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Schule und gesellschaftlicher Wandel Anforderungen an die Schule in den neunziger Jahren | APuZ 27/1989 | bpb.de

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APuZ 27/1989 Artikel 1 Entwicklung und Perspektiven der Schulverfassung in der Bundesrepublik Deutschland Schule und gesellschaftlicher Wandel Anforderungen an die Schule in den neunziger Jahren Zur kulturverändernden Kraft der Computertechnologie Informatorische Bildung oder Allgemeinbildung? Über den Bildungswert des Computers

Schule und gesellschaftlicher Wandel Anforderungen an die Schule in den neunziger Jahren

Hans-Günter Rolff

/ 29 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ausgehend von einer Analyse der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung wird zunächst die Frage gestellt, ob das Konzept der Informationsgesellschaft eher als Programm oder als Problem zu verstehen ist. Vor dem Hintergrund der Informationsgesellschaft als Problem werden vier gesellschaftliche Anforderungen an die Schule der neunziger Jahre formuliert: Gestaltung der Arbeitswelt. Selbstbewußter Umgang mit Computern, Entschlüsselung mediatisierter Erfahrung und Rückeroberung der Zukunft. Alle vier Anforderungen betreffen die Schulen als Orte der Vermittlung von Zukunftswissen, das auf drei Ebenen untersucht und definiert wird: auf der Ebene des Alltags-oder Handlungswissens, auf der Ebene des System-wissens und auf der Ebene des Bildungswissens. Im Anschluß daran werden die pädagogischen Anforderungen an die Schule der neunziger Jahre skizziert, wobei vier Entwicklungslinien des Wandels von Kindheit und Jugend beachtet werden: Verlust an Eigen-tätigkeit, Expertisierung des Alltags, Wertewandel und Auflösung der Kemfamilie. Als Ergebnis zeigt sich: Für die Schule der neunziger Jahre öffnet sich eine Schere zwischen lebensweltfemem Unterricht und der Erosion der Lebenswelt der Schüler. Deshalb sind Konzepte sozialen Lernens aktuell — also ganzheitliches Lernen, das die beiden Seiten der Schere zusammenhält, nämlich anspruchsvollen Unterricht einerseits und eine interessante, motivierende, schülerorientierte Erziehung andererseits.

I. „Informationsgesellschaft“ als Problem

Die Gesellschaft der Gegenwart wurde bisher allgemein Industriegesellschaft genannt. Für die Gesellschaft der Zukunft gibt es inzwischen so viele Bezeichnungen, daß dies der beste Beweis dafür ist, daß die Gesellschaft der Zukunft noch nicht auf den Begriff gebracht ist. Ich nenne nur einige Namens-beispiele, wovon Informationsgesellschaft das prominenteste und verführerischste ist: postindustrielle Gesellschaft, Dienstleistungsgesellschaft. Wissenschaftsgesellschaft und Konsumgesellschaft oder Risikogesellschaft und Experimentiergesellschaft. Viele der benutzten Bezeichnungen sind kaum mehr als ein Slogan, nicht aber ein analytischer sozialwissenschaftlicher Begriff, der uns helfen könnte, die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung besser zu erklären und angemessener zu verstehen.

Es scheint vielmehr, daß wir uns immer noch und lange noch in einer Industriegesellschaft befinden. Die Zukunft ist nicht postindustriell, die Industrialisierung nimmt eher zu — in Form einer Industrialisierung des Gesundheitswesens, der Forschung, der Hausarbeit, der Kindheit, der Kunst und der Kultur, der Dritten Welt oder der Kriegsführung, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Trend geht von der industriellen zur hyperindustriellen Gesellschaft.

Der englische Soziologe David Lyon hat jüngst die Vermutung geäußert, die Rede von der Informationsgesellschaft diene vor allem als MarketingStrategie der Elektronik-Industrie und als ideologische Strategie, um von den sich zuspitzenden Problemen der Industriegesellschaft abzulenken. Es werde dabei nicht wirklich über die Zukunft als Ganze diskutiert, sondern vornehmlich über technologischen Fortschritt, und es werde über technologischen Fortschritt diskutiert, um nicht über die Zukunft debattieren zu müssen

Gewiß kann man daran zweifeln, ob der Begriff der Informationsgesellschaft erfunden wurde, um die Krisen des Industrialismus zu verschleiern. Außer Zweifel steht jedoch, daß auch in einer Informationsgesellschaft nahezu alle zentralen Merkmale einer Industriegesellschaft fortbestehen. Diese Merkmale sind — Privateigentum an Produktionsmitteln und Herrschaft, die sich aus dem Besitz an Produktionsmitteln herleitet; — Ungleichheiten struktureller Art hinsichtlich Besitz, Einkommen, Macht, Einfluß, Verfügungsgewalt. Ressourcen etc.;

— Klassen und Klassenkonflikte, wobei sich allerdings die Klassenlagen verschieben und neue Mittelklassen unterschiedlicher Art herausbilden;

— Fortbestand eines Kerns von Güterproduktion, von dem sich ein Großteil des Dienstleistungssektors überhaupt erst herleitet;

— Lohnarbeit von Arbeitern und Angestellten (auch wenn der Begriffdes Industriearbeiters sicher unklar geworden ist).

Wenn man „Informationsgesellschaft“ allerdings nicht als Programm, sondern als Problem versteht, mag dieser Begriff durchaus nützlich sein, um auf den Zusammenhang von gesellschaftlicher Zukunft und zukünftiger Technologieentwicklung zu verweisen, die sonst allzugern separat betrachtet werden. Und in der Tat bergen die neuen und zukünftigen Technologien, die im übrigen auch nur zum Teil Informationstechnologien sind, ein riesiges Potential in sich, gesellschaftlich zu gestalten, aber auch gestaltet zu werden.

Die neueren industriesoziologischen Studien haben allesamt von der Vorstellung eines Technikdeterminismus Abschied genommen. Die daraus resultierende Perspektive einer sozial gestaltungsbedürftigen Arbeitsorganisation läßt sich am Beispiel der Werkzeugmaschinen verdeutlichen: Diese Maschinen haben bekanntlich eine rasante technologische Entwicklung durchgemacht. Zunächst wurde der Bearbeitungsprozeß ausschließlich bei jedem Werkstück neu von der einzelnen Arbeitskraft geplant und ausgeführt. Sie bestimmte und überwachte jeden einzelnen Bearbeitungsschritt. Dies erforderte eine hochqualifizierte Arbeitskraft. Eine Änderung dieses Produktionsablaufs ergab sich, als man mit dem informationstechnologischen Instrument der numerisch kontrollierten Steuerung die einzelnen Bearbeitungsschritte einmal fest programmieren und dann durch angelernte Maschinen-bediener ausführen lassen konnte. Dabei fielen Planung und Ausführung auseinander, die bei qualifizierter Arbeit ursprünglich zusammengehörten. In den letzten Jahren wurde dank der Mikroelektronik mit der Einführung der computerisierten Steuerung (CNC) eine flexible Produktion mit jeweils neuen Programmierungen für rasch wechselnde Serien möglich. Im Prinzip kann die Programmierung derartiger Maschinen sowohl durch die Arbeitskraft als „Werkstattprogrammierung“ als auch von ihr abgetrennt in einem Programmierbüro erfolgen.

Die Bedeutung, die die eine oder die andere soziale Organisationsform der Arbeit mit Werkzeugmaschinen hat, liegt auf der Hand: „Werkstattprogrammierung“ bedeutet die Wiedervereinigung von Planen und Ausführen und damit die Erhaltung anspruchsvoller Arbeitsplätze; Programmierung in der Arbeitsvorbereitung oder „zentrale Programmierung“ bedeuten dagegen Zuspitzung der Arbeitsteilung, bedeuten eine Konzentration qualifizierter Arbeit in der Arbeitsvorbereitung und eine Herabstufung der ausführenden Arbeit.

Eine ähnliche Weichenstellungssituation bahnt sich auch im Bereich der Büroberufe an. Einen Technik-Determinismus gibt es offenbar auch hier nicht. Im großen und ganzen führen zwei Wege in die Zukunft der Büroarbeit, die bei den Versicherungen und Banken längst begonnen hat. Hier wird zwischen computergesteuerter und computerunterstützter Kundenberatung unterschieden. Bei computergesteuerter Bankarbeit beispielsweise verfügt jeder Kundenberater über einen eigenen Bildschirm, vor dem er ohne Kontakt zu seinen Kollegen allein tätig ist. Sowie sich ein Kunde mit irgendeinem Auftrag an den Kundenberater wendet, läßt dieser mittels seines Computers eine umfassende Analyse bestehender Kundenbeziehungen vornehmen.

Die Mehrzahl der Banken zieht indessen offensichtlich ein weniger systembestimmtes Verfahren vor, das vom Computer nicht gesteuert, sondern bloß unterstützt wird. Charakteristisch ist bei diesem Konzept ein Nebeneinander von elektronisch zusammengestellten Grundinformationen einerseits und persönlichen Kontakten zum Kunden andererseits. Darüber hinaus sind für einen Kundenstamm immer Gruppen von etwa drei Personen zuständig. Diese beraten sich untereinander und teilen sich einen Personalcomputer bzw. Terminal. Hier reduziert der Computer die Qualität von Büroarbeit nicht, sondern reichert sie an.

An beiden Beispielen wird klar ersichtlich, daß es für die Zukunft der Arbeit erhebliche Gestaltungsspielräume gibt: integrative, qualifikationsintensive Arbeit oder atomisierte und dequalifizierte Arbeit. Wir können die neuen Möglichkeiten einer menschenfreundlicheren Arbeitsgestaltung allerdings nicht nutzen, wenn lediglich in Kapital und nicht in Qualifikation, also mehr in Geräte und Organisation und weniger in Bildung und Selbstverantwortung investiert wird. Anders ausgedrückt: Wir brauchen nicht unbedingt mehr Qualifikation für alle, wenn wir mehr produzieren wollen. Das ist auch mit mehr Apparatur und weniger Arbeitsvermögen realisierbar. Aber wir brauchen mit Gewißheit mehr Qualifikation für mehr Menschen, wenn wir die neuen Technologien sozial gestalten wollen, d. h. menschenwürdigere Arbeitsplätze und eine humane Fortentwicklung der Industriegesellschaft haben wollen. Das ist vielleicht die größte Herausforderung an die Schule in den neunziger Jahren. Das Wichtige und Richtige an der Debatte um die neuen Informationstechnologien ist also, daß sie die Suche nach einer anderen Gesellschaft und einer anderen Schule neu eröffnet hat.

II. Gesellschaftliche Anforderungen an die Schule

„Die Schule ist eine Funktion der Gesellschaft“ hat Wilhelm Dilthey vor fast einem Jahrhundert formuliert. Worauf die Schule vorbereiten muß, hängt also wesentlich davon ab, welche Art von Gesellschaft wir haben wollen. Vor dem eben skizzierten gesellschaftlichen Hintergrund sehe ich vier Aufgabenbereiche für die Schule:

1. Gestaltung der Arbeitswelt, Selbstbewußter Umgang mit Computern, 3. Entschlüsselung mediatisierter Erfahrung und 4. Rückeroberung der Zukunft. 1. Gestaltung der Arbeitswelt Die Beispiele der CNC-Maschinen und der computerorientierten Kundenberatung zeigen: Wie die Produktionsverfahren und Arbeitsplätze der Zukunft gestaltet werden, welche Rolle der arbeitende Mensch im Arbeitsprozeß spielt, wird nicht von den neuen Technologien festgelegt. Die Einsatzmöglichkeiten der neuen Technologien sind so flexibel, daß sie viele Formen der Arbeitsorganisation offen-lassen. das Ende der Arbeitsteilung wie eine Arbeitszerlegung auf höchstem technischen Niveau. Die Zukunft der Arbeitsgestaltung wird zweifellos gesellschaftspolitisch entschieden.

Aus international vergleichenden Untersuchungen wissen wir, daß für die Realisierung des humanen und sozial verträglichen Modells des Fortschritts ein hohes Qualifikationspotential der Arbeitskräfte die unabdingbare Voraussetzung ist 2). Beispielsweise ist „Werkstattprogrammierung“ nur zu realisieren, wenn eine größere Zahl von Facharbeitern fähig und bereit ist, sich Zusatzqualifikationen anzueignen. Das bedeutet umgekehrt, daß es geradezu zwangsläufig zur zentralen Programmierung kommt, wenn bei den Facharbeitern keine ausreichenden Qualifikationen vorhanden sind.

Es scheint so, daß die führenden Industrienationen diesbezüglich sehr unterschiedliche Wege in die Zukunft beschreiten. Die anglo-amerikanischen Länder setzen ebenso wie Frankreich offenbar mehr auf das technische Modell des Fortschritts, bei dem mehr in Sachkapital und in eine relativ kleine Elite von Entwurfs-und Produktionsingenieuren investiert wird. Die mittel-und nordeuropäischen Staaten sowie Japan favorisieren eher das sozialverträgliche Modell des Fortschritts und investieren mehr in das Humankapital, d. h. in die Ausbildung der großen Mehrheit der Arbeitskräfte.

So haben in der Bundesrepublik beispielsweise die Unternehmer gemeinsam mit den Gewerkschaften die Berufsbilder der Facharbeiter in den Metall-und Elektroberufen neu geordnet und eine breit angelegte, umfassende Grundbildung für alle vereinbart. In einem Ausbildungsrahmenplan wurde geregelt, daß ein grundlegendes Verständnis für die neuen Technologien vermittelt werden soll. Dabei wird ein doppeltes Ziel verfolgt: Zum einen sollen die Facharbeiter sich rasch und flexibel an den technischen Wandel und veränderte Arbeitsanforderungen anpassen können. Zum anderen sollen personale Fähigkeiten und Kompetenzen gestärkt werden wie Entscheidungsfähigkeit. Verantwortungsbereitschaft. Belastbarkeit, Teamgeist u. ä., die erforderlich sind, um die eigene Arbeit selbständig planen, durchführen und kontrollieren zu können. Zusammengefaßt orientiert sich dieses Ausbildungskonzept an drei Kriterien: erstens an einer breit angelegten Grundbildung, die zur fachlichen Mobilität befähigt, zweitens an einer hohen Fachkompetenz für das Berufsfeld und drittens an Kooperationsfähigkeit und Selbständigkeit, welche für den Umgang mit den neuen Technologien von größter Bedeutung sind.

Dieses Ausbildungskonzept gilt auch nach dem Urteil ausländischer Beobachter als großer Vorteil gegenüber dem bloßen „on-the-job-training“. Denn in der Automobilindustrie beispielsweise wurden bisher Ungelernte nach einem relativ kurzen Anlernprozeß eingesetzt, waren Facharbeiter für die Instandsetzung verantwortlich und Ingenieure bzw. Techniker für die Qualitätssicherung. Heute schon und erst recht in der Zukunft werden für die Produktion, Instandsetzung und Qualitätssicherung zunehmend Teams von Facharbeitern und Ingenieu. ren eingesetzt, in denen Angelernte keinen Platz mehr haben. 2. Selbstbewußter Umgang mit Computern Den zweiten Beitrag der Schule zur Zukunftsgestaltung sehe ich in der Befähigung der Schüler zum selbstbewußten Umgang mit Computern. Vielfach wird heute gefordert, den Schülern möglichst schnell eine Art „Computerführerschein“ mitzugeben. Damit sind Grundkenntnisse im Programmieren gemeint, zumeist BASIC-Kenntnisse. Als Gründe hierfür werden immer wieder die Wettbe-B werbsfähigkeit der Wirtschaft und bessere Chancen der Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt angeführt. Beide Gründe treffen nicht zu. Über die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft entscheidet auf die-• sem Gebiet die Forschung und nicht die Schule. Und im Kampf um knappe Arbeitsplätze wird ein „Computerführferschein“ wenig nützen, die vorher dargelegte breite berufliche Grundbildung desto mehr. Denn wir wissen aus Arbeitsmarktstatistiken und -prognosen, daß in den neunziger Jahren nur weniger als fünf Prozent aller Arbeitsplätze reine Programmierkenntnisse verlangen

Andererseits erfordern eine sozialverträgliche Gestaltung der Arbeitswelt und die sich ausweitende Nutzung von Computern im Alltag von nahezu jedermann einen kompetenten und selbstbewußten Umgang mit Computern — was nicht identisch ist mit Programmierkenntnissen. Zum selbstbewußten Umgang mit Computern gehört sehr wohl ein Wissen über Algorithmen und Kenntnisse darüber, wie man Programme schreibt. Wir haben ein solches Konzept des selbstbewußten Umgangs mit Computern in Nordrhein-Westfalen zu entwickeln versucht, das im wesentlichen folgende Punkte enthält: 1. In der Grundschule sollen Computer kaum eine Rolle spielen. Sie werden nur in knapp einem Dutzend Schulen des Landes auf ihre pädagogische Tauglichkeit hin erprobt. 2. Am Ende der Pflichtschulzeit wird allen 14-, 15-bis 16jährigen eine informations-und kommunikationstechnologische Grundbildung vermittelt. Dabei wird keine Programmiersprache gelehrt, wohl aber das Programmieren anhand einer vorbereiteten „Programmierumgebung“. Jeder Schüler lernt dabei, dem Computer einfache Befehle zu geben und sie zu kleinen Programmen zu verknüpfen. Er lernt ferner die wichtigsten Anwenderprogramme kennen und wird befähigt, die sozialen Implikationen des Computereinsatzes zu beurteilen. 3. Obwohl wir der Meinung sind, das computerscience, d. h. vor allem Lernen von Programmiersprachen, nicht Pflichtfach sein soll, bieten wir es allen Schülern ab dem 15. Lebensjahr als Wahlfach an. Den Abschluß bildet im Schulsystem die Fachbildung im berufsbildenden Bereich, also z. B. Programmieren von CNC-Maschinen oder kaufmännisches Rechnen mit dem Computer.

Die Grundbildung am Ende der Pflichtschulzeit ist der innovativste Bereich. Hier haben wir uns für Projektunterricht entschieden. Es gibt also kein Leitfach wie Mathematik oder Physik, sondern alle Fächer wirken mit. Ferner versuchen wir Medien-didaktik und Sozialwissenschaften in jedes Projekt zu integrieren. Ein Beispiel soll erläutern, was integrierte Mediendidaktik meint: Wir entwickeln mit den Schülern Fragen wie: Wie kommt es, daß Videogames, z. B. Weltraumspiele, scheinbar lernfähig sind? Wie kommt es, daß sich Meteoriten auf dem Bildschirm so schnell bewegen können und nicht vorauszuberechnen sind? Und wenn wir als Spieler besser werden, dann fallen die Meteoriten noch schneller. Die mediendidaktische Schlüssel-frage lautet: Was steht hinter den technischen Bildern, wie sind sie programmiert?

Wir lassen dann die Schüler solche Programme anhand der bereitgestellten Programmierumgebung selber schreiben. Das Zufallsmoment besorgt ein Zufallsgenerator. Die scheinbare Lernfähigkeit resultiert einfach daraus, daß das Programm schneller abläuft, wenn die Fehlerquote geringer wird. Dahinter stecken im Grunde nur zwei Subprogramme, die man mit Schülern herausfinden, ausprobieren und auch selber herstellen kann 4). 3. Entschlüsselung mediatisierter Erfahrung Den dritten Beitrag der Schule zur menschenwürdigen Weiterentwicklung der Industriegesellschaft ist die Entschlüsselung mediatisierter Erfahrung. Von Max Frisch stammt der Satz: Erfahrung macht dumm. Frisch spricht offenbar aus Erfahrung: Er weiß, daß mehrere Menschen aus dem gleichen Erlebnis ganz unterschiedliche Schlußfolgerungen ziehen, daß derselbe Mensch immer wieder die gleiche schlechte Erfahrung machen kann und trotzdem nichts daraus lernt. Kurzum: Keine Erfahrung spricht für sich selbst. Erfahrung ist immer mediatisiert und muß deshalb entschlüsselt werden.

Die Notwendigkeit, Erfahrungen entschlüsseln zu müssen, erhält in der Welt der neuen Technologien eine besondere Zuspitzung, Denn zum einen sind die Erfahrungen, die man mit Computern macht, immer im spezifischen Sinne eingeschränkt und bedürfen deshalb einer besonders aufwendigen Entschlüsselung: Es müssen immer unvollständige Da-ten interpretiert werden. Computer-Modelle wollen immer ein Stück Wirklichkeit repräsentieren. Aber worin besteht das Repräsentative? Hinzu kommt, daß Erfahrungswissen im traditionellen Sinne an Wert verliert. Immer wichtiger wird Planungs-, Steuerungs-oder Analysewissen,'also Wissen, das man nicht im Alltag, sondern speziell in Bildungseinrichtungen erwirbt. Genau das macht die Funktion der Schule so wichtig, im Jahr 2000 noch mehr als heute.

Schließlich nimmt die Mediatisierung von Erfahrungen mit den neuen Medien rapide zu. Das begann mit dem TV und schreitet fort mit Video, Computer und Bildplatte. Erfahrung wird immer mehr Bildschirmerfahrung, bebildert, unterhaltsam und häufig in nichtssagender Form anschaulich. Das gute alte pädagogische Prinzip der Anschaulichkeit wird dabei auf den Kopf gestellt. Bilder der Unterhaltungsindustrie helfen immer weniger, die Welt zu verstehen und zu erklären, sie müssen vielmehr selber entschlüsselt und auf ihren Aussagegehalt geprüft werden. Es gehört zu den schwierigsten Aufgaben der künftigen Schule, das Rüstzeug zur Entschlüsselung von mediatisierter Wirklichkeit zu liefern. 4. Rückeroberung der Zukunft Die vierte gesellschaftliche Aufgabe der Schule läßt sich noch weniger mit schulischen Mitteln allein erfüllen als die eben genannte: die Rückeroberung der Zukunft. Seitdem die moderne Massen-und Pflichtschule in Europa um das Jahr 1800 entstanden ist, wird sie von ihren Theoretikern als auf die Zukunft bezogen verstanden. Immanuel Kant formulierte beispielsweise emphatisch: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechts erzogen werden. Dies eröffnet uns den Prospekt zu einem zukünftigen glücklicheren Menschengeschlechte.“

Ein Drama der heutigen Kindheit und Jugend, zumindest in Mitteleuropa, besteht darin, daß kaum ein Kind oder Jugendlicher an eine bessere Zukunft glaubt. Vielmehr geht Zukunftspessimismus um, bei der jungen Generation viel stärker als bei den Älteren. Kaum ein Jugendlicher glaubt, daß wir einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben, daß es gelingt, die Umweltprobleme zu lösen, daß die Atomwaffen auf beiden Seiten abgeschafft werden oder daß es einen angemessenen Arbeitsplatz für alle geben wird und die Arbeitslosigkeit verschwindet. Die meisten befürchten, daß Technik und Chemie die Umwelt zerstören, daß sich die wirtschaftliche Krise verschärft und immer mehr Menschen arbeitslos werden 5).

Die Schule in den neunziger Jahren kann keine viel bessere als die heutige sein, wenn es nicht gelingt, die Zukunftsbedrohung in überzeugender Weise abzubauen. Die Rückeroberung des Zukunftsglaubens ist zweifellos eine Aufgabe, die die Möglichkeiten der Schule überschreitet. Es handelt sich um eine Aufgabe, die nur der Staat und alle gesellschaftlichen Gruppen zusammen bewältigen können. Der Schule fällt dabei die Aufgabe zu, die Jugendlichen mit dem notwendigen Zukunftswissen auszustatten, das sie befähigt, an dieser gewaltigen Gestaltungsaufgabe mitzuwirken.

III. Schulen als Orte zur Vermittlung von Zukunftswissen

Wenn es um die humane Gestaltung und soziale Beherrschung der zukünftigen Industriegesellschaft geht, wird die Schule also nicht an Bedeutung verlieren. Denn zur Gestaltung der Arbeitswelt gehören mehr und nicht weniger Qualifikationen; einen selbstbewußten Umgang mit Computern vermitteln die Geräte nicht aus sich selbst heraus, sie sind eher die modernste Form von black boxes, und mediatisierte Erfahrung spricht nicht für sich selbst, sondern muß entschlüsselt werden. Auf diesen Gebieten ist ein Beitrag der Schule unerläßlicher denn je.

Schulen sind heute und in Zukunft Orte, in denen sich Lernende in Ruhe auf eine Sache einlassen und sich auf diese Weise eine geistige Orientierung aneignen können. Sie sind Orte, in denen ein geschriebener Text oder auch ein Bildschirm-Display intensiv analysiert, interpretiert und verstanden werden können. Das Aneignen von Welt geschieht in der Schule typischerweise in Kommunikation mit anderen. Dazu gehört auch, daß sich Schüler an der Person des Lehrers und an dessen geistiger Orientierung reiben und abarbeiten, um selbst einen Stand-B ort zu gewinnen. Dies kann auch das perfekteste interaktive Video nicht hinreichend simulieren. Die Schule wird also als Ort, der Zukunftswissen vermittelt, eher wichtiger. Was allerdings unter Zukunftswissen zu verstehen ist, muß noch genauer untersucht werden. 1. Formen des Wissens Dabei hilft eine Unterscheidung von mindestens drei Formen des Wissens: Alltags-oder Handlungswissen, operatives bzw. instrumentelles Wissen sowie Bildungswissen.

Alltags-oder Handlungswissen ist das Wissen, das man eher intuitiv erwirbt im Umgang mit Menschen und Dingen. Alltagswissen entstammt aus Alltags-erfahrungen, also aus der Familie, der Freund-Schaftsgruppe, der Tageszeitung, dem Fernsehen, den Haushaltstätigkeiten, der Bastelarbeit oder dem Probieren. Es dient der alltäglichen Orientierung und erleichtert die Routine.

Für die Schule ist es wichtig, beim Alltagswissen der Schüler anzusetzen, „sie dort abzuholen, wo sie stehen“. Die Schule sollte an die Interessen der Schüler anknüpfen und den Unterricht handlungsorientiert gestalten. Alltagswissen erwerben die Schüler allerdings meist außerhalb der Schule. Die Schule braucht es nicht zu lehren; sie ist gerade deshalb historisch entstanden, weil das Alltagswissen zur Lebensbewältigung nicht mehr ausreichte und weil es dumm machen kann, wie Max Frisch sagte. Schulwissen ist ursprünglich und dezidiert operatives oder instrumentelles Wissen, Wissen, das man gerade nicht aus der alltäglichen Routine gewinnen kann, also weder unmittelbar aus der Arbeitswelt noch aus der Freizeit. Man benötigt es dennoch, um seine Arbeit verrichten, sich ein gesundes Frühstück bereiten oder die technologisierte Freizeit genießen zu können.

Der Soziologe Daniel Bell hat zu Recht darauf hingewiesen, daß gegenwärtig und erst recht in Zukunft theoretisches bzw. wissenschaftliches Wissen immer mehr dominiert Die für das Zeitalter der neuen Technologien typische Form operativen Wissens ließe sich vielleicht noch präziser als System-wissen kennzeichnen, wobei auch hier theoretisches Wissen vor einem wissenschaftlichen Hintergrund gemeint ist.

Das Charakteristische der neuen Technologien ist ja nicht der fast ein halbes Jahrhundert alte Computer oder der noch ältere Bildschirm, sondern der Systemcharakter dieser Technologien, der sich über die Vernetzung gleichsam materialisiert. Wenn Computer und Bildschirme untereinander vernetzt werden, kann man von innerer Vernetzung sprechen; wenn diese Einzelsysteme untereinander verbunden werden, entsteht äußere Vernetzung, die via Kabel und Satellit heute schon weltweit ist. Wissen über die Informationsgesellschaft ist also Systemwissen, ist in Systemzusammenhängen entstanden und wird in Systemzusammenhängen verarbeitet. -Systemwissen ist der zukünftig vorherrschende Wissenstypus. Er muß fraglos zentraler Gegenstand von Unterricht in der Schule sein, und zwar nicht nur im Sinne des „technischen Systems“, sondern ebenso des „sozialen“ bzw. „absichtsvollen“ Systems.

Das an Wissenschaft orientierte Systemwissen ist allerdings nicht ohne Ambivalenz und Widersprüchlichkeiten. Es ist seit langem Gegenstand wissenschaftstheoretischer und erkenntnistheoretischer Kritik, die den Formalismus, Positivismus und Instrumentalismus des Systemdenkens anprangert. Überspitzt gesagt, reduziert die Systemtheorie die Welt auf das, was sich durch Formeln und Zahlen ausdrücken läßt. Es droht aufgrund seiner immensen ökonomischen Verwertungschancen zur alles beherrschenden Weitsicht zu werden.

Deshalb muß das Systemdenken selber überdacht werden, muß systemisches Wissen in den Zusammenhang kultureller Erziehung gestellt werden. Es ist nämlich ein großer Unterschied, ob man etwas bloß weiß oder ob man etwas als etwas weiß. Das Wissen von etwas ist heutzutage in der entwickelsten Form von Systemdenken enthalten, das Wissen um etwas, um Vorstellungsinhalte, überschreitet jedoch die Systemzusammenhänge. Es konstituiert das menschliche Bewußtsein. Ein System hat kein eigenes Bewußtsein.

Bildungswissen indessen appelliert an das Bewußtsein, ist Rohstoff für Identität. Es umfaßt die Gesamtheit der Natur-und Humanwissenschaften, nicht nur die Systemtheorie. Und es geht über wissenschaftliches Wissen hinaus, ohne auf die Stufe von Alltagswissen zurückzufallen. 2. Kriterien für Bildungswissen Doch woran kann, man Bildungswissen erkennen bzw. was sind Kriterien für Bildungswissen? Fünf Kriterien sollen genannt werden, damit das an-19 spruchsvolle Programm für die Schule im Jahr 2000 plausibler wird a) Gestaltbarkeit: historisch-politische Zusammenhänge aufzeigen Bildungswissen setzt die Kenntnis des Geworden-seins voraus. Nur vor dem Hintergrund eines historischen Wissens können grundlegende Bewegungstendenzen erkannt und aktuelle Ereignisse fundiert beurteilt werden. Erst das Verstehen des Entstehens liefert Einblick in die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Es hilft. Interessen und Konventionen als solche zu erkennen und technische oder ökonomische Sachzwänge zu entmystifizieren. Es ermutigt dazu, Entwicklungen nicht als unvermeidbar hinzunehmen und statt dessen ihre Gestaltung immer wieder neu zu versuchen. b) Durchschaubarkeit: Wissenschaftsorientierung und Erkenntniskritik fördern Immer mehr Wissen wird durch Wissenschaft gewonnen. Das führt zur Notwendigkeit, die Schüler zu befähigen, durch Wissenschaft gewonnenes Wissen durchschaubar zu machen und zu überprüfen. Aufklärung durch Wissenschaft muß sich deshalb zunehmend auf Wissenschaft selber richten. Kritisch auf die Gültigkeitsgrenzen von wissenschaftlichen Methoden und wissenschaftlicher Ergebnisse zu achten, wird um so wichtiger in einer Welt, in der ständig mit Prozentzahlen, Wahrscheinlichkeiten und Zitaten aus wissenschaftlichen Gutachten argumentiert wird. Theoretisches Systemwissen muß erkenntniskritisch überprüft werden. Was sich hinter Informationsverarbeitungssystemen tatsächlich verbirgt, wird um so weniger einsehbar, je komplexer die Systeme ausgelegt sind. Kinder und Jugendliche haben viel Vertrauen und gewinnen zunehmend Übung darin, black-box-Systeme anzuwenden. Das ist bei mechanischen Apparaten nicht so problematisch wie bei elektronischen, die ihre Funktionsweise fast völlig verbergen. Deshalb ist eine Didaktik der neuen Medien vonnöten. c) Sinnlichkeit: zu Eigentätigkeit anregen Wissen wird immer mehr in Forschungseinrichtungen, Denkfabriken und Labors gewonnen. Es ent-. springt immer weniger einer Ansammlung von Erfahrungen handelnder Menschen. Die Schule müßte konkret wahrnehmbare Sinnlichkeit dagegensetzen. Es ist zu bedenken. Disziplinen, die heute vernachlässigt werden, wie Ästhetik und Rhetorik, wieder neu zu beleben. Vor allem aber sollte den Schülern Gelegenheit gegeben werden, selber Erkenntnisse zu gewinnen und selber Entdeckungen zu machen. Voraussetzung dafür ist, die Schüler zu eigentätigem Lernen, zum Selbermachen anzuregen.

Eigentätigkeit macht nicht dumm. Bei Eigentätigkeit objektivieren sich Selbstbild und Selbstsicherheit, Kompetenz und Urteilsvermögen. Schüler lernen durch die eigene Herstellung von Gegenständen und selbständige Durchführung von Projekten noch am ehesten deren Eigenschaften und Verwendungsmöglichkeiten kennen. d) Ganzheitlichkeit: den Zusammenhang der Lebenspraxis verständlich machen Seit der Industrialisierung fallen immer mehr Lebensbereiche auseinander; Alltagswissen wird atomisiert, Arbeit wird zerstückelt, Arbeiten, Wohnen, Freizeit und Erziehung in auch örtlich getrennte Bereiche zergliedert. Kultivierendes Wissen muß demgegenüber Zusammenhänge zeigen, Systemzusammenhänge einerseits und die Zusammenhänge von System und Lebenspraxis andererseits. Bildungswissen müßte Planen und Ausführen zusammenbringen sowie Verstand, Gefühl und Tätigkeit wieder als Ganzheiten erkennen lassen oder, wie es die griffige Formel Pestalozzis ausdrückt, die Einheit von Kopf, Herz und Hand herstellen. e) Natürlichkeit: pfleglicher Umgang mit der Natur Gerade angesichts der Umweltverschmutzung und Naturausbeutung tritt wieder ins Bewußtsein, daß Kultur ohne Natur nicht existieren kann. Pfleglicher Umgang mit der Natur wird zur Notwendigkeit des puren Überlebens. Dies übersteigt zweifellos die Möglichkeiten der Schule. Aber die Schule muß zumindest das dafür erforderliche Wissen bereitstellen. Pfleglicher Umgang mit der Natur bezieht sich auch auf die eigene Natur, auf den eigenen Leib. Gerade weil der Körper in einer hochtechnisierten Welt eine geringere Rolle spielt, ist die Schule herausgefordert, „leibhaftes Können“ zu vermitteln — als Grundlage von Gesundheit wie von Selbstsicherheit.

IV. Pädagogische Anforderungen an die Schule

Es scheint so, als werde die Wissensvermittlungsfunktion der Schule in den neunziger Jahren wichtiger und schwieriger zugleich: Nach allem, was wir von der Industriesoziologie wissen, steigen die Qualifikationsanforderungen an die künftigen Arbeitskräfte, zumindest wenn die Inhalte und die soziale Organisation der Arbeit nach humanen oder persönlichkeitsfördemden Gesichtspunkten gestaltet werden. Das verlangt von allen Schülerinnen und Schülern, die mithalten wollen, mehr dispositives bzw, theoretisches Wissen, mehr Denken in Zusammenhängen und kommunikative Kompetenz. Das Bildungswissen der Zukunft bezieht sich also auf abstrakte Inhalte, die nicht unmittelbar aus der Lebenswelt der Schüler stammen.

Gleichzeitig verliert das erzieherische Umfeld der Schule an Kraft in dem Maße, in dem sich ein Verlust an Eigentätigkeit, eine Expertisierung des Alltags vollzieht, ein Wertewandel stattfindet und sich die Kernfamilie auflöst. Es ist ein epochaler Wandel von Kindheit und Jugend zu beobachten, der die pädagogischen Anforderungen an die Schule stark verändert. 1. Verlust an Eigentätigkeit Die erste Entwicklungslinie nenne ich „Verlust an Eigentätigkeit“ Was das bedeutet, läßt sich am. ehesten verständlich machen, wenn wir uns erinnern an die Kindheit in der Nachkriegszeit und daran, daß es zu jener Zeit kaum Spielzeug gab. Es wurde dennoch sehr viel gespielt, ohne Spielzeug — mit Zeichnungen, die man im Sand machte oder auf den Schulhöfen oder sonstwo. Die Kinder besaßen wenig Spielzeug, das sie allerdings eigentätig hergestellt hatten, und die Spiele, die sie spielten, mußten sie sich auch eigentätig einrichten. Heute ist es eher so, daß Kinder oft mit vorfabriziertem Spielzeug spielen, das sie gekauft haben oder das man für sie gekauft hat und das sie eher „bedienen“. (Es handelt sich hier selbstverständlich nur um Tendenzen, es gibt sicherlich viele Ausnahmen.)

Man könnte angesichts dieser Tendenzen mit Erich Fromm sagen, daß auch in der Kinderwelt das Haben über das Sein zu dominieren beginnt, daß das Spielzeug-Haben das Wichtigste wird. Man könnte von Konsumismus reden, von der konsumierenden Kindheit. Ich ziehe es vor. vom Verlust an Eigen-tätigkeitzu sprechen, weil ich denke, daß das ein pädagogisch zentraler und auch folgenreicher Begriff ist.

Eigentätig zu sein, heißt, die Planung mit der Herstellung zu verbinden. Auch angesichts der neuen Technologien, der zunehmenden Arbeitsteilung im ökonomischen Bereich, aber auch im Dienstleistungsbereich, wird es immer wichtiger, daß Planen und Ausführen zusammenkommen, wenn die menschliche Arbeitsteilung die Menschen nicht selber zerteilen soll. Eigentätigkeit ist auf Kooperation, ist auf Zusammenarbeit verwiesen, das Kaufen und das Konsumieren nicht.

Wenn z. B. ein selbstgebastelter Drachen gelingt, ist damit ein Kompetenzgewinn verbunden. Wenn er nicht gelingt, hat man gelernt, wie es nicht geht, was Probleme und was Fehler sind. Mit der Eigen-tätigkeit ist zudem so etwas wie Objektivierung des eigenen Selbst verbunden. Man sieht ein Stück von sich selber verwirklicht, hat man seine Ideen, seine Pläne, seine Absichten darin objektiviert. In dem Maße, wie man dieses tut, gewinnt das Selbstbewußtsein an Gewicht. Ganz anders, wenn man das Selbstbewußtsein abhängig macht vom Augenzwinkern anderer, nur von der sozialen Interaktion, von Tadel und von Belobigung. In dem Moment, wo die Jugend sich nicht mehr objektiviert in eigenen Handlungen und Taten, wird sie zu stark abhängig von den Belohnungen, Gefühlen und Launen anderer.

Eigentätigkeit ist auch die Grundlage von Erkenntnistätigkeit in dem Maße, wie man selber tätig ist oder Grenzen zu überschreiten versucht oder etwas ausprobiert, was sich zufällig ergibt. Man erkennt sich und die Welt durch Handeln. Aus diesen Gründen ist Eigentätigkeit pädagogisch zentral. Jedoch ist Eigentätigkeit durch die Art, wie die Kindheit, wie die Lebenswelt der Kindheit sich entwickelt, heute ein Stück gefährdet.

Pädagogische Anforderungen Wenn man nach den schulpädagogischen Anforderungen, die daraus folgen, fragt, so sind diese relativ plausibel und klar: Schule müßte vielmehr als heute auf Eigentätigkeit setzen. Freie Arbeit und Wochenplan sind Beispiele dafür. Auch wäre es sicherlich gut und vernünftig, Schauspieler und Kinderbuchautoren in die Schulen zu holen, aber man sollte sie nicht holen, damit sie etwas vorspielen oder vorlesen. Das wäre auch Konsum, wenngleich „gehobener Konsum“. Vielmehr sollte man solche Leute holen, die Kinder und Lehrer animieren, selber schauzuspielen, selber Geschichten zu schreiben und selber etwas in Szene zu setzen. 2. Expertisierung des Alltags Die zweite Entwicklungslinie des Wandels von Kindheit und Jugend ist die „Expertisierung des Alltags“. Damit ist die Lernqualität der Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen gemeint. Sie nimmt möglicherweise ab. Man kann immer weniger im Alltag durch Vormachen, Anschauen und Nachmachen lehren und lernen. Es passiert etwas mit unserer Lebenswelt, was manche Informatisierung, manche Industrialisierung, manche sogar Kolonialisierung nennen. Immer mehr Expertenwissen verdrängt schon in der Kinderwelt und natürlich erst recht in der Welt der Jugendlichen das Alltagswissen. Was Expertisierung bedeutet, kann am klassischen Beispiel des Entstehens professioneller Berufe illustriert werden. In dem Maße, wie die Schulmedizin und die Ärzte, die akademisch ausgebildet wurden, Aufgaben übernahmen, haben sie die Volksmedizin verdrängt. Sie haben das Wissen der Mütter um Krankheit und darum, wie man sie behebt, zunehmend entwertet, disqualifiziert und irgendwann fast überflüssig gemacht.

Computer sind selbsterklärend, gute Nutzerprogramme sind so gestaltet, daß sie sich über die Menüsteuerung selber erklären. Wenn man einen Fehler macht, drückt man auf die „Hilfetaste“, dann kommt der Hinweis für die Lösung. Demgegenüber ist der Alltag immer weniger „selbsterklärend“, immer weniger selbstverständlich. Beispielsweise ist die Auswahl gesunder Nahrungsmittel fast eine Wissenschaft für sich geworden. Die Deutung der Computerweltrangliste im Tennis, die Deutung, warum jemand, obwohl er verliert, einen Platz höher rutscht, ist nur für Fachleute möglich. Die Kontrolle des Energieverbrauchs in der Wohnung, das Herausfinden des günstigsten Sonderangebots beim Einkäufen, die umfassende Nutzung eines „Komforttelefons“ sind weitere Beispiele für die Expertisierung des Alltags.

Expertisierung des Alltags schließt Kontrolle ein. Kontrolle war in der Nachkriegszeit wenig vorhanden. Es wird von einem „Kontrolloch" gesprochen, weil der Vater häufig noch in der Gefangenschaft war und die Mutter „organisieren“ gehen mußte. Kinder waren relativ unkontrolliert. Es kam die Zeit der fünfziger Jahre, eine Zeit, die manche die Zeit der Restauration nennen, in der Formen autoritärer Kontrolle zurückkehrten. Es folgte die Unruhe der sechziger Jahre, die auch als antiautoritäre Bewegung gegen die fünfziger Jahre zu verstehen ist. Man hatte den Eindruck, die Kontrolle würde jetzt schwinden. Kontrolle ist indes nicht verschwunden, Kontrolle hat sich gewandelt. Sie ist nicht mehr autoritär, dafür hat sich so etwas wie eine unsichtbare oder eine indirekte Kontrolle herausgebildet: eine indirekte, unsichtbare Kontrolle durch Experten oder durch Medien wie das Fernsehen, das ja u. a.den Zeitrhythmus kontrolliert durch die beliebten Sendungen, zu denen man unbedingt zu Hause sein muß und für die man anderes abbricht. Auch in die Schulen ist indirekte Kontrolle eingezogen, durch Arbeitsblätter etwa, auch durch Meldeketten und ganz zentral durch das Zensurensystem. Eine indirekte Kontrolle ist an die Stelle der autoritären Kontrolle getreten.

Pädagogische Anforderungen Auch hier müssen einige Stichworte genügen. Aus der Expertisierung des Alltags folgt gewiß, daß ein größerer Bedarf an Orientierungswissen bei allen besteht, ein größerer Bedarf an Aufklärung über bisher selbstverständliche Alltagsangelegenheiten und an Kompetenzen in Bereichen wie Gesundheit, Ernährung oder Einkauf. Wenn man so will, fehlt es an alltäglicher Bildung. Zu vermitteln wäre Orientierungswissen gerade nicht als Expertenwissen, vielmehr müßte es darum gehen, in den Schulen diesen Graben zwischen Experten und Laien wieder zuzuschütten.

Ein Mittel, der unsichtbaren Kontrolle entgegenzuwirken, ist persönliche Präsenz. Es ist besser, man kontrolliert, wo es unvermeidlich ist, und versucht dies deutlich zu machen, und tut nicht so, als sei Kontrolle gar nicht vorhanden, weil sich dann heimliche Kontrolle einschleicht und weil man sich dann an Expertisierung, an unsichtbare und unmündige Kontrolle des Alltagslebens von Kindern und Jugendlichen gewöhnt. 3. Wertewandel Die dritte Entwicklungslinie wird in der allgemeinen Diskussion und in der Literatur „Wertewandel“ genannt. Ich erinnere an einige Daten, die für die Schule von Bedeutung sind In den letzten 20 Jahren hat sich eine Liberalisierung des Erzie-hungsstils in den Familien vollzogen: von größerer Strenge zu größerer Freiheit. Eine Erziehung, bei der Kinder sich nach dem Willen der Eltern zu richten haben, wurde von Jugendlichen 1962 noch zu 30 Prozent befürwortet, 1963 aber nur noch zu drei Prozent. Streng bzw.sehr streng erzogen fühlten sich 1962 Immerhin noch 45 Prozent aller Jugendlichen, 1983 nur noch 18 Prozent. Diese Liberalisierung ist allerdings widersprüchlich, gerade vor dem Hintergrund unsichtbarer und indirekter Kontrolle. Es kommt hinzu, daß aus den vorhandenen Studien hervorgeht, daß eine ausgeprägte Schulfreude bei den heutigen Schülern sehr viel weniger vorhanden ist als 1962. 1962 haben von den 16-bis 18jährigen (es gehen heute viermal so viel 16-bis 18jährige zur Schule) 75 Prozent gesagt, sie gingen entweder gerne oder sehr gerne zur Schule, heute behaupten dies nur noch 43 Prozent.

Wichtiger ist vielleicht, daß bei den 16-bis 18jährigen die Zugehörigkeit zu sozialen Cliquen, also zu peergroups, stark gestiegen ist. 1962 waren nur 16 Prozent der Jugendlichen Mitglieder einer festen Clique, 1983 immerhin 87 Prozent. Vielleicht noch interessanter ist, daß viele Jugendliche diese Freundschaftsgruppen wichtiger nehmen als die Familie und die Schule. Sie erleben in diesen Gruppen der Gleichaltrigen, daß man nicht unter Aufsicht ist, daß man für voll genommen wird, daß die Freiheit der Wahl der Partner gegeben ist, daß man etwas zusammen macht und daß eine Gleichwertigkeit der Beziehung vorhanden ist. Es sind Gruppen, die nicht von Erwachsenen initiiert, geleitet und kontrolliert werden. Sie sind deshalb attraktiv, und sie treten deshalb in Konkurrenz zur Schule und zu den Familien. Hurrelmann betont, daß Cliquen durchaus eine positive Funktion haben — auch in der Schule. Sie organisieren sich nicht um den kognitiven Aspekt, sondern gerade um den Lebensweltaspekt sowie um soziale und emotionale Bedürfnisse. Wesentlich ist vielleicht auch, daß bis vor 20 Jahren diese Gruppen der 16-, 17-und 18jährigen Gleichaltrigen geschlechtshomogen waren. Seit etwa bis 15 Jahren sind die Gruppen zunehmend gemischt-geschlechtlich, bei den 18jährigen fast zu 50 Prozent. Damit zusammen hängt auch die deutlich frühere Aufnahme sexueller Beziehungen.

Selbstverwirklichung ist ein sehr ernstes Anliegen für heutige Schüler, wobei die Selbstverwirklichung sich mehr und mehr nach innen hinwendet. Selbstverwirklichung ist weniger auf andere Tätigkeiten, auf andere Gruppen gerichtet, sondern ist mehr und mehr Ich-bezogen. Das dies nicht nur egoistisch ist, verdeutlicht in bemerkenswerter Weise ein Gedicht einer Schülerin: „Ich! /Ich bin so wie ich bin /Ich sehe immer nur mich /Ich möchte nicht sein wie ich /Denn ich sehe immer nur mich /Ich möchte gern sein wie andere — güt /. . . Ich möchte andere sehen und verstehen /Ich kann andere sehen und verstehen /Denn ich bin ich /Und ich kann, wenn ich will!“ 10)

Dieses Gedicht klagt nicht larmoyant an, sondern beschreibt Verinnerlichung auch als ein Stück Widerstand. Es zeigt, daß der Wertewandel und die Wertkrise, von denen viel geredet wird, kein bloß kulturpessimistisch zu verstehendes Phänomen ist. Sie sind auch kein Problem der Jugendlichen allein, sondern ein Problem dieser Gesellschaft. Es gibt nicht wenige Soziologen, die sagen, die Wertkrise sei nicht eine Krise der Werte, sondern eine Krise der Gesellschaft, in der wir leben. Und dies ist für Jugendliche besonders deutlich, wenn sie keine Aussicht haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Wenn Arbeitslosigkeit droht, wenn atomare Bedrohung präsent ist und auch immer wieder durch Reaktorunfälle aktualisiert wird, wenn die Umwelt zerstört wird, dann betrifft das die Jugendlichen sehr viel mehr als Erwachsene, weil Kinder und Jugendliche 50 oder 60 Jahre Leben vor sich haben. Allein deshalb schlägt eine gesellschaftliche Krise bei Jugendlichen, die dafür sehr viel stärker sensibilisiert sind, um in eine persönliche Wertkrise und in Ich-Bezogenheit.

Pädagogische Anforderungen Die Frage ist, welche Anforderungen hier an die Schule zu stellen sind. In Bereichen der Sinnfmdung hat es die Schule relativ schwer. Sie kann mehr Moral oder mehr konstruktive Haltungen oder bessere Einsichten kaum direkt vermitteln. Zudem wäre dies dogmatisch, und es funktionierte auch nicht, wie die progressiven Söhne konservativer Eltern beweisen.

Lehrer können indes verschiedene Weltsichten, verschiedene Weltmodelle zeigen und im Geschichtsunterricht oder im Deutschunterricht diskutieren; sie können Alltagsgeschichte. Nachbarschaftsgeschichte und ähnliches stärker in den Schulalltag einbeziehen, den Unterricht mehr an Gruppenpädagogik orientieren, mehr Sozialerziehung betreiben und gegen Narzißmus, gegen fal-sehen, atomisierten Individualismus anarbeiten. Was können Lehrer darüber hinaus tun?

Der Bielefelder Jugendforscher Baacke propagiert das Konzept der retroaktiven Sozialisation, was eine Sozialisation meint, bei der Erwachsene von den Jugendlichen lernen. Dies ist sozusagen umgekehrte Sozialisation oder gegenseitige Erziehung; nicht nur die Jugendlichen lernen von uns, sondern auch wir lernen von den Jugendlichen. Als Beispiele dafür, wo wir von oder mit Jugendlichen lernen können, nennt Baacke: neue Stile und Moden, neue ästhetische Entwicklungen, neue Formen des politischen Engagements und neue Formen des Alltagslebens 4. Auflösung der Kernfamilie Als Kernfamilie bezeichnen Soziologen eine Lebensgemeinschaft, die aus einem verheirateten Eltempaar mit Kindern besteht. Nach den übereinstimmenden Prognosen der Familienforscher verliert diese Form der Lebensgemeinschaft an Verbreitung Seit Jahren schon sind rund ein Drittel aller Schulkinder Einzelkinder. Dies ist ein Anteil, - der offenbar stabil ist. Ein Drittel aller Schulkinder erlebt eine Scheidung ihrer Eltern. Dies ist ein Anteil, der deutlich im Steigen begriffen ist. Ferner haben 40 Prozent aller Schüler Mütter, die berufstätig sind. Auch dies ist ein Anteil, der zunimmt. Schließlich leben zwölf Prozent aller Kinder nur mit einem Elternteil, überwiegend nur mit der Mutter, zusammen. Die Zahl nichtehelicher Geburten wächst stark; in Schweden liegt sie schon bei fast 50 Prozent.

Außerdem geraten die Schülerinnen und Schüler unter zunehmenden Leistungsdruck. Denn fortgeschrittene Industriegesellschaften, in denen theoretisches Wissen mehr zählt als alles andere Wissen, sind Leistungsgesellschaften, in denen Leistung durch Examina und Zertifikate ausgedrückt wird. Ohne diese Zertifikate ist die Sicherung des Sozial-status kaum möglich, geschweige denn sozialer Aufstieg. Das Ziel von Kindererziehung ist unter diesen Bedingungen weniger das wohlgeratene oder zufriedene Kind, sondern das leistungsfähige Kind. Deshalb steht die Familie unter einem Erziehungsdruck, der historisch ohne Vorbild ist — und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die Familie immer mehr zerfällt und eine Alternative zur Familienerziehung sich noch nicht etabliert hat. Übererziehung und völlige Vernachlässigung von Erziehung sind die widersprüchlichen Folgen Die Leidtragenden dieser Entwicklung sind die Kinder und Jugendlichen, also die Schüler.'

Pädagogische Anforderungen Das stellt die Schule vor Erziehungsaufgaben, denen sie bislang nicht gewachsen ist. Die Wiedergewinnung des Erzieherischen ist fraglos eine Zukunftsaufgabe der Schule, deren Lösung ohne Unterstützung aus dem schulischen Umfeld überhaupt nicht möglich ist, also ohne Unterstützung aus der Nachbarschaft, den sozialen Einrichtungen, den Kirchen, der Stadt-und Landesentwicklung.

V. Soziales Lernen als Zukunftsperspektive

Für die Schule der neunziger Jahre öffnet sich eine Schere zwischen lebensweltfemem Unterricht einerseits und der Erosion der Lebenswelt der Schüler andererseits bzw. zwischen schulischem Unterricht, der nicht erzieht, und außerschulischer Erziehung. die nicht unterrichtet. Wenn diese Analyse zutrifft, dann sind in Zukunft Konzepte sozialen Lernens noch mehr gefragt als heute, also ganzheitliches Lernen, das die beiden Seiten der Schere zusammenhält, nämlich anspruchsvollen Unterricht und eine interessante, motivierende, schülerorientierte Erziehung.

Das Konzept sozialen Lernens wird in unterschiedlichen Versionen vertreten und ist darüber hinaus in sich widersprüchlich. Damit ist nicht die Differenz zwischen intentionalem und latentem sozialen Lernen gemeint, wobei letzteres ohnehin unvermeidlich ist, weil Lernprozesse als nicht-soziale gar nicht vorstellbar sind, sondern höchstens als un-soziale. Differenziert und widersprüchlich sind vielmehr die intentionalen Prozesse sozialen Lernens selbst, also die pädagogisch bewußt gewollten und mehr oder weniger systematisch geplanten. Dies wurde in den siebziger Jahren anhand des sozialen Lernens für Arbeiterkinder diskutiert. Im Anschluß an den Nachweis schichtenspezifischer Sozialisation und ebensolcher Auslese in allen Bildungseinrichtungen wurde soziales Lernen zunächst als soziale Integration gefordert, zum Teil in Form kompensatorischer Erziehung: Soziales Lernen sollte Arbeiterkindern helfen, Anschluß zu finden an die dominierende Schulsprache mit Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft harmonisch zusammenzuleben. Derartige Konzepte wurden bald als integrationistisch und als affirmativ kritisiert, und dieses auch zu Recht. Ihnen wurden kompliziertere Konzepte intentionalen sozialen Lernens gegenübergestellt, die allerdings unterschiedlicher Qualität waren: Die radikalste Kritik stellte ein Konzept proletarischer Sozialisation entgegen. Dahinter verbarg sich häufig ein bürgerliches Mißverständnis proletarischer Sozialisation, das mit Gegensozialisation mehr zu tun hatte als mit sozialem Lernen. So wenig es beim sozialen Lernen um naive Integrationskonzepte geht, genau so wenig ist dabei intendiert, eine Einseitigkeit durch eine andere auszutauschen. Intendiert ist vielmehr Vielfalt vor dem Hintergrund von Einheit bzw. Gemeinsamkeit.

Zukunftsträchtige Konzepte sozialen Lernens respektieren einerseits Unterschiedlichkeit und Vielfalt bis hin zu konfliktorischen Gegensätzen und betonen andererseits den gesamtgesellschaftlichen Sozialisationsauftrag von Schule, also ein bestimmtes Maß von Einheit in der und durch die Erziehung. Dabei geht es um die Schaffung entwicklungsfördernder Lernumwelten, um die Klärung der Lernbedingungen der Schüler im gesamtschulischen Kontext, um die Gleichheit von Bildungschancen, um die Befähigung der Lernenden zum Erkennen und Vertreten der eigenen Interessen in sozialen und politischen Konflikten sowie um mehr Selbst-und Mitbestimmungsrechte von Schülerinnen und Schülern, also um erweiterte gemeinsame soziale Erfahrung. Die Erfahrung, daß es völlig verschiedene Inhalte und Formen der Sozialisation gab und gibt, kann Schüler von unmittelbaren Zwängen der eigenen Sozialisation entlasten, sofern dabei deutlich wird, daß die entsprechenden Sozialisationsformen nicht als naturgegeben hingenommen werden müssen.

Soziales Lernen betont die Stärken bei den Schwachen. Soziales Lernen beinhaltet letztlich Solidarität, verstanden als eine Kultur der Auseinandersetzung vordem Hintergrund gegenseitiger Hilfe und Freundschaft.

Es ist sicherlich klar geworden, wie anspruchsvoll das Konzept der Vermittlung von Zukunftswissen und sozialem Lernen durch die Schule ist: Es handelt sich um eine Aufgabe, die sehr viel größer ist als die Ergänzung des Curriculums um Programmierkurse und auch größer ist als die verzweifelte Suche nach der Wiedergewinnung des Erzieherischen. Es wird schwer sein, diese Aufgabe zu erfüllen. Aber wenn es gelingt, wird die Schule zu einer zentralen Agentur zur Gestaltung einer humanen und sozialen Zukunft. Dann endlich erhält die Schule die große soziale Anerkennung, die sie längst verdient.

Fussnoten

Fußnoten

  1. David Lyon. The Information Society. Issues and Illusions. Oxford 1988.

  2. Arnd Sorge u. a.. Microelectronics and manpower in manufacturing, London 1981.

  3. Siehe Joachim Jens Hesse/Hans-Günter Rolff/Christoph Zöpel (Hrsg.). Zukunftswissen und Bildungsperspektiven, Baden-Baden 1988.

  4. Siehe Rolf von Lüde/Hans-Günter Rolff. Mit dem Computer leben. Ein Arbeitsbuch. Frankfurt 1989.

  5. Daniel Bell, The social framework of the information society, in: Tom Forrester (ed.), The microelectronics revolution, Oxford 1980.

  6. Siehe dazu Klaus Klemm/Hans-Günter Rolff/Klaus-Jür-gen Tillmann. Bildung für das Jahr 2000. Reinbek bei Hamburg 1985.

  7. Siehe Hans-Günter Rolff/Peter Zimmermann, Kindheit im Wandel, Weinheim 1985.

  8. Siehe Klaus Hurrelmann. Warteschleifen, Weinheim 1989.

  9. Heike Einspänner. Ich, in: Schulkultur. Beispiele aus Nordrhein-Westfalen, Eine Dokumentation, hrsg. von Gunter Reiß und Mechthild von Schoenebeck, Frankfurt/M. 1987.

  10. Dieter Baake, Jugend und Jugendkulturen, Weinheim 1987.

  11. Kurt Lüscher/Franz Schultheis/Michael Wehrspaun (Hrsg.). Die „postmoderne“ Familie. Konstanz 1989.

  12. Elisabeth Beck-Gemsheim. Mutterwerden — der Sprung in ein anderes Leben. Frankfurt/M. 1989.

Weitere Inhalte

Hans-Günter Rolff, Dr. rer. pol., Dipl. -Soziologe, geb. 1939; wissenschaftlicher Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Berlin; Leiter der Unterabteilung Planung des Berliner Senators für das Schulwesen; seit 1970 o. Professor für Schulpädagogik unter bes. Berücksichtigung der Bildungsplanung sowie Leiter des Instituts für Schulentwicklungsforschung der Universität Dortmund. Veröffentlichungen u. a.: Brennpunkt Gesamtschule, 1979; Soziologie der Schulreform, 1980; Schule im Wandel, 1984; (zus. mit P. Zimmermann) Kindheit im Wandel, 1985; (zus. mit K. Klemm und H. -J. Tillmann) Bildung für das Jahr 2000, 1985; Bildung im Zeitalter der neuen Technologien, 1988; (zus. mit R. v. Lüde) Mit dem Computer leben. Ein Arbeitsbuch, 1989; Hauptherausgeber des „Jahrbuchs der Schulentwicklung“; Mitherausgeber der „Zeitschrift für Sozialisationsforschung und Erziehungssoziologie“.