Die mächtigen reformerischen Bewegungen, wie sie sich seit geraumer Zeit in der Sowjetunion, in Polen und vor allem auch in Ungarn vollziehen, versetzen die internationale Öffentlichkeit in einen Zustand von Faszination und gespannter Erwartungen. Die große Wende in der Politik des 20. Jahrhunderts wird erahnt. Die historische Dimension der Ereignisse und Entwicklungen scheint auf. Man sieht Geschichte förmlich „um die Ecke biegen“. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Umbrüche im östlichen Lager prägt sich die DDR in das öffentliche Bewußtsein um so deutlicher als Ort der Unbeweglichkeit, als das Nicht-Zeitgemäße ein. Man nimmt sie vornehmlich als in ihrer Verweigerungshaltung wahr und ergeht sich in Spekulationen, wann denn der draußen begonnene Wandel drinnen seine Wirkungen entfaltet. Die DDR erscheint als Republik im Wartestand. Dieses Bild von Immobilität deckt sich ganz und gar mit der Wirklichkeit, wenn Mobilität im Maß der Demokratisierung, Pluralisierung und wirtschaftlichen Orientierung am Markt sich ausdrückt. So gesehen, ist in der Tat von erheblicher Ereignislosigkeit in der DDR zu sprechen.
Über die Sensation des tiefgreifenden Wandels in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn einerseits und über das anhaltende Ärgernis ausbleibender innenpolitischer Bewegung in der DDR (und in anderen Staaten des Warschauer Pakts wie z. B, der ÖSSR) andererseits gerät — verständlicherweise — an den Rand des Interesses, daß es im östlichen Lager nach wie vor einen relevanten Politikbereich gibt, in dem weithin eine einheitliche Linie vorherrscht, in dem es zu wichtigen konzeptionellen Neuerungen gekommen ist und in dem die DDR keinesfalls als Bremser auftritt: den Bereich des außenpolitischen, auf die intersystemaren Beziehungen gerichteten Denkens. Äuf diesem Feld kann die DDR für sich beanspruchen, die marxistisch-leninistische Theorie in einem Maße bearbeitet und entwickelt zu haben, das im eigenen Lager seinesgleichen sucht. Und sie kann hier auch beanspruchen, in der praktischen Politik vorangekommen zu sein.
I. Brückenschlag zum Westen
Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre, in einer Zeit außerordentlich gespannter Beziehungen zwischen den Großmächten, hatte es die Ost-Berliner Führung mehrfach gewagt, ihren westpolitisehen Handlungsspielraum auszuloten, eine eigenständigere, von Rücksichten auf die Vormacht UdSSR freiere Westpolitik zu versuchen und die Entspannungspolitik zumindest für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander zu retten. Dies geschah überaus vorsichtig und war weitgehend noch als international arbeitsteiliges Vorgehen von UdSSR und DDR interpretierbar.
Spätestens 1983 sah sich die DDR jedoch veranlaßt, diese im Verhältnis zum Westen und vor allem im Verhältnis zur Bundesrepublik nur sehr vorsichtig eigene Akzente setzende Politik zu überdenken. Als die Entscheidung über die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen in der Bundesrepublik immer näher rückte, wandte sich Erich Honecker im Oktober 1983 mit dem dringenden Appell an Bundeskanzler Helmut Kohl, seine Haltung zur Raketenstationierung zu revidieren. In dem Schreiben Honeckers hieß es: „Im vollen Einklang mit den Interessen und Wünschen der Bürger der DDR ist es meine Auffassung, daß sich alle, die das Abgleiten der Menschheit in eine nukleare Katastrophe verhindern wollen, zu einer Koalition der Vernunft zusammentun sollten, um beruhigend auf die internationale Lage einzuwirken.“ Mit dem Begriff „Koalition der Vernunft“ war auf eine griffige Formel gebracht, was bereits ein halbes Jahr zuvor, im April 1983, auf der Internationalen Karl-Man-Konferenz in Ost-Berlin als außen-und friedenspolitisches Credo der SED angeklungen war. Vor Vertretern kommunistischer, sozialistischerundsozialdemokratischer Parteien hatte Erich Honecker dort eine erste Skizze seines systemübergreifenden Kooperationsmodells entworfen
Das Honeckersche „Koalitionsangebot“ widersprach der Position der Vormacht UdSSR, die sich unverändert auf Konfrontationskurs befand, un tatsächlich kam es um die Westpolitik der DDR 1984 zu heftigen, zum Teil auch öffentlich geführten Kontroversen zwischen Moskau und Ost-Berlin. Doch ließ sich die DDR-Führung von ihrem eigenständigen Kurs nicht abbringen, setzte ihre Politik des Brückenschlags fort — und behauptete so ihren neu gewonnenen Handlungsspielraum. Entschärft wurde dieser Konflikt mit der Amtsübernahme Gorbatschows. Vollends aus der Welt geschafft wurde er Ende 1985 mit dem Einschwenken der UdSSR auf einen westpolitischen Kurs, der grundsätzlich mit dem der DDR konform ging Der Schulterschluß war wieder hergestellt, und er hatte auf die Entwicklung des neuen westpolitischen Handlungskonzeptes der DDR außerordentlich belebende Wirkung.
Die Motive der DDR, sich 1983/84 mit einer Politik der Gesprächs-und Kooperationsbereitschaft auf der internationalen Bühne nachdrücklich zu profilieren, waren vielfältiger Natur. Als unstreitig kann gelten, daß sie weit mehr als die große Sowjetunion Interessen gegenüber dem Westen, insbesondere der Bundesrepublik, durchzusetzen und zu wahren hatte. Als stark exportorientiertes Land, das über keine nennenswerten Rohstoffe verfügt, muß sich die DDR ihre Exportfähigkeit durch einen hohen technologischen Stand der Produktion sichern. Dazu braucht sie die Anbindung an die hochentwikkelten Industriestaaten des Westens. Die Bundesrepublik nimmt dabei bekanntermaßen eine besondere Rolle ein: als ein Land, das aus einem gesamtdeutschen Anspruch heraus der DDR Präferenz-konditionen im Handel gewährt, sie an Vorzügen der westeuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft teilhaben läßt und ihr über Geldtransfers als unverzichtbare Devisenquelle dient. Darüber hinaus — und das ist wieder auch ein ökonomisches Motiv — fürchtete die DDR ein sich weiter beschleunigendes Wettrüsten, zu dem sie in Bündnisdisziplin ihren Beitrag hätte leisten müssen. Damit sah sie Belastungen auf sich zukommen, die die Realisierung ihres wirtschafts-und sozialpolitischen Programms hätten ernsthaft gefährden und mithin die Stabilität ihres politischen Systems tangieren können. Zudem ist festzuhalten, daß sich der neue Kurs der DDR gegenüber dem Westen bis heute zu einem guten Teil wirklich aus dem speist, was die DDR immer wieder als den zentralen Ausgangspunkt ihrer Außenpolitik herausstellt: aus der existentiellen Bedrohung Mitteleuropas durch die beiderseits der Systemgrenze überbordenden Waffenarsenale. Die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles sowie die sowjetischen Gegenmaßnahmen hatten noch einmal nachdrücklich die Rolle Mitteleuropas, insbesondere der beiden deutschen Staaten, als das eigentliche Schlachtfeld bei einer militärischen Auseinandersetzung der Blöcke verdeutlicht.
II. Die marxistisch-leninistische Ideologie in Bewegung
Die prinzipielle Entscheidung der DDR für eine neue Politik des Dialogs und der Kooperation zwischen den Systemen, wie sie vor dem Hintergrund des Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre sich zunehmend verschärfenden Ost-West-Konflikts und insbesondere des allgemeinen Scheiterns von Rüstungskontroll-und Abrüstungsbemühungen getroffen wurde, ist in der DDR bis heute Gegenstand einer wahren Flut gesellschaftswissenschaftlicher, zum Teil unmittelbar politikberatender Arbeiten zu Problemen der „Systemauseinandersetzung“. Wohl in keinem Land des östlichen Blocks, außer vielleicht in Ungarn, hat man sich wissenschaftlich derart intensiv mit diesem Thema efaßt Den Auftrag zu diesem wissenschaftlich-POlitischen Großprojekt hatte die SED auf ihrer esellschaftswissenschaftlichen Konferenz im De-
mher gegeben: Die marxistisch-leninistische fplogie sollte auf die „Anforderungen des Kampes für den Frieden und die Abrüstung“ eingestellt werden Letztlich verbarg sich dahinter nichts weniger als die Order, das Theoriengebäude des Marxismus-Leninismus von jenen Bestandteilen zu befreien, die einer politischen Vertrauensbildung hinderlich sein könnten. Allen Zweifeln an der Friedensfähigkeit der kommunistischen Weltanschauung sollte der Boden entzogen werden. 1. Menschheitsinteressen und globale Probleme Alle neueren, das Verhältnis der Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung betreffenden konzeptionellen Überlegungen in Politik und Wissenschaft der DDR gehen von der Annahme aus, daß das „Nuklearzeitalter“ Bedingungen setzt, unter denen das bisherige politische und militärische Denken wegen seiner „vornuklearen Logik“ teilweise an Gültigkeit verliert. Die Gefahr der SelbstVernichtung der menschlichen Zivilisation zwinge jede Politik zu einer Neubestimmung der Bedeutung von Partialinteressen im Verhältnis zum Über-lebensinteresse der Menschheit. In der Logik dieser Sicht liegt es, daß man sich in der DDR nunmehr intensiver mit der Interessenproblematik in der in-ternationalen Politik befaßt und für die eigene Ideologie die Kategorie des „Menschheitsinteresses“ entdeckt. Klassen-und sonstige Partialinteressen geraten dabei in ihrer Bedeutung nicht in den Hintergrund, werden in ihrer Legitimität aber stärker als zuvor auf Menschheitsinteressen bezogen. Die Ernsthaftigkeit ihres Aufbruchs zu neuen Ufern setzt die DDR allerdings immer wieder dadurch Zweifeln aus, daß sie von der Gleichsetzung der eigenen „Klasseninteressen“ mit dem Menschheitsinteresse nicht ablassen mag
Zur Arbeit an einer neuen Sichtweise, wie sie in der DDR vor dem Hintergrund nicht nur der militärischen, sondern auch der ökologischen und ökonomischen Bedrohungen in der Welt von heute geleistet wird, gehört, daß die Ganzheitlichkeit der Welt, die in wechselseitigen Abhängigkeiten zusammengehörige Welt, in den Blick kommt. Die Erde wird als „gemeinsames Haus“ entdeckt, und zum „gemeinsamen Haus“ wird auch Europa Dazu gehört auch eine unbefangenere, vom lähmenden Ideologiebezug freiere Beschäftigung mit Begriff und Phänomen des „globalen Problems“. In Auseinandersetzung mit den in westlichen Industriestaaten aufkommenden globalistischen Denkansätzen wie die des Club of Rome hatte die DDR noch bis in die achtziger Jahre hinein allen Behauptungen, es gebe so etwas wie weltweite gemeinsame, die Systeme übergreifende Problemlagen, vehement widersprochen. In ihrer Wahrnehmung hatte nicht das Problem selbst, die Tatsache der Vergleichbarkeit der Problemsituation in West und Ost oder das Faktum der Interdependenz der Problemlösung im Vordergrund zu stehen, sondern die Gegensätzlichkeit der Systeme und ihre unvergleichlichen, jeweils spezifischen Fähigkeiten zur Vermeidung bzw. Lösung von Problemen.
Diese ideologiegeleitete Sicht, die die Realitäten adäquat zu erfassen nicht geeignet und die glaubwürdig nicht mehr zu vermitteln war, wurde in den letzten Jahren teilweise revidiert. Es wurde prinzipiell die Existenz systemübergreifender, globaler Probleme anerkannt, der Begriff „globales Problem“ wurde für die Diskussion freigegeben und als politikwissenschaftliche Kategorie im Rahmen des Marxismus-Leninismus systematisch bearbeitet. Damit tritt der Systemgegensatz tendenziell zurück — nicht weil er als obsolet betrachtet würde, sondern weil die Entwicklung eines intersystemaren Kooperationsmodells in den Vordergrund gestellt wird, das zwar auf dem Antagonismus der Systeme aufbaut, ihn aber als potentiellen Störfaktor nicht ständig zum Kristallisationspunkt politischer und wissenschaftlicher Überlegungen machen kann. Einer der führenden Politikwissenschaftler der DDR, Max Schmidt, formulierte dies jüngst wie folgt: „Es besteht die unabweisbare Notwendigkeit, eine globale Denk-und Handlungsweise zu entwickeln, die die heutige Fixierung des politischen Denkens und Handelns auf die Zersplitterung der Welt und das Gegeneinander ihrer Bestandteile überwindet . . .“ 2. Von konfrontativer zu kooperativer Koexistenz Das (mehr oder weniger) friedliche Nebeneinander, Gegeneinander und Miteinander von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung in der „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus“ wird im sozialistisch-kommunistischen Lager, insbesondere seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956, auf den Begriff „friedliche Koexistenz“ gebracht. Aufgrund einer Neueinschätzung der internationalen Lage, vor allem angesichts der manifest gewordenen atomaren Bedrohung, war damals die These der Unvermeidbarkeit einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Imperialismus und Sozialismus aufgegeben und in der Militärdoktrin der Grundsatz der Kriegsverhütung neu bewertet worden. Gleichwohl herrschte bis in die achtziger Jahre hinein ein weitgehend konfrontatives Verständnis von friedlicher Koexistenz vor: Anders als es der Begriff eigentlich nahe-legt, wurde sie nicht nur als friedliches Nebeneinander von Staaten unterschiedlicher Systemordnung, sondern auch als eine „wichtige Form des internationalen Klassenkampfes" verstanden. Nachzulesen war dies nicht zuletzt in allen einschlägigen Wörterbüchern der DDR.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß diese kämpferische Auslegung zum Teil nicht mehr als ein verbales Zugeständnis an jene Falken im eigenen Lager war, die fürchteten, mit einer Politik der friedlichen Koexistenz sei der Verzicht auf weltweite Revolution verbunden. Als erklärte Grundlage für eine „Koalition der Vernunft“, wie sie die DDR-Führung unter Erich Honecker unentwegt propagiert, war eine derart verstandene friedliche Koexistenz allemal völlig ungeeignet. Tatsächlich hat die DDR, ausgehend von ihrer neuen Analyse der Bedrohungssituation in der Welt von heute und dem Eingeständnis der globalen Dimension bestimmter Problemlagen, die Notwendigkeit eines auch ideologisch adäquat verarbeiteten Übergangs von einer stark konfrontativen zu einer mehr kooperativen Koexistenz erkannt und diese Erkenntnis in eine teilweise Entmilitarisierung ihres außenpolitischen begrifflichen Instrumentariums umgesetzt. In den jüngsten Definitionen der friedlichen Koexistenz wird denn auch ausnahmslos auf deren Charakterisierung als „wichtige Form des internationalen Klassenkampfes“ verzichtet 3. Krieg, Frieden und sozialer Fortschritt Im Zusammenhang mit den Bemühungen, die kämpferisch-expansionistische Auslegung der „friedlichen Koexistenz“ öffentlich zurückzunehmen und dieses Konzept intersystemar konsensfähig zu machen, wird in der DDR seit einigen Jahren an einer Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Frieden und sozialem Fortschritt gearbeitet. Zum mittlerweile weithin akzeptierten Ausgangspunkt der DDR-internen Diskussion ist dabei eine neue Sichtaufdas Zentralproblem Krieg geworden. In der Kriegstheorie, wie sie bis in die achtziger Jahre hinein in der DDR vertreten wurde, galten Kriege, mit dem preußischen Militärtheoretiker Clausewitz, als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Je nachdem welche Politik sie fortsetzen, sei von gerechten oder ungerechten Kriegen zu sprechen
Mit dieser Kriegstheorie konnte die DDR in der internationalen Friedensdiskussion, aber auch re-publikintern immer weniger bestehen. Im Ergebnis eines internen Klärungsprozesses hat sich nunmehr als offizielle Linie durchgesetzt, dem „Krieg im Nuklearzeitalter“ jegliche politische Funktion abzusprechen. Krieg unter diesen Bedingungen sei das Ende jeder Politik. Überdies wird in jüngster Zeit, westliche friedenspolitische Diskussionen aufgreifend, die „Kriegsuntauglichkeit“ hochindustrialisierter Gesellschaften ins Feld geführt. Industriegesellschaften sozialistischen wie auch kapitalistischen Typs mit ihrer hochkomplexen, äußerst verletzlichen Technosphäre seien nur unter Friedensbedingungen funktionsfähig Gleichwohl gilt es festzuhalten, daß es insbesondere unter den Militärs und ihnen nahestehenden Ideologen immer wieder Bestrebungen gibt, zumindest Teile der alten Kriegstheorie auch in das neue Denken einfließen zu lassen. In der Öffentlichkeit sind solche Posi-
tonen, in denen es — weitab von den wirklichen Problemen — um die Rettung irrelevant gewordener ideologischer Dogmen geht, aber nicht mehr dominant.
Die neue Sicht auf das Problem „Krieg“ hat Konsequenzen für die marxistisch-leninistische Revolutionstheorie, für die Bestimmung der Möglichkeiten und Wege, sozialen Fortschritt in der Auseinandersetzung der Systeme zu befördern. Die offizielle Linie der DDR ist es heute, immer wieder zu betonen, daß der Verhinderung der Selbstvernichtung der Menschheit nunmehr absolute Priorität zukomme. Der Kampf für den Frieden könne anderen sozialen und revolutionären Aufgaben nicht mehr untergeordnet werden: Frieden als unverzichtbare Bedingung für sozialen Fortschritt
In der Logik dieser ideologischen Revision liegt es denn auch, den Kampf für soziale Veränderungen zur Sache ausschließlich der gesellschaftlichen Kräfte innerhalb der jeweiligen Länder zu erklären und den „Revolutionsexport“ öffentlich abzulehnen. Führende Ideologen der DDR wollen dabei heute gern glauben machen, daß die Ablehnung des Exports von Revolutionen, letztlich also die Ablehnung grenzüberschreitender Förderung sozialrevolutionärer Prozesse, von jeher zu den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus gehört habe Derartige Versuche von Vergangenheitsbewältigung sind wohl im wesentlichen einem ausgeprägten Bedürfnis zuzuschreiben, zum Zweck der Immunisierung des eigenen Theoriengebäudes auch im Wandel der Ideologie noch ihre Kontinuität hervorzukehren. Jedenfalls zeigen sich hier handfeste Probleme, gewisse Neuerungen in der ideologischen Verarbeitung politischer Prozesse öffentlich kenntlich zu machen und überholte Positionen deutlich als solche zu bezeichnen. 4. Der Kapitalismus — friedens-und reformfähig? Im Rahmen der ideologischen Bewältigung des Faktums, daß es zur Koexistenz der Systeme keine verantwortbare Alternative mehr gibt (es sei denn, ein System löste sich selbst auf), ist es in der DDR öffentlich — wenn auch sehr vorsichtig — auch zu einer Neubestimmung der Voraussetzungen für Frieden gekommen. Frieden war für Kommunisten letztlich immer eine postrevolutionäre Kategorie: Den wirklichen, den totalen Frieden konnte es erst nach dem weltweiten Sieg des Sozialismus/Kommunismus geben. Mit einem solchen Friedensverständnis, das den weltweiten Sturz der kapitalistischen Ordnung zur Voraussetzung für Frieden erklärt, lassen sich natürlich die gesuchten Partner aus dem nichtkommunistischen Lager für den Frieden bzw. für die „Koalition der Vernunft“ nicht gewinnen.
Wer die friedliche Koexistenz der Systeme glaubwürdig zu einem zentralen Strukturprinzip internationaler Politik erheben will, muß die andere Seite für fähig zum Frieden halten. Dies kann als stillschweigendes Anerkenntnis der Friedensfähigkeit des Kapitalismus bei gleichzeitiger öffentlicher, propagandistischer Hervorkehrung seiner Friedlosigkeit, also sozusagen unter der Hand geschehen. Dieser Weg, wie er spätestens seit dem XX. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 gegangen wurde, zeigte seine Widersprüchlichkeit immer deutlicher, als sich in den sechziger Jahren im Ost-West-Verhältnis Entspannungstendenzen und in den siebziger Jahren auch verstärkt Möglichkeiten zur Kooperation andeuteten. Zusehends wurde offenbar, daß die öffentliche Anprangerung des Kapitalismus als friedensunfähig nur zu Zeiten einer vornehmlich konfrontativen Auslegung friedlicher Koexistenz glaubwürdig durchzuhalten ist und mit dem Bekenntnis zu kooperativ verstandener friedlicher Koexistenz auch eine adäquate Revision des Kapitalismus-Bildes einhergehen muß.
Wenn sich auch in den siebziger Jahren in der DDR bereits einige neue Aspekte in der Analyse des Kapitalismus zeigten, brauchte es doch des geballten Interesses an Dialog und Kooperation mit dem Westen, ehe man sich unausweichlich veranlaßt sah, dem Kapitalismus auch öffentlich Friedensfähigkeit zu bescheinigen
Tatsächlich war es wohl der Druck der eigenen politischen Offensive, des vehementen Einsatzes für ein neues Verhältnis der Systeme zueinander, der die SED zu einer offenen Revision ihres Bildes vom Kapitalismus zwang. Dazu wurde ein großer Schritt mit der Veröffentlichung des gemeinsamen Papiers von SPD und SED „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ im Sommer 1987 getan. In diesem Papier hatte sich die SED zu der Erklärung bereit gefunden: „Beide Systeme müssen sich gegenseitig für friedensfähig halten . . . Vermieden werden muß alles, was die andere Seite als prinzipiell unfriedlich oder zum Frieden unfähig erscheinen läßt.“
Damit ist die Revision des Kapitalismus-Bildes aber keineswegs eindeutig und endgültig vollzogen. Vielmehr erweist sich dieser Schritt für die SED als einer der schwierigsten auf dem Weg des ideologischen Wandels. Parteiintern kam es zu heftigen Diskussionen. Trotz der offensichtlich erheblichen ideologischen Schwierigkeiten, die dieses Thema bereitet, kann dennoch festgehalten werden, daß in der Auseinandersetzung der Systeme die SED die Anerkennung der Friedensfähigkeit des jeweils anderen als unverzichtbare Voraussetzung für Dialog und Kooperation im Prinzip nicht zur Disposition stellen will. Strittig ist aber nach wie vor, wie auf dieses politische Erfordernis in der Imperialismus-theorie im einzelnen adäquat zu reagieren ist. Ein Ost-Berliner Wissenschaftler hat dieses Dilemma jüngst wie folgt umschrieben: „Wissenschaftliche Kategorien müssen die Entwicklung der Realität richtig widerspiegeln. Aber aus der Sicht der politischen Psychologie sollten wir auch beachten, wie sie in der internationalen Öffentlichkeit verstanden werden.“
Eine vergleichbar schwierige, in der Diskussion noch offene Situation zeigt sich im Hinblick auf die Anerkennung der Reformfähigkeit des Kapitalismus im allgemeinen. Im Ergebnis ihrer 1983/84 vehement einsetzenden politischen Offensive für Dialog und Kooperation in der internationalen Politik hat sich die SED 1987 in ihrem gemeinsam mit der SPD verfaßten Papier zu dem öffentlichen Bekenntnis durchgerungen, daß beide Gesellschaftssysteme einander „Entwicklungsfähigkeit und Reformfähigkeit“ zugestehen müssen. Dennoch: Daß dieses der SED abgerungene Eingeständnis DDR-intern in allen seinen Aspekten bereits unumstritten gültiges Allgemeingut politischen Denkens sei, wird schwerlich zu behaupten sein. Wohl ist richtig, daß Zusammenbruchstheorien, denen zufolge sich der Kapitalismus nunmehr unwiderruflich in seiner letzten Krise befinde, der dann der Kollaps folge, einer differenzierteren, die ökonomische Stärke westlicher Industriegesellschaften bedenkenden Betrachtungsweise weichen mußten. Aber zumindest in den Medien der DDR wird unverändert und uneingeschränkt das Bild eines durch und durch maroden kapitalistischen Systems gezeichnet. Und nach wie vor gilt in der DDR auch die allgemeine Definition der gegenwärtigen „Epoche“ als „Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus im Welt-maßstab“
Möglicherweise tut man aber gut daran, den offensichtlichen Widerspruch zwischen dem Anerkennen der Reformfähigkeit des Kapitalismus und dem Festhalten an der Unausweichlichkeit seines Zusammenbruchs nicht überzubewerten, sondern hier eine arbeitsteilige Argumentation in Rechnung zu stellen. Jedenfalls sollte bei aller Widersprüchlichkeit nicht übersehen werden, daß zumindest in der politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung nut dem Kapitalismus, mit den konkreten kapitalistischen Staaten und den in ihnen wirkenden politi sehen Kräften und Ideen die differenzierende Analyse und Bewertung in der DDR an Boden gewonnen haben.
III. Die Partner der „Koalition der Vernunft“
Eine internationale systemübergreifende „Koalition der Vernunft“, wie sie der DDR-Führung vorschwebt, braucht zu ihrer Realisierung koalitionsfähige Partner. Koalitionsfähigkeit hat dabei einen doppelten Aspekt: Zum einen muß man sich selbst als Mitgestalter einer intersystemaren Friedenskoalition akzeptabel machen, zum anderen muß man bereit sein, auch gegnerische bzw. konkurrierende politische Kräfte als koalitionsfähig anzuerkennen. Wer — wie die DDR lange Zeit — ausschließlich fähig zu einem pauschalen, alle realen Unterschiede einebnenden Urteil über die andere Seite und ihre politischen Kräfte ist, für den deckt sich die Grenze zwischen „gut“ und „böse“ mit der zwischen den Gesellschaftssystemen. Eine andere Grenzziehung, etwa eine quer durch die Systeme, kann so gar nicht erst gedacht werden. Einem solchen Denken müssen systemübergreifende „Koalitions“ -Überlegungen fremd sein.
In den letzten Jahren haben sich in der DDR aus der Wahrnehmung elementarer Bedrohungen und angesichts der praktischen Notwendigkeiten intersystemarer Kooperation im politischen und politik-wissenschaftlichen Betrieb jedoch durchaus pragmatische Denk-und Handlungsweisen herausgebildet, die das sterile Blockdenken auflockern. Dazu gehört, neben der Trennung der Welt in das sozialistische und das kapitalistische Lager eine Trennung zwischen Kräften des Friedens und der Kooperation einerseits und Kräften des Krieges und der Konfrontation andererseits vorzunehmen. In dieser neuen Lagertheorie verläuft die Trennlinie nicht mehr entlang der Grenze zwischen den Gesellschaftssystemen, sondern quer durch das kapitalistische System, und zwar sowohl zwischen den verschiedenen kapitalistischen Ländern als auch zwischen den verschiedenen politischen und sozialen Kräften eines kapitalistischen Landes selbst Gezogen wird die Grenze dabei innerhalb des konservativen Lagers. 1. Konservatismus Relevant für eine friedliche Auseinandersetzung der Systeme und die Entwicklung einer umfassenden intersystemaren Kooperation ist, daß die DDR Teile des konservativen politischen Lagers im Westen im Hinblick auf das eigene Konzept einer ,, weltweiten Koalition der Vernunft“ erklärtermaen in „Koalitionsüberlegungen“ einschließt. „Vertreter der Monopolbourgeoisie“, die den Kurs der extremsten Kreise ihrer eigenen Klasse nicht mehr •—--------hlDieter mittragen können, seien mögliche Partner Einem solchen, oft wiederholten „Koalitionsangebot“ liegt eine stärker differenzierende Einschätzung der westlichen Rechten zugrunde, die sich in ihrer heutigen Ausformulierung erst in den letzten Jahren entwickelt hat.
Sicherlich ist es nicht ganz neu — und auch nicht sonderlich originell —, die Konservativen im Westen in ultra-und rechtskonservative Kräfte, die immer noch am Kalten Krieg festhielten, und in gemäßigt-konservative Kräfte, die sich eher durch Pragmatismus, durch ein Austarieren von Konfrontation und Entspannung auszeichneten, zu unterteilen. Neu sind vielmehr das Gewicht, das man in der DDR in Ideologie und Politik einer solchen Differenzierung beimißt, und die Aufmerksamkeit, die man solchen Entwicklungen im konservativen Lager vor allem auch auf Seiten der Politikwissenschaften widmet. Zudem deutet sich in neueren politikwissenschaftlichen Arbeiten eine Verfeinerung der Analyse des Konservatismus an, die in ihren Differenzierungen die wirklichen Gegebenheiten schon etwas angemessener einfängt Insgesamt läßt sich jedenfalls festhalten, daß das westliche konservative Lager nicht mehr so sehr als einheitlicher friedensgefährdender Block präsentiert wird, sondern man stärker auf eine Unterscheidung zwischen entspannungsfreundlichen und entspannungsfeindlichen Kräften achtet. 2. Sozialdemokratie Eine zentrale Rolle in ihrem Konzept, eine neue Qualität der friedlichen Koexistenz zwischen den Gesellschaftssystemen durchzusetzen, weist die DDR-Führung heute der Sozialdemokratie in den westlichen Ländern zu. Dabei hat die SED viel an Geschichte aufzuarbeiten. Genannt sei hier der „Sozialfaschismus“ -Vorwurf, den die KPD in der späten Weimarer Republik an die Adresse der Sozialdemokratie richtete, die im Gefolge des Zusammenschlusses von KPD und SPD zur SED in der SBZ einsetzende und in der DDR fortgesetzte Unterdrückung von Sozialdemokraten oder das Etikett „Sozialdemokratismus“, das in diffamierender Absicht bis Anfang der siebziger Jahre reformerischen politischen Ideen im Innern wie auch der Politik der SPD in der Bundesrepublik angehängt wurde.
Trotz mancher Ungereimtheiten in der historischen Aufarbeitung des Verhältnisses der Kommunisten zu den Sozialdemokraten ist unverkennbar, daß die SED ihre Beziehungen zu den sozialdemokratischen Parteien, vor allem zur SPD, normalisieren und mit westlichen Sozialdemokraten einen von unnützer Polemik freien Dialog über gemeinsam interessierende Fragen führen will. Dazu gehört, daß sie ihre früher konsequent durchgehaltene Unterscheidung zwischen rechter, prokapitalistischer SPD-Parteiführung und linkem, gesellschaftsreformerischem Parteivolk öffentlich weitgehend zurückgestellt hat und allenfalls noch von gegensätzlichen Klassentendenzen in der SPD spricht, ohne diese konkret zu verorten. Vor dem Hintergrund dieses ideologischen „Störfreimachens“ der Beziehungen kam es im Laufe der achtziger Jahre zu einer zunehmenden Entkrampfung des Verhältnisses zwischen den DDR-Kommunisten und den westdeutschen Sozialdemokraten, die es erlaubte, bei unverändert bestehender ideologisch-politischer Gegnerschaft die Existenz gemeinsam interessierender Fragen festzustellen und ihre kooperative Lösung in Angriff zu nehmen. Als besonders markantes Beispiel sei auf das von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und der Grundwertekommission der SPD gemeinsam vorgelegte Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ hingewiesen. 3. Pazifismus Ende 1983 ließ die SED-Führung auf der Gesellschaftswissenschaftlichen Konferenz ihres Zentral-komitees die Öffentlichkeit wissen, daß sie zur Verteidigung des Friedens gegen die atomare Bedrohung eine Zusammenarbeit zwischen „Marxisten, Sozialdemokraten, Christen, Pazifisten und anderen Gruppen und Bewegungen“ trotz aller Meinungsverschiedenheiten für unentbehrlich halte Damit war ganz sicherlich kein Friedensangebot an ein unabhängiges pazifistisches Denken in der DDR formuliert. In der Folge kam es gleichwohl in den Gesellschaftswissenschaften der DDR zu einer merklich intensiveren und in der Haltung aufgeschlosseneren Beschäftigung mit dem Pazifismus als politischer Strömung.
In der Geschichtswissenschaft z. B. wird, wie ein führender Historiker der DDR hervorhebt, nunmehr daran gearbeitet, „die pazifistischen Bestrebungen des 19. und 20. Jh. in ihrer Widersprüchlichkeit, mit ihren positiven Zügen wie mit ihren Grenzen zu erfassen und als ein wichtiges, bisher wenig beachtetes Element in das Traditionsbild der sozialistischen Gesellschaft neu einzufügen“ Und Friedensforscher der DDR können heute auch schon öffentlich kritisieren, daß die Kommunisten in den zwanziger und dreißiger Jahren dieses Jahr-hunderts den Pazifismus als Partner im Kampf ge gen Faschismus und Krieg nicht ernst genug genommen haben
Die nunmehr offenere Befassung mit dem Pazifismus als historischer Erscheinung oder als politischem Phänomen in kapitalistischen Gesellschaften mag noch relativ problemlos in die traditionelle Haltung der SED zum Pazifismus integrierbar sein. Eine Anerkennung des pazifistischen Denkens in der DDR würde hingegen eindeutig das Denk-und Handlungsmuster der Herrschenden sprengen. Sie ist bisher nicht ausgesprochen worden und stebt unter den gegebenen Systembedingungen auch nicht zu erwarten. Daß ein Staat, der unabhängiges Friedensdenken unter seinen Bürgern rigoros aus-grenzt, als Dialogpartner für westliche Pazifisten ernsthaft nicht in Frage kommen kann, hat die DDR-Führung dabei wohl kaum erkannt. 4. Gläubige Deutlich weitergekommen auf dem Wege der Beseitigung ideologischer Altlasten ist man in der DDR bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Marxismus-Leninismus und Religion. Auch für das Verständnis der hier vollzogenen Revision ist das 1983 von der SED-Führung verkündete Credo, eine Zusammenarbeit zwischen „Marxisten, Sozialdemokraten, Christen, Pazifisten“ und anderen gegen die atomare Bedrohung sei heute existentiell notwendig geworden, mit heranzuziehen. Bereits im Vorfeld des VI. Philosophie-Kongresses der DDR im Oktober 1984 war das Problem „Religion“ in deutlich praktischer Absicht marginalisiert worden: „Bei allem kritischen Verhältnis zur Religion gehört die Auseinandersetzung mit der Religion nicht zur politischen Programmatik der kommunistischen Bewegung. Das Wichtigste im Marxismus-Leninismus ist auch nicht sein Atheismus, so unabdingbar der Atheismus auch zu ihm gehört . . ,“ Das war nicht nur eine Sachaussage, sondern gleichermaßen auch eine Kritik an Tendenzen im Marxismus, den Atheismus über die Maßen zu akzentuieren.
Heute geht man in der DDR insofern noch weiter, als man sich bereits kritisch oder doch zumindest differenzierend mit der zentralen Aussage Manschen Religionsverständnisses auseinandersetzt: Religion sei „Opium des Volkes“. Danach wird dieser Lehrsatz zwar nicht ad acta gelegt, aber doch sehr deutlich in den historischen Kontext seiner Entstehung eingebettet und Religion selbst als et was mit den gesellschaftlichen Verhältnissen sich Entwickelndes vorgestellt. Zudem wird als Grund-merkmal von Religion ihr „Doppelcharakter“ herausgearbeitet, nämlich Ausdruck von Leid und Unterdrückung zu sein und zugleich auch Protest und Handlungsmotivation dagegen. Neben der Jenseits-Orientierung von Religion wird nunmehr stärker ihre auf das Diesseits gerichtete sozial mobilisierende Kraft in den Blick genommen. Ganz offensichtlich erkennt die SED hier Interpretationsbedarf, den zu decken ihr im Interesse eines reibungsloseren Dialogs zwischen Kommunisten und Gläubigen international wie auch landesintem geboten scheint
IV. Folgen für den Wissenschaftsbetrieb
Der Auftrag der SED an die Wissenschaft, ihren Beitrag zur Fundierung einer friedensdienlichen internationalen Politik und zur Entwicklung eines intersystemaren Kooperationsmodells zu leisten, hat merkliche Spuren im Wissenschaftsbetrieb der DDR hinterlassen. Dafür seien im folgenden zwei Beispiele genannt. 1. Friedensforschung Eine der bemerkenswerten Wirkungen des neuen außenpolitischen Denkens ist im Wissenschaftsbereich die Etablierung einer Friedensforschung. Im Vergleich zu westlichen Ländern hatte es Friedens-forschung in den Staaten des Warschauer Vertrages ungleich schwerer als ein Wissenschaftszweig Anerkennung zu finden, der eigenständige Aufgaben zu lösen hat. Schwerer hatte sie es deshalb, weil der Marxismus-Leninismus per se als Friedenswissenschaft und Friedensforschung im Westen nur als Feigenblatt eines friedensfeindlichen Systems begriffen wurden. Abgesehen von sehr singulären, auf Positionswechsel hindeutenden Signalen in den Jahren 1980/81 zeigte sich in der DDR erst ab 1983 allmählich ein Wandel in dieser Frage, der sich dann ab 1985 auch begrifflich niederschlug: Man begann von einer „Friedensforschung der DDR“ zu sprechen.
Nach Freigabe einer Friedensforschung für den Wissenschaftsbetrieb der DDR bildete sich relativ rasch ein institutionelles Netz von Aktivitäten auf diesem Gebiet heraus, dessen Knotenpunkte im Wesentlichen in der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, im Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, in der Akademie der Wissenschaften und in den Universitäten Berlin (Ost) und Leipzig zu finden sind. Dabei zeigt sich als dominante Richtung, Friedensforschung weniger als verselbständigtes, klar abgegrenztes Fach, sondern als interdisziplinär angelegtes wissenschaftliches Großprojekt zu entwickeln. Die „interdisziplinäre sozialistische Friedensforschung“ (Max Schmidt) der DDR soll sich gemäß Auftrag der SED keinesfalls auf politikferne Wissenschaftlichkeit beschränken dürfen, sondern soll neben Grundlagenforschung vor allem auch unmittelbar politikberatende Aufgaben wahmehmen. Friedens-forscher in der DDR sollen helfen, den Dialog der Systeme voranzutreiben Von einem innergesellschaftlichen Dialog, in den die offizielle Friedens-forschung mit der unabhängigen Friedensbewegung treten könnte, ist bisher nicht die Rede. 2. Geschichtswissenschaft In den Dienst der Sicherung des Friedens, der Förderung des Dialogs und der Kooperation zwischen den Systemen soll nach dem Willen der SED auch die Geschichtswissenschaft gestellt werden. Historische Wissenschaft, so wurde erst jüngst wieder im Vorfeld des VIII. Historikerkongresses der DDR formuliert, soll mit ihren speziellen Mitteln die Menschen für die Verhinderung einer menschheitsvernichtenden Nuklearkatastrophe mobilisieren helfen und den „Dialog aller am Frieden interessierten Kräfte für die Schaffung einer Koalition der Vernunft und des Realismus“ unterstützen
Einen besonders deutlichen Niederschlag fand der neue Kurs in der Erforschung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Antifaschistischer Widerstandskampf war in der DDR-Historiographie immer als „seinem Wesen nach“ Klassenkampf zwischen der Arbeiterklasse und dem Monopol-kapital beschrieben worden. Nichtproletarische Kreise waren aus dem Widerstand wenn nicht ausgegrenzt, so doch in ihrer Rolle sehr stark abgewertet worden. Etwa seit 1984, dem 40. Jahr nach der Verschwörung des 20. Juli, fand man zu einer neuen Sicht des politischen Gehalts und des sozialen Profils des Widerstands, die auch eine differenziertere und positivere Bewertung des bürgerlichen Widerstands ermöglichte. Typisch für diese neue Sicht ist folgende Definition: „Die deutsche Widerstandsbewegung war die den Bedingungen der faschistischen Diktatur entsprechende Form der politischen Auseinandersetzung zwischen den Kräften der extremen imperialistischen Reaktion auf der einen und denen der Demokratie, der Humanität und des Friedens auf der anderen Seite.“ In dieser Definition spiegelt sich unübersehbar die politische Kräftekonstellation wider, wie sie die DDR in der Welt von heute gegeben sieht. Antifaschistischer Widerstand wird hier ganz deutlich als beispielgebender Erfahrungsschatz für eine heu-tige systemübergreifende Friedenskoalition präsentiert. Die Neubewertung historischer Ereignisse, Prozesse, Ideen und Akteure im Gefolge einer Neubewertung aktueller politischer Erfordernisse, dieser für die DDR typische Zusammenhang von Geschichtswissenschaft und Politik, ist in kritischer Sicht als politische Instrumentalisierung von Historiographie zu beschreiben. Zugleich ist mit Blick auf den neuen Auftrag der SED an die Historiker aber auch zu konzedieren, daß er diese zwar nicht auf die Wahrheit, aber doch auf ein zweifelsfrei ehrenwertes Ziel verpflichtet: Umschreibung von Geschichte als Vorleistung für eine friedliche Auseinandersetzung und Kooperation unterschiedlicher politischer Kräfte in der Gegenwart.
V. Modelle für Frieden
Die, wie skizziert, hauptsächlich 1983/84 einsetzende und in den Folgejahren sich ausbreitende Entwicklung neuer außenpolitischer Denkansätze hatte ihren Schwerpunkt zunächst in der Beseitigung jener ideologischen Altlasten, die einer friedlichen Austragung des Systemkonflikts entgegenstanden. Ab 1985 ließen sich in der DDR dann auch erste Anzeichen für eine konstruktive politisch-wissenschaftliche Arbeit am Entwurf eines system-übergreifenden Friedensmodells beobachten, die ihren entscheidenden Schub durch den XXVII. Parteitag der KPdSU (Februar 1986) mit seiner Idee der Schaffung eines allumfassenden Systems der internationalen Sicherheit erhielt. 1. Modell „Kooperation“
Dem Modell einer umfassenden internationalen Sicherheit, wie es in der DDR maßgeblich vom OstBerliner Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) erarbeitet wurde, liegt ein weitgreifender Sicherheitsbegriff zugrunde. Bestimmte Ansätze in der westlichen Friedensforschung aufgreifend, soll Sicherheit nicht auf die militärische Dimension beschränkt, sondern als Ergebnis und Prozeß einer Kooperation der Staaten auf den verschiedensten Feldern begriffen werden. Entsprechend wird ein Mehrsäulen-Modell internationaler Sicherheit entwickelt, das die politische, die militärische, die ökonomisch/wissenschaftlich-technische, die ökologische und die humanitäre Dimension zwischenstaatlicher bzw. intersystemarer Zusammenarbeit umschließen soll Ein so ausgreifendes Sicherheitsverständnis schlägt sich z. B. in neuen Begriffsbildungen wie „internationale ökonomische Sicherheit“, „internationale ökologische Sicherheit“ oder „internationale humanitäre Sicherheit“ nieder, die Subsysteme eines umfassenden Sicherheitssystems umschreiben sollen.
In der Logik der unbedingten Anbindung von „Sicherheit“ an „Kooperation“ liegt es, daß man sich in der DDR im Laufe der letzten Jahre weitgehend dem Konzept der „gemeinsamen Sicherheit“, wiees zu Beginn der achtziger Jahre innerhalb der westlichen Sozialdemokratie entwickelt worden war, angeschlossen hat. Nach anfänglich skeptischer bis ablehnender Haltung wurde „gemeinsame Sicherheit“ seit 1985 vorsichtig und allmählich in das begriffliche Instrumentarium der DDR aufgenom-men. „Gemeinsame Sicherheit“ wird dabei als zentraler Bestandteil der Konzeption der „friedlichen Koexistenz“ definiert 2. Modell „Wettbewerb“
Im Modell friedlicher Systembeziehungen, wie es der DDR vorschwebt, wird neben dem Prinzip der „Kooperation“ dem des „Wettstreits“ bzw. „Wettbewerbs“ eine tragende Rolle zugewiesen. Nicht mehr der Wettkampf um die größte militärische Stärke soll die Beziehungen zwischen den Systemen bestimmen. Vielmehr sollen Ost und West in einen Wettbewerb darüber treten, wer die besseren Lösungen für wirtschaftliche, wissenschaftlich-technische, soziale bzw. humanitäre, ökologische und weitere Probleme zu bieten hat
Dabei fällt auf, daß die versöhnlichen, sozusagen fairen Sportsgeist atmenden Begriffe „Wettbewerb“ bzw. „Wettstreit“ auf bestem Wege sind, den Begriff des Klassenkampfes zu ersetzen. Tatsache ist zumindest, daß trotz mancher Halbheiten und Widersprüche die klassenkämpferische Pose deutlichzurückgenommen wird. Ausgeprägt gilt dies für neuere politikwissenschaftliche Arbeiten, die in Sprache, methodischem Ansatz und politischem Ergebnis ganz in den Dienst der Transformation des Ost-West-Konflikts in ein friedlich-kompetitives und kooperatives Verhältnis der Systeme gestellt werden. Weniger ausgeprägt gilt dies für die politische Führung selbst, die im Konflikt zwischen außenpolitischen Erfordernissen und internen Zwängen noch häufig genug der Faszination ihres alten Theoriengebäudes erliegt und zur Absicherung ihrer Machtposition wie zur Erhaltung ihrer eigenen Identität auf propagandistisches Säbelrasseln in der internationalen Politik nicht ganz verzichten mag. 3. Modell „Ideologische Auseinandersetzung“
„Kooperation“ und „Wettbewerb“ sind zwei Kern-begriffe des neuen Modells intersystemarer Beziehungen, wie es die DDR in Politik und Wissenschaft propagiert, ein dritter ist die „ideologische Auseinandersetzung“ Die Integration so gegensätzlicher Formen internationaler Beziehungen in einem Politikmodell — immerhin werden hier ja kooperative, kompetitive und konfrontative Elemente miteinander verbunden — spiegelt in der Sicht der DDR die widersprüchliche reale Situation wider: Einerseits wachse die Zahl der Probleme, die von Staaten unterschiedlicher gesellschaftlicher Ordnung nur noch gemeinsam gelöst werden können, andererseits beständen die Gegensätze der Systeme unverändert fort.
Ein Bekenntnis der DDR zum ideologischen Streit ist zunächst einmal nichts Neues. Bereits seit Anfang der siebziger Jahre hat die DDR die Entwicklung ihrer Westbeziehungen und eines geregelten Verhältnisses zur Bundesrepublik im besonderen mit einer intensiven Politik ideologischer Abgrenzung begleitet. Neueren Datums ist indessen, daß die DDR-Führung die intersystemare Verständigung über die Form der ideologischen Auseinandersetzung sucht. Prominentestes Beispiel dafür ist das von SED und SPD gemeinsam erarbeitete Papier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“, in dem für beide Seiten akzeptable Eckpunkte für eine friedensdienliche „Kultur des politischen Streits“ formuliert werden Danach wird als notwendig erkannt, daß beide Systeme einander Reform-und Friedensfähigkeit zuerkennen müssen, daß keine pauschalen Feindbilder propagiert und keine Bedrohungsängste geweckt werden dürfen, daß Kritik des anderen auf nachprüfbaren Tatsachen beruhen muß, daß keine Seite ein Recht auf Kritik in Anspruch nehmen kann, das sie der anderen Seite nicht zubilligt, daß Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten unterbleiben muß, daß Kritik — auch in scharfer Form — nicht als Einmischung zurückgewiesen werden darf und daß schließlich die offene Diskussion über den Wettbewerb der Systeme, ihre Erfolge und Mißerfolge, Vorzüge und Nachteile innerhalb jedes Systems möglich sein muß.
VI. Widersprüche
Das Modell friedlicher Beziehungen zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, wie es in der DDR heute propagiert wird, ist in sich weitgehend stimmig. Es besitzt eine innere Logik, die auch vom externen Beobachter nachvollziehbar ist.
n seiner Intention und Ausformulierung scheint es 1 respektiert man das Interesse an der Erhaltung es eigenen Systems — eine in der Sache weiterführende Antwort auf neue Herausforderungen in der internationalen Politik zu bieten. Allerdings ist auf eklatante Widersprüche zwischen dem theoretischen Modell und der praktischen Politik wie auch auf eine Kluft zwischen Außen-und Innenpolitik hinzuweisen.
Die DDR-Führung propagiert den Dialog der Systeme und fordert auch die kontroverse Auseinandersetzung, die Kritik am jeweils anderen. Wer dies wirklich will, muß seine Haltung zu den völkerrechtlichen Prinzipien der Souveränität der Staaten, des Rechts auf Selbstbestimmung sowie der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer überdenken. Er darf sein Recht auf eigene Politik nicht derart strapazieren, daß für Kritik von außen, die ja Teil des gewollten Dialogs ist, kein Raum mehr bleibt. Daß die DDR-Führung in dieser Hinsicht die notwendige Balance gefunden hätte, läßt sich noch nicht sehen. Es verstärkt sich vielmehr der Eindruck, daß das Modell des Dialogs und die praktische Politik hier zuweilen doch recht unverbunden nebeneinanderstehen. Ganz besonders gilt dies für das Thema der Menschenrechte, bei dem man sich ganz ungeniert das Recht auf Kritik des anderen, vornehmlich der Bundesrepublik, nimmt, im umgekehrten Fall aber sehr schnell zum Vorwurf der „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR“ greift und den (kontroversen) Dialog gar nicht erst entstehen läßt.
Ein ganz zentrales Problem des neuen außenpolitischen Denkens in der DDR liegt ferner darin, daß die Führung sehr säuberlich zwischen äußerem und innerem Dialog unterscheidet. Die Entwicklung einer „Kultur des politischen Streits“, um einen Kernbegriff aus dem gemeinsamen Papier von SED und SPD aufzugreifen, hat sie bislang immer nur als Auftrag zur Kultivierung ihrer politischen Außenbeziehungen, nicht aber als Verpflichtung zu Toleranz gegenüber einer Pluralisierung der inneren politischen Landschaft verstanden. Vor allem die späte Ära Honecker hat zweifellos Zeichen für Dialogfähigkeit in der intersystemaren Politik gesetzt, sie steht aber gleichermaßen für Dialogunfähigkeit im Innern.
Ein Widerspruch, der freilich seine innere Logik hat, ist auch der folgende: Zum einen bemüht sich die DDR, wie skizziert, in auffallend intensiver Weise konzeptionellund zum Teil auch faktisch um eine Überführung des Ost-West-Konflikts in die friedlichen Bahnen des Wettbewerbs und der Kooperation. Zum anderen unterhält sie für ihre jungen Bürger ein umfängliches System der Wehrmotivierung und Wehrbefähigung, das sie „sozialistische Wehrerziehung“ nennt. Zwar ist die Wehrerziehung nicht eigens als Reaktion auf ein nunmehr zunehmend verblassendes Feindbild und seine wehrkraftzersetzenden Wirkungen ausgebaut worden. Es ist die Wehrerziehung aber auch keinesfalls zurückgenommen und inhaltlich so verändert worden, daß sie in Übereinstimmung mit neueren internationalen Entwicklungen und insbesondere auch mit der von der DDR intensiv propagierten Friedenpolitik stünde.
Noch ein Letztes sei erwähnt: Die DDR hat ihr neues außenpolitisches Denken zu einer Zeit begonnen, in der trotz gewisser Differenzen in der Frage der Westpolitik an der politisch-ideologischen Einheit im östlichen Block ganz und gar nicht zu zweifeln war. Diese Situation wandelt sich grundlegend. Dieser Wandel ist in den Konzepten zur „Systemauseinandersetzung“, wie sie in der DDR heute vertreten werden, aber bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Alle Entwürfe bauen letztlich auf der Vorstellung einer bipolaren Welt mit einer beiderseits relativen Geschlossenheit und Einheitlichkeit der Systeme auf.