I. Der Gemeinsame Markt bis 1993
Vollendung des Binnenmarktes 1993: Warum überhaupt?
Ab dem 1. Januar 1993 sollen die Bürger der Europäischen Gemeinschaften (EG) in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum leben. Bis zu diesem Zeitpunkt sollen die noch verbliebenen Binnengrenzen abgebaut sein -für die Bürger der EG als Arbeitnehmer, Unternehmer und Reisende, -für Waren, Dienstleistungen und Kapital.
Auf dieses Ziel, das heute als Binnenmarkt 1992 zusammengefaßt wird, verpflichteten sich die Regierungen der zwölf EG-Staaten in der Einheitlichen Europäischen Akte, die sie am 17. und 28. Februar 1986 unterzeichnet haben 1). Grundlage war vor allem das Weißbuch der Kommission der EG an den Europäischen Rat „Vollendung des Binnenmarktes“ vom 14. Jyni 19852). Das Ziel Binnenmarkt 1992 ist nach Hinterlegung der letzten Ratifizierungsurkunden zur Einheitlichen Europäischen Akte zum 1. Juli 1987 in Art. 8a des ergänzten EWG-Vertrages eingegangen.
ImEWG-Vertrag vom 25. März 1957, der am 1. Januar 1958 in Kraft getreten ist, war dieses Ziel in Art. noch als Errichtung eines Gemeinsamen Marktes bezeichnet und in Art. näher bestimmt worden. Gemäß Art. 8 sollte der Gemeinsame Markt während einer Übergangszeit von zwölf Jahren schrittweise bereits bis zum 31. Dezember 1969 verwirklicht worden sein. Dieses Ziel wurde nicht voll erreicht: Zwar wurden mit der Vollendung der Zollunion bis zum 1. Juli 1968 alle Binnenzölle schrittweise abgeschafft und die Außenzölle gegenüber Drittländern vereinheitlicht, doch behindern weiterhin nichttarifäre Handelshemmnisse (Handelshemmnisse anderer Art als Zölle: z. B. Einfuhrkontingente und Exportsubventionen) den innergemeinschaftlichen Warenverkehr. Vor allem ist aber noch kein gemeinsamer Markt für alle Berufe und Dienstleistungen hergestellt; der Kapital-und Zahlungsverkehr ist weiterhin nicht voll liberalisiert. Heute gibt es also für die gleichen Liberalisierungsziele wie 1958 unter der neuen Bezeichnung Binnenmarkt einen neuen Terminplan bis zum 31. Dezember 1992.
Auf die Frage „Warum überhaupt Binnenmarkt 1992?“ gibt es deshalb eine sehr einfache Antwort: Die ursprünglich für 1969 geplante Verwirklichung dieses Zieles mußte um 23 Jahre auf Ende 1992 verschoben werden. Das mag eine erste Vorstellung von den politischen Problemen bei der Vollendung eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes der EG gegen nationale Sonderinteressen und nationale Souveränitätsansprüche geben, erklärt aber nicht, warum überhaupt ein Binnenmarkt angestrebt wird. Dieses jedoch verdeutlichen die Alternativen zu einem Europäischen Binnenmarkt.
Angenommen, Politiker könnten den Kemaussagen der wirtschaftswissenschaftlichen Beratung folgen, die für die Außenwirtschaftsordnung seit über 200 Jahren so zusammengefaßt werden können: Freie Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital auf offenen Wettbewerbsmärkten fördert Frieden und Wohlstand der Nationen 3). Dann hätte nämlich ein Gemeinsamer Markt so viele Länder wie möglich umfaßt. Entwicklungsländer und andere Industrieländer könnten dann jedenfalls nicht mit Berechtigung den Vorwurf erheben, die EG seien ein diskriminierender Handelsblock. Vom freien Handel mit Waren, Dienstleistungen und Kapital würden sich Länder dann nur durch ihre eigene innere Wirtschaftsordnung und durch Protektion ausschließen; die EG-Länder würden an- dere Länderjedoch nicht durch Handelshemmnisse und Kapitalverkehrskontrollen von einem Gemeinsamen Markt fernhalten.
Eine Abschließung der EG gegenüber Drittländern wäre dann auf Zuwanderungshindemisse begrenzt: Solange die innere politische und wirtschaftliche Ordnung vieler Drittländer große Flüchtlings-ströme auslöst, wird man von solchen Zuwanderungsbeschränkungen der EG als einem politischen Datum ausgehen müssen. Es wäre bereits viel erreicht, wenn die EG durch Verzicht auf Handels-schranken dazu beitragen würden, daß internationale Güterbewegungen zumindest einen Teil der internationalen Bewegung von Menschen überflüssig machten: Wenn insbesondere die Bewohner von Entwicklungsländern durch steigende Exporte in einen weltoffenen Gemeinsamen Markt Beschäftigung und Wohlstand in ihrer Heimat erhöhen könnten, wurde eine Ursache von Flüchtlingsströmen zum Vorteil aller Länder abgebaut. Außerdem würden auch die Exportmöglichkeiten der EG steigen, wenn Drittländer durch freien Handel zusätzliche Devisen verdienen könnten, um mehr EG-Exporte zu bezahlen Gerade für Länder wie die Bundesrepublik Deutschland werden außerdem von einer nichtdiskriminierenden Liberalisierung gegenüber allen Ländern stärkere Handelsausweitungen und höhere Wohlstandssteigerungen erwartet
Neben vielen schlechten Gründen für die Beschränkung der Mitglieder der Europäischen Gemeinschaften auf ursprünglich sechs und heute auf zwölf Staaten gibt es auch eine gute politische Begründung, vorausgesetzt, die EG erweisen sich als eine weltoffene Gemeinschaft: Schon in Art. 2 des EWG-Vertrages erscheint das Ziel eines Gemeinsamen Marktes zugleich als ein Mittel, um „engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind“. Diese engeren Beziehungen haben bisher vor allem 45 Jahre Frieden in Europa bedeutet; die Einheitliche Europäische Akte konkretisiert jetzt die „engeren Beziehungen“ in Art. 1: „Die Europäischen Gemeinschaften und die Europäische Politische Zusammenarbeit verfolgen das Ziel, gemeinsam zu konkreten Fortschritten auf dem Wege zur Europäischen Union beizutragen.“
Beim Abbau der Grenzen für Menschen. Güter und Kapital durch einen Gemeinsamen Markt geht es also nicht um ein „Europa der Wirtschaft“, „Europa der Unternehmer“ oder „Europa des Kapitals“, wie dies manche Polemik suggeriert. Es geht vielmehr um die Sicherung des Friedens durch Liberalisierung und politische Annäherung, um sparsameren Umgang mit knappen Umweltressourcen durch Arbeitsteilung bei Freihandel und durch gemeinsame Lösungen gemeinsamer Umweltprobleme bei steigendem Wohlstand. Das setzt die weitere Öffnung des Gemeinsamen Marktes gegenüber Drittländern voraus, denn insbesondere bei fortgesetzter systematischer Diskriminierung von Entwicklungsländern durch die EG-Handels-und Agrarpolitik verschlechtern sich die Chancen für Frieden und Wohlstand 2. Wenig Chancen ohne Bereitschaft zur Umstellung auf den Gemeinsamen Markt Die Chancen für die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes dürften heute besser sein als vor 30 Jahren. Entscheidend dafür ist die vor allem in den achtziger Jahren zunehmende Annäherung der Wirtschaftsordnungspolitik der Mitgliedstaaten in Richtung auf marktwirtschaftliche Grundsätze, die auch das Delors-Komitee in seinem Bericht zur Wirtschafts-und Währungsunion in der Europäischen Gemeinschaft vom 12. April 1989feststellt Außerdem gab es noch nie eine wirtschaftspolitische Aufgabe, für die in einem solchen Maße geworben wird wie für dieses Ziel: Durch verbesserte Arbeitsteilung, durch optimale Betriebsgrößen und intensiveren Wettbewerb im weltweit größten Binnenmarkt für 320 Mio. Bürger soll nach Schätzungen des Cecchini-Berichts das Bruttoinlandsprodukt (BIP) für die Gesamtheit aller zwölf Mitgliedstaaten um insgesamt etwa 350 bis 500 MilliardenDM bei Vollendung des Binnenmarktes gesteigert werden können. Das entspräche 4, 3 bis 6, 4 Prozent des BIP der EG von 1988. Die Vollendung des Binnenmarktes solle „zu einer spürbaren und dauerhaft wirksamen Verringerung der Arbeitslosigkeit in der Europäischen Gemeinschaft“ beitragen Manche Politiker sprachen sogar von einer Stimmung des „Let’s go West“ wie in der Pionierzeit der Erschließung Nordamerikas.
Gegenüber allen Versuchen, die volkswirtschaftlichen Vorteile von offeneren Märkten und Deregulierungen zu quantifizieren, ist erfahrungsgemäß Skepsis bei den konkreten Zahlenvorstellungen angebracht. Wichtiger als diese Skepsis sind gegenläufige Stimmungen, die sich aus den Fragen derjenigen summieren, die einzelwirtschaftliche Nachteile durch die Umstellung auf den Gemeinsamen Markt erwarten, wenn konkret aus etwa 3 600 nationalen Gesetzen bis Ende 1992 279 gemeinschaftliche Verordnungen werden sollen. Diese Tendenz einer neuen Europa-Verdrossenheit nimmt mit der Annäherung an den Europa-Wahlkampf eher zu und wird für einige Teilbereiche in folgendem Stimmungsbild zusammengefaßt: „Wie ist es künftig mit der Anerkennung der Handwerkerrolle? Das deutsche Berufsbeamtentum, Garant für innere Stabilität — wird es erhalten bleiben? — . Was wird aus der dualen Ausbildung? * hat ein Gewerbeschullehrer wissen wollen. Die Spediteure: . Unser Tarif-schutz! * Und der Bauunternehmer: , Ja, wie kommt es mit den Ausschreibungen? * Und drängten nicht bald spanische und portugiesische Billigkräfte auf den Markt?“
Die Chancen des Gemeinsamen Marktes können nicht wahrgenommen werden, wenn die Umstellung auf die völlig freie Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital verweigert wird. Es wäre für die Integration schädlich, hier Anpassungsprobleme zu leugnen und zu verschweigen, daß ein erheblicher Teil des Bruttonutzens aus der weiteren Öffnung der Märkte für Anpassungshilfen bei der Umstellung von Regionen und Sektoren auf die neuen Rahmenbedingungen des Gemeinsamen Marktes verwendet werden wird. Bei allen Aufzählungen und Begründungen von Anpassungsproblemen ist allerdings sorgfältig zu prüfen, inwieweit sie auf die Umstellung auf einen Gemeinsamen Markt zurückzuführen sind oder ob sie nicht vielmehr das zwangsläufige Ergebnis einer verfehlten Wirtschaftspolitik der Strukturkonservierung, der Regulierung, Subvention und Protektion sind.
Der größte Teil der Wirtschaftsbereiche ist z. B. in der Bundesrepublik Deutschland marktwirtschaftlich geordnet. Für diese Bereiche besteht im wesentlichen der Gemeinsame Markt bereits heute. Anpassungsprobleme sind überall dort zu erwarten, wo eine marktwirtschaftliche Ordnung fehlt, sei es im Agrarbereich wegen der nationalen und europäischen Agrarpolitik, im Energiebereich durch Subventionen und Protektionen für die deutsche Steinkohle, für die Deutsche Bundespost und das Versicherungswesen durch Ausnahmen vom Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (§§ 99 und 102 GWB). Die tatsächlichen Gründe für Anpassungsprobleme sind auch bei wissenschaftlichen Analysen der Kosten einer Vollendung eines europäischen Binnenmarktes zu beachten, wie sie etwa von Franzmeyer zusammengefaßt werden — Die Umstellung der Unternehmungen auf den Binnenmarkt führe zu Anpassungsproblemen mit Einkommenseinbußen für Beschäftigte und Unternehmer, zu entsprechenden Steuerausfällen der Gebietskörperschaften, zur Freisetzung von Arbeitskräften und zu Kapitalvernichtung bei Konkursen. — Der Verlust nationaler Handlungsspielräume durch Vollendung des Binnenmarktes berge vor allem durch Vereinheitlichung und Harmonisierung des Rechtsrahmens die Gefahr „lascherer“ Normen, insbesondere im Gesundheits-, Verbraucher-und Umweltschutz, von den Grenzwerten für Schadstoffe bei PKW bis etwa zu den Sicherheitsstandards für Kernkraftwerke. — Auf regionaler Ebene werde bei freier Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital eine Abwanderung der mobilsten und dynamischsten Menschen von den Randgebieten in die „Gravitationszentren der wirtschaftlichen Aktivität“ befürchtet. Dadurch werde die schon jetzt bestehende strukturelle Benachteiligung von Randregionen wie Irland, Portugal oder Spanien verschärft.
Bei solchen Befürchtungen wird vor allem unterschätzt, in welchem Umfang ein Gemeinsamer Markt bereits heute im Warenverkehr und langfristigen Kapitalverkehr verwirklicht ist Die dafür erforderlichen Liberalisierungen und Umstellungen haben den Wohlstand in allen Ländern der Gemeinschaft erhöht. Gegen eine solche Argumentation wird vorgetragen, daß von 1958 bis in die sechziger Jahre praktisch die gesamte Zunahme des innergemeinschaftlichen Industriegüterhandels eher die Form eines innerindustriellen als eines zwischenindustriellen Handelsverkehrs gehabt habe, bei dem Wirtschaftlichkeitsvorteile vergrößerter Produktionsanlagen (steigende Skalenerträge) auf dem größeren Gemeinsamen Markt genutzt werden konnten. Diese Handelsexpansion sei „gutartig“ gewesen; verstärkte Arbeitsteilung durch Spezialisierung gemäß den relativen (komparativen) Kostenvorteilen sei die Ausnahme gewesen, vor allem weil der Agrarsektor durch Protektion abgeschirmt gewesen sei. Durch die Süderweiterung der EG müsse jetzt mit größeren Anpassungsproblemen gerechnet werden
Nach den bisherigen Erfahrungen mit drei Jahren EG-Mitgliedschaft Spaniens und Portugals und acht Jahren Mitgliedschaft Griechenlands werden solche Befürchtungen hinsichtlich Spaniens und Portugals nicht bestätigt. Beide Länder und ihre Handelspartner im Gemeinsamen Markt konnten ihren Wohlstand steigern; Spanien und Portugal fördern die Umstellung auf den Gemeinsamen Markt zunehmend durch eine marktwirtschaftliche Ordnungspolitik Wenn die Entwicklung für Griechenland nicht so positiv verlaufen ist, so ist insbesondere zu prüfen, welchen Anteil daran die griechische Wirtschaftsordnungspolitik hat.
II. Der Zusammenhang zwischen Gemeinsamem Markt, Währungsunion und politischer Union
Nachdem Ende 1969 die Übergangszeit für die Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes abgelaufen war, ohne daß der Gemeinsame Markt vollendet worden wäre, legte ein vom luxemburgischen Regierungschef Pierre Werner geleiteter Ausschuß am 7. /8. Oktober 1970 den Bericht über die schrittweise Verwirklichung der Wirtschafts-und Währungsunion vor; am 27. Oktober billigten die Mitgliedstaaten den Davignon-Bericht über die politische Zusammenarbeit. Schon am 22. März 1971 setzte der Ministerrat den Beginn der ersten Stufe des Werner-Plans zur Wirtschafts-und Währungsunion rückwirkend auf den 1. Januar 1971 fest. Die Tatsache, daß die für Ende 1969 geplante Vollendung des Gemeinsamen Marktes nicht erreicht worden ist, wird seitdem fast ausnahmslos in die diplomatische Formel gekleidet, daß die Zollunion bereits anderthalb Jahre vor Ende der zum 31. Dezember 1969 ablaufenden Übergangszeit verwirklicht worden ist.
Diese Umwandlung des Scheiterns bei der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes in eine Erfolgsmeldung ist nicht untypisch für das, was man mitunter europäische Hofberichterstattung nennt. Sie sollte Anlaß geben, vor allem Vorworte und zusammenfassende Würdigungen in EG-Verlautbarungen sehr vorsichtig zu lesen und das Hauptaugenmerk auf die Details zu richten. Es wäre aber andererseits falsch, den Start zu einer Währungsunion und politischen Union nach dem Fehlschlag bei der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes nur als Flucht nach vorn zu deuten oder mit dem Bau der dritten und vierten Etage vor Errichtung des Fundaments eines Europäischen Hauses zu vergleichen: Zwischen Gemeinsamem Markt, Währungsunion und politischer Zusammenarbeit gibt es innere Zusammenhänge, die von der inneren Ordnung der Mitgliedstaaten abhängen und entscheidend bestimmen, welches Konzept für die Integration der Bürger Europas geeigneter ist
Mit der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 wird in der Präambel und in Art. 1 durch alle Mitgliedstaaten das Ziel einer politischen Union, die als Europäische Union verwirklicht werden soll, bestätigt; in der Präambel wird auch das Ziel einer schrittweisen Verwirklichung der Wirtschafts-und Währungsunion bekräftigt. Auf der Tagung des Europäischen Rates in Hannover am 17. und 18. Juni 1988 wurde daraufhin ein Ausschuß unter dem Vorsitz des Kommissionspräsidenten Delors beauftragt, bis Ende des ersten Halbjahres 1989 konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung der Wirtschafts-und Währungsunion zu prüfen bzw. vorzuschlagen. Dieser Bericht des Delors-Komitees vom 12. April 1989 zeichnet sich positiv dadurch aus. daß er vom engen Zusammenhang zwischen Gemeinsamem Markt, Währungsunion und dem Problem der Sou-veränität der Mitgliedstaaten auf dem Wege zu einer Europäischen Währung und zu einem Europäischen Zentralbankensystem ausgeht
Im Gegensatz dazu sind die Probleme, die sich aus diesem Zusammenhang ergeben, in der zwischenzeitlichen Diskussion um die Forderung nach einer Europäischen Währung und einer Europäischen Zentralbank oft nicht hinreichend beachtet worden. Kennzeichnend dafür ist z. B. ein im April 1989 veröffentlichtes Ergebnis einer Befragung des Ifo-Instituts, in dem sich fast alle befragten Unternehmer zwar für eine europäische Einheitswährung aussprachen, aber nur etwa ein Drittel der Befragten das gegenwärtige Europäische Währungssystem und seine Probleme kannten. Zu beachten sind vor allem für die Bundesrepublik Deutschland auch Befragungsergebnisse über die Bereitschaft der Bürger zu einer Europäischen Union und der damit verbundenen Übertragung von Souveränität auf die Gemeinschaft: Mit 41 Prozent Zustimmung zu einer Regierung für Europa stehen die Deutschen an viertletzter Stelle; eine Europäische Verfassung bejahen dagegen immerhin 58 Prozent. Während im Herbst 1987 noch 62 Prozent die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft für „eine gute Sache“ hielten, waren es im Frühjahr 1988 nur noch 49 Prozent 1. Die Interdependenz der Ordnungen Wenn mit den Bürgern ein „Europa für die Bürger“ gelingen soll, dann muß man an diese Aufgabe konsequent herangehen. Man muß aber während des gesamten Integrationsprozesses bei den Entscheidungen über die Wahl und Länge der Schritte zur Einigung mit der Behutsamkeit vorgehen, die Schopenhauer in seiner Parabel von den Stachelschweinen an einem kalten Wintertage nahelegt: stets nahe genug zusammenrücken, damit man sich gegenseitig wärmt; nie zu nahe, damit man die gegenseitigen Stacheln nicht empfindet Gelingt dies nicht, so könnten Widerstände der Bürger die ansonsten erreichbare Gemeinschaft gefährden.
Die Wahrscheinlichkeit und Stärke solcher Widerstände hängen davon ab, welche Erfahrungen die Bürger mit ihrer nationalen wirtschaftlichen und politischen Ordnung gemacht haben, vor allem davon, welche Souveränität den Bürgern von ihrem Staat zugestanden wird und wieviel Souveränität „der Staat“ für sich gegen seine Bürger beansprucht. Werden diese Erfahrungen als schlecht eingeschätzt, dann liegt es wegen des engen Zusammenhangs zwischen nationalen Regulierungen und internationaler Integration nahe, daß aus nationaler Staatsverdrossenheit oder Politikverdrossenheit die immer wieder zitierte Europaverdrossenheit wird.
In einer marktwirtschaftlichen Ordnung hat der Bürger grundsätzlich ein hohes Maß an Souveränität in seinen Planungen und Entscheidungen, was er wann und wo von wem kauft oder an wen verkauft und wie er sein Vermögen anlegt. Die vielen Einzelpläne und Entscheidungen der Bürger werden über Preissignale aufeinander abgestimmt und gelenkt. In der Ordnungstheorie werden die Bedingungen aufgezeigt, unter denen ein solches marktwirtschaftliches Lenkungssystem für den Bürger befriedigende Ergebnisse erzielt Die wichtigste Bedingung: Durch Wettbewerbspolitik und die Ordnung der außenwirtschaftlichen Beziehungen muß erreicht werden, daß Wettbewerbspreise auf offenen Märkten möglichst genau die reale Knappheit von Gütern und Ressourcen widerspiegeln. Dazu ist auch erforderlich, daß die Ordnung des Geld-und Währungssystems sowie die Geldpolitik gewährleisten, daß Schwankungen des Geldwertes (Inflation und Deflation) vermieden werden, weil sonst die Preisverhältnisse verzerrt würden. Geldwertschwankungen wirken sich nicht neutral auf Güterpreise, Löhne und Zinsen aus, sondern verzerren diese Größen sehr stark und mit unterschiedlichen Verzögerungen.
Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der Ordnung der Märkte, um die es bei dem Ziel Gemeinsamer Markt geht, und der Geld-und Währungsordnung, um die es bei dem Ziel der Europäischen Währungsunion geht. Die Prinzipien, nach denen eine Europäische Wirtschafts-und Währungsunion gestaltet werden soll, müssen diese Interdependenz der Wirtschaftsordnungen beachten. Weil in der Staatsordnung der souveräne Spielraum für die Freiheitsrechte des Bürgers gegen die Verantwortung des Staates für die Allgemeinheit abgegrenzt wird, besteht zugleich eine „Interdependenz der Wirtschaftsordnung und Staatsordnung“
Im Grundsatz werden diese Zusammenhänge bereits in der Präambel und in den Artikeln 2 und 3 des EWG-Vertrages von 1957 weitgehend berücksichtigt, wenn ein weltoffener Gemeinsamer Markt, Stabilität, eine innere Wettbewerbsordnung, die Koordinierung der Wirtschaftspolitik, die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften und soziale Verantwortung gefordert werden. In der anschließenden Auseinandersetzung um den geeigneten Weg zu einer Europäischen Gemeinschaft haben diese Zusammenhänge für eine Gruppe, die Ökonomisten genannt wird, stets eine entscheidende Rolle gespielt. Dies wurde vor allem auch in dem Streit deutlich, ob durch einen Gemeinsamen Markt und Koordinierung der Wirtschaftspolitik nach gemeinsamen Grundsätzen erst die Voraussetzungen für eine Währungsunion geschaffen werden müßten (Standpunkt der Ökonomisten) oder ob möglichst schnelle Schritte zur Währungsunion Motor bzw. Hebel für weitere Liberalisierungen der Güter-und Kapitalmärkte sowie für eine Angleichung der Wirtschaftspolitiken in den Mitgliedsländern sind (Standpunkt derer, die als Monetaristen bezeichnet werden) Insofern überrascht es und ist kein günstiges Vorzeichen für Integrationsfortschritte, wenn in der gegenwärtigen Diskussion häufig so getan wird, als sei man auf diese Zusammenhänge und die sich daraus ergebenden Probleme der Koordination erst durch neuere Forschungen gestoßen
Im Delors-Bericht zur Wirtschafts-und Währungsunion vom 12. April 1989 werden angesichts des Streits um die zweckmäßige Reihenfolge der Schritte zur Wirtschafts-und Währungsunion, in dem sich regelmäßig die deutsche und französische Verhandlungsposition gegenüberstanden, diplomatisch zunächst parallele Fortschritte bei der Wirtschafts-und Währungsintegration gefordert. Am Ende des gleichen Gedankenganges werden aber doch materielle Fortschritte bei der Wirtschaftspolitik als notwendig für weitere Fortschritte bei der Währungsintegration eindeutig anerkannt.
Die Priorität für Fortschritte in der Wirtschaftspolitik und bei der Vollendung des Gemeinsamen Marktes kommt am konkretesten im geplanten Beginn für die erste Stufe zur Währungsunion im Delors-Bericht zum Ausdruck: Der Start ist für den 1. Juli 1990 vorgesehen, wenn die Richtlinie für die vollständige Liberalisierung der Kapitalbewegungen im Gemeinsamen Markt in Kraft treten soll. Für den Beginn der zweiten und dritten Stufe, an deren Ende ein europäisches Zentralbankensystem und eine Europäische Währung stehen sollen, sind keine konkreten Zeitangaben gemacht worden. Damit scheint der Kapitalmarkt tatsächlich zum Prüfstein für europäische Währungspläne geworden zu sein, wie dies von deutscher Seite seit der Diskussion des Werner-Berichts zur Wirtschaftsund Währungsunion gefordert worden ist 2. Der Zusammenhang zwischen nationalen Regulierungen und Integrationsfortschritten Der 1958 begonnene Weg zur völligen Liberalisierung des Kapitalmarktes könnte über 32 Jahre oder gar noch länger dauern, und der Gemeinsame Markt dürfte insgesamt erst nach 34 Jahren, wahrscheinlich aber erst später als 1992 verwirklicht sein. Die Ursachen liegen vor allem in der Dualität der nationalen Wirtschaftsordnungen und der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedsländern der EG. Trotz der seit 1979 stattfindenden Europa-Wahlen konnten wegen der geringen Kompetenzen des Europäischen Parlamentes bisher jedenfalls nicht die Bürger der EG das Tempo bei der Vollendung des Gemeinsamen Marktes bestimmen.
Auf einen einfachen Nenner gebracht: Wo in allen Mitgliedsländern der Gemeinschaft Marktwirtschaft dominiert, ist der Gemeinsame Markt entweder bereits hergestellt, oder die noch notwendigen Integrationsschritte lassen schwer überwindbare politische Probleme und unlösbare wirtschaftliche Anpassungsprobleme nicht erwarten.
Auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnungspolitik, dessen Bedeutung für die Vollendung der Wirtschafts-und Währungsunion auch der Delors-Bericht hervorhebt bestanden zwischen der marktwirtschaftlichen Bundesrepublik Deutschland und den Benelux-Ländem im Grundsatz keine erheblichen Differenzen. Seit Beginn der achtziger Jahre gab es Annäherungen in der Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik zwischen diesen Ländern auf der einen Seite und Frankreich, Großbritannien, Spanien und Portugal auf der anderen Seite: Entscheidende Anstöße waren der Amtsantritt von Premierministerin Thatcher und das vollständige Scheitern der französischen Wirtschaftspolitik zu Beginn der ersten Amtsphase von Präsident Mitterrand, die in eine vorübergehende Eskalation der französischen Devisenkontrollen gemündet war. Frankreich setzt seitdem stärker auf Marktwirtschaft und Geldwertstabilität. In Spanien und Portugal hat der Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften unter den demokratischen Regierungen zu einer stärker marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnungspolitik beigetragen.
In allen Mitgliedsländern gibt es aber mehr oder minder stark vom Staat regulierte Bereiche undTendenzen zu privaten Marktspaltungen, wo die Europäische Wettbewerbspolitik noch nicht hinreichend greift oder wo es dem Europäischen Gerichtshof schwerfällt, Verfahren und Urteile gegen Interessen der Mitgliedstaaten durchzusetzen Für die Bereiche, in denen ein Gemeinsamer Markt noch nicht verwirklicht ist, ist die Bundesrepublik Deutschland — die früher als Vorreiter für Marktwirtschaft und Abbau staatlicher Regulierung galt — eher zu einem Bremser geworden. Dies wird an den geringen Fortschritten bei der Integration des Energiemarktes deutlich, der in der Bundesrepublik in besonders starkem Maße reguliert ist, oder am Markt für Versicherungsleistungen.
Nicht zufällig wird häufig übersehen, daß die Bundesrepublik Deutschland zunehmend auch in einem anderen Bereich die Vollendung des Gemeinsamen Marktes verhindert: Der sogenannte Gemeinsame Agrarmarkt ist einer der am stärksten regulierten Bereiche der Gemeinschaft. Die bisherige gemeinsame Agrarpolitik ist folglich mit einem echten Gemeinsamen Markt unvereinbar. Dennoch wird auch im Delors-Bericht vom 12. April 1989 bereits im zweiten Satz die Europäische Agrarpolitik als eine der größeren Errungenschaften der Gemeinschaft gefeiert Dabei hat dieser kostspieligste Verstoß gegen marktwirtschaftliche Grundsätze der Mehrzahl der Bauern nicht einmal Vorteile gebracht, gemessen an der Alternative „markträumende Wettbewerbspreise plus direkte Einkommensübertragungen“ für Leistungen, die im Marktpreis nicht entgolten werden (Umwelt, Landschaftspflege usw.).
Mit dem Abbau der Monopolposition der Deutschen Bundespost in einigen Bereichen und der damit verbundenen Deregulierung hat die Bundesrepublik Deutschland allerdings einen wesentlichen Schritt zur Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes im Bereich der Information und Kommunikation getan. Da bei praktisch jeder Produktion von Waren und Dienstleistungen Informationen und Kommunikation eingesetzt werden, gilt hier ähnlich wie für Energie als Grundlage jeder Produktion von Gütern: Die Umstellung aller Unternehmungen auf den intensiveren Wettbewerb im vollendeten Binnenmarkt fällt bei Abbau deutscher Regulierungen der Märkte für Energie, Information und Kommunikation leichter. Abbau nationaler Regulierungen fördert die Integration.
Es gibt aber Bereiche, in denen unumstritten der Staat Funktionen auch durch Regulierungen wahrnehmen muß. Umstritten ist hier nur, welchen Beitrag der souveräne Bürger bei Problembewußtsein und geeigneten Rahmenbedingungen leisten kann. Wo bieten z. B. die Verteuerung von Produkten durch Umweltsteuern, Beiträge von Verursachern, Vorschriften, Grenzwerte oder Verbote mehr und schnelleren Umweltschutz für die Allgemeinheit?
In diesem Zusammenhang gibt es zwei Grundsatzentscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Fälle von Zielkonflikten zwischen dem Ziel eines Gemeinsamen Marktes und dem Ziel wirksamen Umweltschutzes: In einem Urteil vom 20. Februar 1979 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) folgenden Grundsatz entwickelt: Alle Mitgliedstaaten der Gemeinschaft müssen dulden, „daß Güter aus einem anderen Mitgliedstaat, die dort nach Landesrecht ehrlich hergestellt und verkauft werden, auch bei ihnen verkauft werden, selbst wenn für die Herstellung andere technische Vorschriften gelten als bei ihnen, solange das Produkt in gleichwertiger Weise berechtigte Interessen schützt.“ In diesem Grundsatzurteil „Cassis de Dijon“ wird also dem Ziel des Gemeinsamen Marktes Vorrang vor einzelstaatlichen Bestimmungen eingeräumt, soweit nicht vorrangige Rechts-güter verletzt werden. Zugleich wird mit diesem Urteil die gegenseitige Anerkennung gleichwertiger Nonnen als Alternative zu einer Harmonisierung durch einheitliche Gemeinschaftsnormen verankert.Seit dem „Pfandflaschenurteil“ des Europäischen Gerichtshofes vom 20. September 1988 dürfte auch der Vorrang von Belangen des Umweltschutzes vor der Freiheit des innergemeinschaftlichen Waren-verkehrs verankert sein: Nach dänischem Recht dürfen Bier und Erfrischungsgetränke nur in wiederverwendbaren Verpackungen verkauft werden; sie müssen außerdem vom Amt für Umweltschutz genehmigt werden. Der Europäische Gerichtshof entschied in diesem Falle für Dänemark bzw.den Umweltschutz und gegen die Kommission bzw. die völlige Freiheit des Warenverkehrs. Weil wiederverwendbare Verpackungen ein zwingendes Erfordernis für das Ziel des Umweltschutzes seien, könne die zur Erreichung des Ziels Umweltschutz notwendige Einschränkung des Grundsatzes des freien Warenverkehrs gerechtfertigt werden 3. Das Problem der Souveränität im Gemeinsamen Markt Wenn die Bürger anerkennen, daß der Staat Funktionen für die Allgemeinheit wahrnehmen muß, dann ist folgerichtig Zustimmung der Bürger zu erwarten, wenn der Bürger gewissermaßen Souveränitätsrechte an den zuständigen Staat abgeben soll. Dies gilt z. B. im Umweltschutz. Ist diese Zustimmung der Bürger zu einer Staatsfunktion in hohem Maße gegeben und halten die Bürger Problemlösungen auf EG-Ebene für technisch sinnvoll, dann scheint es auch kein Problem der Übertragung nationaler Souveränität auf die EG zu geben: Nach einer neuen Befragung sind etwa 80 Prozent der befragten Deutschen der Ansicht, Umweltschutz müsse europäisch, nicht national organisiert werden. Diese hohe Zustimmung ist um so beachtlicher, als die deutsche Zustimmung zur Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften schon vor einem Jahr auf 49 Prozent gesunken ist
Angenommen, man könnte von einer so klaren Zustimmung zu europäisch organisiertem Umweltschutz im Rahmen einer Befragung auf tatsächliche Zustimmung der meisten Bürger schließen. Dann hieße diese Zustimmung zu Souveränitätsübertragung im Umweltbereich aber weder, daß alle Umweltnormen harmonisiert werden müßten, noch, daß eine ähnlich deutliche Zustimmung zur Souveränitätsübertragung auch für andere Bereiche gegeben ist.
Der enge Zusammenhang zwischen Wirtschaftsordnung und politischer Ordnung bedeutet aber für jeden Integrationsschritt in Richtung auf einen Gemeinsamen Markt, daß die wirtschaftspolitische und politische Souveränität der Mitgliedstaaten eingeschränkt wird. Dies gilt vor allem für die umfassenderen Ziele einer Wirtschafts-und Währungsunion. Je enger die Märkte durch freie Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital miteinander verflochten sind, desto stärker beeinflussen wirtschaftspolitische und sozialpolitische Maßnahmen in einem Mitgliedsland die wirtschaftliche Entwicklung in den übrigen Mitgliedstaaten.
In der Diskussion um die Vollendung des Binnenmarktes oder um die Wege zu einer Europäischen Wirtschafts-und Währungsunion wird dieses Problem regelmäßig auf folgende Frage verengt: In welchem Umfange und bei welchen Integrationsschritten muß nationalstaatliche Souveränität auf Institutionen der Gemeinschaft übergehen, um Fortschritte bei der Vollendung der Wirtschaftsund Währungsunion nicht zu gefährden? Im Souveränitätsverlust der Nationalstaaten wird dabei lediglich eine Gefahr gesehen. Obwohl zunehmend mit dem Gedanken eines „Europa der Bürger“ für eine Wirtschäfts-und Währungsunion oder gar für eine Europäische Union geworben wird, wird meist folgende Chance nicht gesehen: Durch die freiere Bewegung von Menschen, durch offenere Märkte und Abbau staatlicher Regulierungen würden Nationalstaaten gewissermaßen Souveränität an ihre Bürger zurückgeben, die sie als Staatssouveränität zuvor an sich gezogen haben; mehr Souveränität für den Bürger bedeutet mehr Integration in einem „Europa der Bürger“.
Es ist also jeweils sorgfältig zu prüfen — für welche Bereiche die einzelnen Mitgliedstaaten ein möglichst hohes Maß an Souveränität trotz Integration zunächst behalten sollten, um Rückschritte im Integrationsprozeß zu vermeiden, — in welchen Bereichen und in welchem Maße Souveränität auf Institutionen der Gemeinschaft übertragen werden muß, damit Integrationsfortschritte möglich sind, und — in welchem Maße Einigung im „Europa für die Bürger“ bereits dadurch erreicht wird, daß der Staat oder Institutionen der Gemeinschaft auf Bevormundung in einem „Europa der Bürger“ verzichten
III. Vom Binnenmarkt zur Wirtschafts-und Währungsunion
Zur Vollendung eines Gemeinsamen Marktes gehören unumstritten die völlig freie Bewegung der Bürger innerhalb der Gemeinschaft und die völlige Liberalisierung des Güter-und Kapitalverkehrs. Für diese Schritte gilt grundsätzlich, daß mit dem Abbau der bisher noch bestehenden Regulierungen die Mitgliedstaaten Souveränität an die Bürger zurückgeben. Durch Souveränitätsverlust der Nationalstaaten wird damit ohne Übertragung von Souveränität an Gemeinschaftsinstitutionen mehr „Europa der Bürger“ erreicht. Weiterhin würde die Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik in nationaler Verantwortung bleiben. Daraus folgt, daß eine verstärkte Koordination der Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft erforderlich ist, weil die souveränen Entscheidungen der Bürger im vollendeten Binnenmarkt Versuche autonomer nationaler Wirtschaftspolitik noch wirksamer durchkreuzen könnten, als dies bereits bisher bei Versuchen nationaler Alleingänge der Fall war.
Umstritten ist dagegen, ob auch Harmonisierungen von Steuern oder von technischen Vorschriften und Nonnen, z. B. im Umweltschutz, notwendig zu einem echten Gemeinsamen Markt gehören. Für solche Harmonisierungen stellt sich das Problem, in welchem Umfange eine Übertragung nationaler Souveränität auf die Gemeinschaft notwendig oder zweckmäßig ist. Souveränitätsübertragung ist unumgänglich bei einer Ergänzung des Gemeinsamen Marktes durch eine Europäische Währung. Dieses Problem stellt sich also bereits für die zum 1. Juli 1990 angekündigten weiteren Schritte zu einer Wirtschafts-und Währungsunion. 1. Harmonisierung durch Verordnung oder durch Wettbewerb?
Obwohl vor allem von britischer Seite zumindest bezweifelt wird, ob die Vollendung eines Gemeinsamen Marktes eine völlige Harmonisierung von Mehrwertsteuern und Verbrauchsteuern in der Gemeinschaft notwendig erfordert, ist das Ziel der Steuerharmonisierung im Programm zur Vollendung des Binnenmarktes im Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat enthalten Ebenso ist im Rahmen des Abbaus von technischen Handelshemmnissen eine Harmonisierung der technischen Vorschriften und Normen bis zur Vollendung des Binnenmarktes vorgesehen
Um bessere und schnellere Lösungen von Umwelt-problemen — die bereits heute keine Grenzen kennen — zu erreichen, sind gemeinschaftliche Lösungen schon aus folgendem Grunde zweckmäßig: Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren für die Umwelt können bei gleichem Einsatz von Mitteln für alle Bürger Europas mehr Umweltschutz bewirken, wenn die Mittel an der günstigsten Stelle eingesetzt werden. Das kann z. B. in einem Mitgliedsland sein, das mit dem Hinweis auf Entwicklungsrückstände, Wettbewerbsnachteile, Randlage oder einfach geringeren Wohlstand die Mittel für eine solche Umweltmaßnahme nicht oder noch nicht bereitstellen will. Dann wäre im Interesse aller Bürger Europas der Einsatz gemeinschaftlicher Mittel besser als das Warten auf eine nationale Umweltmaßnahme dieses Mitgliedslandes. Ein Problem liegt natürlich darin, daß mit der Gewißheit gemeinschaftlich finanzierter Umweltmaßnahmen auf durchaus mögliche nationale Anstrengungen verzichtet werden könnte.
Bei der Forderung nach Harmonisierung von Mehrwertsteuern und Verbrauchsteuem durch Richtlinien und Verordnungen der Gemeinschaft wird vor allem mit dem Wegfall der Kontrollen an den Grenzen der Mitgliedstaaten argumentiert. Bei den Berechnungen, in denen man einen Gesamtnutzen der Vollendung des Binnenmarktes von 430 Milliarden DM geschätzt hat, wird der Beitrag eines Wegfalls der Kontrollen an den Grenzen mit 22 Milliarden DM angesetzt Solche Grenzkontrollen sind bisher erforderlich, weil bei unterschiedlich hohen Steuersätzen die Mitgliedsländer nach dem Bestimmungslandprinzip mit Steuern belasten. Dies bedeutet grob vereinfacht: Wenn eine Ware exportiert wird, wird sie um den Steuersatz des exportierenden Ursprungslandes entlastet und mit dem anderen Steuersatz des importierenden Bestimmungslandes belastet. Dieser Vorgang muß an den Grenzen kontrolliert werden
Die naheliegende Alternative wäre, zum Ursprungslandprinzip bei der Besteuerung im Gemeinsamen Markt überzugehen. Nach dem Ursprungslandprinzip blieben die Waren mit dem Steuersatz des Ursprungslandes belastet. Dies scheint politisch nicht durchsetzbar zu sein: Von den unterschiedlich hohen Steuersätzen werden Wettbewerbsnachteile für Länder und Regionen mit relativ hohen Steuersätzen befürchtet
Bei Bestimmungsland-und Ursprungslandprinzip ist dennoch zu prüfen, ob eine Harmonisierung der Steuern durch Gemeinschaftsrecht der beste Wegist. Eine Angleichung der Steuersysteme könnte nämlich auch durch einen Wettbewerb der Steuersysteme erreicht werden, der die unterschiedlichen Standortbedingungen in den einzelnen Mitglieds-ländern berücksichtigt. In diesem Zusammenhang wird häufig gerade von Befürwortern einer umfangreichen Staatstätigkeit nicht deutlich genug darauf hingewiesen, daß mit staatlichen Steuereinnahmen nicht nur belastet wird, sondern daß mit diesen Einnahmen die Standortqualität und die Lebensbedingungen der Bürger verbessert werden sollen.
Von einer Harmonisierung durch Wettbewerb der Standards und Normen statt einer Harmonisierung durch Verordnung werden von verschiedenen Seiten vor allem im Umweltbereich und in der Sozialpolitik systematisch schlechte Ergebnisse erwartet: Bei einem Wettbewerb der nationalen Normen werde sich die lascheste Norm durchsetzen, weil bei härteren Anforderungen vor allem eine Gefährdung nationaler Arbeitsplätze befürchtet wird. Freie Bewegung von Arbeitskräften und Kapital im Gemeinsamen Markt werde z. B. eine Verlagerung von Produktionsstätten in Regionen mit geringen Umweltschutzanforderungen erleichtern und damit eine Harmonisierung auf niedrigem Niveau begünstigen. Bei einer sehr kurzfristig orientierten Wirtschaftspolitik und dem Verzicht auf eine volkswirtschaftliche Kostenanalyse, die notwendig auch lange Zeiträume berücksichtigen muß, besteht eine solche Gefahr tatsächlich. 2. Gemeinsame Wettbewerbspolitik im Gemeinsamen Markt Diese Probleme müssen ohne Verzicht auf bestmögliche Lösungen, aber auch ohne Handels-hemmnisse gelöst werden, für deren Rechtfertigung umweit-oder sozialpolitische Argumente mißbraucht werden könnten. Mit solchen Argumenten könnten sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse auch innerhalb der Gemeinschaft erhalten bleiben oder gar zusätzlich errichtet werden. Eine Gemeinsame Wettbewerbspolitik muß gewährleisten, daß zwischen legitimen Beschränkungen des Warenverkehrs im Interesse vorrangiger Normen (z. B. für den Umweltschutz) und Mißbrauch solcher Schutzargumente im Dienste der Sicherung nationaler Arbeitsplätze unterschieden wird, solange gemeinschaftliche Normen nicht verwirklicht sind.
Wettbewerb im Gemeinsamen Markt wird vor allem durch offene Märkte erreicht, die Verhaltens-spielräume marktmächtiger Unternehmungen beschränken. Das erfordert angesichts der voranschreitenden Konzentrationsprozesse bei Vollendung des Binnenmarktes auch offenere Märkte gegenüber Drittländern vor allem dann, wenn auf der anderen Seite Unternehmungskonzentration durch europäische Industriepolitik aktiv betrieben wird. um z. B. angeblich die internationale Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Elektronikindustrie oder Luft-und Raumfahrt zu fördern.
Gegenüber solchen Tendenzen zu Monopolisierung und Marktspaltung wäre die Ergänzung der nationalen Wettbewerbsgesetze um ein Europäisches Kartellamt erforderlich, das parallel zu den nationalen Kartellbehörden prüfen würde, ob Unternehmenszusammenschlüsse wegen der Gefahr der Marktbeherrschung zu untersagen sind Tendenzen zur Abschottung des Binnenmarktes gegenüber Wettbewerbern aus Drittländern haben mit dem gestiegenen politischen Gewicht der Protektionsargumente „Umweltdumping“ und „Sozialdumping“ an Bedeutung gewonnen. Die Chancen für Wettbewerb durch offene Märkte könnten hier erhöht werden, wenn der Europäische Gerichtshof mit seiner neu zu schaffenden ersten Instanz für die Beurteilung von Antidumpingvorwürfen gegen Wettbewerber aus Drittländern zuständig wäre. Dies aber stößt zur Zeit auf den Widerstand der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die bei der steigenden Flut von Antidumping-Vorwürfen bisher regelmäßig gegen die Offenheit des Binnenmarktes entschieden hat
Wenn zum 1. Juli 1990 die Liberalisierung des europäischen Kapitalmarktes abgeschlossen sein wird, wird die Wettbewerbspolitik im Gemeinsamen Markt zum Prüfstein für einen weltoffenen Binnenmarkt ohne staatliche oder private Marktspaltungen und zum Prüfstein für die Chancen weiterer Schritte zur Wirtschafts-und Währungsunion. Wenn die Bereitschaft zur schrittweisen Übertragung nationaler Souveränität auf europäische Institutionen bereits in der Wettbewerbspolitik für den Gemeinsamen Markt fehlen sollte, sind erst recht die viel umfassenderen Souveränitätsverzichte nicht zu erwarten, die eine Europa-Währung erfordern würde. 3. Umweltschutz als Gemeinschaftsaufgabe Ein ähnlicher Testfall für die Bereitschaft zur Übertragung von Souveränität auf europäische Institutionen ist die Umweltpolitik. Durch die Einheitliche Europäische Akte ist der Umweltschutz als gemeinschaftliches Ziel in Art. 130r des ergänzten EWG-Vertrages eingegangen. Ein Europäisches Umweltamt könnte ähnlich wie ein Europäisches Kartellamt Gemeinschaftsaufgaben parallel zu den nationalen Umweltbehörden wahrnehmen, wenn die Bereitschaft der Bürger, Umweltschutz als Ge- meinschaftsaufgabe in Europa zu begreifen, so groß ist, wie die Zustimmung von 80 Prozent der befragten Bürger zu europäischer statt nationaler Umweltpolitik vermuten läßt.
Beide Zuständigkeiten — Wettbewerb und Umwelt — würden damit aus der bisherigen Zuständigkeit der Kommission der Europäischen Gemeinschaften ausgegliedert. Eine solche Trennung könnte im Falle von Konflikten zwischen den Zielen „freier Güterverkehr und offene Wettbewerbs-märkte“ einerseits und „Umweltschutz“ andererseits die Wahrscheinlichkeit fauler Kompromisse verringern, die dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs nicht standhalten würden.
Gemeinschaftsaufgaben wie die Sanierung des Rheins oder der Nordsee und die gemeinschaftliche Vorbeugung gegen Umweltkatastrophen durch Unglücksfälle sowie die Begrenzung der Schäden bei solchen Katastrophen können auch ohne Harmonisierung von Umweltnormen im Gemeinsamen Markt angegangen werden. Da in absehbarer Zeit z. B. bei Umweltnormen keine Aussicht für eine europaweite Harmonisierung auf dem höchstmöglichen Niveau besteht, ist zu hoffen, daß die Bundesrepublik Deutschland ihre Absicht verwirklicht, auch auf dem Wege zur Wirtschafts-und Währungsunion nationale Standards für Umweltschutz zu verwirklichen. Der wirtschaftliche Erfolg von Umweltmaßnahmen, die die volkswirtschaftlichen Kosten von Umweltschäden richtig erfassen, könnte dann im Wettbewerb der Umweltstandards doch zu einer Angleichung der Umweltgesetze im Gemeinsamen Markt auf höchstmöglichem Niveau führen. 4, Eine Europa-Währung für den Gemeinsamen Markt?
Für die Schaffung der Währungseinheit in der Gemeinschaft bzw. für eine Europäische Währung wird argumentiert, daß Kosten eingespart würden, wenn in einer Währungsunion die Währungen zu einem festen Wechselkurs umgetauscht werden oder wenn es bei einer Europäischen Einheitswährung keinen Umtausch zwischen Gemeinschaftswährungen geben kann. Zusätzlich würden Kosten dadurch entfallen, daß es bei festen Wechselkursen in einer Währungsunion oder in einer Einheitswährung keine Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung der Wechselkurse geben kann.
Diese Kosteneinsparungen sind volkswirtschaftliche Vorteile in einer echten Währungsunion. Zu einer solchen Währungsunion gehören: — Völlige und unwiderrufliche Freiheit des innergemeinschaftlichen Zahlungsverkehrs. Die Bürger müssen ihre nationalen Währungen völlig und endgültig frei gegeneinander tauschen können. — Die Wechselkurse müssen endgültig und ohne jegliche Schwankungsbreite fest bleiben. — Im Gemeinsamen Währungsraum muß Geldwertstabilität gewährleistet sein.
Die völlige Liberalisierung des Zahlungs-und Kapitalverkehrs, die den völlig freien Tausch der Währungen der Mitgliedsländer garantiert, ist bereits im Programm zur Vollendung des Binnenmarktes enthalten. Sie ist das wichtigste Merkmal einer jeden Währungsunion. Das Erfordernis fester Wechselkurse ergibt sich daraus, daß Wechselkursschwankungen als Handelshemmnis und verzerrender Faktor Kosten verursachen. Insofern sind feste Wechselkurse gegenüber dem freien Tausch der Währungen zweitrangig.
Bei unwiderruflich und völlig festen Wechselkursen wird allerdings eine nationale Inflationspolitik technisch unmöglich gemacht, weil das Inflationsland Devisenreserven verlieren würde, über die es nur in begrenztem Umfange verfügt Für Währungen großer Länder innerhalb der Gemeinschaft wie der Bundesrepublik Deutschland besteht allerdings begrenzt ein solcher Spielraum auch für Inflationspolitik bei festen Wechselkursen, solange die DM als eine Art Leitwährung von den Partnerländern angenommen wird -Daher ist die dritte, üblicherweise nicht genannte Bedingung für eine Währungsunion hinzuzufügen: Die Währungsverfassung einer Währungsunion muß die Verpflichtung zu einer Politik der Geldwertstabilität vorsehen.
Dies bedeutet in jedem Falle Verzicht auf den Versuch einer eigenständigen nationalen Geldpolitik. In einer Währungsunion mit Europawährung und Europäischen Zentralbanksystem kann es schließlich nur eine zentrale Kontrolle der Geldmenge geben.5. Über die Europäische Union werden die Bürger entscheiden Wenn sich die Bürger dessen bewußt sind und wenn sie auch dann eine Einheitswährung wollen, wird es eine Europa-Währung geben können. Bei einem solchen Maß an Bereitschaft zur Übertragung nationaler Souveränität auf europäische Institutionen könnte auch ein weiterer Schritt zur Integration der EG möglich sein: die Europäische Union.
Ob eine Europäische Union der Mitgliedstaaten der EG allerdings auch ein Schritt zu mehr Einigung in Europa wäre, hängt wiederum davon ab, wie offen eine solche politische Union der EG-Staaten gegenüber den anderen Staaten Europas wäre und welche Offenheit die Wirtschaftsordnung dieser anderen Staaten zuließe.
Ein wichtiger Schritt auf dem Wege zu einer Europäischen Union, wie sie in der Einheitlichen Europäischen Akte angestrebt wird, wäre eine Europäisehe Verfassung. Sie wird vor allem vom Europäischen Parlament gefordert. Der Nachdruck, mit dem dieses Zwischenziel auf dem Wege zur Europäischen Union gefordert wird, geht dabei so weit, daß die Aufnahme neuer Mitglieder in die EG verweigert werden soll, solange nicht eine Europäische Verfassung in Angriff genommen ist. Dies muß nicht nur ein verhandlungstaktisches Druckmittel sein. Es erinnert zugleich daran, daß ein Höchstmaß an Integration für einige Mitgliedstaaten erreicht werden könnte, aber nur um einen hohen Preis: Die Chance für mehr Integration mit einer größtmöglichen Zahl von Staaten könnte so verspielt werden.
Bis dahin ist der Weg jedenfalls noch weit, und die politischen Rahmenbedingungen für eine solche Einigung — ob nun als „Vereinigte Staaten von Europa“ oder etwas bescheidener — sind durch die Reformbestrebungen im Ostblock eher ungewisser geworden, die Frage der Einheit Deutschlands eingeschlossen. Wenn es wenigstens gelingen würde, ab 1. Januar 1993 in einer Europäischen Gemeinschaft ohne Beschränkungen für die freie Bewegung von Menschen, Gütern und Kapital zu leben dann hätten die Bürger der EG immerhin die Freiheiten eines Gemeinsamen Marktes. Gelänge es dabei auch, sogar den angeblich „Gemeinsamen Agrarmarkt“ schrittweise an einen Markt und an Gemeinsamkeit heranzuführen, dann wäre viel erreicht, mehrjedenfalls, als man heute bei realistischer Beurteilung und angesichts der Erfahrungen mit der europäischen Integration erwarten kann.