Dem Andenken an Andreas Hillgruber (1925— 1989) gewidmet
Am 23. Juli 1939 erschien in der Basler NationalZeitung ein Beitrag von Thomas Mann, in dem der emigrierte Dichter und Gegner des Nationalsozialismus geradezu prophetisch feststellte: „und wenn Kriege, zerstörender und barbarischer als der Dreißigjährige, über Europa hingehen und es atomisiert und um Jahrhunderte zurückgeworfen hinterlassen werden, er.der Feind der Menschheit, wird der Urheber gewesen sein“ Auf dem europäischen Kontinent begann der erste jener Kriege, die schließlich in eine weltweite militärische Auseinandersetzung mündeten, nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung des zitierten Aufsatzes über „Kultur und Politik“ — am 1. September 1939. Das Morden, Töten, Sterben, Leiden und Zerstören dauerte hier genau 56 Monate und acht Tage.
Die Zahl der Publikationen über den Zweiten Weltkrieg, der das alte Europa endgültig vernichtete und die internationale Mächtekonstellation revolutionierte, ist längst Legion. Selbst der Fachmann vermag die zum Thema vorhandene Literatur nicht mehr zu überschauen, da es kaum einen Zeithistoriker gibt, den dieser Wendepunkt in der Weltgeschichte nicht beschäftigte. Es erscheint nahezu ausgeschlossen, daß es noch unentdeckte Aspekte der Entwicklung zwischen 1939 und 1945 geben könnte. Wenn dennoch die meisten Fragen offen oder kontrovers diskutiert werden, so ist das ganz einfach in der Logik der Geschichtswissenschaft begründet, der letzte Aussagen in der Regel fremd sind. Denn die historische Wahrheit gestattet es lediglich, sich ihr anzunähern. Bezogen auf Hitler und die von seinem Regime eingeleitete Schrekkenszeit der Menschheit geht es vor allem darum, das Wesen der einzelnen Ereignisse und den Charakter des Gesamtgeschehens immer präziser zu definieren, um letztlich zu einer überzeugenden geschichtlichen Ortsbestimmung des Phänomens zu gelangen.
In der Öffentlichkeit sind es hingegen in erster Linie die Folgen des Orlogs. die es fünfzig Jahre nach seiner Entfesselung unmöglich machen, die Begebenheiten jener Tage mit distanziertem Gleichmut zu betrachten. Das Entsetzen tauchte nicht ein in das Schweigen der Vergangenheit. Der Zweite Weltkrieg blieb auf mannigfache Weise gegenwärtig: in den Opfern, die er forderte, in der existenziellen Angst, die er weckte und am Leben erhält, sowie in der Friedenssehnsucht, die bei zahllosen Menschen nach 1945 aufkam und sich mit wachsendem Abstand vom Kriegsende zunehmend Ausdruck verschafft.
I. Bemerkungen zu einigen konzeptionellen Problemen einer Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges
Die internationale Historiographie über diese epochale Zäsur ist dadurch gekennzeichnet, daß das Gros der Veröffentlichungen einer Art mikrohisto-rischer Betrachtungsweise anhängt. Im Rahmen von relativ eng begrenzten Fragestellungen bemühen sich die Autoren, politische, soziale, wirtschaft-liehe, militärische oder auch technische Details herauszuarbeiten. Derartige Spezialstudien bilden im allgemeinen nützliche Vorarbeiten für eine noch zu schreibende Gesamtdarstellung.
Gleiches trifft hinsichtlich der erheblich selteneren monographischen Summenbildungen zu. Sie beschränkten sich bislang — was angesichts der Komplexität des Gegenstandes nicht verwundert — auf ausgewählte, umfassendere Themenkreise: etwa die Strategie einzelner Mächte oder Allianzen, die Wirtschaft oder das Militärische schlechthin. Solche Bereiche werden sodann mit einem nationalgeschichtlichen, regionalen oder globalen Ansatz untersucht. Zuweilen kommt es durchaus zur Abhandlung mehrerer Gebiete in einer Arbeit, aber ein alle Faktoren der Entwicklung nach 1939 berücksichtigendes Panorama glückte vorerst noch nicht.
Der Forderung, eine ausgewogene und komplette Darstellung des Krieges zu schreiben, vermochten — wenn überhaupt — am ehesten Großprojekte zu entsprechen, die in verschiedenen Ländern — zum Beispiel Australien, Belgien, Finnland, Griechenland, Großbritannien, Indien, Italien, Jugoslawien, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Polen, Sowjetunion, Tschechoslowakei oder Vereinigte Staaten sowie mit gewisser Verzögerung in der Bundesrepublik Deutschland, der Deutschen Demokratischen Republik und Japan — begonnen wurden. Zum Teil geschah das sofort nach dem Kriege. Sie entstanden entweder im amtlichen Auftrag oder erfuhren wenigstens eine großzügige Unterstützung durch offizielle Stellen. Das bedeutete jedoch nicht, daß es stets zu — also die wissenschaftliche Freiheit einschränkenden — Auflagen kam.
Ob es den ambitionierten Forschungsvorhaben gelingen würde, eine Totalansicht des Epochenphänomens Zweiter Weltkrieg zu erarbeiten, hing nicht zuletzt von der Konzeption ab. Weitgehende Übereinstimmung bestand in bezug auf die Vorgeschichte. Im Verständnis von Winston Churchill, der sein memoirenhaftes Opus bereits 1948 als die „Geschichte eines zweiten Dreißigjährigen Krieges“ vorstellte setzt die Mehrzahl der gedanklichen Entwürfe und der geschlossenen Darstellungen mit dem Ausgang des Konflikts zwischen 1914 und 1918 ein. In den europazentrisch konzipierten Werken werden jedoch die Jahre nach Hitlers Machtantritt 1933, in den auf den pazifischen Raum konzentrierten Arbeiten diejenigen nach dem Mandschurischen Konflikt 1931 zur eigentlichen Inkubationszeit'des Weltkrieges. Verhältnismäßig selten sind Untersuchungen, in denen — und es sei nur auf einem Teilgebiet — die wechselseitigen Abhängigkeiten und gegenseitigen Beeinflussungen der jeweiligen Entwicklung in den beiden Hemisphären eine balancierte interpretatorische Zusam-menschau erfahren. Sogar Großprojekte begnügen sich diesbezüglich mit pauschalen Querverweisen.
Unbeschadet der speziellen räumlichen Perspektive und der bevorzugten Untersuchungsfelder weichen die einzelnen Konzeptionen auch wegen der besonderen methodischen Ansätze erheblich voneinander ab. So werden etwa der Stellenwert, den die handelnden Personen innerhalb des historischen Prozesses besaßen, die Auswirkungen des internationalen Systems auf denselben, die Frage, ob und in welchem Umfang außenpolitische Entscheidungen von den inneren Verhältnissen bestimmt wurden, sowie die Bedeutung operativer Faktoren oder die Funktion der Ideologien im Rahmen der Ausformung des Zweiten Weltkrieges ganz verschieden gewichtet. Selten geworden sind jedoch mittlerweile großangelegte Studien, die einen rigoros positivistischen diplomatie-beziehungsweise kriegsgeschichtlichen methodischen Zugriff praktizieren und hierbei sämtliche ideologischen, innen-oder wirtschaftspolitischen Implikationen darstellerisch ganz bewußt unberücksichtigt lassen.
Letzteres war noch der Fall bei dem 1962 und 1963 erschienenen halboffiziellen Werk konservativerjapanischer Historiker über „Japans Weg in den Pazifischen Krieg“. Diese Untersuchung erschloß viel neues Material, sie gab den Anstoß zur Öffnung der japanischen Archive und repräsentiert — da man sie ins Englische übersetzte — eine der nicht allzu zahlreichen Publikationen der japanischen Geschichtswissenschaft, die einem größeren internationalen Publikum zugänglich sind. Den unbestreitbaren Verdiensten der Arbeit stehen allerdings gravierende Mängel gegenüber. Sie resultieren nicht allein aus dem Betrachtungsprinzip. Die Nachteile ergeben sich vielmehr insbesondere aus der oft apologetischen Deutung und der insgesamt tendenziösen — auf die Rechtfertigung der eigenen Seite bedachten — Beschreibung der Politik, die Japans Führungseliten betrieben. Bezeichnenderweise vermieden es die Verfasser, sich mit dem aspektreichen Problem des japanischen Angriffskrieges auseinanderzusetzen; darüber hinaus klammerten sie eine Erörterung der Kriegsschuldfrage aus
Rein formal betrachtet, ließe sich die Geschichte des „großostasiatischen Krieges“, die das mehr als 1700 Mitarbeiter zählende „Institut für Militärgeschichte“ der japanischen Streitkräfte seit 1966 ver-öffentlichte, als Fortsetzung von „Japans Weg in den Pazifischen Krieg“ verstehen. Tatsächlich haben die beiden Projekte jedoch nichts miteinander zu tun. Das Serienwerk der Militärs wuchs bis 1979 auf 102 Bände an, was ungefähr 61 000 Seiten traditioneller Kriegsgeschichtsschreibung im Verständnis früherer Generalstabsdarstellungen entspricht. Die Autoren wollten lediglich sogenannte historische Fakten zusammenstellen. Deren interpretatorische Bewertung und Einordnung lehnten sie ab — dabei blieb es! Inhaltlich setzt das Werk mit dem September 1939 ein. Einzig jene Bände, die Fragen der Bewaffnung und Rüstung sowie der organisatorischen und theoretischen Vorbereitung auf einen militärischen Konflikt ansprechen, gehen mitunter bis auf den Ersten Weltkrieg zurück
Leider ist die materialreiche Arbeit nur in japanischer Sprache verfügbar. In einem derartigen Sachverhalt deuten sich die Schwierigkeiten an, mit denen sich Historiker konfrontiert sehen, die über das Geschehen im pazifischen und ostasiatischen Raum schreiben wollen oder müssen, aber des Japanischen nicht mächtig sind. Gleiches gilt im Hinblick auf China, wo die Forschungen über den Krieg von 1939 bis 1945 offenbar noch am Anfang stehen, es jedoch seit 1980 eine „Chinesische Gesellschaft zur Erforschung des zweiten Weltkrieges“ gibt, die sich des Problems intensiv anzunehmen scheint
Grundsätzlich vermögen freilich Abhandlungen, die sich damit bescheiden, die politischen und militärischen Ereignisse in allen Einzelheiten nachzuvollziehen, keine Gesamtdarstellung des Weltkrieges zu leisten. Wäre es anders, dann hätten die entsprechenden offiziellen Untersuchungen das Geforderte seit langem erbracht.
In der Sowjetunion verfaßten amtliche Militärhistoriker allein über die operativen Vorgänge an der deutsch-sowjetischen Front Hunderte von Büchern Das „Historische Institut“ des italienischen Heeres publizierte — außer zahlreichen Quelleneditionen und militärgeschichtlichen Spezialstudien — über 30 Monographien, die sich mit dem Krieg im Mittelmeerraum und in der Sowjetunion befassen Die italienische Marine gab 21 Bände zum Seekrieg seit dem Juni 1940 und zur Organisation der Teilstreitkraft heraus In Großbritannien veröffentlichte „Her Majesty’s Stationery Office“ seit Anfang der fünfziger Jahre als amtliche Darstellung des Zweiten Weltkrieges und seiner Vorgeschichte 47 Bände, die sich mit der großen Strategie, der Außenpolitik, dem Land-, Luft-und Seekrieg, der Gegneraufklärung (Intelligence) sowie verschiedenen Themen beschäftigen, die besondere Belange der Kriegsführung berühren. Zu diesen kommen 49 Bände hinzu, in denen die britische Kriegswirtschaft, die Rüstung, die Finanzpolitik oder das Gesundheitswesen detailliert abgehandelt werden Die „Historical Division“ des amerikanischen Heeres präsentierte 1947 den ersten Band einer zunächst auf 92 Bände angelegten Geschichte der „United States Army in World War II“. Inzwischen scheint man sich mit der — noch immer stattlichen — Zahl von 78 Bänden begnügen zu wollen Sieben Bände umfaßt die offizielle Darstellung über die amerikanische Luftwaffe Keine amtliche Historiographie, aber die offiziell anerkannte Geschichte der „Navy“ stellt die fünfzehnbändige Untersuchung von S. E. Morison dar Dem „U. S. Marine Corps“ sind fünf Bände gewidmet An operativen Studien herrscht somit kein Mangel — was auch für Deutschland gilt.
Insbesondere die amerikanischen und britischen Abhandlungen verkörpern — obwohl in ihrer Mehrzahl deskriptiv angelegt — keineswegs unkritische Hofgeschichtsschreibung. Außerdem besitzen sie ganz allgemein einen hohen Informationsgehalt. Unter konzeptionellen Gesichtspunkten einer Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges leiden sie allerdings unter zwei Unzulänglichkeiten. Deren eine besteht in der nationalen Sehweise, die in der Deutung und Gewichtung vorherrscht. Die andere resultiert aus dem Aufbau des Werkes. Dessen Konzeption zergliedert den historischen Stoff, erlaubt es jedoch nicht, das in den einzelnen Bänden im Detail Dargelegte in bezug auf seine Verflechtungen zu strukturieren, um es am Ende zur Übersichtlichkeit zu verdichten. Im Grunde entwickelten sich alle diese Projekte zu einer Summe relativ unverbundener Einzelansichten. Es entstand kein Gesamtbild, was für andere Großprojekte ebenfalls zutrifft.
Die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung unternahm mit der sechsbändigen „Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion“ den ersten umfassenden Versuch, eine historische Bilanz zu erstellen Aus nationalgeschichtlicher und ideologischer Perspektive verfaßt, methodisch hundertprozentig auf die offizielle Geschichtsdoktrin eingeschworen und nachdrücklich vom Geist des „Kalten Krieges“ geprägt, läßt sich sehr viel gegen die Publikation vorbringen. Aber in konzeptioneller Hinsicht näherte sie sich einer integrierten Betrachtungsweise stärker an als westliche Projekte. Neben dem dominanten politisch-militärisehen Komplex werden ökonomische, gesellschaftliche, ideologische, kulturelle und technische Fragen erörtert. Zur ausgewogenen Untersuchung über den Konflikt zwischen 1939 und 1945 wurde das Werk freilich ebensowenig wie jene „Geschichte des zweiten Weltkrieges“ in zwölf Bänden, die einige Jahre später erschien Ihr kam die Aufgabe zu, „aktiv in den ideologischen Kampf zwischen Sozialismus und Imperialismus“ einzugreifen Genau dazu taugt richtig verstandene Geschichtsschreibung jedoch nicht. Andererseitsist dem letztgenannten Reihenwerk ebenfalls zu bescheinigen, daß es eine multifaktorielle Anlage zu verwirklichen versuchte. Das geschah erneut aus der Sicht Moskaus, obwohl die weltweite Dimension der Auseinandersetzung etwas angemessener berücksichtigt worden ist.
Wichtige Vorarbeiten für eine befriedigende Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges bilden die in der Bundesrepublik Deutschland und in der Deutschen Demokratischen Republik seit Mitte beziehungsweise Ende der siebziger Jahre herausgegebenen mehrbändigen Studien. Beide Projekte gingen ursprünglich von einer — cum grano salis -europazentrischen Betrachtungsweise aus.
Die Historiker in Ost-Berlin erläuterten ihren konzeptionellen Zugriff folgendermaßen: „Im Mittelpunkt der Darstellung der deutschen Geschichte während des zweiten Weltkrieges wird die Haltung und Politik der verschiedenen Klassen in Deutschland sowie der Kampf der Antifaschisten und Hitlergegner inner-und außerhalb Deutschlands stehen. Die Ereignisse der Jahre 1939 bis 1945 sind jedoch so eng mit der Weltgeschichte verknüpft, daß es erforderlich ist, Entstehung, Verlauf und Ergebnisse des Krieges ständig im Zusammenhang mit der außerdeutschen Geschichte einzuschätzen.“ Das entsprach a priori dem Verzicht auf eine umfassende Weltkriegsgeschichte. Der Titel des Werkes — „Deutschland im zweiten Weltkrieg“ — formulierte ein Programm. Im Detail sollte das wie folgt aussehen: Rund 35 Prozent des Textes in jedem Einzelband wollte man der „Analyse der Innen-, Außen-und Wirtschaftspolitik des faschistischen deutschen Imperialismus und Militarismus, etwa 10 Prozent dem internationalen Geschehen, etwa 30 Prozent dem Kampf der antifaschistischen Widerstandsbewegung unter Führung der KPD und anderer Hitlergegner . . . sowie etwa 25 Prozent dem militärischen Kriegsverlaufan allen Fronten“ zugestehen. So pur ließ sich diese Konzeption zwar nicht verwirklichen, aber ihre Schwerpunkte blieben im wesentlichen beibehalten. Die außereuropäischen Vorgänge berücksichtigte die -für ein breites Publikum geschriebene — Arbeit in der Tat höchstens exkursorisch; weshalb das Gesamtwerk, das den weltweiten Konflikt darstellerisch gar nicht erfassen sollte, ihm auch interpretatorisch nicht gerecht zu werden vermochte.
Als das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Freiburg sein Forschungsprojekt „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ auf den Weg brachte, geschah dies in der erklärten Absicht, eine „Militärgeschichte“ zu verfassen Freilich verstand die Mehrheit der Mitarbeiter jene „nicht als hergebrachte, allein auf militärische Abläufe gerichtete Kriegsgeschichte“, so sehr gerade letztere von manchem Außenstehenden erwartet wurde, sondern als eine „Geschichte der Gesellschaft im Krieg“. Das bedeutete einen ungemein hohen Anspruch, dem die Freiburger Historiker wohl nur partiell zu entsprechen vermögen. Für ein verbindliches Urteil ist es jedoch noch zu früh. Die Absicht der Herausgeber, das Werk „trotz der Ausblicke auf den pazifischen Raum , europazentrisch*, ja deutschlandzentrisch*“ anzulegen korrespondierte mit der obigen Intention, mußte aber dennoch als bedauerliche Selbstbeschränkung empfunden werden.
Glücklicherweise korrigierte das Militärgeschichtliehe Forschungsamt seine anfängliche Konzeption nach dem Erscheinen der Bände 1 und 2, denn nun hieß es: „Die Autoren versuchen, die militärischen Abläufe in den Zusammenhang der ungemein komplexen Realität des Gesamtgeschehens zu stellen, wobei sie den Blick auf die ideologischen, wirtschaftlichen, verwaltungsmäßigen und die anderen strukturellen Bedingungen innerhalb des deutschen Machtbereichs lenken, um so auf die Wechselbeziehungen zwischen diesen und dem Verlauf des Krieges aufmerksam zu machen. Eine derartige — alles in allem .deutschlandzentrische* oder . nationale* — Perspektive der ersten Bände erweitert sich in den Folgebänden immer mehr zu einer umfassenden — regionalen und globalen Betrachtungsprinzipien folgenden — Darstellungsweise, die damit der Ausweitung des Krieges historiographisch gerecht zu werden verspricht.“
Nachdem mittlerweile fünf Bände, darunter ein Halbband, von „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ vorliegen ist festzustellen, daß sowohl der dritte Band über den „Mittelmeerraum“ als auch der vierte über den „Angriff auf die Sowjetunion“ einem regionalen — in Ansätzen globalen — „Betrachtungsprinzip“ folgten.
Ansonsten fallen in bezug auf die Darstellung aus Freiburg drei Dinge besonders auf: Die nachdrückliche Betonung der Kontinuitätsthese — nicht zufällig hat man dem Problem der „Ursachen und Voraussetzungen der deutschen Kriegspolitik“ einen eigenen und voluminösen Band zugestanden; die Freiheit, mit der kontroverse Interpretationen in ein und demselben Band erscheinen — was dokumentiert, daß der Auftraggeber die wissenschaftliche Souveränität der Autoren respektiert; die Unterteilung des Gesamtwerks in Bände, die primär außenpolitisch-militärischen Fragestellungen nachgehen, sowie in „Querschnittbände“. Letztere sind unter anderem den inneren Verhältnissen, Wirtschafts-und Rüstungsfragen, dem Widerstand, der „Endlösung“ oder der Besatzungspolitik gewidmet. Zweifellos besitzt eine solche Zweiteilung den Vorteil, daß die „Querschnittbände“ bisher noch wenig oder nur teilweise erforschte Themen vertieft untersuchen können. Sie implizierte aber zugleich den Verzicht auf eine integrierte Darstellung. Darüber hinaus kennzeichnen das Gesamtwerk — zwangsläufig — unterschiedliche Perspektiven, denn die „Querschnittbände“ konnten nicht anders als deutschlandzentrisch projektiert werden.
Wie die oben erwähnten monographischen Summenbildungen sind die bisher in Angriff genommenen Großprojekte wichtige Beiträge zu der nach wie vor ausstehenden — von jeder nationalgeschichtlichen Einengung befreiten — Gesamtdarstellung des Zweiten Weltkrieges. Diese ist ganz gewiß auch eine Frage der personellen und mate-riellen Gegebenheiten. Möglicherweise läßt sie siet daher allein von einem internationalen Historiker team und als supranationales Forschungsvorhaben — das heißt mit der finanziellen Unterstützung vie ler Länder — realisieren. Voraussetzung wäre fer ner, daß alle Staaten endlich ihre Archive uneingeschränkt öffnen. Eine Forderung, die sich nicht nur, aber ganz besonders an die Adresse Moskaus richtet. Wenn eine derartige Untersuchung einmal machbar sein sollte, hätte sie — sehr abstrakt formuliert -in etwa einer Konzeption zu folgen, die in ausgewogener Weise einer Verschränkung von intentionalen mit funktionalen, nationalen mit internationalen, regionalen mit überregionalen, materiellen mit immateriellen, militärischen mit zivilen, ideologischen mit pragmatischen, personen-mit gruppen-spezifischen, politischen mit kriegerischen Momenten entspräche.
II. Kriegsbeginn 1939 — Thesen und Kontroversen der Forschung
Die folgenden Ausführungen vermögen lediglich eine kleine Auswahl aus der außerordentlich reichen Literatur zum Thema zu berücksichtigen. Ein Anspruch auf Repräsentativität wird dabei nicht erhoben.
Der Rückblick auf fünfzig Jahre Historiographie über den Beginn des Krieges im September 1939 zeigt, daß die Auseinandersetzung über die Frage der Verantwortlichkeit zu keinem Zeitpunkt so gegensätzlich und leidenschaftlich geführt wurde wie jene über den Kriegsausbruch 1914. Für das Gros der Historiker stand frühzeitig fest, wem die Kriegsschuld zukam. Mit einer sogenannten — von interessierter Seite häufig unterstellten — Geschichtsschreibung der Sieger hatte das nichts zu tun. Vielmehr gewährte die Eindeutigkeit der Quellenaussagen — im Hinblick auf die Hauptverantwortlichen — kaum Interpretatiorisspielraum. Was nicht besagte, daß es im Rahmen der Analyse der Kriegsursachen und -aniässe keine unterschiedlichen Auffassungen gegeben hätte Und es liegt in der Natur der Sache, daß die Erörterungen andauern.
So sprach der internationale Gerichtshof in Nürnberg vop einer gezielten Kriegsplanung der Reichs-führung. Militärhistoriker deuteten in einem derartigen Verständnis die „Katastrophe“ des 1. September 1939 noch vier Jahrzehnte danach als das „Ergebnis der seit 1933 verfolgten, auf eine kriegerische Auseinandersetzung zielenden deutschen Politik“. Unter ihr verstanden sie nicht allein Hitlers Wollen Andererseits kam es schon Anfang der sechziger Jahre zu — sich sehr bald als untauglich erweisenden — Versuchen, den Diktator in einem solchen Zusammenhang zu exkulpieren. Einerseits hieß es damals, der deutsche Regierungschef sei ein europäischer Normalpolitiker gewesen, der den Krieg nicht bewußt herbeigeführt, sondern durch diplomatische Ungeschicklichkeiten — ge-meinsam mit anderen Staatsmännern — verursacht habe. Dieses provozierende Ergebnis einer streng ereignisgeschichtlich angelegten Untersuchung trug ein seriöser Historiker vor, dessen Neigung zu exzentrischen Standpunkten freilich bekannt war Die andere These, nach der nicht Hitler, sondern dem britischen Außenminister Lord Halifax und seinem polnischen Kollegen Oberst Josef Beck die Schuld am Kriegsbeginn zukam, setzte voraus, daß ihr Verfasser die Quellen manipulierte. Das blieb nicht unbemerkt, und das Urteil der Fachhistoriker fiel so niederschmetternd aus, daß man von jenem Autor — nach dem Eklat, den er hervorrief — nichts mehr hörte All das ist im Detail dokumentiert
Mit dem „Kalten Krieg“ polarisierte sich die Debatte über die Kriegsschuld. Marxistisch-leninistische Historiker gelangten bei ihrer Interpretation der Dokumente zu der Behauptung, die Westmächte hätten Hitler bewußt zur Expansion verleitet. . Bürgerliche* Geschichtswissenschaftler betonten hingegen, wobei sie sich vor allem auf den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 bezogen, daß Stalin sein deutsches Pendant zur Aggression ermutigt habe. Auf den Hitler-Stalin-Pakt ist noch zurückzukommen. Die Welt lebte längst in entspannteren Zeiten, als — auf der Basis kühner Spekulationen, nicht etwa an Hand neuer Dokumente — die These formuliert wurde, Stalin habe Hitler im Rahmen der langfristigen sowjetischen Strategie instrumentalisiert Andere Autoren erkannten wiederum eine indirekte Mit-verantwortung der Westmächte. Nicht absichtlich, aber de facto, hätten sie Hitlers expansive Politik durch ihre zu große Nachgiebigkeit gefördert. Der Vorwurf richtete sich gegen das Appeasement, das der wirtschaftlichen und politischen Entspannung dienen sollte. Post festum schlossen sich dieser Position zahlreiche Autoren an.
Doch welche realistische Alternative zum Appeasement — also zu einer Politik der Kriegsverhinderung — hätte sich angeboten? Aus der Sicht der Regierung in London offenbar keine Diese fürchtete die destabilisierenden Auswirkungen, die ein militärischer Konflikt auf die inneren Verhältnisse haben konnte. Sie sah zugleich die eigenen Interessen von den Expansionsbestrebungen Deutschlands, Italiens und Japans sowie durch den hegemonialen Anspruch der Vereinigten Staaten bedroht. Es kam hinzu, daß die Dominions — was freilich eine umstrittene These ist — aus der Sicht Londons nur am Appeasement interessiert gewesen sein sollen. So eindrucksvoll solche Argumente erscheinen mögen, es ist auch darauf aufmerksam gemacht worden, daß die 1938 von Churchill ins Gespräch gebrachte große Allianz zwischen der Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien eine — noch nicht erschöpfend untersuchte — Alternative zu der von Chamberlain verfolgten Politik darzustellen vermochte wobei sich damals die Führung in Moskau im Hinblick auf Planungen, die eine Art europäisches „Containment“ Hitlers zum Ziel hatten, zugänglich zeigte Außerdem muß festgehalten werden, daß es nicht unproblematisch ist, die „Reaktion der Westmächte auf die Außenpolitik des Dritten Reiches bis Anfang 1939 generell als Appeasementpolitik zu beschreiben“. Denn es gab wohl ein gemeinsames Ziel, aber keine einheitliche politische Methode. So beabsichtigte Washington die Sicherung des Friedens nicht durch Zugeständnisse, sondern auf dem Wege einer gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichteten Eindämmungsstrategie zu erreichen, die sich auf „wirtschaftliche Mittel stützte“
Zu erwähnen sind in einem derartigen Kontext noch die Reaktionen der westlichen Demokratien auf das expansive Vorgehen Japans, dem sie nicht mit der in Europa praktizierten Konzessionsbereitschaft begegneten sowie der Krieg Mussolinis in Abessinien Erschütterte letzterer das internationale System eventuell stärker als der Mandschurische Konflikt? Die Stichworte, die in solchem Zusammenhang fallen, sind: Einmarsch der Wehrmacht in das entmilitarisierte Rheinland Proklamation des „Achsenbündnisses“ „Anschluß“ Österreichs und Großbritanniens Bereitschaft, sich — bei einem deutschen Angriff gegen Frankreich — militärisch auf dem Kontinent zu engagieren
Analysiert man die wissenschaftlichen Begründungen der vorgestellten Thesen, so ergibt sich — sehr verkürzt resümiert — ungefähr folgender Befund: Sowohl der Niedergang des traditionellen Mächte-systems im Ersten Weltkrieg und insbesondere die Erschütterung der Herrschaftsgrundlagen der Führungseliten als auch die Tatsache, daß die Implikationen und Nachwirkungen der Weltwirtschaftskrise die labile Neuordnung der Nachkriegszeit, die in Europa 1919/20 (Versailles) und in Ostasien 1921/22 (Washington) entstanden war, in Frage stellten, offerierten Deutschland, Italien und Japan — also jenen Mächten, die auf Möglichkeiten für gewaltsame Änderungen des Status quo warteten — ihre Chance.
Losgelöst von der gängigen Fixiertheit auf ereignis-geschichtliche Abläufe ist die Entstehung des Zweiten Weltkrieges historisch auch im Kontext einer Desorganisation der internationalen Ordnung oder einer „Anarchie der Interessen“ zu interpretieren. Wie die knappen Ausführungen zur Appeasementpolitik andeuten sollten, müssen die Konsequenzen der desolaten Verfassung, in der sich das Staatensystem befand, unter außen-, innen-, wirtschafts-, gesellschafts-und militärpolitischen sowie ideologischen Fragestellungen untersucht werden. Allein dadurch lassen sich erweiterte Dimensionen geschichtswissenschaftlicher Deutung gewinnen und die Irrungen monokausaler Argumentation vermeiden
Gleichzeitig ist freilich hervorzuheben, daß — wie eng die Verflechtungen des historischen Prozesses auch gewesen sein mögen und wie vielfältig die ihn beeinflussenden Faktoren — ohne den unbedingten Willen zum Krieg, den es einzig in Berlin gab, 1939 nicht jener europäische Konflikt begonnen haben würde, den Hitler — nach eigenem Bekunden — schon 1938 „vom Zaune zu brechen“ wünschte Seine Absicht sei gescheitert, weil ihm die Briten und Franzosen in allen Punkten nachgegeben hätten. Noch 1945 erregte er sich über das Verhalten der westlichen „Schwächlinge“ Denn damals wäre seiner Meinung nach eine Intervention von London und Paris nicht auszuschließen gewesen.
Hingegen besaß der ein Jahr später entfesselte Krieg — angesichts der von Deutschland herausgeforderten Staaten — von Anfang an eine globale Dimension. Nur wer das damalige Geschehen als rein operative Angelegenheit versteht, vermag von einer kontinentalen Auseinandersetzung zu sprechen. Auf jeden Fall schloß die Entwicklung nach dem 1. September 1939 a priori das Risiko einer weltweiten Eskalation ein. Letztere sehnte das nationalsozialistische Regime nicht herbei, aber sein führender Mann nahm sie bewußt in Kauf.
In einem derartigen Verständnis muß der deutsche Überfall auf Polen in der Tat als die „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ eingestuft werden obwohl sich die endgültige Konstellation der Hauptkriegsgegner — militärisch betrachtet — erst mit dem Kriegseintritt der Vereinigten Staaten und Japans Ende 1941 herausbildete Unbeschadet der Periodisierungsfrage stimmen die meisten Historiker darin überein, daß der „Faktor“ Hitler beim Entfachen des neuen Weltbrandes die „ausschlaggebende Rolle“ spielte
Das bisher Gesagte weist unter anderem darauf hin, daß der Diktator das Fernbleiben Großbritanniens vom Kriege nicht als eine conditio sine qua non seiner Entscheidung ansah. Hitlers Einstellung zu Großbritannien wird nach wie vor konträr beur-teilt Doch kann das hier nicht vertieft werden. Darauf hinzuweisen ist allerdings, daß er den Krieg 1939 auch unter extrem schwierigen Voraussetzungen beginnen wollte. Dazu sagte er seinen militärischen Paladinen am 23. Mai 1939: „Ein Bündnis Frankreich-England-Rußland gegen Deutschland-Italien-Japan würde mich veranlassen, mit einigen vernichtenden Schlägen England und Frankreich anzugreifen.“ Eine friedliche Einigung mit London? Er zweifelte längst daran, daß sie zu erreichen war. Deshalb schloß er den langen Krieg nicht mehr aus, wobei er natürlich den schnellen Sieg weiterhin erhoffte. Polen sollte isoliert angegriffen werden. Aber noch vor seinem Pakt mit Stalin erklärte Hitler sich bereit, den Zweifrontenkrieg zu wagen. Hieß es doch: „Auseinandersetzung mit Polen — beginnend mit Angriff gegen Polen — ist nur dann von Erfolg, wenn Westen aus dem Spiel bleibt. Ist das nicht möglich, dann ist es besser, den Westen anzufallen und dabei Polen zugleich zu erledigen.“ Und an das anknüpfend, was er seinen Militärs und Politikern seit 1933 wiederholt erklärt hatte, fügte Hitler hinzu: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht.“ Nein, ihm ging es um die Eröffnung einer Reihe von Kriegen, die schließlich die „Erweiterung des Lebensraumes im Osten“ erlauben sollten. /Dorthin führte nach dem Mai 1939 bekanntermaßen kein gerader oder direkter Weg. Aber was immer Hitler tat, die Sowjetunion blieb das zu keinem Zeitpunkt aufgegebene „Objekt“ seiner Kriegführung. Damit ist die Frage nach dem Charakter der Politik Hitlers und nach dem Anlaß für den Kriegsbeginn 1939 aufgeworfen.
Hinsichtlich der Machtpolitik Hitlers ist davon auszugehen, daß es den lange Zeit diskutierten qualitativen Sprung zwischen einer revisionistischen und einer expansionistischen Phase nicht gab, denn die politische Konzeption Hitlers stellte stets eine Einheit dar. Die Meinungen scheiden sich an einem anderen Punkt: dem Problem, ob sich dessen Politik an seit den zwanziger Jahren — im wesentli-chen — feststehenden Zielen orientierte oder auch nicht. So existiert die Auffassung, der deutsche Diktator sei ein machiavellistisch und opportunistisch handelnder Politiker gewesen, der den Krieg als eine Art Selbstzweck verstand und sich ansonsten nahm, was ihm günstige Gelegenheiten boten Einer solchen Sehweise stehen jene Interpretationen gegenüber, die in Hitler einen Programmatiker erkennen. Das heißt, die „nationalsozialistische“ Außenpolitik war auf ein finales Ziel hin angelegt: die rassisch, wirtschaftlich, demographisch und ideologisch motivierte Eroberung des europäischen Rußlands sowie — daran anschließend — die Errichtung eines deutschen Imperiums auf dem Kontinent Unauflöslich verband sich mit der Verwirklichung dieser programmatischen Zielsetzung — sozusagen dem Aufbau von Groß-Hitleristan durch Unterjochung Europas — die Entschlossenheit zur „Ausrottung der Juden“
Unter den Historikern, die Hitler als „Programmatiker“ begreifen, gibt es einige, die von einer kontinentalen Begrenztheit seiner Ziele ausgehen und andere, die globale Fernziele anneh-men Nach Andreas Hillgruber beabsichtigte Hitler, im Anschluß an das „Erringen der Macht im Innern und der Konsolidierung seiner Herrschaft in Zentraleuropa das Deutsche Reich in zwei großen Etappen zur , Weltmacht‘-Stellung zu führen: zunächst ein ganz Europa beherrschendes Kontinentalimperium mit einem festen machtpolitischen und , wehrwirtschaftlichen'Rückhalt im weiten europäischen . Ostraum'zu schaffen und danach durch die Gewinnung eines kolonialen Ergänzungsraumes in Afrika und durch die Schaffung einer starken Flotte mit Stützpunkten im Atlantik, Deutschland zu einer der vier — nach dem angestrebten Ausfall Frankreichs und Rußlands — verbleibenden , Weltmächte', neben dem britischen Empire, neben dem Großraum Japans in Ostasien und (von Hitlers Sicht entscheidend) neben den USA, zu machen. Für die folgende Generation — also die Zeit nach seinem Tod — erwartete er einen Entscheidungskampf zwischen den beiden bedeutendsten . Weltmächten', der , Weltmacht'Deutschland und der »Weltmacht'Amerika, gewissermaßen um die Weltherrschaft’. Für diese gewaltige Auseinandersetzung in der Zukunft“ wollte er dem Reich die „notwendige . großräumige Basis'schaffen“. In einer bestechenden Analyse der militärischen und politischen Situation 1941 konnte Hillgruber sodann nachweisen, daß es im Juli jenes Jahres kurzzeitig eine Lage gab, in der Hitler die Realisierung seiner außereuropäischen Ambitionen in unmittelbare Nähe gerückt wähnte: Mitte des Monats offerierte er Tokio ein Bündnis zur „Vernichtung“ der Vereinigten Staaten
Man bezeichnete solche Äußerungen Hitlers als „verbale Kraftmeierei“, was sie — gemessen an den damals vorhandenen waffentechnischen Möglichkeiten — objektiv betrachtet auch waren. Darüber hinaus wurde Hitlers „Vision einer Weltherrschaft“ als „zugleich universal und ortlos, nicht im konkreten Sinne global“ charakterisiert In dieser Frage wird es vermutlich nie zu einem Konsens kommen; wobei anzumerken ist, daß die Ernsthaftigkeit Hitlerscher Absichtserklärungen nicht unbedingt auf der Grundlage des militärisch Machbaren beurteilt werden sollte. Denn gerade er verstand das Können oftmals nur noch als eine Funktion des Wollens, des Willens. Jedenfalls arbeiteten Heer und Marine im Sommer 1941 bereits an langfristig zu verwirklichenden Planungen, denen zum Teil ein Krieg der Kontinente — oder der Kampf gegen den Rest der Welt — zugrunde lag
Hillgrubers Thesen blieben keineswegs unwidersprochen doch bislang fehlt in der Forschung eine einigermaßen überzeugende alternative Deutw . Dabei wäre es im übrigen abwegig, hinter dem Begriff des „Stufenplans“ die Idee anzunehmen, daß sich die nationalsozialistische Politik auf einer Art Einbahnstraße entfaltet hätte. Ebensowenig darf der Terminus „Programm“ als Itinerarium zur Weltherrschaft aufgefaßt werden. Es handelt sich in beiden Fällen um Begriffsbildungen, die zwar Antriebskräfte, Zwischen-und Fernziele sowie Vorgehensweisen Hitlers beschreiben und charakterisieren, aber sie wollen nicht suggerieren, daß diese zeitlich oder operativ starr fixiert gewesen wären. Weder die taktische Anpassungsfähigkeit Hitlers noch die banale Tatsache, daß er auf das Verhalten der anderen Mächte reagieren mußte — das heißt seine politische Marschroute nicht autonom festzulegen und zu verfolgen vermochte —, werden durch das heuristische Modell Hillgrubers irgendwie in Zweifel gezogen. Ansonsten jedoch hat die Kritik nicht zuletzt eines zu bedenken: das Faktum, daß Hitler ziemlich genau das verwirklichte oder wenigstens anstrebte, was er viele Jahre vor seinem Machtantritt niederschrieb. Eine so außergewöhnliche Übereinstimmung dürfte schwerlich zufällig zustande gekommen sein. Zumindest im hier interessierenden außenpolitischen Bereich kann deshalb wohl nicht von ziellosem Opportunismus des Diktators gesprochen werden
Der Nachweis, daß der deutsche Regierungschef eine programmatische und kriegsgerichtete Politik betrieb, erklärt allerdings noch nicht, weshalb er den Krieg gerade 1939 entfesselte. Denn aus der Sicht der Militärs kam der Konflikt zu früh, sie fühlten sich nicht kriegsbereit Die militärischor Fachleute waren außerdem von der Durch,', nibarkeit der Blitzkriegsstrategie durchaus nicht — ein-vernehmlich — überzeugt. Man hat die Strategie des „Blitzkrieges“ historisch extrem rationalisiert. In solchem Kontext wurde einerseits eine sehr große Flexibilität der deutschen Wirtschaft und andererseits eine umfassende direkte Kontrolle der Kriegswirtschaft angenommen, was effektiv im vermuteten Umfang nicht zutraf Ganz allgemein scheint es jedenfalls so zu sein, daß sich die populären Aussagen über die „Blitzkriegsstrategie“ des nationalsozialistischen Deutschlands vordergründig am bis 1940 erfolgreichen Konzept des kurzen, räumlich begrenzten und mit äußerst beweglichen Truppen geführten Krieges orientieren. Doch der Begriff der Strategie beinhaltet nicht nur operative, sondern zahlreiche Faktoren, insbesondere wirtschaftliche und personelle, soziale und psychologi-sehe. Aus wirtschaftlicher Sicht argumentierend, hieß es sogar: „Die Vorstellung von einer begrenzten , Blitzkriegswirtschaft 1 muß durch eine andere Vorstellung ersetzt werden, nämlich durch die Vorstellung von einer . totalen Mobilmachung', die in der ersten Kriegsphase elend scheiterte.“
Eine weniger radikale Deutung, die ebenfalls von der — mit den gesellschaftspolitischen Vorstellungen Hitlers korrespondierenden — Idee einer totalen Mobilmachung ausgeht, konstatierte, daß die „Blitzkriegsstrategie“ innerhalb der Grundkonzeption des „totalen Kriegs nur eine Phase“ bezeichnete, nämlich diejenige der „Lebensraumerweiterung“ Im Anschluß daran sollte sie abgelöst werden. Diese Interpretation ist auch deshalb besonders interessant, weil sie den Gedanken beinhaltet, daß nicht, wie behauptet der „Zwang zur Aufgabe der Blitzkriegsstrategie“ zum Kriegsverlust führte, sondern die „blinde und unkorrigierbare Anwendung des Hitlerschen Konzepts des totalen Krieges“: das heißt, des Vernichtungs-und Versklavungskrieges von nie dagewesener Brutalität. Bei engerer Bezugnahme auf die normativen Kriterien der wirtschaftlichen und personellen Mobilmachung gelangte hingegen die neueste Untersuchung über das Thema zu dem Ergebnis, daß „nur der Ostkrieg als ein geplanter — und gescheiterter — Blitzkrieg gelten“ könne. Nicht eine „geniale“ Blitzkriegswirtschaft habe bis dahin das operative Konzept ergänzt, sondern ein „System der Aushilfen, gehemmt durch Entscheidungsschwäche, Inkompetenz und Reibungsverluste auf allen Ebenen“
Wenn die Voraussetzungen so waren, wie sie derartige Analysen erhellen, so stellt sich die Frage um so drängender: Weshalb wollte Hitler 1939 den Krieg? Warum schöpfte er nach dem März 1939 die effektiv stets gegebenen Möglichkeiten nicht aus, eine friedliche Lösung der polnischen Probleme herbeizuführen Antworten versuchte man aus der inneren Lage des „Dritten Reiches“ zu gewinnen. Danach stellte der Schritt in den Krieg eine „Flucht nach vom“ dar. die das Regime kaum später als bis zum Herbst 1939 anzutreten hatte, um aus der — im Wirtschafts-und Herrschaftssystem manifesten — „inneren Krisenlage auszubrechen“ In Anlehnung daran wurde die These vorgetragen, Hitler habe den Krieg ausgelöst, weil die durch ihn ermöglichte personelle und materielle Ausbeutung besetzter Länder die Vorbedingung für die Stabilisierung seines Regiments und die Optimierung des Rüstungsprozesses bildete. All das wäre zudem in bezug auf die Vollendung der konterrevolutionären Gesellschaftsordnung des Nationalsozialismus zu sehen
Freilich sind hier nur indirekte Beweisführungen vorgenommen worden, da zwingende Belege dafür, daß sich die „innere Lage des nationalsozialistischen Deutschland am Vorabend des Krieges so weit zugespitzt hatte, daß man von einer allgemeinen Krise des Systems sprechen“ dürfe, nicht existieren. Andere Autoren brachten hingegen den Faktor Zeit unter Hinweis auf Hitlers Sorge, den Rüstungsvorsprung zu verlieren und seine Überzeugung, nicht lange zu leben ins Spiel. Eine Studie, die den innen-und außenpolitischen Motiven Hitlers nachging, kam zu dem Resultat: Es waren die „innere Krise und die durch das Wettrüsten gekennzeichnete internationale Situation, die 1939 zum Krieg trieben“ Das setzte allerdings voraus, daß der Wille zum militärischen Konflikt grundsätzlich vorhanden gewesen ist. Und damit dominierte — hinsichtlich der Kriegs-ursache — das „Programm“ Hitlers. Es sei hier noch einmal daran erinnert, daß er ja bereits 1938 seine begrenzten Kriege führen wollte, als ihn die ökonomischen Verhältnisse in keiner Weise dazu zwangen. Sofern man annimmt, daß eine innere Krise der Anlaß für die Entfesselung des Weltkrieges war, müßte konsequenterweise davon ausgegangen werden. daß Deutschland Polen selbst ohne den Nichtangriffsvertrag mit der Sowjetunion überfallen hätte. Aber darüber läßt sich höchstens spekulieren -In der Praxis lief der Pakt mit Stalin, aufgrund der Planungen Hitlers, auf eine „Einladung zum Angriff auf Polen“ hinaus — wie auch immer die Motive Moskaus beurteilt werden mögen So hat man den Vertrag zu den Ergebnissen der „selbstproduzierten Schwäche“ Stalinscher Politik gerechnet Zweifellos, so eine andere Untersuchung, habe die sowjetische Regierung den Pakt in der „Absicht abgeschlossen, eine Teilnahme der UdSSR an einem europäischen Krieg zu verhindern“. Was nicht besagen soll, daß der Gesamtcharakter des Vertragswerkes — aus der Sicht Moskaus — defensiv verstanden worden wäre wobei sich ansonsten über die langfristigen Absichten Stalins — in bezug auf Deutschland — vor der Öffnung der Moskauer Archive sichere Aussagen nicht machen lassen.
Hingegen existiert eine Vielzahl direkter und indirekter Hinweise darauf, daß der Pakt für Hitler lediglich ein Vehikel zur Erreichung seines eigentlichen Zieles abgab. Daran änderten die verbalen Freundschaftsbeteuerungen aus Berlin absolut nichts. Und da der Krieg gegen Polen — im Rahmen der programmatischen Intentionen des Diktators betrachtet — lediglich die erste Etappe auf dem Weg zur Eroberung von Lebensraum im Osten darstellte, ließe sich sogar sagen, daß Hitler am 23. August 1939 einen Vertrag mit Stalin gegen die Sowjetunion schloß. Es ist bezeichnend, daß er seine offensiven Überlegungen und Planungen im Sommer 1940 zu einem Zeitpunkt aktualisierte, als ihn keine militärstrategischen Gründe zur Wende nach Osten veranlaßten — rechnete er doch damals fest mit einem Frieden im Westen Deshalb ist zutreffend festgestellt worden: „Daß Hitler den Nichtangriffsvertrag mit der Sowjetunion von vornherein zu brechen beabsichtigte, dieser Vertrag für ihn daher eher ein Noch-Nichtangriffsvertrag war, steht außer Frage.“
Zusammenfassend: Der Kriegsbeginn 1939 bedeutete — aus der Sicht Hitlers — die verspätet einsetzende gewaltsame Realisierung seines „Programms“. Von diesem losgelöst, gab es keine innere oder auch äußere Notwendigkeit für die Einleitung eines kriegerischen Konflikts. Es wäre folglich verfehlt, den in der inneren Logik der am 1. September 1939 provozierten Entwicklung liegenden Überfall auf die Sowjetunion (22. Juni 1941) — wie das seit einiger Zeit geschieht — als Präventivkrieg hinzustellen oder als Resultat militärischer Sachzwänge zu charakterisieren. Andersgewendet: Hitler entfesselte 1939 seinen Krieg, der dies — bis etwa Ende 1941 — blieb, als er durch die Kriegserklärung an die USA versuchte, sein „Programm“ noch einmal zu retten An der Jahres-wende begann definitiv der offene Weltkrieg und — in Übereinstimmung mit der zweiten axiomatisch vorgegebenen Zielsetzung Hitlers — die Verwirklichung des Holocaust, des Völkermords an den Juden.