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Politische Dimensionen des europäischen Binnenmarktes | APuZ 24-25/1989 | bpb.de

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APuZ 24-25/1989 Perspektiven und Probleme des Gemeinsamen Marktes 1993 - Die Europäische Gemeinschaft 1993 Politische Dimensionen des europäischen Binnenmarktes Bundesdeutsche Interessen und gemeinsame Außenhandelspolitik der EG

Politische Dimensionen des europäischen Binnenmarktes

Michael Kreile

/ 30 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Ziel des Beitrags ist es. politische Voraussetzungen, Erfolgsbedingungen und Konsequenzen des Binnenmarktprojekts herauszuarbeiten und dabei EG-interne Konflikt-und Blockierungspotentiale sichtbar zu machen. Ausgangspunkt sind folgende Überlegungen: Mit dem Binnenmarktprogramm verbinden sich auf Seiten der Mitgliedsländer der Gemeinschaft unterschiedliche integrationspolitische Konzeptionen. Wirtschaftsstruktur. ordnungspolitische Ausrichtung, wirtschaftspolitische Prioritäten und europapolitische Leitbilder bestimmen die Interessen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die verschiedenen Elemente des Binnenmarktprogramms. Die Vollendung des Binnenmarktes setzt die Überwindung politischer und administrativer Schranken voraus, deren Bedeutung häufig nicht genügend beachtet wird. Nach einer Ortsbestimmung des Binnenmarktprogramms im Integrationsprozeß wird die Strategie des Weißbuchs analysiert und auf zwei unterschiedliche integrationspolitische Konzeptionen. Marktintegration und die Verzahnung von Markt-und Politikintegration, bezogen. Anschließend werden die nationalen Prioritäten der wichtigsten Mitgliedstaaten vorgestellt. Dabei wird deutlich, daß nationale Regierungen nicht ohne weiteres bereit sind, auf Kompetenzen und Steuerungsressourcen zu verzichten, ohne sich gegenüber den Folgen der Marktintegration rückversichern zu können. Ebenso wird gezeigt, daß das Binnenmarktprojekt einen Qualitätssprung in der transnationalen Verwaltungskooperation verlangt. Die bisherigen Fortschritte bei der Verwirklichung des Binnenmarktes dem Umstand zu verdanken sind, daß das Projekt den gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Zielvorstellungen bildet. Die Schwierigkeit der Binnenmarktpolitik liegt darin, daß sie der Legitimation im nationalen Rahmen bedarf, in dem sich heute politische Verantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit nicht mehr decken.

I. Einleitung

Kaum eine andere Initiative der EG-Kommission hat je eine so große öffentliche Resonanz gefunden wie das Programm, nach dem bis Ende 1992 der europäische Binnenmarkt als Raum ohne Binnengrenzen vollendet werden soll. Von den Mitgliedstaaten als Integrationsziel in der Einheitlichen Europäischen Akte verankert und inzwischen in Form von Kommissionsvorschlägen weitgehend konkretisiert. bestimmt das Binnenmarktvorhaben den Planungshorizont von Unternehmen, die Wirtschaftspolitik von Regierungen, die Sorgen der Gewerkschaften und die Europaberichterstattung in den Medien. Innerhalb wie außerhalb der Gemeinschaft hat das Binnenmarktprojekt schon bemerkenswerte Ankündigungseffekte ausgelöst: Wenn nationale Regierungen die Beschleunigung des Strukturwandels als zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe begreifen, wenn europaweit eine Welle von Unternehmensfusionen einsetzt, wenn die USA präventive Kritik an der „Festung Europa“ üben oder Mitgliedsländer der Europäischen Freihandelszone (EFTA) wie die Schweiz ihre nationale Gesetzgebung künftig auf die Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht prüfen, so steht dahinter jeweils die Überzeugung, daß das Datum 1992 eine ernstzunehmende Herausforderung bedeute und Maßnahmen zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit erzwinge. In die Aufbruchstimmung, die nicht zuletzt durch die Prognosen des Cecchini-Berichts genährt wird — danach wird der Binnenmarkt mittelfristig das Wirtschaftswachstum um 4, 5 Prozent steigern und 8 Mio. neue Arbeitsplätze schaffen 1) —, mischen sich freilich zunehmend Skepsis, Kritik oder Ablehnung derjenigen, die befürchten, daß der Binnenmarkt Arbeitnehmerrechte beschneiden, den Verbraucherschutz aushöhlen, strukturschwache Regionen noch weiter ins Abseits drängen und die Umwelt zusätzlich belasten wird. Der Konjunktur des Binnenmarktthemas in den Medien entspricht oft kein hinreichendes Verständnis der politischen Voraussetzungen. Erfolgsbedingungen und Konsequenzen der Verwirklichung des Binnenmarktes. Auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wird diese Dimension häufig vernachlässigt. Will man EG-interne Konflikte und Blockierungspotentiale angemessen erklären und die Bedingungen für deren Überwindung angeben, so hat man von folgenden Überlegungen auszugehen: — Der Binnenmarkt muß von zwölf Nationalstaaten verwirklicht werden, die sich nach Wirtschaftsstruktur, Entwicklungsniveau, ordnungspolitischer Ausrichtung und wirtschaftspolitischen Prioritäten teilweise beträchtlich unterscheiden. — Mit dem Binnenmarktprogramm verbinden sich auf Seiten der Mitgliedsländer der Gemeinschaft unterschiedliche integrationspolitische Konzeptionen, wobei insbesondere die „politische Finalität“ des Integrationsprozesses umstritten ist. — Die Strukturmerkmale und europapolitischen Leitbilder der Mitgliedstaaten bestimmen deren Interessen und Prioritäten im Hinblick auf die verschiedenen Elemente des Binnenmarktprogramms und prägen damit die Formulierung und Umsetzung der jeweiligen nationalen Binnenmarktstrategie. — Die Vollendung des Binnenmarktes setzt die Überwindung politischer und administrativer Schranken voraus und erfordert Neuerungen im Institutionengefüge der Gemeinschaft, wenn die Dynamik des Einigungsprozesses erhalten bleiben soll.

Dieser Beitrag soll zunächst die integrationspolitische Logik des Binnenmarktvorhabens verdeutlichen, indem die im Weißbuch der Kommission von 1985 niedergelegte Strategie analysiert und im Zusammenhang zweier unterschiedlicher Integrationskonzepte diskutiert wird. Anschließend wird für die größten Mitgliedstaaten gezeigt, welche national spezifischen Prioritäten sie mit dem Binnenmarkt-vorhaben verbinden und welche Auswirkungen des Binnenmarktes sie fürchten bzw. auszuschließen trachten. Schließlich werden die zu überwindenden politischen und administrativen Hemmnisse skizziert und institutioneile Konsequenzen des Binnenmarktes erörtert.

II. Die Strategie des Weißbuchs

1. Zur Ortsbestimmung des Binnenmarkt-programms im Integrationsprozeß In der Geschichte der europäischen Einigung lassen sich zwei Typen von Integrationsstrategien unterscheiden, die auch für die sozialwissenschaftliche Theoriebildung konstitutive Bedeutung gewonnen haben: die Strategiefunktionaler Integration, die an bereichsspezifische Kooperationsinteressen der Nationalstaaten anknüpft und daraufzielt, für einzelne Wirtschaftssektoren oder für nationale Volkswirtschaften insgesamt einen neuen Ordnungsrahmen zu schaffen, und die Strategie konstitutioneller Integration, die das Prinzip nationalstaatlicher Souveränität überwinden und einen europäischen Bundesstaat schaffen will. Die beiden Strategien unterscheiden sich nach dem Ausmaß des Souveränitätsverzichts, den die Nationalstaaten zu erbringen haben, und nach den Triebkräften und Trägem des Integrationsprozesses. Soweit der funktionale Ansatz auf Marktintegration setzt, macht er die Wirtschaftssubjekte selbst zu Trägern des Integrationsprozesses, der sich entfalten kann, sobald die Barrieren für den Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Produktionsfaktoren beseitigt worden sind. Entstehen soll dadurch eine Gemeinschaft von „Marktbürgern". Politikintegration als komplementäre Methode innerhalb der funktionalen Strategie bedeutet demgegenüber die Vergemeinschaftung einzelner Bereichspolitiken, die die Marktintegration stützen und gegen Renationalisierung und Desintegration absichern sollen. Ihre Träger sind in erster Linie nationale und supranationale Bürokratien. Obwohl die europäische Einigungsbewegung in den ersten Nachkriegsjahren ihre intellektuelle Ausstrahlung und ihren politischen Elan von den Föderalisten empfing, konnte sich der föderalistische Gedanke gegen die Schwerkraft der Realpolitik nicht durchsetzen. Angefangen mit der Gründung der Montanunion, stellt sich die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften als Erfolgsgeschichte des funktionalen Ansatzes dar. Die Föderalisten konnten zwar im supranationalen Institutionen-und Rechtssystem der Römischen Verträge einen „unvollendeten Bundesstaat“ sehen — so der Titel eines Buches von Walter Hallstein —, doch wurden sie in ihren Hoffnungen ebenso enttäuscht wie diejenigen Neofunktionalisten, die aus der postulierten Eigendynamik von Sachzwängen, Lernprozessen und Erfolgserlebnissen die Tendenz zu einem quasiföderalen System ableiteten.

Seit der Verwirklichung der Zollunion im Jahr 1968 haben Mitgliedstaaten und Organe der Gemein-schäft eine Reihe von Zielkonzeptionen formuliert und umzusetzen versucht, deren gemeinsamer Nenner das Streben nach einer Vertiefung der Integration ist. Dabei mußte es zwischen den Zielen „Vertiefung“ und „Erweiterung“ der Gemeinschaft zu Spannungen kommen, da die beiden Erweiterungsrunden die Heterogenität des Integrationsverbandes vergrößerten. Schon auf dem Haager Gipfel von 1969 setzten die Staats-und Regierungschefs der Gemeinschaft das Ziel, eine Wirtschaftsund Währungsunion zu errichten. 1972 faßten sie den Entschluß, „die Gesamtheit der Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten ... in eine Europäische Union umzuwandeln“ Zum besseren Verständnis des Binnenmarktprojekts ist es zunächst notwendig, daran zu erinnern, was mit dem Begriff der Wirtschafts-und Währungsunion gemeint war. Nach dem Bericht der Werner-Gruppe (1970) sollte bis zum Jahr 1980 (!) stufenweise folgender Zustand erreicht werden: Die Gemeinschaft sollte eine Zone freien Personen-, Güter-, Dienstleistungs-und Kapitalverkehrs bilden, in der Wettbewerbsverzerrungen ebenso vermieden werden sollten wie strukturelle und regionale Ungleichgewichte. Durch die Beseitigung der Bandbreiten der Wechselkurse und die unwiderrufliche Festsetzung der Paritäten sollte ein eigenständiger Währungsraum entstehen, in dem die Geldpolitik von einem gemeinschaftlichen Zentralbanksystem gesteuert würde. Schließlich sollte ein starkes wirtschaftspolitisches Entscheidungsgremium auf Gemeinschaftsebene geschaffen werden, das einem in seinen Kompetenzen aufgewerteten Europäischen Parlament verantwortlich sein sollte

Das Konzept der Wirtschafts-und Währungsunion folgte somit der Logik der funktionalen Politikintegration, erzeugte aber zugleich einen Bedarf an institutioneller Reform, der den Rahmen dieses Ansatzes sprengen mußte. Der Prioritätenstreit zwischen „Ökonomisten“ und „Monetaristen“ über den richtigen Weg zum anvisierten Ziel und mehr noch die weltwirtschaftlichen Krisenprozesse der siebziger Jahre brachten schon die erste Stufe der WWU, den Währungsverbund der sogenanntenWährungsschlange, zum Scheitern. Erst mit der Schaffung des Europäischen Währungssystems im Jahr 1979 gelang es, die währungspolitische Zusammenarbeit zu verstärken.

Es war das erste direkt gewählte Europäische Parlament, das im Bewußtsein seiner demokratischen Legitimation 1981 die verfassungspolitische Initiative ergriff. Unter der Führung Altiero Spinellis erarbeitete der Institutioneile Ausschuß des Parlaments den „Entwurf eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“ Der Entwurf bemächtigte sich dieses unscharfen Begriffs und füllte ihn, indem er ihn zum Signum für ein präföderales Institutionensystem machte. Im Februar 1984 mit einer Mehrheit von 237 Stimmen verabschiedet, wurde er in Form eines ratifizierungsbedürftigen Vertrags an die Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten weitergeleitet. Der Ehrgeiz des Europäischen Parlaments, als Motor der Integration zu wirken, stieß jedoch rasch auf die Grenzen, die ihm die Regierungen zogen.

Mit ihrem im Juni 1985 vorgelegten Weißbuch an den Rat, das den Titel „Vollendung des Binnenmarktes“ trägt, geriet die von Jacques Delors geführte Kommission in eine Situation, die durch die Blockierung verfassungspolitischer Reformentwürfe, die Zuspitzung von Verteilungskämpfen zwischen den Mitgliedstaaten und die Stagnation des Einigungsprozesses gekennzeichnet war. Die Kommission vollzog mit dem Weißbuch einen Strategiewechsel, der zum funktionalen Ansatz zurückführte. Zugleich gelang es ihr, ihre in den Verträgen verankerte, vom Rat immer stärker beschnittene Initiativfunktion zurückzugewinnen und der Gemeinschaft eine langfristige Perspektive zu eröffnen. Die Idee eines Wirtschaftsraums ohne Grenzen mit 320 Mio. Einwohnern, fähig, im technologischen Wettbewerb mit den USA und Japan zu bestehen, sollte einem verbreiteten Krisenbewußtsein entgegenwirken und einen Innovations-und Wachstumsschub auslösen, der dem Schlagwort von der Eurosklerose den Boden entziehen würde. Für die Delors-Kommission besaß das Binnenmarktprojekt gegenüber anderen möglichen Programmschwerpunkten — wie Haushalts-und Agrarreform, institutionellem Ausbau der Gemeinschaft, Wirtschafts-und Währungsunion — den Vorzug, daß es zukunftsweisend war.dem „Europa der Bürger“ zu dienen versprach, unter den Mitgliedstaaten auf keine prinzipiellen Widerstände stieß und den Gemeinschaftshaushalt nicht zu belasten schien Die herausragende politische Lei-stung der Kommission besteht darin, daß sie es verstanden hat, ein eindeutiges und verständliches Ziel — die Abschaffung der Binnengrenzen — zu formulieren, eine Fülle eher disparater technischer Maßnahmen in einem Aktionsprogramm zusammenzufassen und die Mitgliedstaaten für die zu seiner Umsetzung notwendigen Änderungen des EWG-Vertrags in der Einheitlichen Europäischen Akte zu gewinnen 2. Ziele und Instrumentarium des Weißbuchs Das Weißbuch der Kommission hat den erklärten Zweck, die „wesentlichen und logischen Folgen“ darzulegen, die sich aus der Selbstverpflichtung des Rates ergeben, den Binnenmarkt bis 1992 zu vollenden Bei der Zielvorgabe, bis Ende des Jahres 1992 alle Schranken abzuschaffen, die den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen behindern, handelt es sich auf den ersten Blick um nichts anderes als die Erfüllung der Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten schon im EWG-Vertrag eingegangen sind. Daß die vier „großen Freiheiten“ nur sehr lückenhaft verwirklicht wurden, hat verschiedene Ursachen: Die Schöpfer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft hatten den Akzent auf die Schaffung der Zollunion gelegt. Als Reaktion auf die Wirtschaftskrisen der siebziger und frühen achtziger Jahre gewannen nichttarifäre, Handelshemmnisse als Instrumente eines neuen Protektionismus zunehmend an Bedeutung, ebenso die Subventionierung strukturschwacher Unternehmen und Branchen, die den Wettbewerb verzerrte. Die Verpflichtung zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs war im EWG-Vertrag restriktiv formuliert worden, und die Durchsetzung der Niederlassungsfreiheit geriet bald zum Stellungskrieg mit berufsständischen Interessen, die von nationalen Regierungen wirkungsvoll vertreten wurden.

Der Zusammenschluß der zwölf Einzelmärkte der Mitgliedstaaten in einen einzigen Binnenmarkt erfordert nach dem Weißbuch die Beseitigung aller materiellen, technischen und steuerlichen Schranken, die den freien Verkehr behindern. Ökonomische Rationalität und europapolitische Symbolik gehen in der Begründung dieses Programms eine Verbindung ein. Die Abschaffung von Schranken, die nationale Märkte gegeneinander abschirmen, soll Kostensenkungen und steigende Skalenerträge (Wirtschaftlichkeitsvorteile vergrößerter Produktionsanlagen) bei den Unternehmen und Preissen- kungen bei den Verbrauchern ermöglichen. Wettbewerb, Innovation und Wachstum werden stimuliert und die Produktionsfaktoren dorthin gelenkt, wo ihr Einsatz am rentabelsten ist. Über den EWG-Vertrag hinaus geht das Weißbuch darin, daß es die Abschaffung der Grenzkontrollen fordert. Hierfür gibt es zwar auch ökonomische Gründe, doch steht für die Kommission eindeutig die Überlegung im Vordergrund, daß mit der Abschaffung aller Grenzkontrollen für den Bürger „der sichtbare Beweis für die andauernde Zersplitterung der Gemeinschaft“ beseitigt und ein Akt von hoher Symbol-kraft vollbracht würde. Die Grenzkontrollen sollen ohne Ausnahme abgeschafft werden, gleichgültig welche staatlichen oder administrativen Funktionen sie erfüllen — das Spektrum reicht von Einreise-und Paßkontrollen über Zollkontrollen bis hin zu Sicherheitskontrollen bei LKWs und zu statistischen Erhebungszwecken. Folglich müssen entweder die Kontrollen ersatzlos beseitigt oder die Kontrollen an den Binnengrenzen ins Inland verlagert bzw. durch andere Verfahren ersetzt werden Die politische Brisanz des Vorschlags liegt nicht zuletzt darin, daß davon auch Probleme der inneren Sicherheit und der Verbrechensbekämpfung (Terrorismus, Drogenhandel) berührt werden. Um die Abschaffung von Einreisekontrollen für Gemeinschaftsbürger zu ermöglichen, müssen nach Auffassung der Kommission die nationalen Waffen-und Drogengesetze einander angeglichen werden. Da „Nicht-EG-Bürger" (Weißbuch) ebenfalls in den Genuß größerer Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft kommen, sollen die EG-Länder ihre Asyl-und Visumspolitik vereinheitlichen und die Kontrollen an den Außengrenzen der Gemeinschaft verstärken.

Weil die unterschiedliche Höhe der indirekten Steuern in den EG-Ländem einen wesentlichen Grund für fiskalische Grenzkontrollen darstellt, hält die Kommission eine Harmonisierung der Mehrwertsteuer-und Verbrauchssteuersätze für nötig. Angesichts der starken Widerstände bei mehreren Mitgliedstaaten hat sie mittlerweile einen Richtlinienentwurf vorgelegt, der für die Mehrwertsteuer zwei Bandbreiten vorsieht — einen Normalsatz zwischen 14 und 20 Prozent und einen ermäßigten Satz und 20 Prozent und einen ermäßigten Satz zwischen vier und neun Prozent. Unter die Kategorie „technische Schranken“ fallen im Weißbuch ganz unterschiedliche Sachverhalte: Gesundheits-und Umweltschutzvorschriften, technische Normen oder die Bevorzugung nationaler Unternehmen im öffentlichen Auftragswesen ebenso wie Hindernisse im Dienstleistungs-und Kapitalverkehr. Als zukunftsträchtige Innovation gilt weithin die Abkehr der Kommission vom bisherigen Konzept der technischen Harmonisierung. Anstatt wie bisher in kräfteverzehrenden Verhandlungen zwischen der Kommission und nationalen Bürokratien detaillierte technische Spezifikationen für Industrieprodukte auszuhandeln oder gemeinschaftsweit die Tageszeiten für die Benutzung von Rasenmähern zu regeln, soll nunmehr ein „neuer Ansatz“ praktiziert werden: Es soll „deutlich unterschieden werden zwischen den Bereichen, in denen eine Harmonisierung unerläßlich ist, und den Bereichen, bei denen man sich auf eine wechselseitige Anerkennung der nationalen Regelungen und Normen verlassen kann“ 13). „Die Harmonisierung von Rechtsvorschriften . . . wird sich künftig darauf beschränken, zwingende Erfordernisse für Gesundheit und Sicherheit festzulegen, ... bei deren Beachtung ein Erzeugnis frei verkehren kann.“ 14) Die Ausarbeitung europäischer Industrienormen wird auf die bestehenden europäischen Normungsinstitutionen übertragen. Zur Erleichterung des Harmonisierungsverfahrens ist in die Einheitliche Europäische Akte eine Änderung des EWG-Vertrags aufgenommen worden, die bei der Angleichung von Rechtsvorschriften im Dienste des Binnenmarktes abweichend von Art. 100 Ratsentscheidungen mit qualifizierter Mehrheit ermöglicht.

Das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung erstreckt sich nicht nur auf den Warenverkehr, sondern wird auch auf den Dienstleistungsbereich und die Voraussetzungen der Niederlassung von Freiberuflern (Anerkennung von Hochschuldiplomen) ausgedehnt Wegen der wachsenden gesamtwirtschaftlichen Bedeutung des Dienstleistungssektors soll ein gemeinsamer Dienstleistungsmarkt entstehen, der sowohl die alten Dienstleistungen wie Banken. Versicherungen und Verkehr als auch die neuen Dienstleistungen wie Informationsvermarktung und audiovisuelle Dienste (gemeinschaftsweite Rundfunkzone) umfaßt. Um die Märkte für öffentliche Aufträge zu öffnen — bisher werden nur ca. zwei Prozent aller öffentlichen Aufträge an Unternehmen aus anderen EG-Ländern vergeben —, soll eine bessere Einhaltung bestehender Ausschreibungs-und Vergaberichtlinien sichergestellt werden. Ferner soll die Liberalisierung des öffentlichen Auftragswesens auf bisher ausgenommene Sektoren — nämlich Energie, Verkehr, Wasserwirtschaft und Fernmeldewesen — ausgedehnt werden. Die grenzüberschreitende Unternehmens-kooperation soll durch eine Angleichung des Ge- sellschaftsrechts erleichtert werden. Die integrationspolitische Bedeutung ihres Programms hat die Kommission folgendermaßen eingestuft: „Genauso wie die Zollunion der wirtschaftlichen Integration vorangehen mußte, muß auch die Wirtschaftsintegration der Europäischen Einheit vorangehen.“

Mit einer Liste von 300 Rechtsakten, die bis 1992 zu erlassen sind, hat die Kommission einen gewissen Entscheidungsdruck auf den Rat auszuüben versucht. Diese Liste wurde inzwischen auf 279 Vorschläge gekürzt, von denen die Kommission bis Ende 1988 ca. 90 Prozent vorgelegt hat. Nach dem Halbzeitbericht der Kommission hat der Rat bis Dezember 1988 über 108 Vorschläge eine politische Einigung erzielt. Da bis Ende 1992 auch die Rechtsakte der Gemeinschaft in nationales Recht umgesetzt werden sollen, kann die in der Einheitlichen Europäischen Akte ohne Rechtsverbindlichkeit festgelegte Frist für die Verwirklichung des Binnenmarktes — der 31. Dezember 1992 — nur eingehalten werden, wenn der Rat seine Arbeit beschleunigt und das Kooperationsverfahren vom Europäischen Parlament zügig durchgeführt wird. Fortschritte sind vor allem bei der Beseitigung technischer Hemmnisse im Güter-und Dienstleistungsverkehr sowie bei der Liberalisierung des Kapitalverkehrs erzielt worden. Wenig oder gar nicht vorangekommen sind hingegen die Angleichung der indirekten Steuern, die Beseitigung der Grenzkontrollen im Reiseverkehr und die Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit von Pflanzen und Tieren Schon auf der Tagung des Europäischen Rates in Hannover im Juni 1988 haben die Staats-und Regierungschefs jedoch die Überzeugung geäußert, daß der Prozeß der Verwirklichung des Binnenmarktes „nun so weit vorangeschritten ist, daß er unumkehrbar geworden ist“

III. Ordnungspolitik und Integrationsstrategien

Um den Preis einer gewissen Stilisierung lassen sich im Hinblick auf die integrationspolitische Dynamik des Binnenmarktvorhabens zwei Konzeptionen herausarbeiten. Sie unterscheiden sich vor allem danach, wie sie das Verhältnis zwischen Binnenmarkt und Gemeinschaftspolitiken definieren und welche institutionellen Konsequenzen sie daraus ableiten. Sie weisen aber auch Unterschiede in der ordnungspolitischen Orientierung auf. 1. Marktintegration Das erste Konzept läßt sich als liberales oder neoliberales Verständnis von Marktintegration charakterisieren. Danach soll die Entfesselung der Marktkräfte, die Stärkung von Innovation und Wettbewerb, ihre eigene Belohnung in sich tragen — in Form einer effizienteren Ressourcenallokation, höherer Wachstumsraten und steigender Beschäftigung. Unter diesem Blickwinkel erscheint das Binnenmarktvorhaben als das „größte Deregulierungsprojekt der modernen Wirtschaftsgeschichte“ (Narjes), als ein ordnungspolitisches Unternehmen, das auf Entstaatlichung zielt, oder gar als ein „Sieg der Gesellschaft über die Politik“ Der internationale Wettbewerb, so der Kieler Wirtschaftswissenschaftler Herbert Giersch, wird nicht nur die Entdeckung „neuen Wissens für Produkt-und Prozeßinnovationen“ fördern, er wird auch verstärkt ein Wettbewerb „der Produktionsstandorte und der Arbeitsplätze an diesen Orten“ sein. „Städte konkurrieren mit Städten, Regionen mit Regionen, Steuersysteme mit Steuersystemen. Ähnliches gilt für die Systeme der sozialen Sicherheit mit ihren Leistungen auf der einen Seite, ihren Zwangsabgaben auf der anderen . . . Der Standortwettbewerb wird . . ., so steht zu hoffen, in den öffentlichen Bereich hineinwirken, weniger als Anpassungszwang zwar, weil es ja hier kein Konkursrisiko gibt, wohl aber als Triebkraft beim Ansiedeln und Gründen neuer Unternehmen. Für eine populistische Umverteilungspolitik wird der innereuropäische Standortwettbewerb Grenzen sichtbar machen, und zwar deshalb, weil die Ansässigen daran interessiert sind, daß nur gute Steuerzahler angelockt werden.“ Der Wettbewerb wird aus dieser Sicht auch dafür sorgen, daß sich europaweit die qualitativ besten Produkte durchsetzen. Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Normen und Standards dient demnach nicht nur dem Wettbewerb, sondern hat auch „weitreichende Konsequenzen deshalb, weil es die Verbraucher für mündig erklärt und so auf ein Europa der Bürger zielt, nicht auf ein Europa von Staaten, die ihre Bürger— harmonisiert — bevormunden“ Aus liberaler Perspektive ist die Marktintegration eindeutig der Verstärkung der Politikintegration oder dem Ausbau der Gemeinschaftsinstitutionen vorzuziehen. 2. Verzahnung von Markt-und Politikintegration Ein zweites Konzept begreift den Binnenmarkt als Katalysator eines Prozesses der Politikintegration, der in letzter Konsequenz die Wirtschafts-und Währungsunion — nunmehr auf der Basis von zwölf Mitgliedstaaten — herbeiführen soll. Worauf es hier ankommt, ist die Verzahnung des Binnenmarktprojekts mit Gemeinschaftspolitiken, die dessen Durchsetzungschancen verbessern, Kompensationen für die erwartete ungleiche Verteilung von Gewinnen und Kosten des Binnenmarktes bieten und den neuen „acquis communautaire“, den Besitzstand der Gemeinschaft, sichern und ausbauen. Damit ist die Strategie der Delors-Kommission umschrieben Ihre wissenschaftliche Untermauerung hat sie im Bericht der Padoa-Schioppa-Gruppe gefunden, der unter dem Titel „Effizienz. Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit“ veröffentlicht worden ist Die Mitgliedstaaten haben diese Strategie zumindest deklaratorisch in der Einheitlichen Europäischen Akte verankert, die in ihrem den EWG-Vertrag ändernden Teil weitgehend auf Entwürfe der Kommission zurückgeht

Trotz der teilweise recht unverbindlichen Formulierungen enthalten die Vertragsergänzungen Zielbestimmungen, auf die sich Mitgliedstaaten zur Legitimation von Forderungen an die Partner berufen können. Neben Art. 8 a, der die Verwirklichung des Binnenmarktes betrifft, sind folgende Ergänzungen aufgenommen worden: ein nur aus einem Artikel (102 a) bestehendes Kapitel über die „Zusammenarbeit in der Wirtschafts-und Währungspolitik (Wirtschafts-und Währungsunion)“, Art. 118 a über die Verbesserung der Arbeitsumwelt, ein Titel „Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“, ein Titel über die Förderung der Forschung und technologischen Entwicklung sowie ein Titel zur Umweltpolitik der Gemeinschaft. Nach Auffassung des Kommissionspräsidenten Delors haben sich die Mitgliedstaaten damit einer weitgehenden Verpflichtung unterworfen: „Es ist die Verpflichtung, den großräumigen grenzfreien Markt, einen stärkeren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, eine europäische Forschungs-und Technologiepolitik, den Ausbau des Europäischen Währungssystems, den Ansatz eines europäischen Sozialraums und bedeutsame Aktionen auf dem Gebiet des Umweltschutzes gleichzeitig zu realisieren. Ich betone: gleichzeitig.“ Das im Februar 1988 vom Rat angenommene Delors-Paket hat daraus die operativen Konsequenzen für die Finanz-verfassung der Gemeinschaft gezogen: Maßnahmen zur Begrenzung der Agrarausgaben sollen Ressourcen für andere Gemeinschaftspolitiken freimachen, die Finanzierungsbasis der Gemeinschaft wird erweitert, und die Verdoppelung des Volumens der Strukturfonds bis 1993 soll den Wirkungsgrad der Regional-und der Strukturpolitik erhöhen.

Auch der Padoa-Schioppa-Bericht orientiert sich am Ziel einer ausgeglichenen Entwicklung des Gemeinschaftssystems. Die Gruppe geht von der These aus, daß die von der Gemeinschaft in den letzten Jahren verfolgten wirtschaftspolitischen Prioritäten — das Streben nach wettbewerbsfähigen Märkten und die Bemühungen um monetäre Stabilität im Rahmen des Europäischen Währungssystems (EWS) — nicht ausreichen. Vielmehr müßten zwei weitere Elemente hinzukommen: „eine gerechte Verteilung der Gewinne an wirtschaftlieher Wohlfahrt und . . . tatsächliche Wachstumserfolge“ Die „wichtigste Initiative der Gemeinschaft im Bereich der Allokation“, das Binnenmarktprogramm, müsse „ihr Gegengewicht in der Entwicklung von Politiken für die Bereiche der Stabilisierung und Verteilung finden“ Für die Geld-und Währungspolitik bedeutet dies, daß eine sehr viel stärkere Koordination entwickelt werden muß als im gegenwärtigen EWS. Der Grund dafür ist, daß vollständige Kapitalmobilität und feste oder beinahe feste Wechselkurse keine autonome nationale Geldpolitik mehr zulassen. Die Gruppe schlägt deshalb verschiedene Maßnahmen zur Weiterentwicklung des EWS vor, ohne jedoch schon den Übergang zu einer Währungsunion zu fordern. Denn bei einer unterschiedlichen Lohnpolitik der Gewerkschaften „würde eine Europäische Währungsunion diejenigen Länder vor schwierige Probleme stellen, deren internationale Wettbewerbsfähigkeit bisher von periodischen Abwertungen ihrer Währungen abhing“ Die Regionalpolitik der Gemeinschaft sieht die Gruppe vor eine „dreifache Herausforderung“ gestellt: Diese ergibt sich aus dem Binnenmarktprogramm, der größeren Heterogenität infolge der Süderweiterung und technologischen Entwicklungen. „Die Hoffnung auf das segensreiche Wirken der . unsichtbaren Hand'scheint im Lichte der Wirtschaftsgeschichte und -theorie, bezogen auf die reale Welt der regionalen Wirtschaftsentwicklung, bei Maßnahmen zur Öffnung der Märkte nur wenig begründet zu sein. Darüber hinaus zielt der Trend, der derzeit für die Entwicklung der Industriestruktur beobachtet werden kann — weitere Konzentration auf Spitzentechnologien —, insgesamt darauf ab. daß sich die Probleme weniger entwickelter und peripherer Regionen und von im Schrumpfungsprozeß befindlichen industriellen Gebieten verschärfen werden.“ Die Gemeinschaft müsse deshalb, so die Empfehlung, durch ihre Technologiepolitik die Wettbewerbsposition der Unternehmen gegenüber anderen Industriemächten stärken, aber auch den Bedürfnissen weniger entwickelter Regionen gerecht werden Währungspolitik. Regionalpolitik und Technologiepolitik sollen demnach die Kernbereiche gemeinschaftlicher Anstrengungen bilden. Sozial-und Arbeitsmarktpolitik hingegen in einzelstaatlicher Verantwortung verbleiben.

Die beiden hier vorgestellten Konzeptionen — die sich selbst tragende Marktintegration und die Verzahnung von Markt-und Politikintegration — sollten nicht einfach als Optionen interpretiert werden, zwischen denen man je nach ordnungspolitischen Präferenzen wählen kann. Vielmehr dienen sie dazu, Reichweite, Konsequenzen und Realisierungsbedingungen des Binnenmarktes zu erhellen. Die liberale Konzeption setzt auf die Risikobereitschaft der Marktteilnehmer und Regierungen. Sie kann darauf verweisen, daß in den achtziger Jahren zwischen den großen westeuropäischen Staaten eine Annäherung ordnungspolitischer Positionen stattgefunden hat, die sich in parallel verlaufenden Prozessen der Deregulierung und Privatisierung, der Herausbildung einer neuen Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat, spiegelt. Sie hat den Vorzug, daß sie keine verfassungspolitischen Kontroversen heraufbeschwört und nationale Souveränität einer Subversion durch Marktkräfte aussetzt, anstatt sie durch Verträge zu beschneiden. Die Schwäche dieser Konzeption liegt darin, daß sie verkennt, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, daß der Binnenmarkt eine staatliche bzw. zwischenstaatliche Angelegenheit ist.

Eine Strategie der reinen Marktintegration birgt das Risiko des Scheiterns, da sie kein Rezept für die politische Bewältigung der Kosten bietet, die die Intensivierung des Wettbewerbs und der Abbau des Interventionsstaates mit sich bringen. Zu den politisch wirksamen Kosten zählen u. a. die Eliminierung oder Schrumpfung wettbewerbsschwacher Unternehmen und die damit einhergehenden Arbeitsplatzverluste, die sich in bestimmten Regionen und Sektoren konzentrieren können; ebenso gehört dazu die nach Regionen und Mitgliedstaaten differierende Nutzenverteilung; schließlich auch die Einschränkung staatlicher Eingriffsmöglichkeiten in politisch sensitiven Bereichen wie Gesundheits-, Verbraucher-und Umweltschutz Damit soll nicht etwa geleugnet werden, daß auf der Ebene der Gemeinschaft der Nutzen des Binnenmarktes mittelfristig überwiegen dürfte wohl aber gilt es zu beachten, daß die politische Bezugsgröße für Kosten-Nutzen-Rechnungen der Nationalstaat bleibt. 3. Die Einheitliche Europäische Akte als Rückversicherungsvertrag Während die Kommissionsstrategie sich darauf konzentriert, durch die Verknüpfung des Binnenmarktprojekts mit einem Komplex von Gemeinschaftspolitiken Kompensationen und Anreize zu schaffen, die sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Sozialpartner — gemeint sind hier in erster Linie die Gewerkschaften — für Integrationsfortschritte gewinnen sollen, haben sich die Mitgliedstaaten gegen Risiken und Kosten der Marktintegration durch Ausnahmeregelungen und Rückzugs-möglichkeiten abgesichert. Maßgebend ist hier die Einheitliche Europäische Akte (EEA). Zwar können nach Art. 100 a Abs. 1 EWG-Vertrag — wie schon erwähnt — binnenmarktbezogene Angleichungen der Rechts-und Verwaltungsvorschriften vom Rat mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden, doch werden in Abs. 2 Bestimmungen über Steuern und über Freizügigkeit und Rechte der Arbeitnehmer davon ausgenommen. Abs. 4 öffnet nationalen Alleingängen die 'für, indem er Mitgliedstaaten das Recht einräumt, trotz einer Harmonisierungsentscheidung des Rates einzelstaatliche Bestimmungen anzuwenden, wenn diese durch Erfordernisse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, zum Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen, Tieren oder Pflanzen oder zum Schutz der Arbeitsumwelt und der Umwelt gerechtfertigt sind. Dabei darf allerdings keine willkürliche Diskriminierung oder verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten vorliegen.Nach Art. 8 b gilt für die Verwirklichung des Binnenmarktes, daß der Rat die Leitlinien und Bedingungen festlegt, „die erforderlich sind, um in allen betroffenen Sektoren einen ausgewogenen Fortschritt zu gewährleisten“. Pierre Pescatore, ehemaliger Richter am Europäischen Gerichtshof, hat dies so kommentiert: „Das hört sich schön an, aber juristisch gesehen kann dieses Erfordernis keine andere Wirkung haben, als sämtliche Probleme miteinander zu verquicken und im Rat die übelsten Methoden der Diplomatie aufrechtzuerhalten, die man mit dem Namen Quid Pro Quo, Package Deal und Junctim zu bezeichnen pflegt.“ Eben darin — so läßt sich argumentieren — liegt jedoch eine wesentliche Bedingung für den Erfolg eines in mancher Hinsicht umwälzenden Projekts. Paketgeschäfte, die nichts anderes sind als Mittel des Interessenausgleichs zwischen Verhandlungspartnern mit komplexen Zielfunktionen, haben in der EG Tradition. Auch weitere Fortschritte bei der Umsetzung des Binnenmarktprogramms dürften das Ergebnis von Aushandlungsprozessen sein, die der Logik politikfeldübergreifender Kompromisse folgen. In diesem Zusammenhang sei nur daran erinnert, daß die iberischen Länder sowie Griechenland und Irland ihre Mitwirkung von einem verstärkten Ressourcentransfer über den Gemeinschaftshaushalt abhängig gemacht haben — das Code-Wort hierfür heißt „wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt“. Sicher haben diejenigen nicht ganz unrecht, die in der EEA eine Charta zum Schutz nationaler Interessen sehen oder befürchten, daß die Schutzklauseln zu einer Lähmung des Beschlußverfahrens im Rat führen können Ebenso zutreffend wie trivial ist auch, daß eine Veto-Koalition von 23 aus 76 Stimmen leichter zu bilden ist als eine qualifizierte Mehrheit von 54 Stimmen. Doch bedeutet der Übergang zur Mehrheitsentscheidung — gemessen an der bisherigen Praxis — eine wichtige Verfahrenserleichterung. Unter günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mögen über Kompromisse und Junktims Integrationsschübe Zustandekommen, die längerfristig nicht nur die europäische Wirtschaft, sondern auch das Institutionen-system der Gemeinschaft verwandeln. Freilich kann die Überfrachtung des Binnenmarktvorhabens mit Kompensationsansprüchen, Konditionen und Kautelen auch die Marktintegration blockieren und die Gemeinschaft in Stagnation auf höherem Niveau verharren lassen. Hiermit ist insbesondere dann zu rechnen, wenn schmerzhafte wirtschaftliche und soziale Anpassungsprozesse innenpolitische Widerstände in den betroffenen Staaten provozieren.

IV. Nationale Prioritäten im Hinblick auf den Binnenmarkt

Das liberale Konzept der Marktintegration deckt sich weitgehend mit den Zielvorstellungen der britischen Regierung, die das ordnungspolitische Leitbild ihrer nationalen Wirtschaftspolitik auf die Ebene der Gemeinschaft projiziert. Der im nationalen Rahmen eingeleitete Deregulierungsprozeß soll eine internationale Dimension bekommen und sich auch auf die Arbeitsmärkte der Partnerländer erstrecken. Wettbewerbsvorteile Großbritanniens sieht die Regierung Thatcher insbesondere auf dem Dienstleistungssektor, wo sie einen Liberalisierungsvorsprung für sich in Anspruch nehmen kann: „Großbritannien ist führend in der Öffnung seiner Märkte für andere. Die City of London ist schon lange offen für Finanzhäuser aus aller Welt — der Grund, weshalb sie das größte und erfolgreichste Finanzzentrum Europas ist. Wir haben unseren Markt für Telekommunikationsausrüstungen geöffnet, Wettbewerb im Services-Markt zugelassen und sogar im Fernmeldenetz selber — Schritte, die andere europäische Länder erst gerade in Erwägung ziehen. Im Flugverkehr haben wir in puncto Liberalisierung die Führung übernommen und die Vorteile in Gestalt niedrigerer Flugpreise und eines größeren Angebots kennengelernt.“ Die liberale Wirtschaftsphilosophie verträgt sich jedoch durchaus mit dem Festhalten an traditionellen staatlichen Ordnungsmitteln. Der gesunde Menschenverstand, so die Premierministerin in ihrer Brügge-Rede, gebiete es, „daß wir nicht völlig auf Grenzkontrollen verzichten können, wenn wir unsere Bürger auch schützen und Drogen, Terroristen und illegale Einwanderer stoppen sollen“

Eine weitreichende Verlagerung wirtschafts-und sozialpolitischer Kompetenzen auf die Ebene der Gemeinschaft lehnt die britische Regierung entschieden ab. Hier verbindet sich ordnungspolitisches Sendungsbewußtsein mit der traditionellen britischen Abneigung gegenüber supranationalen Institutionen. Man habe nicht „die Grenzen staatli-eher Einmischung“ in Großbritannien erfolgreich zurückgedrängt, „nur um hinterher festzustellen, daß diese auf europäischer Ebene wieder aufgerichtet wurden, unter einem Superstaat mit neuer Vormachtstellung in Brüssel“ Der Vorschlag eines europäischen Sozialraumes gilt der Regierung Thatcher als Vehikel für die Rückkehr zu einem korporativen Sozialismus Die Harmonisierung der indirekten Steuern hält sie für überflüssig und Plänen einer institutionell verankerten Wirtschafts-und Währungsunion hat sie eine Absage erteilt.

In Frankreich sind sich die sozialistische Regierung und die bürgerlichen Oppositionsparteien weitgehend darin einig, wie die französischen Interessen im Hinblick auf die Chancen und Risiken des Binnenmarktes zu definieren sind. Der Binnenmarkt wird als ein Instrument zur Modernisierung der Volkswirtschaft angesehen Das Programm der Marktintegration wird jedoch nur unter der Bedingung akzeptiert, daß deren Folgen durch Gemeinschaftspolitiken gedämpft oder kontrolliert werden und Europa in die Lage versetzt wird, nach außen als handlungsfähige Wirtschaftsmacht aufzutreten. Sorgen bereiten vor allem die Harmonisierung der indirekten Steuern, die Liberalisierung des Kapitalverkehrs, die außenwirtschaftlichen Grenzen für eine aktive Wachstumspolitik und die Konkurrenz von Drittlandsunternehmen unter den Bedingungen des Binnenmarktes.

Nach einem Bericht der Wirtschaftskommission des Senats wirft die Steuerpolitik für Frankreich die schwierigsten Probleme auf. Mit seinem hohen Anteil indirekter Steuern an den Staatseinnahmen und seiner besonders strengen Finanzverwaltung weiche das französische Steuersystem am stärksten vom Durchschnitt der Gemeinschaft ab. Eine Harmonisierung nach den Vorschlägen der EG-Kommission hätte hohe Einnahmeausfälle zur Folge. Für Frankreich gebe es nur eine Priorität: die Harmonisierung der Besteuerung von Spareinlagen Bei freiem Kapitalverkehr und sehr unterschiedlicher Besteuerung von Ersparnissen könne eine „Delokalisierung“ (Verlagerung) der nationalen Ersparnis mit katastrophalen Folgen für Zinsniveau und Investitionen eintreten Frankreich hat zwar der Liberalisierung des Kapitalverkehrs zum 1. Juli 1990 zugestimmt, nicht zuletzt um Paris als Finanzplatz aufzuwerten, geht aber davon aus, daß eine Einigung über eine EG-weite Quellensteuer und über Maßnahmen zur Eindämmung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht zur Geschäftsgrundlage gehören.

Nach dem Senatsbericht sollte Frankreich nicht davon träumen, daß der Binnenmarkt den französischen Unternehmen eine Gemeinschaftspräferenz garantieren könne, vergleichbar derjenigen, die den Bauern durch die Gemeinsame Agrarpolitik gewährt wird. Doch müsse Frankreich darauf achten, daß die Gemeinschaft sich nicht ohne Gegenleistungen den Erzeugnissen und Unternehmen aus Drittländern öffne. Es gelte vielmehr, Handelsvorteile auf der Basis der Gegenseitigkeit zu gewähren, die europäische Identität im Bereich der Industrie-normen zu bekräftigen, Sonder-bzw. Übergangsregelungen für empfindliche Sektoren (Automobile, Telekommunikation, Textilien) mit den Handels-partnern zu vereinbaren und die Verhandlungsvollmachten der Kommission zu stärken Innerhalb der Gemeinschaft solle das Wirtschaftswachstum durch eine bessere Koordination der nationalen Wirtschaftspolitiken und die Lockerung außenwirtschaftlicher Anpassungszwänge gestützt werden. Als Ergänzung des Binnenmarktes müsse ein „gemeinsamer Markt der außenwirtschaftlichen Salden“ geschaffen werden — gemeint ist damit wohl in erster Linie die Vergemeinschaftung von Leistungsbilanzdefiziten und -Überschüssen —, denn es sei bei freiem Verkehr von Gütern, Dienstleistungen und Kapitalien anachronistisch, den Austausch innerhalb der Gemeinschaft als Außenhandel zu verbuchen

Auch für Italien ist die Harmonisierung der indirekten Steuern ein schwieriges Problem, da eine Verringerung der fiskalpolitischen Spielräume angesichts hoher Haushaltsdefizite besonders riskant ist Die Herstellung des freien Kapitalverkehrs erfordert nach Auffassung der Zentralbank eine enge Koordinierung der Geld-und Währungspolitik und die Festlegung geld-oder kreditpolitischer Ziele auf der Ebene der Gemeinschaft, wenn eine Gefährdung stabiler Wechselkurse durch spekulative Kapitalbewegungen vermieden werden soll Wegen des Entwicklungsgefälles zwischen Nord-und Süditalien, das sich in den letzten Jahren wieder stärker ausgeprägt hat, ist Italien auch an der regionalpolitischen Flankierung des Binnenmarktes interessiert.

Das Binnenmarktprogramm der Bundesrepublik stimmt weitgehend mit dem Kommissionskonzept einer ausgewogenen Gemeinschaftsentwicklung überein. Engere Kooperation in der Wirtschaftspo-litik und institutioneller Ausbau der Gemeinschaft werden als notwendige Ergänzung der Marktöffnung angesehen. Das ordnungspolitische Credo der Bundesregierung schließt die soziale Dimension des Binnenmarktes nicht aus — und sei es nur, um die Akzeptanz des Projekts durch die Gewerkschaften zu gewährleisten. Die Bundesregierung hat sich für die Steuerharmonisierung ausgesprochen, ohne die Kommissionsvorschläge in der vorliegenden Form zu übernehmen. Starke Vorbehalte bestehen jedoch gegenüber dem Drängen Frankreichs und Italiens, die notwendige Intensivierung der währungspolitischen Zusammenarbeit müsse durch die Errichtung einer Europäischen Zentralbank gekrönt werden. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Autonomie der Bundesbank bzw. die Kontinuität einer stabilitätsorientierten Geldpolitik. Bundesregierung und Bundesbank plädieren dafür, zuerst den freien Kapitalverkehr zu verwirklichen und alle Mitgliedsländer in das Europäische Währungssystem einzubeziehen, bevor der Aufbau eines Europäischen Zentralbanksystems nach dem Vorbild der Bundesbank in Angriff genommen wird

V. Institutionelle und administrative Probleme des Binnenmarktes

Wie die Länderbeispiele zeigen, sind nationale Regierungen nicht ohne weiteres bereit, Kompetenzen und Steuerungsressourcen auf dem Altar des Minimalstaates zu opfern. Trotz der Annäherung ordnungspolitischer Positionen weisen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft weiterhin beträchtliche Unterschiede hinsichtlich des Umfangs und der Eingriffsdichte staatlicher Intervention in der Wirtschaft auf. Die Bestimmung dessen, was Staatsaufgaben sind, ist durch historische Entwicklungspfade und ideologische Traditionen vorgegeben und läßt sich kaum EG-weit nivellieren. Werden die Instrumente der Geld-und Währungspolitik bei fortschreitender Marktintegration stumpfer, so erhöht dies die Bedeutung der Fiskalpolitik. Es kann daher nicht überraschen, daß gerade die steuerpolitischen Kommissionsvorschläge bei mehreren Mitgliedstaaten auf besonders harten Widerstand stoßen. Schließlich ist bei der Steuerpolitik auch die Budgethoheit der Parlamente betroffen. Aus der Sicht nationaler Parlamente muß zudem generell die Verlagerung von weiteren Kompetenzen in die Bürokratie der Kommission und das Ausschußsystem des Rates als Verlust an demokratischer Legitimation erscheinen, dem kein Zuwachs an demokratischer Willensbildung auf der Ebene der Gemeinschaft entspricht. Das Kooperationsverfahren nach Art. 149 EWG-Vertrag, das den Stellungnahmen des Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren mehr Gewicht verleiht bietet hier keinen ausreichenden Ersatz.

Wenig beachtet wird in der Binnenmarktdiskussion die Tatsache, daß es nationale Verwaltungen sind, die die Umsetzung von Rechtsakten der Gemeinschaft in nationales Recht vorbereiten und dieses anzuwenden haben. Nationale Verwaltungen wiederum stehen häufig in Klientelverhältnissen mit Unternehmen oder Verbänden (so die Post-und Fernmeldeverwaltungen mit Unternehmen des Telekommunikationssektors), die durch ein hohes Maß an institutionalisierter Kooperation gekennzeichnet sind. Nichttarifäre Handelshemmnisse, die den innergemeinschaftlichen Waren-und Dienstleistungsverkehr beschränken, sind oft das Produkt solcher Netzwerke „administrativer Interessenvermittlung“ In der Sprache des Cecchini-Berichts handelt es sich dabei um „ökonomischen Inzest“ dem das Binnenmarktprogramm ein Ende machen will. Dennoch mag man daran zweifeln, daß nationale Regierungen und Verwaltungen sich ohne Widerstand ihrer Einflußmöglichkeiten begeben und damit begnügen werden, einen Leistungsund Standortwettbewerb der Staaten und Regionen allein mit marktkonformen Mitteln zu bestreiten.

Bei den Vorschlägen des Weißbuchs zur Beseitigung materieller, technischer und steuerlicher Schranken fällt auf, daß sie in vielen Fällen ein hohes Maß an Vertrauen und Kooperation zwischen Verwaltungsbehörden verschiedener Länder erfordern — dies gilt für die wechselseitige Anerkennung von nationalen Gesundheitsvorschriften und Qualitätsnormen ebenso wie für die Durchführung von Sicherheitskontrollen oder das Funktionieren eines EG-weiten Mehrwertsteuer-Verrechnungssystems Nationale Unterschiede in der Leistungsfähigkeit und Kontrollkapazität von Verwaltungen oder auch nur die Annahme, daß solche bestehen, sind geeignet, die notwendige transnationale Verwaltungskooperation von vornherein zu belasten. Man braucht dabei gar nicht auf mediterrane Verwaltungen zu deuten. Die deutsche Ver-waltungspraxis liefert genügend Beispiele dafür, daß Behörden im Konflikt zwischen Produzenten-interesse und Verbraucherschutz diesen nicht selten hintanstellen. Ausdruck des Mißtrauens gegenüber der Leistungsfähigkeit transnationaler Verwaltungskooperation sind Vorschläge, die auf die Errichtung zentraler europäischer Behörden zielen — sei es ein Europäisches Kriminalamt nach dem Modell des FBI, eine europäische Umweltbehörde oder ein Korps europäischer Steuerinspektoren. Solche Einrichtungen hätten vermutlich in besonderem Maße mit der Resistenz nationaler Verwaltungen zu kämpfen.

Die Kontrolle nationalen Verwaltungshandelns stellt wachsende Anforderungen an die Überwachungskapazität der Kommission. Auch dem Europäischen Gerichtshof fällt eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung des Binnenmarktprogramms zu. Letztlich hängt der Erfolg des Binnenmarktes im Sinne der Kommissionsstrategie jedoch entscheidend davon ab, ob die Mitgliedstaaten bereit sind, den Zusammenhang von Markt-und Politikintegration als zwingend anzuerkennen und für die Entwicklung und Legitimation von Gemeinschaftspolitiken institutionelle Lösungen zu akzeptieren, die über die kleinen Schritte der Einheitlichen Europäischen Akte hinausgehen Die aktuelle Debatte über den Weg zur Wirtschafts-und Währungsunion und den Zuschnitt eines Europäischen Zentralbanksystems, in der sich der Streit der siebziger Jahre über den Vorrang von Währungsintegration oder wirtschaftlicher Konvergenz wiederholt, gibt Grund zur Skepsis.

Anstöße zur Klärung des institutioneilen Selbstverständnisses der Gemeinschaft gehen auch von den Außenwirkungen des Binnenmarktes aus. Diese reichen weit über den Problemhorizont der Handelspolitik und den vielfach diskutierten Gegensatz von Marktöffnung und Protektionismus hinaus und verlangen von den Organen der Gemeinschaft auf längere Sicht eine umfassende Konzeption für die künftige Gestaltung der Außenbeziehungen. Der Beitrittswunsch Österreichs und die Gestaltung des künftigen Verhältnisses zu den EFTA-Staaten geben Anlaß zu präzisieren, was die Gemeinschaft unter einer Europäischen Union verstehen möchte Dies ist auch deshalb von Bedeutung, weil ordnungs-und integrationspolitische Positionsunterschiede unter den Mitgliedstaaten von Dritt-ländern genutzt werden können, um innerhalb der Gemeinschaft Verbündete für ihre Interessen zu finden und auf die Richtung und Geschwindigkeit innergemeinschaftlicher Wandlungsprozesse einzuwirken.

VI. Schluß

Fortschritte bei der Verwirklichung des Binnenmarktvorhabens sind bisher dadurch erleichtert oder gar erst ermöglicht worden, daß das Projekt 1992 den gemeinsamen Nenner ganz unterschiedlicher Zielvorstellungen bildet, läßt es sich doch offenbar ebenso gut als Deregulierungsprogramm wie als Zwischenstation auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat interpretieren. Zu den Bedingungen seiner Konsensfähigkeit gehört auch, daß es nicht als ein Nullsummenspiel erscheint und jeder Mitgliedstaat für sich die Chance einer positiven Bilanz von Nutzen und Kosten, von Modemisierungserträgen und Anpassungslasten sieht. Freilich wird die Offenheit des Zielhorizonts in dem Maße eingeschränkt, wie das Programm in die Wirklichkeit umgesetzt und den Gesetzen gemeinschaftlicher Entscheidungsprozesse unterworfen wird. Angesichts der Heterogenität der Gemeinschaft und der sich daraus ergebenden Kompromißzwänge ist es unwahrscheinlich, daß sich über den Binnenmarkt ordnungspolitische Doktrinen oder integrationspolitische Visionen in Reinkultur verwirklichen lassen. Solange der Nationalstaat die zentrale Arena bleibt, in der politische Legitimität und Macht erworben werden, hat er auch als Wirtschaftseinheit noch nicht ausgedient. Binnenmarkt-politik steht deshalb vor einer doppelten Herausforderung: Sie bedarf der Akzeptanz im nationalen Rahmen, wo sich politische Verantwortlichkeit und Handlungsfähigkeit nicht mehr decken. Und sie mag nur dann ihre Ziele erreichen, wenn der europäische Einigungsprozeß durch andere Motivationskräfte und Legitimationsideen vorangetrieben wird, als sie das Versprechen höherer Wachstumsraten oder die Logik technokratischer Steuerungsmodelle bieten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Paolo Cecchini, Europa ‘ 92. Der Vorteil des Binnenmarktes, Baden-Baden 1988, S. 130 ff.

  2. Walter Hallstein. Der unvollendete Bundesstaat. Düsseldorf-Wien 1969.

  3. Schlußdokument der Pariser Gipfelkonferenz vom Oktober 1972. in: Europäisches Parlament, Institutioneller Ausschuß. Sammlung der institutionellen Dokumente der Gemeinschaft von 1950 bis 1982, Luxemburg 1982, S. 231, zit. nach Wolfgang Wessels, Die Debatte um die Europäische Union — Konzeptionelle Grundlagen und Optionen, in: Werner Weidenfeld/Wolfgang Wessels (Hrsg.), Wege zur Europäischen Union. Vom Vertrag zur Verfassung?, Bonn 1986, S. 37 (s. a. S. 54, Anm. 3).

  4. Vgl. die Entschließung des Rates vom 22. März 1971, in: R. Hellmann/B. Molitor (Hrsg.), Textsammlung zur Wirtschafts-und Währungsunion der EG, Baden-Baden 1973, S. 46f.

  5. Zum Prioritätenstreit vgl.den Artikel von Horst Werner in diesem Heft, S. 8.

  6. Text in W. Weidenfeld/w. Wessels (Anm. 3), S. 81-106.

  7. Vgl. Helmut Schmitt von Sydow, The Basic Strategies of the Commissions’s White Paper, in: Roland Bieber u. a. (Hrsg.), 1992: One European Market? A Critical Analysis of the Commission’s Internal Market Strategy, Baden-Baden 1988, S. 86 f.

  8. Vgl. Jacques Pelkmans, A Grand Design by the Piece? An Appraisal of the Internal Market Strategy, in: R. Bieber (Anm. 7), S. 359-383, S. 359ff.

  9. Kommission.der Europäischen Gemeinschaften, Vollendung des Binnenmarktes. Weißbuch der Kommission an den Rat. Luxemburg 1985, S. 4.

  10. Vgl. zu diesem Begriff den Artikel von H. Werner in diesem Heft, S. 3.

  11. Ebd., S. 9; vgl. J. Pelkmans (Anm. 8), S. 362.

  12. Im Bereich der Warenkontrollen würde dies beispielsweise bedeuten, daß nationale Einfuhrkontingente gegenüber Drittländern aufzuheben sind. Veterinär-und Lebensmittelkontrollen wären am Versandort durchzuführen, Außenhandelsstatistiken nicht mehr anhand von Warenbegleitdokumenten, sondern nach Meldungen der Unternehmen zu erstellen.

  13. Ebd.; vgl. Thomas Bruha, Rechtsangleichung in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Deregulierung durch „Neue Strategie“? in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, 46 (1986), S. 1— 33.

  14. Vgl. H. Schmitt von Sydow (Anm. 7), S. 93f.

  15. Weißbuch (Anm. 9), S. 52.

  16. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Vollendung des Binnenmarktes: ein Raum ohne Binnengrenzen. Bericht über den Stand der Arbeiten gemäß Art. 8 b des EWG-Vertrages, Luxemburg 1989, S. 3.

  17. Vgl. ebd., S. 4 ff,

  18. Vgl. ebd., S. 1.

  19. In diesem Sinn Alain Mine, La grande illusion, Paris 1989, S. 102.

  20. Herbert Giersch, Der EG-Binnertmarkt als Chance und Risiko (Kieler Diskussionsbeiträge, 147), Kiel 1988, S. 10f.; vgl. auch Horst Siebert, Bestreitbare Märkte in Europa, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. April 1989, S. 15.

  21. H. Giersch (Anm. 21), S. 13; vgl. Klaus-Dieter Schmidt, Europas wundersame Wohlstandsmehrung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 1989. S. 13: „Nach der ökonomischen Theorie der Integration besteht die Aufgabe von internationalen Organisationen darin, den Privaten einen möglichst großen Freiraum zu wirtschaftlicher Betätigung zu verschaffen und gegenüber Beschränkungen durch nationales Recht zu verteidigen. Dann (und nur dann) betätigen sie sich produktiv im ökonomischen Sinne.“

  22. Nach Peter Ludlow, Beyond 1992. Europe and its Western Partners (CEPS Paper Nr. 38), Brüssel 1989, S. 53 ist das Binnenmarktprogramm von Anfang an nicht als Selbstzweck verstanden worden, sondern von der Delors-Kommission als politisches Instrument zur Überwindung der Stagnation des Einigungsprozesses konzipiert worden.

  23. Vgl. Tommaso Padoa-Schioppa u. a., Effizienz, Stabilität und Verteilungsgerechtigkeit. Wiesbaden 1988.

  24. Vgl. Claus-Dieter Ehlermann, Die Beschlüsse des Brüsseler Sondergipfels: Erfolg einer Gesamtstrategie der Delors-Kommission, in: Integration, (1988) 2, S. 57.

  25. Zit. nach EG-Nachrichten Nr. 3/1988, S. 4 (Rede vor dem Europäischen Parlament vom 18. Februar 1987).

  26. Padoa-Schioppa u. a. (Anm. 24), S. 4.

  27. Ebd., S. 6.

  28. Ebd., S. 81.

  29. Ebd., S. 8.

  30. Vgl. ebd., S. 66.

  31. Vgl. Fritz Franzmeyer, Was kostet die Vollendung des europäischen Binnenmarktes? Eine Bewertung aus wirtschaftlicher, sozialer und politischer Sicht, in: Konjunkturpolitik. 33 (1987) 3, S. 146-166.

  32. Vgl. ebd., S. 151.

  33. Pierre Pescatore, Die „Einheitliche Europäische Akte“. Eine ernste Gefahr für den Gemeinsamen Markt, in: Europa-Recht, (1986) 2, S. 158.

  34. Vgl. Juliet Lodge, The Single European Act: Towards a New Euro-Dynamism?, in: Journal of Common Market Studies, 24 (1986) 3. S. 221; ferner Rudolf Hrbek/Thomas Läufer. Die Einheitliche Europäische Akte, in: Europa-Archiv, 41 (1986) 6, S. 180 ff.

  35. Rede der britischen Premierministerin, Margaret Thatcher, vor dem Europa-Kolleg in Brügge (Belgien) am 20. September 1988, in: Europa-Archiv, 43 (1988) 24, S. D 685.

  36. Ebd.

  37. Ebd., S. D 684.

  38. Vgl. Richard Owen/Michael Dynes, The Times Guide to 1992, London 1989, S. 17, 125 ff.

  39. Vgl. A. Mine (Anm. 20), S. 104.

  40. Jean Franfois-Poncet/Bemard Barbier, 1992. Les cons-quences pour l’cconomie fran? aise du march intörieur euro-pen, Paris 1988, S. 13 ff.

  41. Ebd., S. 15, 26.

  42. Ebd., s. 274 f.

  43. Ebd., S. 63ff.

  44. Ebd.. S. 74ff.

  45. Vgl. C. A. Boliino u. a.. II mercato unico europeo e l'armonizazzione dell'IVA e delle accise, Rom, 1988, S. 26 ff., 42.

  46. Banca d’Italia, Relazione Annualc 1987, Rom 1988, S. 328.

  47. Vgl. Norbert Kloten, Wege zu einem Europäischen Zentralbanksystem. in: Europa-Archiv, 43 (1988) 11, S, 285298.

  48. Vgl. Peter M. Schmidhuber. Der Binnenmarkt 1992. Eine Herausforderung für die Gesetzgebung der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, in: Europa-Archiv, 44 (1989) 3, S. 78.

  49. Vgl. Gerhard Lehmbruch, Administrative Interessenvermittlung. in: Adrienne Windhoff-Hritier (Hrsg.), Verwaltung und ihre Umwelt. Festschrift für Thomas Ellwein. Opladen 1987, S. 11-43.

  50. Vgl. P. Cecchini (Anm. 1), S. 42.

  51. Vgl. J. Pelkmans (Anm. 8), S. 379.

  52. Vgl. ebd., S. 367.

  53. Vgl. P. Ludlow (Anm. 23), S. 74ff.

Weitere Inhalte

Michael Kreile, Dr. rer. soc., geb. 1947; Professor für Internationale Politik an der Universität Konstanz. Veröffentlichungen u. a.: Osthandel und Ostpolitik, Baden-Baden 1978; Gewerkschaften und Arbeitsbeziehungen in Italien (1968— 1982), Frankfurt-New York 1985; West Germany in the International Political Economy: Model, Villain or Scapegoat? (ISPI Papers), Mailand 1989.