenziell schwach und „durchlässig“ gegenüber Außeneinwirkungen und „stark“ bzw. repressiv nach innen. Ein Staatsapparat in der Dritten Welt, der seine Funktion wahmimmt und seine Souveränität wahrt, ist stark nach außen. Nach innen, gegenüber dem zu dienenden Volk, ist er tolerant und gestattet demokratische Handlungsspielräume im Rahmen der Verfassungsordnung.
Wo diese Bedingungen nicht existieren oder (eng) begrenzt sind, wird es sich zeigen, ob das Volk wirklich souverän ist oder sich bemüht, souverän zu sein. Dies heißt, demokratisches Selbstbewußtsein wird sich organisieren, wehren und sich in ökonomisch wie politisch intendierter Selbsthilfe jene Handlungsfreiheit erringen, die Demokratie und Problemlösung im Sinne der Befriedigung von Alltagsbedürfnissen erfordern.
Selbsthilfefähigkeit, Partizipation und das auf die eigene Kraft vertrauende Self-Reliance finden im souveränen Staatsbürger eine tragende Kraft. Nur wenn möglichst viele Staatsbürger und Gliedgemeinschaften souverän handeln können, ist die übergeordnete Struktur des Staatswesens auf festem demokratischem Grund gebaut. Innergesellschaftlich gesehen, ist daher der Souveränitätsgedanke wichtiger Bestandteil einer auf die eigene Kraft bauende Hilfe zur Selbsthilfe der Armen.
Die grundlegenden Elemente der Souveränität werden oft übersehen. Die Konstitutionsbedingungen der Souveränität enthalten in der Moderne weiter-existierende und in der Postmoderne wieder auflebende vomeuzeitliche Formen der Souveränität. Sie werden tendenziell ausgeblendet, wo „Souveränität innerhalb der eigenen Ordnung“ betrachtet wird. Da der Souveränitätsbegriff daher auch auf andere Herrschaftsbestände übertragen werden kann, wird er sozialphilosophisch — nicht staatsrechtlich! — auf kleine Gliedgemeinschaften im Gesellschaftsinneren angewandt
Aus der Vernetzung souveräner, in Gruppen und (Basis-) Gemeinden sowie Gemeinschaften integrierter Individuen, die mehr sind als ökonomisch funktionalisierte einzelne moderner Industriegesellschaften, entstehen (teilweise überregionale) Selbsthilfeaktionen. Diese können ökonomisch wie politisch zu Eckpfeilern einer „im Schoß der alten Gesellschaft“ heranwachsenden neuen Gesellschaftsformation werden.
Die relative Unsichtbarkeit des Wandels, der sich nicht in Statistiken fassen läßt, ist teilweise eine Erfolgsbedingung: Was nämlich allerorts sichtbar oder bekannt ist, kann jeder Geheimdienst unterdrücken, solange neues Gemeinschafts-und Gesellschaftsleben noch nicht so stark, stabil und widerstandsfähig genug ist, daß es für seine Überlebensfähigkeit selbst eintreten kann.
Die Diskrepanz zwischen freiem Individuum, das in seiner Gemeinde/Gemeinschaft verankert ist, und der tendenziell allgewaltigen Rolle des Staates in der Moderne ist ein zentrales Dilemma der Selbsthilfe: Dem „neuen Souverän“ in der modernen „Gesellschaft der Gleichen“ fehlt es an einem ihn schützenden „Unterbau von lokaler Freiheit, von Gewalten zweiter Ordnung“, von „pouvoirs intermddiaires“ Wegen dieses Mangels erfährt er „seine Souveränität als Kleinheit, als Ohnmacht und stürzt sich in den Kampf um die säkularisierte Heilserfahrung des Wohlstands; das materialistische Vorurteil beginnt seinen Siegeszug, das Gemeinwesen bleibt auf der Strecke, der Gemeinsinn, der aus der Bürgergesellschaft erst eine freie Bürgergesellschaft machen könnte, findet keinen Raum.“ Dieser Zustand beschreibt das struktur-bedingte Dilemma der Beziehung Individuum-Gemeinschaft-Selbsthilfe-Staat. Die Grundstrukturen dieses Selbsthilfe hemmenden Entwicklungshindernisses wurden am Beispiel des Souveränitäts-und Verfassungsverständnisses bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach Lateinamerika exportiert. Die systemimmanenten Schwächen der Problemlösung (im Interesse der unteren Mittel-und Unter-schichten) und Krisenbewältigung kennen wir inzwischen als Folge dieser Strukturmuster von Gesellschaft und modernem Staatsapparat.
Das Verhängnis im Souveränitätsdenken zieht mit der Französischen Revolution verstärkt auf: Nach der Entmachtung des absoluten Herrschers war ein Vakuum entstanden. Es wurde durch „Neubesetzung mit einem anderen Absoluten“ ausgefüllt, „Inthronisiert wurde ein neuer Souverän: das Volk, die Nation.“ Das abstrakte „volonte general“ Rousseaus schuf nicht die Grundlage für eine Vielheit von Bürgern, die einen neuen Gesellschaftstyp gründen konnten. Es schuf eine Manövriermassein einer Gesellschaft, gekennzeichnet durch eine „Ächtung der Gemeindefreiheit“ Während man in Nordamerika nach der Unabhängigkeitserklärung „die gute Gemeinschaft der Sünder dem idealen Staat vorzog, waren die Machthaber der Französischen Revolution auf den idealen Staat des Volkes aus“
In den süddeutschen und eidgenössischen Bauern-gemeinden z. B. sieht Schmid eine besonders vitale Form der Souveränität: Im Vorfeld der Revolution von 1525 fordern die Gemeinden „unumwunden und ohne Bereitschaft zu irgendwelchen Abstrichen ... die Verankerung der Kirche in der Gemeinde (nicht zufällig fallen hier der politische und der urchristliche Begriff von Gemeinde zusammen) — Kirche ist Gemeinde“
In der Postmoderne gibt es — z. B. in den christlichen Basisgemeinden Hollands, aber vor allem Lateinamerikas — ähnliche Tendenzen des Rückgriffs auf vomeuzeitlicbe und/oder erhalten gebliebene autochthone Formen der Selbsthilfe und lokaler Demokratie. Schwächen des modernen Staates wie Instabilität und Ineffizienz, Finanzknappheit sowie extrem hohe Rotation der Führungskräfte fördern indirekt eine bewußtseinsmäßige Renaissance früher erfolgreicher Strukturmuster. Dies kann zum Rückgriff auf Förderinstitutionen eines autochthonen Typs führen, die heute vielerorts schon zu Partnern internationaler Entwicklungskooperation wurden. Seine lokalen Formen und ihre horizontale Koordinierung in Netzwerken schafft den altbewährten „Unterbau zweiter Ordnung“ — als (oft über-) lebensnotwendigen Schutz verletzbarer Gliedgemeinschaften aus sozial Schwachen, Unterprivilegierten und Minoritäten.
II. Empirische Strukturmuster der Selbsthilfe
Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger relativ erfolgloser Bemühungen, Agrarreformen und andere staatliche Programme auf Gemeindeebene wirksam werden zu lassen, begann der Verfasser die Suche nach effizienten Formen der lokalen Politikgestaltung. Jahrhundertelange Erfahrungen der Pro blemlösung sind daher wichtig, wenn wir die Kette des Scheiterns nachkolonialer Entwicklungsanstrengungen in ihrer Kausalität erfassen wollen: Ein Beispiel lokaler Selbstbestimmung überlieferten z. B. die Indios Paez in Südkolumbien. Ihre Indianerräte, die Cabildos, sind über den Selbsthilfegedanken hinaus wichtig für die lokale Politikforschung und daher auch für die Überwindung erstarrter, einseitig auf den National-und Zentral-staat fixierter Souveränitätsvorstellungen. 1. Die Cabildos der Indios Paez Cabildos (Gemeinderäte) sind lokale Institutionen der „Self-Reliance" (Vertrauen auf die eigene Kraft) der Indios Paez in der kolumbianischen Region südöstlich von Popayän. Ihre Hauptfunktionen sind:
-Leitung der Belange und Vertretung der Interessen der Gemeinschaft durch einen Gouverneur. Ihm stehen zwei Gerichtsdiener (alguaciles) und ein Rechner (fiscal) zur Seite.
-Der Cabildo-Gouvemeur wacht über die Einhaltung der Souveränität der Gemeinschaft. Er nimmt alle Außenkontakte wahr — zur Zentralregierung wie zu anderen Indio-Gemeinschaften und deren Interessenvertretungen.
-Der Cabildo schlichtet Streitigkeiten — auch familieninterne Konflikte.
-Die Landverteilung entscheidet der Cabildo: Neuverheirateten weist er ausreichend Land zu, so daß sie die Familie ernähren können
-Das Land ist nicht vererbbar. Erworben wird nur Nutzungsrecht.
-Wegen vorübergehender Abwesenheit — z. B. Migration — wird der Anspruch auf Land nicht aberkannt.
-Reservatsland darf unter keinen Umständen verkauft werden. Lohnarbeiter sind nicht erlaubt, da das Land familienintern zu bewirtschaften ist. Es besteht somit eine maximale Grenze des Landes — je nach Grundbedürfnissen und der möglichen Arbeitsleistung durch Familienarbeitskräfte Insgesamt ist ein Cabildo mehr als eine autochthone rorderinstitution: Sitz und Stimme haben in ihm nur Stammesangehörige. Sie planen gemeinsam und fällen die Entscheidungen vor Ort. Entscheiungsträger verfügen selbst über das nötige Wissen, on derselben Instanz werden erforderliche Modiwationen und die Kontrolle durchgeführt. Auch issen über die Bedürftigkeit von Gemeindemit-gliedern ist jederzeit im lokalen Entscheidungsorgan vorhanden und muß nicht erst in einer fernen Bürokratie beantragt, gespeichert und entschieden werden. Der Entscheidungsprozeß kann schneller erfolgen. Die vereinfachte Durchführung von Politik ist somit nicht nur durch Dekrete von oben möglich, sondern durch eine relativ souveräne Institution lokaler Indio-Gemeinschaften. Selbstregulierung durch lokale Formen der Demokratie können stabilisierende Wirkungen für Gesellschaft und Staat haben.
Dieses einst vergessene, partiell zerschlagene Organ quasi-souveräner Dorfpolitik wurde in den letzten zwanzig Jahren rekonstruiert. Teilweise vergessenes oder verdrängtes Kulturgut wurde zur institutioneilen Grundlage eingeborener Self-Reliance. Die Rekonstruktion hatte begonnen als Teil der im Rahmen der Agrarreform geförderten Campesino-Bewegung ANUC Eine erste Gelegenheit zur Mobilisierung der Paez knapp zehn Jahre nach der Violencia bot die Vorbereitung des Bevölkerungszensus mit speziellen Haushaltsbefragungen. Was teilweise stillschweigend oder indirekt vorbereitet wurde und Teil des Selbstbehauptungswillens marginalisierter Bevölkerungsgruppen ist, kann eingehen in die offiziell vom Internationalen Arbeitsamt (ILO) geförderte Methode zur Rekonstruktion der Geschichte. Sie umfaßt im wesentlichen vier methodisch voneinander zu unterscheidende Arbeitsschritte. 2. Methodische Hilfsmittel zur Förderung des kollektiven Erinnerungsvermögens Wo wertvolle Erfahrungen, Institutionen und bewährte Techniken im Laufe der (Kolonial-) Geschichte vergessen oder (z. T. aus rassistischen Gründen) entwertet worden waren, bedarf es nicht nur einer Rekonstruktion der Geschichte, sondern durch sie eines faktisch untermauerten kollektiven Selbstwertgefühls.
Die von O. Fais Borda in Lateinamerika entwikkelte und angewandte Methodologie setzt sich aus Techniken und Methoden zusammen, die nach 20 Jahren des Experimentierens von der ILO und der FAO (Food and Agricultural Organization, Landwirtschaftsorganisation der UNO) gefördert und weltweit verbreitet wurden. „Investigaciön y acciön participativa" (IAP) gilt als Forschungsmethode und Mittel zum Stimulieren sozialer Bewegungen und politischer Prozesse, die auch Struktur-reformen einleiten können.
Die Arbeitsweise läßt sich in vier methodische Bereiche einteilen:
1) In der kollektiven Forschung (investigaciön colectiva) wird die gesammelte und von der Gruppe systematisierte Information öffentlich diskutiert. Gruppenarbeit und Dialog kennzeichnen den Arbeitsstil. Daten und Interpretationen sind sofort korrigierbar, was sonst bei den üblichen Verfahren nicht möglich ist.
2) In der (kritischen) Rekonstruktion der Geschichte wird versucht, die Elitenpositionen zu relativieren: Da die meisten historischen Abhandlungen Geschichte einseitig aus dem Blickwinkel der Eliten darstellen, sollen jene Elemente der Vergangenheit mit Hilfe des „kollektiven Erinnerungsvermögens“ (memoria colectiva) geborgen werden, die sich als vorteilhaft erwiesen haben zur Verteidigung der „Interessen ausgebeuteter Klassen“ und in Zukunft für die Ziele des Kampfes und der Bewußtseinsbildung sinnvoll sein könnten. Mündliche Überlieferungen, Selbstzeugnisse (entrevistastestimonios) mit Alten, die „ein analytisches Erinnerungsvermögen“ besitzen familiäre Erinnerungsstücke und Dokumente (archivo de baül) und andere Mittel (z. B. Soziodrama) dienen dem Beleben des Erinnerungsvermögens.
3) Die Aufwertung und Anwendung der Volkskultur (valoraciön y empleo de la cultura populär) werten verdrängtes Brauchtum auf. Zur Mobilisierung eines Volkes wird vor allem auf wesentliche, in der Bevölkerung einer Region verankerte Werte zurückgegriffen. Dabei spielen Volkskunst, Musik, Theater, Sport, Mythen und Erzählungen eine Rolle.
4) Erarbeitung und Verbreitung des neuen Wissens: Das hier relevante Wissen wird auf vier Ebenen erarbeitet, auf denen sich ein Autor im Sinne des IAP zu bewegen in der Lage sein müßte. Sie besteht erstens aus Erfassen und Systematisieren von Daten und Informationen, zweitens aus Rückgabe des Wissens an die Basis — in einer für sie verständlichen Form —, drittens aus der Weitergabe an die Koordinatoren bzw. Kader und viertens aus der Vermittlung an die Intellektuellen und Wissenschaftler (scientific Community). Im Kontrast zur herkömmlichen Forschung sind diese vier Zielgrup-pen wesentlich. In ihr wurde Information oft nur zum Karriere-oder Selbstzweck unter Wissenschaftlern verbreitet. In diesen inzwischen auf UNEbene (besonders in der ILO, FAO und UNICEF)
akzeptierten und verbreiteten Methoden kann die Basis die Priorität bezüglich der Weitergabe des Wissens mitbestimmen und Bedingungen setzen für Publikation und Anwendung
3. Erdbeben in Mexiko — Hilfe für Opfer oder Selbsthilfe für Reiche?
Die Erdbeben in Mexiko vom 19. und 20. September 1985 führten nicht nur zu den staatlicherseits zugegebenen 13 000 Todesopfern. Augenzeugen, die Informationen von Rettungsmannschaften erhalten hatten, sprachen von 60 000 und mehr Toten Zwei Typen von Gebäuden waren eingestürzt: die alten „vecindades", Siedlungen ärmerer Einkommensgruppen im Zentrum der Hauptstadt sowie Regierungsgebäude und Wohnblöcke, die während der Regierungszeit Echevarrias Anfang der siebziger Jahre errichtet worden waren: Die Bauplanung und Genehmigung war, soweit bekannt, korrekt. Nicht jedoch die Bauausführung!
Es hatten viele tragende Metallteile im Beton gefehlt, die jedoch berechnet worden waren. Im Handumdrehen waren daher über Nacht die Trümmer weggeräumt worden, um die Verantwortlichen nicht bestimmen zu können. Auf dem großen Schutthaufen war nicht mehr festzustellen, zu welchen Gebäuden einzelne Pfeilerreste gehört hatten.
Nach dem Einsturz gab es eine erneute Gelegenheit für Geschäftstüchtige, dieselben Gebäude ein zweites Mal zu errichten. Die gleichen Entscheidungsträger konnten tätig werden und staatliche Programme des Wiederaufbaus beschließen.
Wir wollen uns hier besonders auf ein strategisch relevantes Element konzentrieren, das vom Staat über Nicht-Regierungsorganisationen (NRO) gutgeheißen oder geduldet wird. In Mexiko nimmt seit den frühen siebziger Jahren die Zahl von Netzwerken und Koordinierungsorganen im nichtstaatlichen Bereich zu. Zur Illustration soll daher auf Bedingungen der Implementierung von Wiederaufbauprojekten nach dem Erdbeben vom September 1985 eingegangen werden Erdbebenschäden und ihre Folgen wie z. B. Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit wegen zerstörter Werkstätten und Arbeitsgeräte gab es in Großstädten und Landgemeinden. Auf unterster Ebene versuchen neben staatlichen Ämtern, Basisgemeinden und Nachbarschaftsgruppen (in vecindades), die Schäden zu beseitigen. Lokale Maßnahmen und Pläne werden von bestehenden oder neu gegründeten Trägerorganisationen koordiniert. Insgesamt gibt es 304 NROs mit der Rechtsperson einer Asociaciön Civil. Einige Dutzend solcher Nicht-Regierungsorganisationen sind für den Wiederaufbau im Sinne langfristig sinnvoller Agrarpolitik und Urbanisierung relevant. Aus dieser Fülle ergibt sich die Notwendigkeit zu differenzieren, wobei vier Typen festgestellt wurden:
Typ eins kann als Aushängeschild für Regierungen und ihre Funktionen angesehen werden. Dieser Typ erfüllt Stellvertreterfunktion für den Staat. Der Nichtregierungsstatus erlaubt es, besser und schneller zu handeln, als dies die Regierung tun könnte. Diese Art NRO arbeitet für etablierte Interessen in der Regierung oder in der Privatindustrie. Außerdem erlaubt ihr der Status, schnell Mittel einzuwerben, die sie ohne ihn nicht bekäme. Sie gefährdet Reputation und Effizienz echter, nicht-profitorientierter NROs — nicht nur, weil um dieselben Mittel konkurriert wird. Im Fall Mexiko kann dieser NRO-Typ dazu dienen, die indirekte Budgetfinanzierung im Regierungssinn durch Bindung von Spendengeldem zu beschleunigen.
Typ zwei kennzeichnet sich in seiner Funktionsausübung dadurch, daß konventionelle Entwicklungsdienstleistungen wie z. B. Alphabetisierung, Beratung, Wohnungsbau usw. erbracht werden. Dieser Typ arbeitet effizienter und kostengünstiger als Regierungen. Oft verfügt er über bessere Ortskenntnisse und wird von Zielgruppen eher akzeptiert als Regierungsapparate, die vielerorts seit Jahrzehnten dieselben Programme und Dienstleistungen nur versprechen. Meist arbeitet dieser Typ von Entwicklungsträger konfliktlos neben dem Staat bzw. n Koordination seiner Programme mit relevanten Regierungsabsteilungen. Somit erfüllt er eine nationale Integrationsfunktion, die er mitunter glaubwürdiger vertritt als der Staat.
Typ drei ist anderer Natur: Diese Art NRO verfügt über direkte, starke, aktive Beziehungen zu Basis-gruppen, ihren Sprechern und Organisationen. Sie unterscheidet sich von den anderen NROs dadurch, daß sie einen holistischen Ansatz vertritt, also ge-kmtkulturell denkt und handelt — und nicht nur iomplexe Probleme eindimensional zu lösen ver-Susht. Technokratische Lösungsansätze sind ihr rea iv fremd. Ein solcher Typ erkennt die Souveräniat der Basisgruppen im Sinne des Subsidiaritäts-prnzips an: Die Antworten und Richtungen für die Goblemlösungen ergeben sich aus dem direkten espräch, aus Gruppendiskussionen und einer engen Kooperation mit den Betroffenen in jeder Projektphase. Mitentscheidung der Basisgruppen ist selbstverständlich. Vertreter dieses Typs behaupten nicht, sie würden Zielgruppen und ihre Partizipation fördern, nachdem fast nur von Ministerialbürokraten geplant worden war. Ihrer Methode entsprechend, verbieten sich hierarchisch-zentralistische Lösungsansätze. Handlungen erfolgen horizontal. Sie werden mit Aktivitäten anderer Gruppen und Vermittlungsorganen koordiniert. Ihre Richtlinien entsprechen den Prinzipien von Subsidiarität und dem klassischen politischen Föderalismus.
Typ vier ergibt sich aus Elementen der Typen zwei und drei: Von einem Netzwerk werden Pläne, Einzelprogramme, Entscheidungen und ihre Durchführung koordiniert und kontrolliert. Große Organisationen mit schwerfälligen Entscheidungsabläufen verbieten sich in diesem Politikansatz. Der gesamte soziale Organismus zergliedert sich in eine Vielheit von Gruppen und Assoziationen zum Zweck der Lösung ihrer dringendsten Alltagsprobleme. Ihre Konstituierung ist eine Konsequenz jahrzehntelanger ineffizienter Entwicklungsarbeit über besonders inadäquate Entwicklungsträger: Dies sind Großbürokratien, gleichgültig welcher Konvenienz.
Durchgeführt werden einzelne Projekte mit staatlichen und privaten Geldern aus dem In-und Ausland. Eine der bekanntesten Asociaciönes Civiles, die als Netzwerk dem Typ vier angehört, ist Promociön del Desarrollo Populär. Sie arbeitet nach folgendem konzeptionellen Entwurf:
Ein technisches Komitee bestimmt unter dem Vorsitz eines Präsidenten die Durchführung der einzelnen Projektmaßnahmen. Die Mittelvergabe wird geprüft von einer staatlichen Bank, mit der ein Treuhändervertrag, ein sogenanntes Fideicomiso, abgeschlossen wird. Alle Ausgaben werden regelmäßig zweifach geprüft — von einem Technischen Ausschuß und der Bank.
Jede Basisgruppe, Gemeinde oder NRO, denen ein Projekt finanziert werden soll, schließt einen Unter-vertrag mit dem Koordinierungsorgan. Dieses beruft den Technischen Ausschuß ein und leitet alle Aktivitäten bzw. bereitet Unterverträge mit lokalen Selbsthilfegruppen vor. Im Falle eines Projektes mit einem Träger an einem anderen Standort wird mit einer lokalen Bank ein neues Fideicomiso abgeschlossen. In dieser Konstruktion und Konzeption treffen sich Basisgruppen — hier der Erdbebengeschädigten — in Netzwerken auf mittlerer Ebene, wo auch über die Durchführung staatlicher Programme entschieden wird. Es gibt somit auch eine Art ziviler Aktion, die Probleme löst, welche der Staat nicht allein bewältigen kann. Dieses Vorgehen beschränkt sich jedoch nicht nur auf Erdbeben-geschädigte in Städten, sondern wird auch in inte9 grierten ruralen Entwicklungsprogrammen angewandt. 4. Vergleich der Fälle Kolumbien und Mexiko Der Vergleich beider Ansätze orientiert sich an Stärken und Problemen derjeweiligen Erfahrungen und den ihnen eigenen Handlungsebenen einerseits sowie den Kombinationsmöglichkeiten andererseits. Über auf verschiedenen Ebenen zu konstruierenden Stufen ließe sich je nach Problem und Institutionengefüge Selbsthilfe auch von außen sinnvoll unterstützen.
Die Unterschiede zwischen den dargestellten kolumbianischen und den mexikanischen Elementen der Selbsthilfe liegen erstens auf verschiedenen Ebenen der Entscheidung und Durchführung. Sie treten zweitens in unterschiedliche Beziehungen zum Staat. Drittens schließen sich die unterschiedlichen Stufen weder aus, noch sperren sie sich einer Unterstützung von außen.
Im kolumbianischen Fall handelt es sich um autochthone Entwicklungsansätze. Es dominiert die Entscheidung und Durchführung in kleinen lokalen Gruppen oder Gemeinschaften. Berater waren zunächst Mitarbeiter des staatlichen Agrarreforminstituts. Seit dem Bruch mit dem Staat sind es oppositionell orientierte Intellektuelle, Professoren und/oder Vertreter von Oppositionsbewegungen der Indios, Campesinos sowie Kader einzelner Oppositionsparteien. Arbeitskontakte mit dem Staat wurden abgebrochen. Beziehungen gibt es primär im Sinne des Klientelprinzips. Dieses Sozialverhalten ist typisch für ein Land nach jahrzehntelangem Ausnahmezustand. Umsetzungschancen für Selbsthilfe in größerem Ausmaß sind daher noch relativ begrenzt, wenn wir bedenken, daß Politik primär über Kooperation mit und Duldung durch relevante Regierungsabteilungen umsetzbar zu sein scheint. Soll sie projektspezifische Erfolge ermöglichen, darf sie nicht in permanenter Auseinandersetzung mit dem Staat und ihn konstitutierenden Machtgruppen stehen. Dies ist ein zentrales Entwicklungsdilemma in Kolumbien und trifft auch hier auf Selbsthilfe zu. In der Gegenüberstellung mit den kolumbianischen Elementen kann in Mexiko Typ eins aus unseren Betrachtungen ausgeklammert werden, da er quasi-staatliche Funktionen erfüllt. Am Beispiel des Typs vier können wir auf Vorteile hinweisen, wie sie sich in den Typen zwei und drei ähnlich zeigen: Die Stärke der mexikanischen Variante von Selbsthilfe liegt auf der mittleren Ebene — in Netzwerken und Koordinierungsorganen.
Sie verschafften sich unterhalb der Ebene eines stark zentralistisch eingestellten Staatsapparats erstaunliche Handlungsspielräume und Durchsetzungsmöglichkeiten. Sie umgehen Konflikte, indem sie sich auf gesetzlich verbriefte Rechte und Programme berufen. Die Freiräume reichen von Campesinon und Indio-Gemeinden sowie von Elendsvierteln — am Staat vorbei oder in Koordination mit ihm — bis hin zu ausländischen staatlichen und nicht-staatlichen Förderorganisationen, Solche Netzwerke entsenden ihre Vertreter in großstädtische Nachbarschaftsgruppen und Landgemeinden. In Schulungskursen bereiten sie Projekte vor. Sie erarbeiten Finanzierungsanträge. Obwohl sie nicht primär vertikal agieren, sondern ihre Aktionen entsprechend dem klassischen Föderalismus horizontal angelegt sind, treten sie in das staatliche Machtvakuum der Einheitspartei (PRI) ein die seit zwanzig Jahren vor allem auf dem Land Anhänger verliert. Sie handeln einerseits im Sinne der nationalen Integration und als Stellvertreter des Staates. Andererseits ist der Staatsapparat Mexikos verunsichert worden durch die unerwartete Selbsthilfekapazität nach dem Erdbeben. Auslandsfinanzierung an private Träger erhöht die latente Unsicherheit der mexikanischen Staatsspitze, da sie um ihre Kontrollfähigkeit im Sinn des althergebrachten Zentralismus der Einheitspartei fürchtet, was die Präsidentschaftswahlen von 1988 manifestierten. Die lokale und mittlere Handlungsebene beider Selbsthilfeansätze schließen sich nicht aus. Beide haben konzeptionelle Vorzüge: der kolumbianisch-indianische durch den gesamtkulturellen Ansatz und die Integration von Aktionsforschem, Planem. Wissens-und Entscheidungsträgem sowie Kontrolleuren auf einer Ebene und in einer lokalen Instanz, dem cabildo. Seine Überlebensfähigkeit manifestierte Entwicklungskapazitäten und die Identität eines Stammes, was moderne Förderinstitutionen nicht leisten konnten.
In Mexiko beeindruckt die Effizienz von privaten, nicht-profitorientierten Trägerstrukturen der NROs, die dem staatlichen Zentralismus trotzen können. Diese Durchsetzungsfähigkeit — auch gegenüber dem Staat — eröffnet Handlungsspielräume, die im kolumbianischen Fall mangels ähnlicher Netzwerke und wegen ständiger Konflikte nicht in derselben Weise existieren können. Beide Stufen ergänzen sich und wären konzeptionell im Sinne einer relativ reibungslosen Umsetzung von Selbsthilfe hintereinanderzuschalten.
III. Schlußfolgerungen
Eine endogene Kombination oder Interaktion verschiedener Institutionen nicht-staatlicher, aber auch staatlicher Konvenienz kann günstige Voraussetzungen für vom Ausland zu fördernde Selbsthilfe unter der Bedingung bieten, daß Identität, Selbstkontrolle, Subsidiarität und damit Selbstbestimmung geachtet wird. Kooperation und Förderung von außen können dann nach jeweils vor Ort und von Projekt zu Projekt zu prüfenden Bedingungen schädliche Einflüsse verhindern.
Unter solchen Bedingungen ist Selbsthilfe nicht primär ein ökonomisch-technisches, sondern ein politisches Problem. Genauer betrachtet, ist die Entscheidung für eine bestimmte politisch-institutionelle Basis in der Gestalt einer Förderinstitution und/oder einem geeigneten Netzwerk von Institutionen für die Umsetzung nicht nur von Selbsthilfe wesentlich. Anders formuliert: Es wird behauptet, daß Erfolg oder Scheitern von Selbsthilfe stärker von der Auswahl der Trägerorganisationen und ihrem jeweiligen Handlungsspielraum abhängt als vom Einsatz bestimmter ökonomisch-technischer Maßnahmen.
Im Selbsthilfekontext gelten offene Fonds als gern gesehenes Instrument für unbürokratische Zusammenarbeit. Dies heißt, daß das Projekt in seinen Grundzügen geprüft und vereinbart wird. Wenn Einzelausgaben notwendig werden — wie z. B. ein Zeitvertrag eines Arztes — dann kann schnell vor Ort entschieden werden, ohne monatelanges Antragsverfahren und eventuellen Verlust einer Projektkomponente wegen nicht mehr verfügbarer Mitarbeiter. Grundvoraussetzung sollte sein, daß Partner, denen ein offener Fond gewährt wird, beim Zuwendungsgeber lange Zeit als zuverlässig bekannt sind und Mehrfachkontrollen — u. a.
durch Gegenzeichnung und Zustimmung eines Kontrollkomitees — akzeptiert werden.
Selbsthilfeförderung über NROs, die stellvertretend für den Staat handeln und für ihn Mittel (indirekt) einwerben, ist skeptisch zu betrachten. Erfahrungsgemäß dient sie primär staatlichen Interessen und nicht so sehr den Zielgruppen. Die systemstabilisierende Wirkung der Hungerhilfe in Äthiopien nach 1984/85 zugunsten des Mengistu-Regimes wurde von uns als ein solches Beispiel erfahren
Auch über die Selbsthilfeförderung als Teil der Hilfe für afghanische Flüchtlinge in den „Local Government and Rural Development Departments“ der Westprovinzen Pakistans entstand'der Eindruck, nicht-existente lokale Organisationseinheiten würden für den Staat geschaffen werden. Der Staat akzeptiert relativ desinteressiert die westliche Mode der Entwicklungsprojekte, weil er primär Kredite wünscht und daher die Mode gewähren läßt, die er nicht überzeugt umsetzen kann oder will.
Die Öffnung der Bundesregierung in Sachen Selbsthilfe verdient es, ernst genommen zu werden. Die Durchführung von Selbsthilfemaßnahmen in enger Koordination und Abstimmung mit Staatsapparaten bedarf weiterer Überlegungen, da das Konzept der Bundesregierung diesbezüglich noch nicht ausgereift zu sein scheint.
Eine regierungsinterne Arbeitsgruppe, die feststellt, daß „sich gerade die Ärmsten als besonders zuverlässig erweisen“ bei der Rückzahlung der Kredite, handelt nicht konsequent, wenn weiterhin Selbsthilfe primär über staatliche Kanäle gefördert werden soll. 1 Außer zur Vorbereitung eines politischen Klimas des Gewähren-Lassens von größeren Freiräumen nicht-staatlicher, quasi-souveräner Selbsthilfe wird die Förderung durch den Staat oft hinderlich und weder im Sinne der Zielgruppen noch der deutschen Steuerzahler sein.