„Wer versucht, aufmerksam die Prozesse zu verfolgen, die sich in der ungarischen politischen Öffentlichkeit abspielen, findet sich heute nur schwer zurecht“ — befand Jänos Berecz, der damals noch für Ideologie zuständige Sekretär des ZK der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) auf der ZK-Sitzung am 29. März 1989 Wenn die politischen Verhältnisse Ungarns schon in der Innen-ansicht eine offensichtlich verwirrende Optik bieten, so gilt dies noch mehr für eine Betrachtung von außen. So kommt die sowjetische Literaturnaja Gazeta denn auch zu dem Urteil: „In Ungarn ändert sich die Situation nicht von Tag zu Tag, sondern von Stunde zu Stunde.“ Andererseits sorgen Glasnost, gewieftes ungarisches Publicity-Management und aufmerksame westliche Berichterstattung für ausreichende Basisinformation über die wichtigsten Akteure, Gruppierungen, Ereignisse und Prozesse der Entwicklung, die seit dem Ende der Kädär-Ära im Mai 1988 ein geradezu atemberaubendes Tempo angenommen hat Im Rückblick auf das vergangene Jahr läßt sich feststellen, daß der Reformprozeß in Ungarn auf ökonomischem wie politischem Gebiet auf einen systemsprengenden Modellwechsel zutreibt und die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Systemüberwindung von Partei, Regierung und Opposition gleichermaßen öffentlich artikuliert wird.
In der Ökonomie steht Ungarn vor dem Wechsel vom Paradigma einer mit Marktelementen durchsetzten Planwirtschaft zu dem einer echten Marktwirtschaft mit Waren-, Kapital-und Arbeitsmarkt, Liberalisierung der Außenwirtschaftsbeziehungen und einer Pluralität von gleichberechtigten Eigentumsformen. Csaba Csäki, Rektor der Karl-Marx-Universität in Budapest und Vorsitzender einer ZK-Kommission, die die Ausrichtung der künftigen Wirtschaftspolitik zu skizzieren hat, faßt die Ausgangsthese der Kommissionsarbeit wie folgt zusammen: „Nach dem heutigen Wortgebrauch spricht jedermann im allgemeinen von Reform, sowohl in Ungarn als auch in den anderen sozialistischen Ländern. Was jedoch tatsächlich an der Tagesordnung ist, ist nichts anderes als kleinere oder größere Berichtigungen, Verbesserungen des Stalinschen Modells des Sozialismus. Wir sind zu der einmütigen Folgerung gekommen, daß wir darüber hinaus gehen müssen, daß wesentlich mehr notwendig ist. Wir müssen einen Modellwechsel vollziehen, der es ermöglicht, daß eine wirklich funktionsfähige, effiziente und wettbewerbsfähige Wirtschaft entsteht. Unsere Folgerungen gründen sich auf der Erkenntnis: das Stalinsche Modell ist nicht verbesserbar.“
In der Politik steht Ungarn vor dem Übergang vom Modell des monolithisch-autokratischen Einparteiensystems zu dem einer pluralistisch organisierten Demokratie mit vielseitigen Formen der Gewaltenteilung und Machtkontrolle. Vehikel und Ziel dieses Übergangs könnte die neue Verfassung sein, deren Einführung für das Frühjahr 1990 geplant ist. Ein erster Vorentwurf wurde unter dem Titel „Leitlinien für die Konzipierung der Verfassung Un-garns“ am 23. Februar 1989 in der Regierungszeitung Magyar Hirlap veröffentlicht, am 8. /9. März im Parlament von Justizminister Kalman Kulcsär vorgestellt, dort ausführlich debattiert und einstimmig gebilligt. Der genaue Textentwurf soll bis August dem Parlament vorgelegt, dann zur gesellschaftlichen Diskussion gestellt werden und nach Einarbeitung der Änderungsvorschläge in der endgültigen Fassung 1990 zum dritten Mal vor das Parlament gelangen. Durch dieses Konstituierungsverfahren wird sich die politische Diskussion in nächster Zeit also wesentlich auch als Verfassungsdiskussion manifestieren.
Daß es sich bei den im Verfassungsentwurf angestrebten Veränderungen nicht um die systemimmanente Reform einzelner Punkte handelt, wie sie im Rahmen einer Verfassungsrevision erreichbar wäre, sondern um einen Modellwechsel, geht aus der Er-klärung von Ministerpräsident Miklös Nemeth in der Parlamentsdebatte hervor. Klar und prägnant sagte Nemeth: „Das bürokratische, überzentralisierte, staatssozialistische Modell des Gesellschaftsaufbaus, das Modell des Parteistaats, ist in eine Sackgasse geraten, hat sich als entwicklungsunfähig und als ein Hemmnis der Modernisierung erwiesen. Es ist offensichtlich, daß seine einfache Korrektur nicht genügt.“ Es geht um eine neue Verfassung, die auf grundlegend anderen politischen Ordnungsvorstellungen beruht als die 1972 revidierte Verfassung von 1949, die in der Tradition der sowjetischen Verfassung von 1936 stand. Ein erläuterndes Expose von Justizminister Kulcsär betont als Richtschnur der Verfassungsgebung die Prinzipien des demokratischen Pluralismus und der Konsensbildung, der Rechtsstaatlichkeit und der Teilung der Macht
I. Pluralismus und Konsensbildung
Unter Berufung auf die Traditionen des amerikanischen Verfassungsrechts hebt Kulcsär die grundlegende Bedeutung gesellschaftlicher Konsensbildung sowohl als Voraussetzung als auch als Ziel der Verfassungsgebung hervor. Die neue Verfassung soll nach seinen Worten ein „die Nation definierendes, sich auf den Konsens über die politischen Werte stützendes Dokument“ sein Zugleich soll die Verfassung offenbar nicht nur einem vorhandenen Konsens Ausdruck geben, sondern auch als Instrument zur Konsensbildung dienen. So ist die Rede davon, daß die Verfassungsgebung als „konsensfördernder Prozeß“ eine Verfassung zum Resultat haben solle, die „auch in Zukunft konsenserhaltend oder doch zumindest kontinuierlich zu einem Konsens führend wirkt“
Die nachdrückliche Betonung der Notwendigkeit der Konsensbildung hat ihren Grund in der Anerkennung der Tatsache, daß „die Menschen Rechte und Interessen haben“, und der Verpflichtung der Regierung, „die ersteren (zu) achten, den letzteren freien Raum zur Verwirklichung (zu) gewähren“. In der weiteren Argumentation der Leitlinien wie auch im Expose des Justizministers wird dann nicht nur der Pluralismus gesellschaftlicher Interessen als real existent und unaufhebbar anerkannt, sondern auch die Legitimität seiner Manifestation als politischer Pluralismus betont. Eben dieses Zusammentreffen von realer Unaufhebbarkeit und politischer Legitimität eines pluralen Systems ist es offenbar, das die Klärung konsensfähiger gemeinsamer politischer Werte — soweit sie gesellschaftlich vorgegeben sind — sowie ihre ständige Neudefinition und Bestätigung im politischen Prozeß notwendig erscheinen lassen. Die prinzipielle Anerkennung der Legitimität pluraler politischer Ausdrucksformen von differenzierten Interessen bedingt die grundsätzliche Abkehr vom Machtmonopol und vom Führungsanspruch der kommunistischen Partei als der einzig legitimen Vertreterin vorgegebener und deshalb nicht konsensbedürftiger politischer Ziele, wie sie der klassischen sozialistischen Staatslehre entspricht.
II. Rechtsstaatlichkeit
Die Hinwendung zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit äußert sich in einer Abwehrhaltung gegen sozialistische Verfassungen, „die wesentlich eher an politische Deklarationen erinnern denn an ein Gesetz“. Demgegenüber ist in den Leitlinien für die Verfassungskonzeption die Notwendigkeit formuliert, „daß der Grundgesetzcharakter unserer Ver-fassung, das heißt ihr Charakter als Rechtsnorm, stärker herausgestellt werden muß“ Damit wird offensichtlich eine Abkehr vom sonst für sozialistische Staaten gültigen Prinzip des Primats der Politik über das Recht vorbereitet, das von G. Brunner in folgende Formel gebracht wurde: „In einer kommunistischen Diktatur ist . , . die Politik dem Recht übergeordnet, das Recht gilt nur im Rahmen der politischen Zweckmäßigkeit, es herrscht der Primat der Politik. Der kommunistische Staat ist kein Rechtsstaat, sondern ein politischer Staat.“ Die „deklaratorischen Verfassungen“ des klassischen Sozialismus bezeichnet der stellvertretende Justizminister Gza Kilenyi als „juristisch wertlos, weil sie keine konsequenten Garantiesysteme ausbauen . . . und sich der Inhalt der staatsbürgerlichen Rechte nicht aus der Verfassung ableiten läßt“ -Justizminister Kulcsr spricht in diesem Zusammenhang davon, es müsse vermieden werden, daß „die entstehende Verfassung zum Mittel der Verwirklichung von Utopien werde“
Die neue Verfassung soll in konsequenter Verfolgung dieses Gedankens auch nicht den offenbar als wenig zufriedenstellend empfundenen Abstraktionsgrad des derzeit geltenden Textes aufweisen, denn „die Normgebung muß übersichtlich und allgemein verständlich sein, damit die Verfassung zum Allgemeingut aller Staatsbürger, zum integralen Bestandteil der staatsbürgerlichen Allgemeinbildung werden kann“ Damit in Zusammenhang steht auch die Forderung nach unmittelbarer Anwendbarkeit der Verfassungsnormen ohne Zwischenschaltung anderer Rechtsnormen. Diese Forderung hat der Vorsitzende des die Verfassung vorbereitenden Parlamentsausschusses, Istvän Gajdcsi, konkretisiert: „Sowohl in der Rechtsschöpfung als auch in der Rechtsanwendung“ seien „eindeutig anwendbaren rechtlicher Normen“ anstelle ideologischer und politischer Deklarationen nötig
Die neue Verfassung soll nach dem expliziten Willen ihrer „Väter“ der Schaffung des Rechtsstaats dienen. Ausdrücklich ist die Rede davon, daß eine bislang nur formal vorhandene Rechtsstaatlichkeit nunmehr auch inhaltlich materiell hergestellt und gesichert werden müsse. Die neu zu schaffende Herrschaft des Rechts wird dahingehend bestimmt, daß „die gesamte rechtliche Regelung auf in der Verfassung festgehaltenen Rechtsprinzipien basieren muß“
Aus dem neuen Anspruch auf materielle Rechtsstaatlichkeit resultieren den Leitlinien zufolge Grundsätze der Rechtssetzung, die in der Verfassung festgehalten werden müssen. So z. B. die Regel, daß die Voraussetzung für die Gültigkeit eines Gesetzes seine Verkündung ist, ferner die Geltung ratifizierter und verkündeter internationaler Verträge als Teil des innerstaatlichen Rechts, das Verbot von rückwirkenden Gesetzen, das Gebot der Konformität nachgeordneter Rechtsregeln mit den ihnen übergeordneten Normen sowie das Gebot der konkreten Normenkontrolle bei Vermutung der Verfassungs-oder Rechtswidrigkeit -In diesen Forderungen spiegeln sich die negativen Erfahrungen mit der Rechts-und Verwaltungspraxis der letzten vierzig Jahre wieder.
Aus dem Bekenntnis zur innerstaatlichen Rechtsgültigkeit internationaler Verträge ergibt sich für Ungarn — das bereits in den siebziger Jahren der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beigetreten ist — die Notwendigkeit, einen ausführlichen Katalog der Menschen-und Bürgerrechte in die Verfassung aufzunehmen und diese Rechte mit Garantien zu versehen. In den Leitlinien wird in konsequenter Verfolgung dieser Prinzipien zum erstenmal anerkannt, daß es sich bei den Menschen-und Bürgerrechten um allgemeingültige Grundwerte vorstaatlichen Ursprungs handelt. Zudem wird expressis verbis festgestellt, daß die staatliche Ordnung im Dienste dieser Werte steht und die Verfassung diese Werte in Beziehung zum institutioneilen Gefüge zu stellen hat
In der in den Leitlinien vorgeschlagenen Systematik der Grundrechte entsprechen die umfangreichen Aufzählungen der Persönlichkeitsrechte, der Freiheitsrechte sowie der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte weitgehend den Katalogen der genannten internationalen Konventionen, stellen-weise gehen sie sogar über diese hinaus (z. B. hinsichtlich des Datenschutzes und der informationeilen Selbstbestimmung). Die aufgeführten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte sind zwar schon zum größten Teil Bestandteil der Verfassung von 1972, werden dort allerdings nicht — wie im Entwurf der neuen Verfassung — allen Menschen, sondern nur ungarischen Staatsbürgern gewährt Der vergleichsweise knappe verbleibende Abschnitt, der den Bürgerrechten im engeren Sinne gewidmet ist, verbietet die willkürliche Aberkennung der Staatsbürgerschaft und die Ausweisung ungarischer Staatsbürger aus Ungarn, garantiert die Möglichkeit zur Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten und das Recht auf Übernahme öffentlicher Ämter. Außerdem soll eine Bestimmung über das Recht ungarischer Bürger auf Schutz im Ausland aufgenommen werden.
Von entscheidenderer Bedeutung als die inhaltliche Ausgestaltung des Katalogs der Grundrechte ist allerdings deren rechtlicher Status. In der neuen Verfassung sollen nunmehr sowohl der allgemeine Verfassungsvorbehalt der „gesellschaftlichen Interessen“ als auch die Bindung der Grundrechte an die Erfüllung der staatsbürgerlichen Grundpflichten wegfallen. Weiterhin soll ein Passus aufgenommen werden, dem zufolge Einschränkungen der Grundrechte ausschließlich auf dem Gesetzeswege erfolgen dürfen. Grundrechtsverletzungen von Seiten des Staates, von Organisationen oder Privatpersonen werden mit rechtlichen Sanktionen belegt. Die Grundrechte sollen vor den Gerichten einklagbar sein, in besonderen Fällen soll der Bürger seine Rechte vor einem neu zu schaffenden Verfassungsgerichtshof einklagen können. Erwogen wird außerdem die Einrichtung eines vom Parlament gewählten und diesem verantwortlichen „Ombudsmans für die staatsbürgerlichen Rechte“, der mit weitreichenden Kontrollbefugnissen ausgestaltet sein soll und neben dem Verfassungsgericht eine zusätzliche Schutzinstanz für die Einhaltung der Grundrechte darstellen würde
Was den Bereich externer Rechtsbehelfe gegen Grundrechtsverletzungen angeht, so schreibt die Formulierung der Leitlinien, durch die das Recht ungarischer Bürger, internationale Gremien anzurufen, garantiert wird, insofern einen in der völkerrechtlichen Praxis bereits erreichten Zustand fest, als sich Ungarn schon im September 1988 dem Artikel 41 des Internationalen Pakts über zivile und politische Rechte angeschlossen hat. in dem eben dieses Recht gewährleistet wird. Generell kann festgestellt werden, daß sich Ungarn mit seiner bisherigen Menschenrechtspraxis international eine gewisse Reputation erworben hat, sie allerdings häufig instrumentell im Dienste der Außenwirtschaftspolitik, in jüngster Zeit auch der Außenpolitik eingesetzt hat.
Die neue Verfassung soll die unmittelbare Rechts-anwendung von Verfassungsnormen ohne Zwischenschaltung intermediärer Rechtsnormen in höherem Ausmaß als bisher ermöglichen. Dennoch ist offenbar nicht daran gedacht, sie zur einzigen Quelle des Verfassungsrechts zu machen. Neben der Verfassung sind als Festlegung der höheren Normen des öffentlichen Rechts sogenannte Gesetze mit Verfassungsrang vorgesehen, die in einem Gesetzgebungsverfahren, das sich von demjenigen einfacher Gesetze unterscheidet, verabschiedet werden sollen. Gedacht wird etwa an eine Verabschiedung mit qualifizierter Mehrheit. Als umfassende Gruppen derartiger Verfassungsgesetze werden die Bereiche der Bestimmungen über die wichtigsten Staatsorgane, der gesetzlichen Regelung der Beziehungen zwischen Staat und gesellschaftlichen Organisationen sowie der Regelung individueller und kollektiver staatsbürgerlicher Rechte genannt. Eine katalogartige Anlage zu den Leitlinien nennt beispielsweise das Gesetz über die Rechtsstellung der Parlamentsabgeordneten, die Gesetze über Wahlen und Volksabstimmungen, das Parteiengesetz und das Gewerkschaftsgesetz Einige dieser Gesetze sind in den letzten Monaten im Vorgriff auf die neue Verfassung bereits verabschiedet worden — so das Versammlungsgesetz, das Gesetz über die Vereinigungsfreiheit, das Streikgesetz — oder liegen als ausgearbeitete Vorlagen vor (u. a. das Gesetz über Volksentscheid und Volksbegehren, das Presse-und Informationsgesetz und das Parteiengesetz).
Die Gesetze des „Demokratiepakets“, dem das Parlament im November zugestimmt hat, waren zunächst als weiterführende Maßnahmen eines Systemwandels gedacht. Mit der Verabschiedung des Vereinigungsgesetzes am 11. Januar 1989 und mit dem in seinem Gefolge ausgearbeiteten Entwurf zum Parteiengesetz wurde jedoch der Übergang vom Einparteiensystem zum Mehrparteiensystem eingeleitet, d. h.der Übergang zu einem neuen politischen Paradigma und damit die Qualität eines Systemwechsels wurden manifest. Die im Vorgriff auf die eigentliche Verfassung ausgearbeiteten Gesetze mit Verfassungsrang markieren einen qualitativen Wandel, der seinerseits wieder Ausdruck in den Bestimmungen der neuen Verfassung finden muß. Das Konstituierungsverfahren für die neue Verfassung soll — zumal nach Ansicht oppositioneller Gruppierungen und Parteien die demokratische Legitimation des Parlaments in seiner derzeitigen Zusammensetzung anzuzweifeln ist — nach der Verabschiedung durch das bestehende oder durch das zuvor neu zu wählende Parlament in jedem Fall mit der unmittelbaren Legitimation durch Volksab-
III. Teilung der Macht
In radikaler Abkehr von den bislang gültigen und noch immer dominanten politischen Auffassungen wird der gesellschaftliche Pluralismus im Expose des Justizministers nicht als Parole, als aufzuhebender oder anzustrebender Zustand, sondern als realer Zustand jeder, auch einer sozialistischen Gesellschaft gesehen, der auch dann „existierte, wenn wir seine Existenz nicht anerkennen würden“ Der gesellschaftliche Pluralismus gilt nun als eine gesellschaftliche Gegebenheit, der die Organisation der staatlichen Macht angepaßt werden muß. Ohne Berücksichtigung der pluralen Strukturen von Interessen, Überzeugungen, kulturellen Differenzen usw.sei auch die vollkommenste denkbare Politik nicht ohne ungewollt dysfunktionale Konsequenzen realisierbar. Die Kritik an der Undifferenziertheit eines monolithischen Machtapparats wird unter ironischer Anspielung auf Lenins Staat und Revolution in die rhetorische Frage gekleidet, ob der Staatsapparat mit der Rationalität funktionieren könne, die den Organisationsprinzipien der Post oder einer Großbank entspricht.
Aus dem Pluralismusargument folgt das generelle Postulat einer Teilung der Macht, das sich an erster Stelle in der Forderung nach strikter Trennung von Staat und Partei äußert. Sie bedeutet mehr als eine personelle Entflechtung von Partei-und Staatsämtern oder eine am Kriterium funktionaler Rationalität ausgerichtete Arbeitsteilung zwischen den obersten Partei-und Staatsorganen. Vielmehr hat sich nach Aussage des stellvertretenden, für die Leitlinien federführenden Justizministers Geza Kilenyi die Verfassungsausarbeitung an dem Prinzip auszurichten, daß weder das Grundgesetz selbst noch andere Rechtsnormen Befugnisse der öffentlichen Gewalt bei der Partei oder deren Organen ansiedeln dürfen stimmung abgeschlossen werden. Einmal gültig, soll die neue Verfassung auch in Zukunft umfassend nur durch Volksentscheid geändert werden können. Verfassungsänderungen kleineren Umfangs sollen, sofern sie einen Abschnitt oder Einzel-bestimmungen betreffen, weiterhin — unter dem Vorbehalt einer Zweidrittelmehrheit — dem Parlament vorbehalten bleiben.
Darüberhinaus darf allgemein — nach zukünftigem Verfassungsgrundsatz — keine gesellschaftliche Organisation und kein Organ des Staates „seine Tätigkeit auf den ausschließlichen Besitz der Macht oder die Machtergreifung durch Gewalt ausrichten“ Unter Hinweis auf die negativen Erfahrungen der Vergangenheit — gemeint ist offenbar die zweimalige Beseitigung des Mehrparteiensystems in den Jahren 1948 und 1956/57 — erläuterte Kulcsär einen Aspekt dieses Verbotes dahin gehend, daß keine politische Organisation die Möglichkeit haben dürfe, die Tätigkeit der Verfassungsorgane zu unterbinden oder die Ausschaltung einer anderen politischen Organisation bzw.der durch diese vertretenen gesellschaftlichen Gruppe anzustreben.
Soweit aus den Leitlinien ersichtlich, nimmt das Verbot des Machtmonopols und der gewaltsamen Machtusurpation in der Gesamtkonzeption die Stelle eines zentralen Verfassungsdogmas ein. Zugleich enthält es implizit das Eingeständnis des grundsätzlichen und nur durch einen Wechsel des politischen Paradigmas aufzuhebenden Legitimationsmangels des bestehenden Herrschaftssystems. 1. Mehrparteiensystem Es erscheint unter diesen Voraussetzungen logisch, daß die neue Verfassung nach Maßgabe der Leitlinien den Paragraphen 3 der jetzigen Verfassung: „Die marxistisch-leninistische Partei ... ist die führende Kraft der Gesellschaft“ nicht mehr enthalten, also das Führungsmonopol der Partei nicht länger als charakteristisches Merkmal des politischen Systems in der Verfassung verankert sein soll. In der Formulierung der Leitlinien, die hier der parteiideologischen Entwicklung der letzten Jahre Ausdruck geben, hat sich das „Führungsmonopol“ ohnedies bereits zur „Hegemonialposition“ verfeinert, für die die Partei keine gesetzliche Garantie mehr anstrebt. Das heißt, daß die Partei bereit ist, das Führungsmonopol aufzugeben, und ihren nach wie vor aufrechterhaltenen, aber nicht mehr ausschließlich ideologisch begründeten und nicht mehr gesetzlich garantierten Führungsanspruch in Konkurrenz zu anderen politischen Organisationen zu verwirklichen sucht. Dies bedeutet nicht die sofortige und totale Selbstentmachtung der USAP, wohl aber ihre Selbstverleugnung als kommunistische Partei bolschewistischen Typs und ihre notwendige Wandlung zu einer sozialistischen oder sozialdemokratischen Partei westlichen Musters.
Die Entscheidung für den ersten prinzipiellen Schritt in diese Richtung fiel — eine Folge auch der Verabschiedung des Vereinigungsgesetzes — auf der außerordentlichen Sitzung des ZK der USAP am 10. /II. Februar 1989: Das Gremium votierte mit 101 Stimmen — bei zwei Gegenstimmen und drei Enthaltungen — für die Einführung eines Mehrparteiensystems in nicht allzu ferner Zukunft. Im Kommunique über die Sitzung gab das ZK, entgegen anderslautender Äußerungen der Parteiführung noch vom Dezember 1988, seiner Überzeugung Ausdruck, „in der gegenwärtigen Situation des Landes“ könne „politischer Pluralismus nur im Rahmen eines Mehrparteiensystems realisiert werden“ Daß man das Mehrparteiensystem akzeptiert, ist seither mehrfach in parteiamtlichen Dokumenten unterstrichen worden; letztens wurde seine Einführung in einem Aktionsprogramm der USAP sogar nachdrücklich gefordert
Es ist gewiß kein Zufall, daß die Partei ihre prinzipielle Zustimmung zum Mehrparteiensystem am 13. Februar 1989 zusammen mit ihrer revidierten Auffassung über die Ereignisse von 1956 öffentlich dokumentiert hat. Die Reinterpretation der „Konterrevolution“ zur „Volkserhebung“ ist ihrerseits Ausgangspunkt für die inzwischen eingeleitete juristische und moralische, indirekt auch politische Rehabilitation Imre Nagys, des Ministerpräsidenten Ungarns während des Aufstandes von 1956. Kritisehe Vergangenheitsbewältigung, Verfassungsgebung und Neudefinition der USAP als sozialistischer Reformpartei im Rahmen eines Mehrparteiensystems konstituieren das ideologisch-politische Interaktionsmuster des angelaufenen Modellwechsels.
Zu den weitreichenden Konsequenzen, die das veränderte Selbstverständnis der USAP zeitigt, gehört einerseits die geradezu revolutionäre Empfehlung des Politbüros vom 19. April 1989, das Nomenklatursystem abzuschaffen, die Personalkompetenz der Partei auf die Besetzung von Parteifunktionen zu beschränken, vom Prinzip des demokratischen Zentralismus Abstand zu nehmen und ein „den Organisationsprinzipien und der Struktur der westeuropäischen linken Parteien ähnliches Funktionsschema zu installieren“ Andererseits gehören dazu aber auch massenhafte Austritte aus der Partei, deren Mitgliederbestand sich allein im ersten Quartal dieses Jahres um rund 21 000 auf 780 000 reduziert hat sowie die Formierung eines parteiinternen Widerstands, der die USAP an den Rand der Spaltung führt.
Auch in den Bestimmungen des Gesetzentwurfs über die politischen Parteien, der am 19. April 1989 der Öffentlichkeit zur Diskussion vorgelegt wurde manifestieren sich alte Machtverteidigungsreflexe der noch alleinregierenden USAP. So kann sich z. B. eine Partei erst dann konstituieren, wenn sie nachgewiesen hat, daß sie über mindestens 1 000 Gründungsmitglieder verfügt. Zudem kann die Parteiarbeit erst nach einer Registrierung beim Verfassungsgericht aufgenommen werden, das Statuten, Programmerklärung und Protokoll der konstituierenden Sitzung einer Vorabüberprüfung auf Gesetz-und Verfassungswidrigkeit zu unterziehen hat. Im Gesetzentwurf fehlt allerdings ebenso wie in den Leitlinien zur Verfassungskonzeption die — insbesondere von Parteichef Käroly Grosz immer wieder geforderte — Verpflichtung auf den Sozialismus als Voraussetzung für die Legalität neuer Parteien.
Die im Gesetzentwurf enthaltene Zusicherung einer staatlichen Parteienfmanzierung. bei der 25 Prozent der zur Verfügung gestellten Budget-mittel paritätisch unter allen Parteien, 75 Prozent gemäß ihrer Stärke im Parlament verteilt werden sollen, sowie die in den Verfassungsleitlinien fest-gehaltene Funktionsbestimmung der politischen Parteien als wichtigster Organisationsrahmen für die politische Willensbildung, für die Repräsentation unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen und für die politische Partizipation der Staatsbürger verweisen eindeutig auf die Absicht, bereits in der nächsten Wahlperiode, d. h. 1990, ein pluralistisches Parteiensystem mit „Parteienprivileg“ zu institutionalisieren. Der generelle Grundsatz der künftigen Verfassung, der das Streben nach gewaltsamer Machtusurpation und nach Machtmonopol als per se illegitim ausweist, wird im Entwurf des Parteiengesetzes wiederholt: „Programm und Tätigkeit einer politischen Partei darf sich nicht auf den gewaltsamen Erwerb der Macht oder deren ausschließlichen Besitz richten, der zur Beseitigung der anderen Parteien führen würde.“ Das Bewußtsein des Mangels an demokratischer Tradition und Praxis in der ungarischen Gesellschaft scheint sich Ausdruck zu verschaffen, wenn dieser Passus mit der erklärenden Bemerkung ergänzt wird: „Diese Regel schließt nicht aus, daß unter mehreren Parteien eine im Parlament die absolute Mehrheit erlangt. regiert und möglicherweise parlamentarische Mittel dazu einsetzt, einzelne Rechtsnormen zu verändern.“ 2. Gewaltenteilung Als institutionelles Instrument des Schutzes vor unzulässiger Machtkonzentration auf staatlicher Ebene soll nach den Richtlinien für die Verfassungskonzeption das klassische System der Gewaltenteilung dienen. Es wurde von Justizminister Kulcsär in seiner Parlamentsrede unter Berufung auf James Madisons Interpretation der amerikanischen Verfassung (The Federalist, Nr. 51) als unverzichtbare Forderung bezeichnet. Die Neuartigkeit dieser bewußten Abkehr vom Grundsatz der Gewalteneinheit als Prinzip des Staatsorganisationsrechts wird deutlich, wenn Kulcsärs Stellvertreter Kilenyi an anderer Stelle ausführt: „Es ist bekannt, daß die offizielle Auffassung lange Zeit in der Lehre von der Trennung der Gewalten eine bourgeoise Kategorie gesehen hat, ja sogar ihre Existenz geleugnet und an ihre Stelle die Fiktion der Einheit der Gewalt gesetzt hat.“ Im Gegensatz zur sozialistischen Verfassungstheorie, der zufolge im staatlichen Bereich alle Gewalt bei der Volksvertretung konzentriert ist und alle übrigen Verfassungsorgane der Volksvertretung verantwortlich und rechenschaftspflichtig sind bezeichnen die Leitlinien den Grundsatz der Gewaltenteilung neben dem Prinzip der Volkssouveräni-tät als „normatives Prinzip der Ausübung staatlicher Gewalt“, das im Text der Verfassung festgeschrieben werden soll.
Von einer Äußerung des amerikanischen Verfassungsrichters Warren Burger ausgehend, nach der der Staatsapparat bewußt so aufzubauen sei, daß sein Funktionssystem zu Konflikten, Störungen und Disharmonie führt, wird das der angelsächsischen Staatstheorie entstammende Prinzip der checks and balances von Kulcsär als logisches Korrelat des Systems der Gewaltenteilung angeführt, das dem Schutz vor Machtkonzentration dient. Im Westen, so Kulcsär, habe sich das Prinzip der Trennung und des Gleichgewichts der Gewalten, das in der ungarischen Tradition nie zu einem Element der politischen Kultur geworden sei, zu einer Technik herauskristallisiert, die zwar in der Praxis nirgends in voller Reinheit realisiert wurde, die aber dennoch unverzichtbar bleibe, denn: „Eine bessere ist nicht bekannt.“
Das System der checks and balances wird in den Leitlinien mit dem Verbot des Kompetenzenentzugs und der Kompetenzusurpation verbunden: „Die Gewalten begrenzen und hemmen sich gegenseitig. Entsprechend diesem Grundsatz ist es generell zu verbieten, daß einzelne staatliche Organe anderen Kompetenzen entziehen.“ Neben das Prinzip der horizontalen Gewaltentrennung, das nicht nur im Zusammenwirken der einzelnen Organe, sondern auch in ihrem inneren organisatorischen Aufbau durch das System der checks and balances gewährleistet werden muß, tritt — in Abkehr vom Rätesystem — ein zusätzliches Element der vertikalen Gewaltenteilung: Dem Schutz des Individuums vor der Allmacht der Staatsgewalt soll auch die verfassungsmäßige Verankerung der organisatorischen und wirtschaftlichen Selbständigkeit von territorialen und korporativen Selbstverwaltungskörperschaften und -anstalten dienen. 3. Neue Institutionen Im institutionellen Bereich versucht man, in der Verfassungsgebung den Aussagen der Leitlinien zufolge ein dreifaches Ziel zu erreichen. Neben der bereits erwähnten funktionalen Trennung der Gewalten und des Ausbaus eines Systems von checks and balances geht es hier — erstens — um die funktionale Modernisierung bestehender Institutionen entsprechend den Erfordernissen einer den jüngeren Entwicklungen angepaßten effizienten Staats-organisation und — zweitens — um die Schaffung neuer Institutionen vor allem unter dem Aspekt der Rechtsstaatlichkeit. Im Folgenden sollen die beiden wichtigsten der neuzuschaffenden Institutionen kurz behandelt werden: das Verfassungsgericht und der Präsident der Republik.
Das Verfassungsgericht soll an die Stelle des 1984 als Organ des Parlaments geschaffenen Verfassungsrechtsrats treten und alle Aufgaben der Verfassungsaufsicht übernehmen. Es unterscheidet sich allerdings von seinem Vorgänger sowohl durch seine Unabhängigkeit von den anderen Organen der Staatsgewalt als auch durch seine erheblich erweiterten Kompetenzen. Es soll einerseits vollkommen aus dem Bereich der Legislative ausgegliedert, andererseits innerhalb des judikativen Bereichs als von der allgemeinen Gerichtsbarkeit getrenntes, eigenständiges Gremium errichtet werden. Seine elf Mitglieder werden vom Parlament aus dem Kreis der angesehenen Rechtswissenschaftler und erfahrensten Rechtspraktiker auf Lebenszeit gewählt und dürfen weder dem Parlament angehören noch sonst ein öffentliches Amt bekleiden. Zur Diskussion steht derzeit noch die Frage der Vereinbarkeit bzw.der Unvereinbarkeit des Richteramtes mit der Mitgliedschaft in einer politischen Partei
Hauptaufgabe des Verfassungsgerichts ist die nachträgliche Normenkontrolle. Stellt es die Verfassungswidrigkeit eines förmlichen Gesetzes fest, so setzt es dessen Vollzug aus. Die letzte Entscheidung über die Verfassungskonformität und über weitere Gültigkeit des Gesetzes liegt jedoch beim Parlament, das in diesem Falle mit Zweidrittelmehrheit entscheidet. Sogenannte untergesetzliche Rechtsvorschriften kann das Verfassungsgericht für ungültig erklären. Auf Antrag des Parlaments oder des Präsidenten der Republik kann das Verfassungsgericht auch zur Verfassungsmäßigkeit eines verabschiedeten, aber noch nicht verkündeten und damit noch nicht gültigen Gesetzes Stellung nehmen. Bei entsprechendem Bescheid wird das Gesetz zur neuerlichen Vorlage und Abstimmung an das Parlament zurückverwiesen. Auch hier ist die qualifizierte Mehrheit erforderlich. Wenn das Verfassungsgericht eine Verletzung der Verfassung dergestalt feststellt, daß die zur Erfüllung des Verfassungsauftrags notwendigen Normen nicht erlassen wurden, kann es das zuständige Rechtssetzungsorgan zur Verabschiedung dieser Norm auffordern. Als weitere Aufgaben sind u. a. vorgesehen: die autoritative Auslegung der Verfassung, die Aufsicht über Wahlen und Volksabstimmungen und der Schutz der in der Verfassung verbürgten Grundrechte. Eine besondere Rolle wird seine voraussichtliche Mitwirkung bei der Registrierung politischer Parteien spielen.
Das Verfassungsgericht kann im Bereich der Normenkontrolle nicht in eigener Initiative, sondern nur auf Antrag tätig werden. Antragsberechtigt sollen im wesentlichen die obersten Staatsorgane sein, im Falle von Grundrechtsverletzungen auch der Ombudsman für die staatsbürgerlichen Rechte und einzelne Staatsbürger. Die Einrichtung des Verfassungsgerichts soll offensichtlich dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verstärkte Geltung verschaffen. Die Übertragung der Aufgabe der Normenkontrolle an ein Organ der Judikative, also ihre prinzipielle Ausgliederung aus dem Legislativbereich entspricht dem Prinzip der Gewaltentrennung. Zugleich wird die ausschließliche Legislativkompetenz des Parlaments in der Theorie bewahrt, in der Praxis sogar verstärkt.
Der Präsident der Republik soll als Staatsoberhaupt an die Stelle des bisherigen Präsidialrats treten, eines aus 21 Mitgliedern bestehenden, vom Parlament ausschließlich aus seinen eigenen Reihen gewählten Gremiums, das als kollektives Staatsoberhaupt fungiert. Der Präsident soll jedoch nicht alle Funktionen des Präsidialrats übernehmen. Diese zerfielen bisher in zwei große Gruppen, nämlich in die sogenannten originären Befugnisse, die weitgehend denjenigen eines traditionellen Staatsoberhaupts entsprechen, und in Funktionen, die seiner generellen Vertretungskompetenz für das Parlament entsprangen. In dieser Vertretungsfunktion hatte der Präsidialrat, der Verordnungen mit Gesetzeskraft erlassen und in dieser Form Parlaments-gesetze abändem konnte, die Legislativkompetenzen des Parlaments nahezu vollständig usurpiert
Das legislatorische Übergewicht des Präsidialrats gegenüber dem Parlament wurde 1987 durch eine verfassungsrechtliche Klärung der Rechtssetzungszuständigkeiten abgebaut. Durch eine Aufzählung der Gesetzgebungsgegenstände, deren Regelung durch Verordnung mit Gesetzeskraft nicht mehr zulässig sein sollte, wurde die ausschließliche Legislativkompetenz des Parlaments erheblich erweitert. So erscheint es nur konsequent, wenn die Verfasser der Leitlinien nunmehr die gänzliche Abschaffung der Vertretungskompetenz, die Auflösung des Präsidialrats und den Übergang seiner Funktionen als Staatsoberhaupt auf ein anderes Organ fordern.
Das neue Staatsoberhaupt soll allerdings nicht auf reine Repräsentativfunktionen beschränkt werden. Der Staatspräsident soll vielmehr mit Kompetenzen ausgestattet werden, die es ihm ermöglichen, die Rolle eines pouvoir neutre innerhalb eines gewaltenteiligen Regierungssystems wahrzunehmen. Vorgesehen ist seine unmittelbare Wahl durch die stimmberechtigten Bürger. Seine Stellung als „vierte Gewalt“ wird durch Bestimmungen betont, die seine Zugehörigkeit zum Parlament oder zu einer anderen staatlichen Repräsentativkörperschaft (Räte), zur Regierung, zum Verfassungsgericht oder zu einem anderen Gericht ausschließen. Die angestrebte Trennung von Partei und Staat findet ihren Ausdruck darin, daß das Staatsoberhaupt kein höheres Parteiamt innehaben und nicht Mitglied des Führungsgremiums einer Partei sein soll. Unter den Bedingungen eines Mehrparteiensystems wird darüber hinaus die Neutralität seiner Stellung durch die Formulierung bekräftigt, das Staatsoberhaupt solle „über den Parteien stehen“
IV. Die sozialistische Grundordnung
Wie Justizminister Kulcsär in einem Interview ausführte hat sich in der Debatte über die Leitlinien allgemeine Zustimmung zu drei wesentlichen Punkten ergeben: zum Verbot des Machtmonopols und der gewaltsamen Machtusurpation als Grundprinzip der Gesamtkonzeption, zum Grundsatz einer Teilung der Macht auf mehreren Ebenen, die über das klassische Prinzip der Trennung der Gewalten hinausgeht, sowie zur Sicherung der Menschenrechte durch Verfassungsgarantien. Darüber hinaus besteht Konsens darüber, daß die Verfassung im Anschluß an den Abschnitt über die Menschenrechte, der an die Spitze der Systematik gerückt wird, die Grundprinzipien der gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Ordnung anführen muß. Während offenbar der Konsens über die Konsensbedürftigkeit dieser Prinzipien als erreicht gelten kann, trifft das gleiche noch nicht für ihre inhaltliche Füllung und Reichweite zu, die als weiterhin diskussionsbedürftig bezeichnet wird.
Dies entspricht den Intentionen der Richtlinien, die im ersten allgemeinen Abschnitt erklären, die Verfassung solle der selbstgesteuerten Entwicklung der Eigentumsverhältnisse, des Wirtschaftssystems und des politischen Systems Raum lassen und deren Entfaltung und Weiterentwicklung nicht durch ungerechtfertigte Restriktionen behindern. Dies gelte sinngemäß auch für die ideologischen Aussagen. In der Verfassung sollten die modernen wissenschaftlich fundierten Prinzipien der sozialistischen Gesellschaftsordnung aufscheinen, ein „fertiges Sozialismusbild“ für den Alltagsgebrauch könne jedoch von der Verfassung nicht verlangt werden. Die Formulierung „moderne wissenschaftlich fundierte Prinzipien“ hat hier offensichtlich nicht den gleichen festgelegten Bedeutungsinhalt wie der Begriff „wissenschaftlicher Sozialismus“ im orthodoxen Marxismus-Leninismus.
Die Scheu vor formelhaften Definitionen von Systemkriterien und der Versuch, das ungarische Gesellschaftssystem für autonomen Wandel offenzuhalten, sind zweifach motiviert. Zum einen befürchtet man, ein Ungarn oktroyiertes, in Osteuropa allgemein gescheitertes Sozialismusmodell könne weiterhin tradiert werden. Zum anderen soll die Festschreibung eines politischen Systems verhindert werden, das lediglich „die Anfangsphase des Abbaus eines autoritären Herrschaftssystems“ darstellt. Eine derartige Festschreibung — so Kulcsär — würde den Weg zu weiterer Entwicklung verbauen, ja könnte die Möglichkeit zur Wiederbelebung einzelner Elemente des zu überwindenden politischen Systems oder gar seiner Restauration im Ganzen bieten
Andererseits wird in den Leitlinien gefordert, die Präambel zur Verfassung solle klarstellen, „daß Ungarn ein freier, demokratischer und sozialistischer Staat ist. Sie soll darüber hinaus auf die Werte verweisen, welche die neue auf den Bestrebungen der Arbeiterbewegung sich gründende Gesellschaftsordnung geschaffen hat.“
Auf dem ZK-Plenum der USAP vom 20. /21. Februar 1989, das den Verfassungsentwurf behandelte, wandte sich ZK-Sekretär György Fejti gegen eine „normative Definition“ des Begriffs Sozialismus in der Verfassung. Der sozialistische Charakter der ungarischen Entwicklung solle statt dessen unter Bezugnahme auf Grundwerte wie Demokratie, Gleichheit. Pluralismus, die bestimmende Rolle des Gemeinschaftseigentums, soziale Gerechtigkeit, Abbau von Chancenungleichheit, Menschen-und Bürgerrechte klar gestellt werden
In diesen Forderungen an den Verfassungstext manifestiert sich ein Sozialismusverständnis, das offen-sichtlich stark an den Traditionen der europäischen Sozialdemokratie und an den Grundlinien des schwedischen Wohlfahrtssozialismus orientiert ist. Allerdings ist in diesem Punkt die Diskussion noch im Fluß. Einerseits ist noch kein Konsens über die Kriterien erreicht, an denen das neue ungarische Sozialismus-Konzept gemessen werden soll. Zum anderen hat die Diskussion noch nicht einmal zu einer endgültigen Entscheidung darüber geführt, ob die Gesellschaftsordnung insgesamt durch explizite Formulierungen im Text der Verfassung festgeschrieben werden soll. Die freiheitliche demokratische „sozialistische“ Grundordnung steht also gegenwärtig noch zur Disposition. Zumindest wo es um die Grundprinzipien der Wirtschaftsordnung geht, besteht allerdings Konsens darüber, diese als Marktwirtschaft ohne Hinzufügung des Adjektivs sozialistisch zu bezeichnen. Während die Institutionalisierung eines Mehrparteiensystems auch als implizite Folgerung aus dem Grundprinzip der Teilung der Macht auf mehreren Ebenen gesehen wird und insoweit bereits als fester Bestandteil der künftigen Verfassung gilt, kann sich jedoch die Nennung oder Nichtnennung der sozialistischen Verfaßtheit der Gesellschaft im Verfassungstext sowie deren inhaltliche Bestimmung entscheidend auf die Breite des Spektrums zuzulassender Parteien auswirken.
Diese und andere Fragen des Übergangs zu einem neuen politischen Modell sind noch ebenso offen wie zahlreiche andere, zum Teil sehr wesentliche Details seiner Institutionalisierung. Sie sollen in den nächsten Monaten u. a. auch in Absprachen zwischen der Partei und den autonomen politischen Gruppierungen und Parteien der Opposition nach dem Muster des polnischen „Runden Tischs“ geklärt werden -Noch hat der Modellwechsel nicht endgültig stattgefunden. Allerdings hat der Prozeß der Transformation des ungarischen politischen Systems in Richtung auf einen pluralistischen demokratischen Rechtsstaat einen Punkt erreicht, an dem er ohne gewaltsame Eingriffe von innen oder außen nicht mehr aufgehalten oder umgekehrt werden kann.