Ein Dialog über Forschungen zur DDR in beiden deutschen Staaten, der sich nicht auf vordergründige Selbstrechtfertigungen beschränken will, sondern auf Gedankenaustausch und gemeinsamen Erkenntnisfortschritt zielt, sollte mit einer Bestandsaufnahme und einer klärenden Kontroverse beginnen. Daher bin ich Ihnen dankbar, daß Sie meinem Vorschlag zugestimmt haben, Ihnen meine Einwände zu Ihrer Kritik an der DDR-Forschung in der Bundesrepublik vorzutragen.
Nun wäre es sicher unangebracht, aus der schnellen Verständigung über dieses Verfahren allzu optimistische Schlüsse zu ziehen — etwa der Art, daß schon bald eine konsensfähige, thematisch-inhaltliche Kooperation von Zeitgeschichtlern aus beiden deutschen Staaten zu erwarten sei. Dazu braucht es wohl noch Zeit; weniger wahrscheinlich für Gespräche über die gemeinsame Vorgeschichte, schon mehr, wenn die Jahre zwischen Kriegsende und der Staatenbildung zur Debatte stehen, und noch mehr vermutlich dann, wenn nur die Geschichte der DDR diskutiert werden soll. Hier sind noch immer unterschiedliche Betroffenheiten im Spiel. Sie haben eine mittlerweile so lange Tradition, daß es wohl auch künftig schwierig sein wird, zu Annäherungen zu gelangen. Zudem sind die Sichtweisen mit der historischen Legitimation der deutschen Staaten verwoben und können endgültig erst durch weniger beladene Deutungsmuster ersetzt werden, wenn sich in beiden deutschen Gesellschaften eine jeweils eigene, kollektive Identität ausbilden sollte. Doch gleich, ob es dazu kommt oder nicht: Sicher werden sich Zugänge und Fragestellungen auf beiden Seiten weiter ausdifferenzieren, wird „Parteilichkeit“ hüben wie drüben nüchterner verstanden werden. Und dabei ist nicht von vornherein auszuschließen, daß einmal gemeinsame Forschungsinteressen erkannt und womöglich auch gemeinsam angegangen werden. Doch bis dahin wird es noch manchen — hoffentlich produktiven — Streit geben. Und damit bin ich bei meinem Thema: bei meiner Wahrnehmung Ihrer Deutung unserer Arbeit.
I. Vom Nutzen der Etiketten
Zunächst bedürfen die Pronomina „Ihre“ und „unsere“ sowie das Substantiv „Arbeit“ der Erläuterung. „Ihre“ Wahrnehmung meint nicht nur die der interessierten Historiker, sondern auch anderer Gesellschaftswissenschaftler der DDR. „Unser“ bezieht sich auf die höchst pluralistische bundesdeutsche DDR-Forschung und insbesondere auf jene Wissenschaftler, die sich der DDR-Gesellschaft mit zeitgeschichtlichen Fragestellungen annähern. „Arbeit“ meint Forschung in einerscientific Community, die über nur wenige Institutionen ver-fügt, deren Angehörige auch deshalb nur selten einen sicheren Arbeitsplatz haben, deren Tätigkeit also allenfalls intellektuell, kaum hingegen institutionell vermittelt ist „Arbeit“ meint aber auch eine Forschungsrichtung, die im Kalten Krieg entstand, in hohem Maße politisiert war und mit diesem , Muttermal 1 zu leben hat — ebenso unbequem wie wahrscheinlich auch die „Imperialismus“ -For-Der Textfolgt dem geringfügig überarbeiteten und erweiterten Manuskript eines Referats, das aufEinladung des Institutsfür Wirtschaftsgeschichte, Bereich Sozialismus, und des Zentral-instituts für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR dort am 9. Dezember 1988 gehalten wurde. Damit war die Absicht verbunden, einen deutsch-deutschen Wissenschaftsdialog, auch überdie DDR-Forschung in Gang zubringen, nachdem bereits auf mehreren Workshops von Zeitgeschichtlern aus beiden Staaten Fragen der deutschen Nachkriegsentwicklung diskutiert wurden. Der folgende Beitrag von Heinz Heitzer und Gerhard Lozek greift dieses Anliegen auf. schung der DDR. „Arbeit“ meint zudem nur in Ausnahmefällen Forschung im Auftrage des Staates, der Bundes-oder Länderorgane. Die Mehrzahl der Projekte wird vielmehr selbst gewählt, unterliegt im Regelfall kritischer wissenschaftlicher Begutachtung und bedarf der Unterstützung durch öffentliche Einrichtungen der Forschungsförderung. Beispielsweise wurde das Mannheimer Projekt zur Erforschung der DDR-Geschichte zunächst von der Stiftung Volkswagenwerk finanziert was DDR-Kollegen irrtümlich vermuten ließ, die „Konzerne“ seien an derlei besonders interessiert.
Und „Arbeit“ meint schließlich auch die zumindest sporadische Debatte zwischen Vertretern unterschiedlicher methodischer Ansätze, etwa zwischen der immanent-kritischen und der komparativen Richtung, zwischen differierenden weltanschaulich-theoretischen Orientierungen oder deutschlandpolitischen Zielsetzungen Die erwähnten Mutter-male erinnern also beileibe nicht nur an die Entstehungsgeschichte dieser Forschungsrichtung, sie verweisen vielmehr auf höchst Gegenwärtiges: etwa aufdie Befriedigung der einen, die nach dem Regierungswechsel im Herbst 1982 eine Wende in der Deutschlandpolitik befürchtet, und die Enttäuschung der anderen, die eben diese erhofft hatten. Wir haben es also mit einem breiten Spektrum unterschiedlich wissenschaftlicher Hinsichten wie analytischer Methoden und mit einer Vielzahl konkurrierender politischer Präferenzen zu tun — und beides wird dazu noch beeinflußt durch die spezifisehen Werthaltungen von politisch und sozial unterschiedlich geprägten mittlerweile drei Wissenschaftler-Generationen.
Dies mag pauschalisierend „bürgerlich“ nennen, wer zur Selbstvergewisserung den Antagonismus oder doch die Spannung einer Bipolarität braucht, die es ihm gestattet, die andere Seite, also den eigenen Standort, mit einem Exklusiv-Label, etwa „marxistisch“, zu versehen. Erkenntnistheoretisch bringt eine solche Kategorisierung — so scheint es jedenfalls mir — nicht eben viel. Sie bestätigt allenfalls das ohnehin Gewußte, das Faktum nämlich, daß Wissenschaftler in der Bundesrepublik, gleich welcher Disziplin, mehrheitlich tatsächlich aus nichtproletarischen Milieus stammen, aus den Mittelschichten oder — wie Sie sagen — aus dem „Kleinbürgertum“. Ansonsten aber verstellt das Etikett „bürgerliche“ Wissenschaft den Blick auf Triebkräfte und Trends von Wandlungsprozessen — zumal dann, wenn man wirklich glauben sollte, was vor einigen Jahren noch in der DDR zu lesen war, daß „bürgerliche“ Wissenschaftler in nachgerade klassischer Tragik zur Erkenntnisunfähigkeit verurteilt seien, aufgrund ihrer „Klassenposition“ und der durch sie bedingten „Erkenntnisschranken“
Doch diese Deutung stammt noch aus der Zeit vor der Wende zum Dialog, und auch damals gab es in der DDR im übrigen schon Stimmen, die „bürgerliche“ Wissenschaft durchaus für fähig hielten, zu „Vernunft und Rationalität“ zu gelangen, und damit auch in der Lage sahen, „den Sozialismus so zu untersuchen und darzustellen, wie er wirklich ist, ohne zu beschönigen und ohne zu verzerren“ Ein erstes Moment meiner Kritik an Ihrer Wahrnehmung unserer Arbeit ist damit genannt: die Polarisierung mit Hilfe einer Kategorie, die eine differenzierte Wahrnehmung verhindert. Dies mag Ihnen für die Innenwirkung Ihres mit uns geführten literarischen Disputs im Sinne einer Abgrenzung erforderlich erscheinen, der Dialog über Grenzen hinweg wird so allerdings erschwert.
II. Zum Umgang mit der Vielfalt
Eine zweite Anmerkung gilt Ihrer Neigung, sich die Organisation der DDR-Forschung in der Bundesrepublik ähnlich zu denken wie die Struktur der (im übrigen personell weit besser ausgestatteten) Westforschung in Ihrem Staat. So wurde in der Vergangenheit von „Formen der Koordinierung (und) Ausrichtung“ geschrieben und im „Deutschland Archiv“ so etwas wie ein „zentrales Publikationsorgan“ der DDR-Forschung in der Bundesrepublik gesehen. Zwar haben Sie seither registrieren können, daß Bemühungen der „Gesellschaft für Deutschlandforschung“ um ein verbindlicheres Konzept der DDR-Forschung gescheitert sind und vielleicht auch durch eigenen Augenschein erkannt, daß jeder (wie auch immer geartete) Formierungsversuch bei den unterschiedlich motivierten und finanzierten Forscherindividuen rasch auf Widerstände stieße.
Dennoch aber meine ich, immer wieder Hinweise darauf zu finden, daß Sie die Existenz von „Leitinstitutionen“ unterstellen oder doch von „Leitlinien“ für die Forschung auszugehen scheinen. Ich lese dies speziell dann mit Beklommenheit, wenn mir selbst eine solche Rolle zugeschrieben wird. Das wird etwa in bezug auf mein 1979 gehaltenes Referat über „Formen und Wandlungen der Austragung innerer Konflikte in der DDR“ konstatiert, und Hannelore Schlönvoigt schrieb noch 1987: „Bereits auf der XII. DDR-Forschertagung in der BRD im Jahre 1979 orientierte D. Staritz darauf, die Entwicklung des Sozialismus als Ablösung verschiedener . Konfliktphasen'darzustellen und bei der Untersuchung seiner Entwicklung in den 80er Jahren entsprechende , Konfliktfelder'herauszuarbeiten.“ Dies erscheine „immer mehr Vertretern der . Sozialismuskritik“'als eine Methode, die es erlaube, „das Totalitarismus-Konzept als Prämisse beizubehalten“ Ich sehe hier einmal vom offenkundigen Mißverstehen meines Beitrages von 1979 ab. Nach meinem Eindruck hat diese Autorin den Text ebenso flüchtig gelesen wie andere DDR-Kollegen, die sich die Suche nach Konflikten in der DDR verbaten und sich dabei nicht die Mühe machten, den von mir verwendeten Konflikt-Begriff vor dem Hintergrund der in der DDR geführten Widerspruchs-Diskussion zu bedenken. Wichtiger als dies aber ist mir das Verb „orientieren“, auf das im Deutsch der DDRja nicht notwendig ein „an“ folgt, das vielmehr immer dann ein „auf'nach sich zieht, wenn Normatives gemeint ist oder Autoritatives signalisiert werden soll. Und liest man Hannelore Schlönvoigt so, dann wird man sagen dürfen, sie unterstelle einzelnen eine Leitlinienkompetenz und gehe von dadurch geprägten Strukturen der Forschung aus.
III. Die Selbstgewißheit der Monopolisten
Mein dritter Kritikpunkt zielt auf etwas Grundsätzlicheres: auf die in vielen kritischen Stellungnahmen von DDR-Kollegen zur bundesdeutschen DDR-Forschung erkennbare Neigung, im deutsch-deutschen Umgang ein Monopol der DDR-Wissenschaften für den Marxismus und Marxismus-Leninismus zu behaupten und aus ihm den Anspruch herzuleiten, allein für dessen gewissermaßen „richtige“ Interpretation zuständig zu sein. So wahr es natürlich ist, daß das an Marx oder Lenin geschulte Denken in der DDR eine andere Rolle spielt als in der Bundesrepublik, so falsch scheint es mir doch, der anderen Seite die wissenschaftliche Kompetenz für die Arbeit mit diesen Theorien a priori abzusprechen und damit zentrale Fragen aus der ernsthaften dialogischen Auseinandersetzung herauszunehmen. Mit dieser Bemerkung möchte ich keine fundierte Theorie-Debatte über Marx und den Marxismus anmahnen, vielmehr darauf aufmerksam machen, daß es aus meiner Sicht natürlich völlig legitim ist, die ihrem Anspruch nach theoriegeleitete Gesellschaftspolitik der SED kritisch auf ihre theoretischen Prämissen zu befragen oder das Demokratie-Konzept und die Staatsauffassung, ja selbst die Rolle der SED als Avantgarde einer solchen Prüfung zu unterziehen. Daß dies zu anderen Ergebnissen führen mag, als sie die DDR-Gesellschaftswissenschaften vertreten, liegt aufder Hand. Dies aber als Störversuche „des Gegners“ abzutun, als „böswillige Ignoranz“ oder als Versuch, die DDR auf mögliche Schwachstellen „abzuklopfen“ wäre nur dann gerechtfertigt, wenn der DDR-Forschung tatsächlich ein einheitliches „Diversionskonzept zugrunde läge und sie wirklich (und dann wohl kon servativer als die gegenwärtige Politik) an Konzepten der fünfziger Jahre festhielte.
Im übrigen scheint mir die Behauptung verbindlicher theoretischer Aussagen zur Gesellschaftspolitik oder zum politischen System gerade in Anbetracht der gegenwärtig auch in der DDR wissenschaftsintern geführten lebhaften Diskussion um das Konzept der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ oder die Effektivierung von Organisationen, Institutionen und Verfahren fragwürdig. Wenn z. B. Ihre Gesellschaftswissenschaftler seit Beginn der achtziger Jahre intensiver als zuvor „Innovationsfähigkeit nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Politik“ anmahnen, dann zeigt dies doch an, daß auch Sie hier noch ungelöste Probleme sehen. Und anerkannt wird bei Ihnen auch, daß dies nicht nur für die Innenpolitik gilt, daß vielmehr das Spannungsverhältnis von ökonomischer Dynamik, politischen Strukturen, Rechtsnormen und politischer Stabilität im Innern auch die Außenwirkung der DDR, ihre Position im „Systemwettbewerb“ beeinflußt, etwa wenn es heißt: „Wie Demokratie und Menschenrechte im Sozialismus verwirklicht werden“, habe großen „Einfluß darauf, ob das politische Vertrauen in den Ost-West-Beziehungen wachsen kann“, oder angemerkt wird, daß die „Friedenspolitik des Sozialismus, vor allem der Sowjetunion“, deshalb eine „solche internationale Wirksamkeit erreichen“ konnte, weil sie mit einer „dynamischen inneren politischen Entwicklung verbunden“ sei
Vor diesem Hintergrund scheint es mir schließlich immer weniger plausibel, wenn einerseits der DDR-Forschung der fatale Hang nachgesagt wird, unentwegt „Pluralismus-Konzepte“ zu empfehlen, wenn man andererseits doch selbst nach Wegen sucht, den „Demokratietyp der weiteren Entwicklung des Sozialismus“ zu bestimmen, dabei prognostiziert: „Er wird ... die Entfaltung der spezifischen Interessen und Positionen der sozialen Gruppierungen und der Elemente des politischen Systems zum Inhalt haben und dies mit der Stärkung der gesamtgesellschaftlichen Interessen auf neue Weise vereinen“ — und wenn zu der neuen Weise auch der „Meinungsstreit“ und die Formen seiner „öffentlichen Austragung“ gerechnet werden
Natürlich verkenne ich nicht, daß diese Diskussionen nicht auf einen Pluralismus gemäß dem herrschenden Werteverständnis der Bundesrepublik zielen. Aber haben denn die bundesdeutschen DDR-Interpreten dieses Modell der DDR wirklich empfohlen? Hat die Mehrzahl nicht vielmehr auf die reale soziale Pluralität der DDR verwiesen und sich Gedanken darüber gemacht, ob oder wie diese vom gegenwärtigen politischen System berücksichtigt wird? Um Mißverständnissen vorzubeugen: Anmerkungen wie diese wollen weder eine ost-westliche Identität des Problembewußtseins noch gar eine solche der Interessen behaupten, diese gibt es allenfalls in Ansätzen. Ihr Fehlen aber darf nicht bedeuten, allen Interpreten auf der anderen Seite „liquidatorische“ Absichten zu unterstellen — auch jenen nicht, die lange Zeit an ihren Wiedervereinigungsvorstellungen festhielten, nun aber, wie andere vor ihnen, die Politik des Nebeneinander und der Nachbarschaft als ihre deutsche Möglichkeit erkannt haben.
IV. Dialog-oder Bündnispartner?
Nun mag erscheinen, als seien manche meiner Kritikpunkte überholt, gewissermaßen Streit von gestern. So jedenfalls ließe sich die Intensität deuten, mit der unsere Arbeiten seit Mitte der achtziger Jahre differenzierter gewürdigt, Fronten und „Fraktionen“ neu gesichtet und insgesamt ein eher kollegialer Ton gesucht wird. Daß dies der Dialog-Politik der DDR folgt und seinen Hintergrund im Bemühen um eine „Koalition der Vernunft“ hat, also insgesamt dem neuen Nachdenken über die Friedensproblematik und den mit der SPD verabredeten Prinzipien für eine „Kultur des politischen treits" geschuldet ist, braucht uns nicht zu beirren; es kann uns im Gegenteil sogar sicherer machen, denn Hinweise von Politikern auf die „Verantwortungsgemeinschaft“ oder „Sicherheitspartnerschaft“ der beiden deutschen Staaten können ja wohl nicht als bloß taktische Manöver abgetan werden.
Dennoch bewirkt der Zusammenhang von erstrebter Dialog-Politik und freundlicherem Wissenschaftsdialog bei jenen, die von Ihnen nun sachlicher rezensiert werden, insbesondere dann Irritationen, wenn sie lesen, was in den „Leitlinien“ des Problemrates „Ideologische Auseinandersetzung“ über „Ideologische(n) Klassenkampf im neuen Ab-schnitt der Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus“ vom Mai 1986 steht. Dort heißt es, daß sich auch in der ideologischen Auseinandersetzung „mit Brisanz“ die Frage nach dem „Hauptfeind“ stelle. Er wird jetzt in der Gruppe „extrem-konservativer Ideologen“ gesehen, und gegen sie soll der Hauptstoß geführt werden. Beim Blick auf die anderen hingegen wird empfohlen, immer nach „gemeinsamen Interessen“ zu fragen und Möglichkeiten des „Dialogs“ zu suchen, weil Sie „an nichts weniger interessiert“ seien als daran, „die oftmals bei Liberalen und reformistischen Kräften vorhandenen , Berührungsängste 4 zu verhärten und diese in das Lager der extremsten Antikommunisten zu treiben“
Angenehmer, weil nicht so vordergründig taktisch formuliert, liest sich das Statement von Rolf Reißig aus dem Jahre 1987 zur „Kultur des Dialogs“, weil hier von der „Respektierung der Identität des anderen“, also des Dialogpartners, die Rede ist, und die Postulate „Sachlichkeit“ und „Vertrauensbildung“ so auf einem festeren Fundament zu stehen scheinen Dennoch bleibt das Unbehagen, vor allem als Objekt bündnispolitischer Erwägungen bewertet zu werden und nicht als Autor, der selbstverständlich zunächst für seine Gesellschaft, aber natürlich auch immer in der Erwartung schreibt, mit den Kollegen des „auszuforschenden Landes“ — wie es Heinz Heitzer früher formulierte — in einen Sachdialog zu kommen.
Was mich betroffen macht, betrifft auch andere. Etwa Hermann Weber, der womöglich ebenfalls bündnispolitischem Nutzen zuliebe — wenn auch „mit großen Abstrichen“ und als „. Rechtsaußen 4 gewissermaßen“ — jetzt der „liberalen Richtung“ zugerechnet wird, obwohl ihm doch noch vor kurzem „pathologischer Antikommunismus“ beschein! gt wurde, und er mithin zu denen gehörte, die als nicht dialogfähig galten. Wirkliche Lernprozesse oder doch Kalkül? Doch wie es auch sei -zunächst einmal bietet beides eine Chance, auch wenn wir — natürlich mit Interesse — lesen, daß die „Differenziertheit und Widersprüchlichkeit“ dessen, was Sie bürgerliche Ideologie nennen, Ihnen „neue Möglichkeiten“ eröffne, „die Meinungsverschiedenheiten im gegnerischen Lager noch wirksamer im Interesse der Friedenssicherung zu nutzen“
Immerhin aber scheint es in der DDR nun möglich, in einer westlichen Charakterisierung der DDR als „sozialistische Industriegesellschaft“ „rationale Momente“ zu entdecken und anzuerkennen, daß „nicht alle Widersprüche“, die wir in Ihrer Entwicklung sehen, nur „scheinbare oder konstruierte“ sind, und daß Sie dies „als Herausforderung .,.sehen, der Widerspruchsdialektik in der Geschichte der DDR . . . besser gerecht zu werden“ Insgesamt kann ich Heinz Heitzer und Gerhard Lozek natürlich nur zustimmen, wenn sie meinen, daß die „bisherige Auffassung, die bürgerliche DDR-Forschung hätte nur eine strategische und eine ideologische, aber keine Erkenntnisfunktion“, der Über-prüfung bedürfe und generell besser von „Gegnern“ statt von „Feinden“ gesprochen werden sollte Daß auch eine neue Sicht auf die von Ihnen „konservativ“ genannte Richtung sich durchzusetzen beginnt, zeigen Anlage und Argumentationsweise des Beitrages von Stefan Löffler der sich ebenfalls sachlicher als es früher geschah, mit so charakterisierten bundesdeutschen Autoren auseinandersetzte. Seine kritische Durchsicht vor allem ihrer forschungspolitischen Statements (ihre neueren Forschungsergebnisse wurden von ihm kaum herangezogen) zeigt aber auch, wie schweres selbst einem auf den Nachweis von Konservatismus erpichten DDR-Wissenschaftler fällt, in den „Gegnern“ von heute noch die alten Feinde wiederzuerkennen. So kommt er u. a. zu dem Schluß: „Immer mehr setzt sich auch unter den Konservativen die Erkenntnis durch, daß eine militante Politik gegen-über den sozialistischen Staaten schon in der Vergangenheit keine Erfolge gebracht hat und unter den heutigen Bedingungen erst recht ein ungeeignetes Mittel der Systemauseinandersetzung darstellt.“ Er sieht bei einigen sogar „Anknüpfungspunkte im Ringen um Partner für den Dialog zur Sicherung des Friedens . .
Soweit meine Anmerkungen zur Wirkung der Dialog-Politik auf die Formen der wissenschaftlichen Kommunikation zwischen Ihnen und DDR-Forschern in der Bundesrepublik. Was die Inhalte der Kommunikation anbelangt, so sind sie jenseits der jeweiligen wechselseitigen Wahrnehmung wohl nur schrittweise kooperationsfähig zu formulieren.
V. Voraussetzungen und Probleme eines Dialogs über die DDR-Geschichte
Eine Schwierigkeit des Dialogs über DDR-Geschichte liegt sicherlich in der Ungleichheit der Forschungsvoraussetzungen. So lange bei Ihnen für Zeitgeschichtler aus der Bundesrepublik — anders als bei uns den Kollegen aus der DDR — der Zugang zu den Archiven nahezu unmöglich ist, haben es Historiker aus der DDR leicht, die bundesdeutschen Kollegen des Irrtums — des böswilligen gar — zu bezichtigen. Vielleicht deutet sichjetzt ein Wandel an: Inzwischen können einzelne bei Ihnen gelegentlich auch Archivalien zur DDR-Geschichte einsehen, und es wäre wünschenswert, wenn sich diese Möglichkeiten wesentlich erweiterten. So lange dies aber nicht geschieht, werden wir in mancher Hinsicht auf die Informationen oder Dokumente angewiesen bleiben, die Sie publizieren. Und da keineswegs alle derart materialträchtig sind wie etwa die Arbeit von Günter Benser über die KPD im Jahre 1945, die wirtschaftshistorischen Untersuchungen Jörg Roeslers die Studien Siegfried Prokops über den Übergang von den fünfziger zu den sechziger Jahren der Aufsatz Heinz Heitzers über die Strategie-Diskussionen der SED-Führung 1948/49 oder so anregend wie die Skizze Rolf Badstübners über Erbe und Tradition in der DDR-Geschichte kann von einer nennenswerten Auffüllung unserer Quellendefizite natürlich noch nicht die Rede sein. Eine Vielzahl von DDR-Publikationen zur DDR-Geschichte — die populären voran — fordert denn auch nicht zum Nachdenken, allenfalls zum Widerspruch heraus.
Nun weiß ich nicht, wie Sie mit dem ja wohl auch auf Sie gezielten Vorwurf Jürgen Kuczynskis leben, daß künftige Historiker bei einer Rekonstruktion der DDR-Gegenwart besser auf die Belletristik des Landes als auf seine gesellschaftswissenschaftliche Literatur zurückgreifen sollten. Selbst wenn ich von Ihnen höre, der Vorwurf treffe auch seinen Autor, scheint mir der Hinweis doch nicht falsch; denn auch ich konsultiere, wenn ich über die fünfziger Jahre mehr erfahren möchte, etwa Erwin Strittmatters „Wundertäter“ neuerdings aber auch gern Literatur-und Kulturwissenschaftler wie Werner Mittenzwei Horst Haase oder Ingeborg Münz-Koenen und ebenfalls Memoiren wie etwa die von Herbert Sandberg oder Erwin Geschonnek oder Biographien, etwa die über Emst Busch Hier wird der kulturelle wie politische Gehalt dieser Jahre deutlicher als in den meisten der Gesamtdarstellungen oder Spezialmonographien zur Zeitgeschichte.
Woher das kommt, was Kuczynski die „Neigung zur Schönfärberei“ nennt, kann ich im einzelnen nicht beurteilen. Nach meinem Eindruck hat es auch damit zu tun, daß sich zu viele der führenden Zeitgeschichtler der DDR an der Ausarbeitung der Konzeptionen für die großen, eher repräsentativen Überblicke zur Geschichte der SED, der Massenorganisationen oder bestimmter Politikbereiche beteiligt und sich durch dieses Engagement manches Ergebnis von Detail-Untersuchungen selbst vorgegeben haben Offiziöse Darstellungen dieser Art, denen Sie ja eine bedeutende politische Bedeutung zusprechen, und die die Funktion haben, die Geschichte der Sieger und des Sieges nachzuzeichnen, sind allerdings nur bedingt gute Ratgeber für Untersuchungen, die die „Widerspruchsdialektik“ berücksichtigen wollen.
Anders gesagt: Das Statement Willi Stophs zum 40. Jahrestag der Befreiung, in dem er das „Volk“ der DDR explizit zu den „Siegern der Geschichte“ zählte, kann natürlich keine erkenntnistheoretische Vorgabe für Vorhaben sein, die Rolf Badstübner in seinem schon erwähnten konzeptionellen Beitrag zu Erbe und Tradition in der DDR-Geschichte skizzierte: für Untersuchungen, in denen nach historischen Brüchen und Kontinuitäten gefragt und z. B. geprüft werden soll, wa denn nach 1945 mit den NSDAP-Mitgliedern ge schah, von denen es in der SBZ/DDR nach Berech nungen Badstübners etwa vier Millionen gab, odei gar mit den ungezählten anderen Anhängern der NS-„Volksgemeinschaft“, die er nicht erwähnte bzw. mit den seither im „Klassenkampf“ Unterlege nen. Wenn Sie daran festhalten, daß die DDR Geschichte aus der Perspektive des Sieges zu schrei ben sei, wird die Dramatik der Konflikte des historischen Augenblicks nicht zum Vorschein kommen und das, was Sie „Geschichtspropaganda“ nennen, dürfte es angesichts des sozial tradierten — mit dem offiziellen nicht unbedingt identischen Geschichtsbildes weiterhin schwer haben. Daß die Tendenzen zur Harmonisierung der DDR-Vergangenheit bei uns den Eindruck erwecken, auf diese Weise solle eher ver-als aufgedeckt werden, darf Sie nicht überraschen, zumal in den bei uns verfügbaren Quellen — in dem, was „Flüchtlingsberichte“ oder ähnlich heißt — natürlich vor allem der Konflikt bzw.der Antagonismus aufscheinen.
VI. Weiße und graue „Flecke“
Dieses Aus-der-Perspektive-des-Sieges-Schreiben ist es wohl auch, was Ihnen von uns den Vorwurf einträgt, Sie duldeten „weiße Flecke“ in der historiographischen Landschaft. Nun weiß jeder, der einmal antike Landkarten angeschaut hat, daß diese weißen Flecke dort manchmal mit dem Eintrag versehen sind: „hic sunt leones“; Löwen, wilde Bestien also, ein Eintrag, der auf lauernde Gefahren aufmerksam machen sollte. Immerhin können Sie zu Recht darauf verweisen, daß Sie einen Teil dieser Flecke — um im Bilde zu bleiben — wenigstens schraffiert haben. Das gilt für einige deutsche Opfer der Stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion und nach dem Kriege ebenso wie für wenige der nach 1945 im Streit um den richtigen politischen Weg Unterlegenen Doch diese Schraffuren erinnern — wie jetzt die Erwähnung von zehn Stalin-Opfern aus der KPD-Führung in den Thesen zum 70. Jahrestag der KPD-Gründung — mehr an Eintragungen von Amtsjuristen, die mit gehörigem zeitlichen Abstand bedauerliche Irrtümer einräumen, weniger an Versuche von Sozialwissenschaftlem, die nach den Gründen des Irrtums forschen und dabei doch (recht eigentlich) auch gehalten wären, nach ihren politischen wie sozialen, also kulturellen Folgen zu fragen. Der Literaturwissenschaftler Hans Kaufmann registrierte Anfang der siebziger Jahre einmal eine „wachsende Souveränität über unsere Verhältnisse“ In Ihrer Geschichtsschreibung zur DDR wünschte ich mir mehr davon.
Nun werden Sie mir entgegenhalten, daß Parteilichkeit ein Merkmal auch der bundesdeutschen Historiographie sei, und dieser Vorhalt trifft für manche bundesdeutsche Studie zur DDR-Geschichte sicherlich auch zu. Die Diskussion über die Geschichte der Bundesrepublik hingegen ist durchaus kontrovers. Neben Arbeiten eher affirmativen Charakters steht eine Vielzahl kritischer Auseinandersetzungen — und das geht offenbar auf die anders geartete „Souveränität über die Verhältnisse“ zurück. Dennoch gibt es natürlich auch bei uns gar nicht oder weniger intensiv Erforschtes.
Einen gewissermaßen „grauen“ Fleck sehe ich z. B.
in der Analyse der deutschlandpolitischen Entwicklungen der vierziger und der fünfziger Jahre. Zwar hat sich — aufgrund der vergleichsweise hervorragenden Quellenlage — die Zeitgeschichtsschreibung weithin darauf verständigt, daß in der Adenauer-Ära die Westintegration der Bundesrepublik Vorrang vor der propagierten Wiedervereinigungspolitik hatte und daß die Unumkehrbarkeit der Entscheidung für die deutsche Zweistaatlichkeit bereits auf die frühen fünfziger, wenn nicht schon auf die vierziger Jahre zu datieren sei. Da sich die Forschung aber auf die internationalen Bezüge dieses Spannungsverhältnisses konzentrierte, auf den Ost-West-Konflikt und seine jeweilige Ausprägung, geriet dessen deutsch-deutsche Komponente häufig aus dem Blick.
Auch wenn dies angesichts der Bedeutung der internationalen Politik für die deutsche Frage sachlich gerechtfertigt sein mag, erscheint mir die Vernachlässigung ihres nationalen Aspekts doch als ein Mangel, zumal die spezifischen Interessen und das politische Agieren der DDR (gegenüber der Bundesrepublik wie im eigenen Bündniszusammenhang) auf diese Weise unterbelichtet blieben. Dieser (natürlich auch quellenbedingte) Forschungsstand vernachlässigt deshalb häufig, was in Ihrer Deutung der Teilungsgeschichte angesichts der bis dahin vollzogenen Eigenentwicklung der deutschen Staaten mit dem Terminus „Schlüsseljahr 1955“ vielleicht überbetont wird, gleichwohl aber nicht ignoriert werden sollte: die Frage nach den bis dahin womöglich vorhandenen Alternativen zur Integration der deutschen Staaten in die Bündnis-systeme des Westens wie des Ostens.
Hier liegt, so scheint mir, ein Feld, das — in welcher Form auch immer — kooperativ bearbeitet werden könnte: sei es in der kritischen Diskussion von Forschungsergebnissen, sei es in gemeinsamen, gegebenenfalls kontrovers bleibenden Publikationen. Daß dies jedoch nur möglich ist, wenn wir uns gegenseitig für lernfähig halten, uns nicht ausschließlich unter taktischen Aspekten wahrnehmen, dennoch auf blauäugigen Optimismus verzichten, vielmehr die unterschiedlichen Zusammenhänge, in denen wir arbeiten, respektieren — also insgesamt nüchtern miteinander umgehen (was ja nicht so unfreundlich ausfallen muß wie Ihr Grenzregime) — all das liegt auf der Hand. Es wären dies Prinzipien einer Partnerschaft, die sich der Verantwortung auch der Wissenschaftler für den Umgang mit Geschichte bewußt sein will.
Die Kultur eines Streits entspricht der Strittigkeit seiner Gegenstände. Wir haben es mit der Geschichte zu tun. Das ist nicht eben wenig, doch es ist von geringerer aktueller Brisanz als der Streit der Systeme um die Lösung gegenwärtiger oder zukünftiger politisch-sozialer Probleme. Dieser Unterschied läßt sich nutzen. So besteht Anlaß zur Hoffnung auf eine Kooperation, auch weil es möglich war, diese Überlegungen in der DDR vorzutragen und zu diskutieren.