Als der Historiker Jerzy Holzer im Januar 1988 in einem offenen Brief an den Ersten Sekretär des ZK der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) und Staatsratsvorsitzenden, General Wojciech Jaruzelski, sowie an den Vorsitzenden der delegalisierten unabhängigen Gewerkschaft „Solidamosc“, Lech Wasa, die Aufforderung richtete, im Dienste der nationalen Versöhnung „in gemeinsamer Anstrengung und mit der moralischen Unterstützung, wie die Kirche sie sicher geben wird, das Rad der Geschichte umzudrehen“ erntete er von Regierungssprecher Jerzy Urban nur eine belehrende Antwort: Als Historiker solle Holzer doch zwischen dem unterscheiden, was Geschichte und was Gegenwart sei und wirklich existiere Fünfzehn Monate später, am 18. April 1989, war es dann soweit: Das erste Mal seit dem denkwürdigen, erfolglos gebliebenen Dreiergespräch zwischen dem damaligen Ministerpräsidenten Jaruzelski, Primas Jözef Kardinal Glemp und dem „Solidamosc“ -Vorsitzenden Wasa am 4. November 1981 über die Schaffung eines „Rates der Nationalen Verständigung“ trafJaruzelski mit dem Vorsitzenden der tags zuvor im Warschauer Wojewodschaftsgericht wieder legalisierten Gewerkschaft zusammen.
Jaruzelski, der am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte, für die Delegalisierung der „Solidamosc“ und anderer unabhängiger gesellschaftlicher und künstlerischer Organisationen verantwortlich zeichnete, ist zugleich der Mann, der jetzt nach langem Zaudern „grünes Licht“ für die Demokratisierung des politischen Systems gibt. Damit profiliert er sich als der erste polnische Nachkriegs-politiker,in dessen Regierungszeit zwei Demokratisierungsphasen (1981, 1989) fallen und der zwei systembedrohende Krisen überlebte: die politische Krise 1981 und die paralysierende Stagnation in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre.
Jaruzelskis Gegenspieler, Lech Wasa, ist der Arbeitertribun des Jahres 1980, der während der Internierung nach der Verhängung des Kriegszustandes gegen alle Korrumpierungsversuche und moralische Diskreditierungsabsichten den Widerstand gegen die Herrschaft des „Militärrates der Nationalen Errettung“ (WRON) symbolisierte. Der erste polnische Friedensnobelpreisträger, auf den sich jetzt auch das offizielle Polen stolz zeigt, erfuhr in den letzten Jahren die Reifung zum Politiker, die ihn im Sommer 1988 zum unersetzbaren Gesprächspartner der Regierung und zum Vermittler in einer ausweglos erscheinenden politischen Patt-Situation und einer von der Regierung nicht mehr beherrschten sozio-ökonomischen Krisenlage machte.
Was sind die Ursachen dafür, daß eine politische Wende, die 1988 noch außerhalb der realistischen Vorstellungen der Repräsentanten der politischen Opposition lag, nach einem neunwöchigen Verhandlungsmarathon am „runden Tisch“ in Gesetzesnovellierungen und Verfassungsänderungen einmündete, die Polen im Verlaufe der neunziger Jahre in die parlamentarische Demokratie und soziale Marktwirtschaft mit starkem staatlichem und genossenschaftlichem Sektor hinüberführen sollen?
I. Polen ’ 88: Zwischen Erschöpfung, Resignation und Explosion
Warnsignale hatte es genug gegeben. In der Presse war die Rede von dem „Gefühl, von einer zivilisatorischen Degradation bedroht zu sein, dem Gefühl der Sinnlosigkeit und der Vergeldlichung des Bewußtseins“ einer Folge des dramatischen Kaufkraftverlustes des Zloty. Die nach sechs Jahren weitgehend erfolglos gebliebener Wirtschaftsreform vorherrschende Gemütsverfassung sei Erschöpfung und Unruhe. Die Mängel und Sorgen im Alltag machten müde. Vor allem aber ermüde das Gefühl der Perspektivlosigkeit, konstatierte illusionslos „Polityka“, die angesehene Wochenzeitung der regierenden Partei, im Frühjahr 1988
Die unisono von Regierungsanhängern wie System-kritikern konstatierte Hoffnungslosigkeit fand ihren Niederschlag in Meinungsumfragen. In der repräsentativen Untersuchung „Polen ‘ 88", die in Auszügen in der „Polityka“ veröffentlicht wurde, hieß es, daß Anfang 1988 über 84 Prozent der Befragten glaubten, „daß ein grundlegender Wandel zum Besseren in Polen nur erreicht werden kann, wenn die Autoritäten mit der Gesellschaft eine Übereinkunft finden“. Zugleich waren fast 70 Prozent pessimistisch hinsichtlich der Erfolgschancen einer solchen Übereinkunft, sie sahen „keinen Sinn darin, auf einen grundlegenden Wandel zu warten, wir können nur auf uns selbst und die Hilfe unserer Nächsten rechnen“ Das war eine bittere Notwendigkeit: Kaum zwei Prozent der Befragten verdienten mehr Geld, als sie ausgaben. Nur 29 Prozent berichteten, daß das Geld in der Regel für das Notwendigste in der Familie reichte. Bei 25 Prozent reichte das Geld nie aus. 14 Prozent waren auf familiäre Hilfe angewiesen. Bei 67 Prozent der Befragten mußten die Ausgaben wegen der Inflation dauernd gekürzt werden.
Die Autoren des Berichts, Soziologen der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN), kamen zu dem Schluß: „Die Feststellung einer fortschreitenden Pauperisierung der Gesellschaft ist keine Übertreibung.“ Angesichts dessen nahm es nicht Wunder, daß laut „Polen ’ 88“ nur ein kaum wahrnehmbarer Prozentsatz der Gesellschaft an die Wirtschaftsreform glaubte. Die Verhaltensweisen, die sich aufgrund dieser Perspektivlosigkeit herausbildeten, reichten von Apathie, Resignation, dem Rückzug in die Privatsphäre über die vor allem bei der Jugend immer weiter um sich greifende Bereitschaft zur Emigration bis hin zu bisweilen von Verzweiflung und dem Gefühl, nichts mehr verlieren zu können, getragenem spontanem Protest und dem Unwillen, sich mit den wirtschaftlichen und politischen Realitäten abzufinden.
Für die Regierung in Warschau kam erschwerend eine fatale Konstellation hinzu, die von dem Historiker und Oppositionspolitiker Adam Michnik so umschrieben wurde, „daß die Regierung von den Reformgegnern unterstützt wird, während den Reformwillen Kräfte repräsentieren, die in Opposition zur Regierung stehen. Einfach gesagt: In Polen, genauso wie in der UdSSR, wird der Widerstand gegen die Reform von der Nomenklatura geleistet, einer breiten Klasse des bürokratischen Macht-apparats.“ Parteispitze und Regierung mußten sich also, um durchgreifende Reformen mit Aussicht auf Erfolg durchzuführen, mit den kooperationsbereiten Strömungen in der Opposition verbünden. Zu diesem Sprung über den eigenen Schatten war die Partei-und Regierungsspitze im Frühjahr 1988 jedoch noch nicht bereit.
II. Die Streikwellen 1988
Ein alarmierendes Signal für die Warschauer Führung waren die Ereignisse von April und Mai 1988. Die kritische finanzielle Lage in Millionen polnischer Haushalte, eine Folge der Preisanhebungen bei Nahrungsmitteln und Energieträgern zwischen 40 und 200 Prozent, ließ die Stimmung der Hoff-nungslosigkeit rascher in offenen Protest umschlagen. als es auch die von den Ereignissen überraschte illegale „Solidarno" -Leitung erwartet hatte. In Polen gab es im Frühjahr 1988 zwar keinen Massen-protest, es waren nicht Millionen von Arbeitern, die streikten, sondern nur einige tausend. Aber die Lunte glimmte. Es hatten sich die Berichte über Arbeitsniederlegungen in den Betrieben gemehrt, die nur durch die Zusage von Lohnerhöhungen als Teilrekompensationen für die vorangegangenen Preisanhebungen beendet werden konnten. Im April und Mai 1988 erreichten die Zeichen des Unmuts eine, neue Qualität. Sie griffen auf die Großbetriebe über, die mit der Industrialisierung des Landes und zugleich mit den zyklischen Krisen im Verhältnis zwischen „Arbeiterstaat“ und Arbeiterklasse assoziiert werden und in denen die „Solidarnosc“ immer besonders stark war: die Lenin-Hütte in Nowa Huta bei Krakau, die Lenin-Werft in Danzig, das Ursus-Traktorenwerk bei Warschau. Die Antwort der Behörden auf den Streik in der Lenin-Hütte war dessen gewaltsame Niederringung durch Sondereinheiten der Miliz. An einer neuen Konflikteskalation war der Warschauer Führung allerdings nicht gelegen: Den Streikenden in Danzig signalisierte sie Anfang Mai eine gewisse Kompromißbereitschaft. Die war auch aus anderen Gesichtspunkten angesagt. Die katholische Kirche war eine Woche zuvor bei der Niederschlagung des Streiks in Nowa Huta düpiert worden. Regierung und Betriebsleitung hatten nämlich dort vor der Stürmung des Betriebsgeländes einer kirchlichen Vermittlung zugestimmt.
Bei einer nüchternen Bestandsaufnahme nach dem Abflauen der Streiks schien alles darauf hinzudeuten, daß der polnischen Führung unter Staats-und Parteichef Jaruzelski nur noch wenig Zeit blieb, um der eigenen Bevölkerung zu beweisen, daß sie es mit der 1986 eingeläuteten zweiten Phase der Wirt-schaftsreform und der politischen Umgestaltung ernst meinte. Vor allem bei der Auswahl der Kader für die entscheidenden Positionen in Wirtschaft, Staat und Gesellschaft war eine wesentliche Öffnung für Nichtparteimitglieder seit Jahren angekündigt, jedoch nicht ernsthaft umgesetzt worden. Die Nomenklatura blieb immer noch weitgehend unter sich Aufgeschreckt durch die Streiks, versprach die Warschauer Führung eine Ausweitung des politischen Dialogs und bot einen „Antikrisenpakt“ an. In den Sommermonaten hielt die Diskussion über eine Vereinbarung zwischen Regierung und „konstruktiver“ Opposition an, ohne daß es zu konkreten Lösungen kam. In den Massenmedien wurde ausgiebig und kontrovers darüber diskutiert, wer denn nun zur „konstruktiven“ Opposition dazugehöre und wer nicht. Die Regierung entschied jedoch nichts. Die Bevölkerung war des Diskutierens müde.
Im August kam es zur zweiten Streikwelle des Jahres 1988. Begonnen hatte es am 15. August damit, daß 500 Bergleute der Nachtschicht in der ober-schlesischen Steinkohlegrube „Manifest Lipcowy“ (Juli-Manifest) in Jastrzbie bei Kattowitz ihre Arbeit nicht aufnahmen und einen Streik verkündeten. Die Organisatoren formulierten — wie die DanzigerStreikenden im August 1980 — 21 Forderungen zur Verbesserung der Arbeits-und Lebensbedingungen. Ihr wichtigstes Postulat war die Wiederzulassung der Gewerkschaft „Solidamosc“. Die Streiks weiteten sich in den folgenden Tagen über das oberschlesische Kohlenrevier aus, in dem 12 von 68 Zechen bestreikt wurden. Am 17. August griff die Streikbewegung auf die Küste über. Mit dem Streik in der Danziger Lenin-Werft, dem Geburtsort der „Solidarno", trat die „wilde“ Streikbewegung am 22. August in eine für die War-schauer Führung gefährliche Phase.
Kennzeichnend für die Streikbewegung war, daß sich ihr nicht die gesamten Belegschaften der bestreikten Betriebe anschlossen, sondern vor allem junge Arbeiter der Nach-„Solidarnosc“ -Generation. Dieser Generationswechsel war schon bei den Streiks im Frühjahr erkennbar gewesen. Im April und Mai waren die Streikforderungen jedoch vornehmlich wirtschaftlich motiviert gewesen. Die Forderungen nach Wiederzulassung der „Solidarnosc“ waren nachgeschoben. Jetzt stand der politische Anspruch auf Gewerkschaftspluralismus an erster Stelle. Die Streikenden wußten, daß die Arbeitsniederlegungen der polnischen Wirtschaft zusätzliche Verluste verursachten und die galoppierende Inflation nicht mit Lohnerhöhungen bekämpft werden konnte, die nicht durch gesteigerte Produktivität erarbeitet worden waren. So galten diese Streiks denn auch eher als Ausdruck der Verzweiflung über die hoffnungslose Wirtschafts-und Versorgungslage und des dramatischen Glaubwürdigkeitsverlustes der erfolglosen Regierung Messners. Die leisen Hoffnungen in der Bevölkerung, die es im Herbst 1986 nach der Freilassung aller politischen Häftlinge und im Zusammenhang mit der Schaffung neuer Verfassungs-und Konsultationsgremien (Ombudsman, Konsultativrat u. a.) gegeben hatte, waren im Sommer 1988 völlig zerstoben.
III. Das Scheitern des Modells der „gesellschaftlichen Konsultation“
Verfolgt man die Politik von General Jaruzelski und seinen Vertrauten seit 1982 und ordnet man sie in die systematischen Kategorien politischer Ordnungsmodelle ein, so läßt sich feststellen, daß die Jaruzelski-Führung bis 1988 einen komplexen Validisierungsprozeß in Gang brachte, der die Ziele extensiver Inklusion (Einbeziehung) mit strategischer Exklusion (Ausschließung) kombinierte. Der amerikanische Politikwissenschaftler Ken Jowitt unterscheidet als historisch aufeinanderfolgende Aufgaben von leninistischen Systemen die Transformation, die Konsolidierung und die Inklusion. Während auf den beiden ersten Stufen die gesellschaftlichen Eliten, potentielle oder aktuelle Brennpunkte artikulierter Pluralität, vom System isoliert werden, erlauben es auf der Inklusionsstufe Integration und Kooptation sowohl den Eliten als auch „dem System“, ihre jeweilige Identität zu erhalten und gleichzeitig in der wachsenden Komplexität gesellschaftlicher Organisation zu kooperieren. Inklusion bezweckt, die Legitimationsbasis des Systems zu erweitern, während Exklusion die Instrumente für die Sicherung der Herrschaft über die Eliten bereithält (z. B. Ausschluß der „antisozialistischen“ Opposition vom „Antikrisenpakt“ bis zum Beginn der Verhandlungen am „runden Tisch“) Validisierung in bester Neo-Weberianischer Tradition meint einen Prozeß, in dem „die Macht“ die Handlungsorientierung ihrer Untergebenen von reiner Zweckmäßigkeit, Verpflichtungsgefühl oder Gewohnheit in Verhaltensorientierungen zu transformieren sucht, die auf der Befolgung von Verhaltensmaximen beruhten, an deren moralisch bindenden Charakter geglaubt wird.
Die „Patriotische Bewegung der Nationalen Wiedergeburt“ (PRON), die im Juli 1982 gegründet wurde, war ein Vehikel für die Methode der Inklusion, die von der Parteiführung nach dem Verbot der „Solidarnosc“ und anderer nicht von der Partei kontrollierter Organisationen verfolgt wurde. Die kurze Geschichte der PRON ist ein exemplarischer Fall für die Versuche der Behörden, neue Formeln für die politische Integration und für die Legitimierung der „führenden Rolle“ der Partei zu finden, während zugleich die leninistischen Prinzipien der Machtausübung grundsätzlich erhalten blieben
Einerseits hieß es, daß PRON das Resultat einer spontanen gesellschaftlichen Bewegung sei und die gesellschaftlichen und politischen Strömungen in der polnischen Gesellschaft repräsentiere. Andererseits wurde von der politischen Führung in Warschau betont, daß die PZPR als „führende Kraft“ in der polnischen Gesellschaft einen Anspruch auf die politische Hegemonie innerhalb der PRON habe. Dies wurde dadurch unterstrichen, daß die jeweiligen Generalsekretäre der PRON seit 1982 aus dem Politbüro der PZPR „delegiert“ wurden.
Da PRON ebensowenig eine authentische Repräsentation der Gesellschaft war wie ihre Vorgänger-organisation „Front der Nationalen Einheit“ (FJN), die 1983 nach über einem Vierteljahrhundert aufge-löst worden war, lief die „Patriotische Bewegung“ von Anfang an Gefahr, sich ebenso zu diskreditieren wie die FJN. Der Direktor des Meinungsforschungsinstituts der Regierung (CBOS), Oberst Stanislaw Kwiatkowski, beschrieb die öffentliche Wahrnehmung von PRON folgendermaßen: „Ja, das ist eine von den vielen zentralen Institutionen, irgendwo in Warschau; die machen das eine oder andere. Alles in allem ist ihre Aktivität in den Augen der Öffentlichkeit weder besonders nützlich noch besonders schädlich. In einem Wort, sie (PRON) interessiert niemanden.“
Nach dem eingestandenen Mißerfolg des Versuchs, mit PRON die Methode der Inklusion zu vervollkommnen, wurde eine neue Formel gefunden: die gesellschaftliche Konsultation. Der „Gesellschaftliche Konsultativrat beim Staatsratsvorsitzenden“, der erstmals im Dezember 1986 einberufen wurde, war das klare Eingeständnis der Ratlosigkeit der Jaruzelski-Führung. Die Institution eines Konsultativrates war von Parteichef Jaruzelski während des 10. PZPR-Kongresses im Sommer 1986 vorgeschlagen worden. Nach der Entlassung aller prominenten politischen Gefangenen im September 1986 begann eine öffentliche Diskussion über das Angebot einer Institutionalisierung des politischen Dialogs zwischen der Führung und der Gesellschaft. Der Partei-und Staatsführung war insbesondere an der Teilnahme von unabhängigen Intellektuellen und „gemäßigten“ Oppositionellen aus dem Umkreis der katholischen Kirche gelegen.
Der vertrauliche Charakter des Konsultativrates wurde dadurch unterstrichen, daß er dem Staatsratsvorsitzenden persönlich zugeordnet und keinem anderen Verfassungsorgan verantwortlich war. Ein Beleg dafür, wie weit die Inklusion inzwischen gefaßt wurde, war der Umstand, daß die ursprüngliche Konstruktion, den Konsultativrat dem Staatsrat zuzuordnen, fallengelassen wurde, um die Authentizität gesellschaftlicher Meinungen dem Staatschef möglichst ungefiltert vortragen zu können
Nach den ersten Sitzungen des Konsultativrates, in denen offen über die aktuelle Situation in Polen und die Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels diskutiert wurde, gab es unter den Mitgliedern keinen Zweifel mehr, daß die Nähe zur Macht nicht unbedingt in Einfluß, geschweige denn in Möglichkeiten zur Mitentscheidung umzumünzen war. Der Nestor des polnischen Laienkatholizismus, der Rechtsprofessor Stanislaw Stomma, beschrieb die strukturelle Schwäche des Konsultativrates: „Seine Mitglieder wurden von einer Seite ernannt. Das bedeutet: Mitgliedschaft im Rat gibt es nur auf Einladung; niemand wurde von der Gesellschaft delegiert. So ist seine Zusammensetzung nicht das Ergebnis von Wählen. Ferner ist der Rat eine Körperschaft mit ausschließlichem Beratungsstatus.“ 13)
Nach der Niederlage der Regierung im Referendum über das Programm der wirtschaftlichen und politischen Reformen im November 1987, den Streiks im April/Mai 1988, der geringen Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen im Juni 1988 und der zweiten Streikwelle im August 1988 machte sich in der Warschauer Führung die Einsicht breit, daß mit Konsultationsmodellen ohne das Element direkter politischer Mitentscheidung der pluralistischen Gesellschaft ein Ausweg aus der Dauerkrise nicht zu finden war. Auf dem 7. Plenum des Zentralkomitees der PZPR im Juni 1988 war die Kaderpolitik, das Herzstück der monopolitischen Machtausübung, eines der zentralen Themen auf der Tagesordnung Zum wiederholten Male wurde in diesem Bereich ein grundlegender Wandel angekündigt und ein Dialog über die weitere Demokratisierung des politischen Systems der „konstruktiven“ Opposition offeriert. Das Modell der „konsultativen Demokratie“ galt nunmehr als überholt Der Führung nahestehende Kreise sprachen von neuen Modellen, die der kompetitiven Natur der Demokratie eher gerecht werden sollten, ohne allerdings die „führende Rolle“ der Partei wirklich in Frage zu stellen.
Das war der politische Ausgangspunkt in der Streiksituation des August 1988. Die Modelle der Kooptation und Konsultation hatten versagt. Die Notwendigkeit eines authentischen Dialogs zwischen „der Macht“ und der Opposition auf einer grundlegend neuen Basis war nicht mehr zu umgehen. Der Posener Sozialwissenschaftler Leszek Nowak faßte den langen Weg vom Kriegszustand über die Arbeiterstreiks bis zu dem sich ankündigenden Dialog in einem lapidaren Satz zusammen: „Nicht die besten Intentionen von politischen Eliten, sondern sie, die einfachen Leute, ermöglichten wirkliche Veränderung.“ Der Kriegszustand im Dezember 1981 sei aus den inneren Bedingungen des Systems heraus ebenso notwendig gewesen wie die Streikwellen 1988. So sei aus der Niederlage vom Dezember 1981 eine neue Kraft für Reformen entstanden, die weit über das hinausgehen müßten, was die Jaruzelski-Führung bis dahin mit ihren Modellen der „gesellschaftlichen Konsultation“ beabsichtigt habe. Zuerst mußte jedoch die Regierung noch über ihren Schatten springen. Dabei half die katholische Kirche und die ihr verbundene Intelligenz — wie so oft in der Vergangenheit — mit einem Vermittlungsangebot.
IV. Die Vermittlung der katholischen Kirche
Als Vermittler zwischen der Staatsmacht und den Streikenden trat Professor Andrzej Stelmachowski auf, der Vorsitzende des Warschauer Klubs der katholischen Intelligenz (KIK). Nach einer ersten Kontaktaufnahme mit ZK-Sekretär Jozef Czyrek erteilte das Politbüro der PZPR auf Stelmachowskis Vorschlag Innenminister General Czeslaw Kiszczak den Auftrag, als demonstrativen Beweis des guten Willens der Parteiführung zu einem authentischen Dialog mit der Opposition, vor allem mit den „Solidarnosc“ -Anhängern, ein Treffen mit Lech Wasa vorzubereiten.
Am 31. August 1988 kam es zu einer Begegnung zwischen Wasa und Kiszczak, dem ersten Treffen des Arbeiterführers mit einem Vertreter der Staatsmacht seit November 1981, das als Gespräch unter Gleichen betrachtet werden kann. Angesichts der andauernden Streiks in der Danziger Lenin-Werft schaltete sich der Episkopat direkt in die Vermittlungsbemühungen ein. indem Bischof Jerzy Dabrowski „auf beiderseitigen Wunsch“ (neben dem für Gewerkschaftsfragen zuständigen stellvertretenden Politbüromitglied Stanislaw Ciosek) an der Begegnung teilnahm. Weitere Arbeitstreffen zwischen Kiszczak und Wasa, die der Vorbereitung eines „runden Tisches“ mit Teilnehmern von Partei und Regierung sowie von „Solidarno" und politischer Opposition dienten, fanden am 15. und 16. September statt. An beiden Treffen nahm u. a. Prälat Alojzy Orszulik im Auftrag von Primas Glemp teil. Trotz der intensiven Gespräche kam es im September nicht zu der erwarteten Begegnung am „runden Tisch“. Hauptstreitpunkt war die Legalisierung der „Solidarnosc“, die Wasa zumindest als vorläufige Absichtserklärung der Regierung forderte. Auch wollte sich die Regierungsseite nicht auf die Teilnahme von Oppositionspolitikern wie Jacek Kuron und Adam Michnik einlassen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht zur „konstruktiven“ Opposition gerechnet wurden.
Nach der Regierungsübernahme von Mieczyslaw Rakowski im September 1988 drohten die Vorbereitungen für den „runden Tisch“ endgültig zu scheitern. Die neue Regierung konzentrierte sich auf eine „radikale Wirtschaftsreform“ und zeigte wenig Bereitschaft, die Frage des Gewerkschaftspluralismus vordringlich zu behandeln. Als Devise galt: Erst Wirtschaftsreform, dann politische Demokratisierung und Gewerkschaftspluralismus. Zudem gab es im Parteiapparat und in den offiziellen Gewerkschaften im Gewerkschaftsbund OPZZ unter Führung von Politbüromitglied Alfred Miodowicz erbitterten Widerstand gegen Innenminister Kiszczaks Dialogangebot an politische und gesellschaftliche Kräfte, gegen die die Staatsmacht sieben Jahre zuvor ihr letztes Mittel, Militär und Sicherheitskräfte, eingesetzt hatte und die die PZPR auf Dauer geschwächt hatten.
Der politische Durchbruch für Wasa und für die Forderung nach Wiederzulassung der „Solidarnosc“ kam unmittelbar nach dem vom OPZZ-Vo 1 sitzenden Miodowicz angeregten und direkt übet tragenen Fernsehduell mit Wasa am 30. Novem ber 1988, aus dem Wasa „siegreich hervorging“ wie der Direktor des Meinungsforschungsinstitut der Regierung (CBOS), Kwiatkowski, eingeräum hat Miodowicz, als schlagfertiger und polemi scher Debattieret bekannt, hatte Wasa vor einen Millionenpublikum bloßstellen wollen, hatte beweisen wollen, daß Wasa ohne seine politischen Berater hilflos und schwach dasteht. Das war nicht gelungen, was sich für die Anhänger des Status quo als verhängnisvoll erwies. Erstmals nach sieben Jahren war der „Privatmann“ Wasa wieder landesweit präsent. Millionen von jungen Polen hatten ihn noch nie zuvor gesehen, nur von der schon legendären Gestalt gehört.
Innerhalb weniger Tage gründeten sich hunderte neue Betriebszellen der „Solidarno". Der War-schauer Führung wurde innerhalb kürzester Zeit klar, daß ein Ausweg aus dem politisch-gesellschaftlichen Patt, der Wirtschaftskrise und der Hoffnungslosigkeit der Bevölkerung ohne politische Verständigung über eine Wiederzulassung der „Solidarno" und ohne neue Formen des politischen Pluralismus nicht zu finden war.
V. Die Abkehr der PZPR vom Realsozialismus
Zur politischen und ideologischen Vorbereitung auf die Gespräche am „runden Tisch“ tagte das 10. ZK-Plenum der PZPR am 21 . /22. Dezember 1988 und vom 16. bis zum Januar 1989. Parteichef Jaruzelski. Ministerpräsident Rakowski, Innenminister General Kiszczak und Verteidigungsminister General Florian Siwicki mußten mit dem Rücktritt von ihren Regierungs-und Parteiämtern drohen, um eine Mehrheit von 75 Prozent der ZK-Mitglieder zumindest nominell für das von Rakowski vorgestellte Programm des gewerkschaftlichen und politischen Pluralismus in einer „sozialistischen parlamentarischen Demokratie“ zu gewinnen. Von den ZK-Mitgliedern wurden die ZK-Beschlüsse instinktiv richtig als unumkehrbarer Abschied vom Realsozialismus der vergangenen vierzig Jahre empfunden.
Nach den Beschlüssen des ZK erkennt die PZPR die Notwendigkeit an, einem Gewerkschaftspluralismus und einer Opposition, die sich im Rahmen der Verfassung bewegt. Platz einzuräumen. Eine Koalition von Reformkräften, darunter auch oppositionelle Strömungen, sollte ein Mitspracherecht bei der Kaderpolitik haben. In den Beschlüssen wird ausdrücklich betont, die Partei wolle sich aus der Wirtschaftsführung sowie aus der Administration „bewußt zurückziehen“ und sich darauf beschränken, ihren Einfluß über parlamentarische Mechanismen auszuüben. Die Partei werde gegen alle Überbleibsel des Stalinismus vorgehen und einen entschiedenen Kampf gegen die Bürokratie führen. Allerdings sollen die Grundorganisationen der PZPR nach wie vor in den Betrieben präsent sein. Das ZK unterstreicht die Gewissens-und Religionsfreiheit: Das religiöse Bekenntnis wird zur individuellen Angelegenheit eines jeden Parteimitglieds 18).
Die Gegner einer Legalisierung der „Solidamosc“. vor allem die Partei-und Gewerkschaftskader aus den Industriebetrieben, verwiesen auf die fehlende Autorität und Effektivität der Basisorganisation der PZPR; hier befinde sich die Partei in einem Zustand politischer Agonie. Die Partei sei gespalten in eine Basis, die desorientiert sei, und ein paar Spitzenkader, die die aktuelle politische und wirtschaftliche Strategie definierten. Es gebe ein wachsendes ideologisches und politisches Chaos, einen ständigen Wechsel in der Politik und in prinzipiellen Fragen. Die Parteimitglieder wüßten nicht mehr, an wen und an was sie glauben, für was sie kämpfen, wem sie in welche Richtung folgen sollten
Die desorientierten Parteimitglieder spürten eine Entwicklung, die der Politikwissenschaftler Jerzy Wiatr, ein Mitglied der PZPR, so charakterisierte: „Es scheint mir, daß die De-Facto-Demontierung des politischen Machtmonopols, das sich früher in den Händen der Partei befand, sich bedeutend mehr als Ergebnis der Erosion der Position der PZPR einstellt, als daß sie das Ergebnis einer bewußten Operation aufgrund unserer eigenen Initiative ist.“ Ohne Zweifel befinde sich die PZPR „in ihrer größten ideologischen Krise“ In den polnischen Massenmedien wird denn auch seit Monaten über das „ideologische Minimum“ und den angeblichen oder tatsächlichen „Ausverkauf des Sozialismus“ diskutiert
Währenddessen wurden die Beschlüsse des 10. ZK-Plenums von Marian Orzechowski, dem für Fragen der Ideologie zuständigen Parteisekretär, als „Revolution im Prozeß der polnischen Erneuerung“ gefeiert Die Parteistrategen zerbrechen sich nun den Kopf, wie die Zukunft der PZPR in einem demokratisierten politischen System gesichert werden kann, in dem die polnische Linke demnächst um ihren politischen Platz mit anderen Weltanschauungen und Parteien wird kämpfen müssen.
Der Rückgriff auf die Traditionen der nichtmarxistischen Linken, d. h.der polnischen Sozialisten wurde 40 Jahre nach der Vereinigung der Links-sozialisten (PPS-Lewica) mit der kommunistisch-stalinistischen Arbeiterpartei (PPR) im Dezember 1948 zum ideologischen Gemeingut des Reformflügels in der PZPR Der bisher vorherrschenden Linie in der PZPR, der alle Übel des Stalinismus und seine Überbleibsel in den Strukturen von Partei, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft angelastet werden, werden die seit 1948 unterdrückten demokratisch-sozialistischen Traditionen der polnischen Linken entgegengesetzt. Um der politischen Ehrlichkeit, vor allem aber des politischen Überlebens der polnischen Linken willen wird heute von Partei-ideologen und Politikern die offizielle Auflösung der PZPR in zwei Arbeiterparteien gefordert, in eine konservativ-leninistische und eine sozialistisch-reformistische Partei. Faktisch gebe es diese beiden Fraktionen innerhalb der PZPR bereits Nur eine Sozialdemokratisierung der Partei kann nach dieser Auffassung einen entscheidenden Einfluß der polnischen Linken in einer pluralistischen Gesellschaft ermöglichen. Wenn die Linke in Polen auf demokratischen Grundlagen überleben wolle, müsse sie auf die 110jährigen sozialistisch-humanistischen Traditionen zurückgreifen, meinte der Historiker an der Parteihochschule Feliks Tych
VI. Der schwierige Weg zum „historischen Kompromiß“
In der Stellungnahme des Landesexekutivkomitees der illegalen „Solidarnosc“ wurden die ZK-Be-schlüsse als „grundlegender Schritt hin zum gesell-schaftlichen Dialog“ begrüßt. Der „Rubikon“ — so der „Solidarnosc“ -Berater Tadeusz Mazowiecki — sei überschritten Bei einem Vorbereitungstreffen am 27. Januar 1989 zwischen Vertretern des Staates, der Opposition und der katholischen Kirche wurde der Beginn der Gespräche am „runden Tisch“ für den 6. Februar 1989 festgelegt. Bis zum 5. April verhandelten in Warschau die Vertreter der PZPR und ihrer Verbündeten mit der weit gefächerten Opposition — ohne die Fundamentalopposition der „Konföderation Unabhängiges Polen“ (KPN) und der „Kämpfenden Solidarität“ (Solidarno Walczca), die Verhandlungen mit der Partei grundsätzlich ablehnt.
Mit am Tisch saßen auch die bekanntesten „Antisozialisten“, Kuron und Michnik, die gegenüber radikaleren Forderungen aus der Opposition die evolutionäre Überwindung des Systems und die Zusammenarbeit mit den kompromißbereiten Vertretern der Partei verteidigen Michnik sah sich mit einer Dialogbereitschaft „des Systems“ konfrontiert, die ihn zu dem Eingeständnis veranlaßte, daß er sich in der Einschätzung von General Jaruzelski habe korrigieren müssen
Am „runden Tisch“ wurden Abmachungen getroffen, die das politische und institutionelle System Polens in den nächsten Jahren grundlegend ändern werden. Schon vor der Unterzeichnung der Protokolle waren dem Parlament, dem Sejm, am 22. März Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellierungen zugeleitet worden, die in der parlamentarischen Beratung dem aktuellen Stand der Verhandlungen des „Rundtisch-Ausschusses für politische Reformen“ angepaßt und am 7. April verabschiedet wurden. Es handelte sich dabei um die Änderung der Wahlordnung für die vorgezogenen Sejmwahlen im Juni dieses Jahres, die Einführung des Senats als zweite Kammer und des Präsidentenamtes, die Einführung des Gewerkschaftspluralismus und um ein weitgehend liberalisiertes Vereinsrecht.
Der „runde Tisch“, an dem neben Innenminister Kiszczak und ZK-Sekretär Ciosek als prominentesten Parteirepräsentanten die bekanntesten Oppositionsvertreter, einige Streikführer des Jahres 1988, „Solidamosc“ -Berater und zwei Beobachter des Episkopats saßen, war nur das Forum der feierlichen Eröffnungs-und Schlußsitzung. Die eigentlichen Verhandlungen wurden in drei Haupt-ausschüssen, zehn Unterausschüssen und zusätzlichen Arbeitsgruppen geführt, an denen mehr als dreihundert Fachleute teilnahmen.
Die fachliche Gliederung der Ausschüsse. Unterausschüsse und Arbeitsgruppen zeigt, daß sich der „runde Tisch“ mit allen Problembereichen der polnischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft befaßte. Die zehn Unterausschüsse zu den Ausschüssen für Wirtschaft und Sozialpolitik, politische Reformen und Gewerkschaftspluralismus verhandelten über Landwirtschaft, Bergbau, Rechts-und Gerichtsreform, Vereine und territoriale Selbstverwaltung, Jugend, Massenmedien, Wissenschaft, Bildung und technischen Fortschritt, Gesundheit, Umwelt und Wohnungsbaupolitik. Die Arbeitsgruppen beschäftigten sich u. a. mit der Indexierung von Löhnen und Gehältern, dem Gesetz über Gewerkschaften der Individualbauern, der Novellierung des Gewerkschaftsgesetzes, der Selbstverwaltung und den Eigentumsformen, der Wahlordnung Das Ergebnis der neunwöchigen Verhandlungen wurde in drei Protokollen über die politischen Reformen, den Gewerkschaftspluralismus und die Wirtschaft und Sozialpolitik zusammengefaßt 1. Politische Reformen Das Protokoll über politische Reformen wurde von dem Historiker Geremek, der sich als der führende politische Kopf der „solidaritäts-oppositionellen Seite“ profilierte, und von dem Politbüromitglied und Sozialpsychologen Janusz Reykowski unterzeichnet. Es sieht als gemeinsames Ziel die schrittweise Einführung des Prinzips der vollen Volks-souveränität vor. Als Bestandteile eines solchen Systems werden genannt: politischer Pluralismus, vor allem durch das Recht auf freie Vereinigung; Freiheit des Wortes und freier Zugang zu den Massenkommunikationsmitteln; demokratische Verfahren bei der Besetzung aller staatlichen Vertretungsorgane; Unabhängigkeit der Richter und gesetzliche Kontrollbefugnis der Gerichte; eine starke, frei gewählte Territorialverwaltung. Beide Seiten treten für eine Reform auf evolutionärem Wege ein und verweisen auf die Gefahr, die Polen durch zu radikale Schritte und durch den Widerstand der Reformgegner drohe.
Als Sofortmaßnahmen wurden geplant: die Legalisierung der „Solidarnosc“ und der „Solidarnosc“ der Privatbauern sowie die Legalisierung des „Unabhängigen Studentenverbandes“ (NZS), ferner die Anerkennung des Rechts der politischen Opposition auf legale Betätigung, die Novellierung des Vereinsgesetzes, die Einleitung einer Rechts-und Gerichtsreform, die Erweiterung der Pressefreiheit und eine „wesentliche Demokratisierung“ des Wahlrechts. Das im Juni zu wählende Parlament wird verpflichtet, eine neue demokratische Verfassung und ein neues demokratisches Wahlrecht aus-zuarbeiten. Die Wahlen zum Sejm im Jahre 1993 sollen tatsächlich frei sein.
Grundlage der Demokratisierung der staatlichen Strukturen auf allen Ebenen soll das Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion sein. An dieser Stelle hält das Protokoll eine Meinungsverschiedenheit fest: Während die Opposition die Auffassung vertritt, daß die Abschaffung des Systems der Nomenklatura Voraussetzung für den Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Reformen sei, stellt sich die Regierungskoalition auf den Standpunkt, daß sich die Personalpolitik schon entscheidend geändert habe Politische Kriterien bei der Besetzung von Führungspositionen würden der fachlichen Kompetenz untergeordnet. Dagegen war erst Anfang 1989 bekannt geworden, daß die Zahl der Führungspositionen, die der Zustimmung von Parteiinstanzen bedürfen, noch im Jahre 1988 von ca. 250 000 auf 360 000 angestiegen ist obwohl ein Erlaß des Politbüros vom 20. September 1988 vorschrieb, die Nomenklatura auf 30 000 Positionen zu beschränken
Abgeschafft wird die Wahlen zu Sejm und Senat:
Vorauswahl von Kandidaten, die bisherige Hauptaufgabe der politisch bedeutungslos gewordenen PRON. Um jedes Mandat kann sich eine unbegrenzte Anzahl von Kandidaten bewerben. Das Recht zur Aufstellung von Kandidaten für den Sejm und den Senat steht nicht nur den sechs in der PRON vereinigten Parteien und politischen Organisationen zu. sondern allen Bürgergruppen, die mindestens dreitausend Unterschriften für die Registrierung eines Kandidaten nachweisen können.
Die Freiheit der Wahl zum Sejm im Juni dieses Jahres wird durch eine am „runden Tisch“ vereinbarte Mandatsaufteilung eingeschränkt, die nur für diese eine Wahl gilt. Sechzig Prozent der Sitze entfallen demnach auf die Regierungskoalition (die PZPR beansprucht nur noch 38 Prozent der Sejmsitze) und weitere fünf Prozent auf die regierungsloyalen katholischen bzw. christlichen Gruppierungen PAX. UChS und PZKS. Parteilose Kandidaten, die von unabhängigen Bürgergruppen aufgestellt werden, konkurrieren um 35 Prozent der Abgeordnetensitze. In jedem der Wahlkreise soll zumindest ein Oppositionskandidat aufgestellt werden. Die Wahlen zum Senat, einer Länderkammer, werden völlig frei sein. Um die Verteilung der 100 Sitze des Senats (zwei pro Wojewodschaft mit Ausnahme Warschaus und Kattowitz’, die je drei Sitze erhalten) wird es einen freien Wahlkampf geben. Alle Kandidaten nehmen gleichberechtigt am Wahlkampf teil. Ihnen steht die Freiheit des Worts, der Veröffentlichung, der Versammlung und des Zugangs zu den Massenmedien zu. Die Konkurrenten verpflichten sich, ihre Wahlprogramme im Rahmen der Vereinbarungen des „runden Tisches“ zu halten und alles zu unternehmen, damit der Wahlkampf zur Entstehung einer toleranten, demokratischen politischen Kultur beiträgt. Eventuelle Streitigkeiten sollen durch eine Verständigungskommission geschlichtet werden.
Bei der Wahl zum Sejm wird im ersten Wahlgang für jedes Mandat ein eigener Wahlzettel ausgegeben, auf dem die Kandidaten in alphabetischer Reihenfolge aufgeführt werden. Die Namen nicht gewünschter Kandidaten sind durchzustreichen. Bei der Senatswahl werden alle Kandidaten des Wahlbezirks auf einem Wahlzettel aufgeführt. Die Wahl erfolgt jeweils durch Streichung des nicht gewünschten Kandidaten.
Wenn bei den Wahlen zum Sejm und Senat keiner der Kandidaten mehr als fünfzig Prozent der Stimmen auf sich vereinigt, kommt es nach 14 Tagen zu einem zweiten Wahlgang, bei dem der Kandidat mit der relativen Mehrheit gewählt ist. Die Auszählung der Stimmen findet unter Kontrolle der Opposition statt.
Sejm, Senat, Präsident, Gerichte: Der Sejm bleibt das höchste Organ der gesetzgebenden Gewalt. Er tagt permanent, die Anwesenheit von Oppositionspolitikern „wird seine Arbeit verändern“.
Dem Senat steht das Recht zu. Gesetze einzubringen und vom Sejm verabschiedete Gesetze anzufechten. Diese Anfechtung kann der Sejm mit einer Zweidrittelmehrheit abweisen. Die Regierungsseite hatte dafür ursprünglich auf einer Mehrheit von 60 Prozent gepocht; in diesem Fall wäre sie nicht unbedingt auf Stimmen der Opposition angewiesen gewesen, da sie mit den bisher regierungsloyalen christlichen Gruppierungen über eine Mehrheit von 65 Prozent verfügen wird. Da das politische Profil der Mitglieder der Regierungskoalition im neuen Sejm noch völlig unbekannt ist. wird das Abstimmungsverhalten der Koalitionspartner für die PZPR auf jeden Fall eine schwer berechenbare Größe sein.
Der durch den souveränen Willen des Volkes gewählte Senat wird eine wesentliche Kontrollfunktion ausüben, insbesondere in der Frage der Men11 schenrechte, der Rechtsstaatlichkeit sowie in der Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik. Eine aus Sejm und Senat gebildete Nationalversammlung, die vom Sejm-Marschall (Parlamentspräsident) präsidiert wird, wählt mit absoluter Mehrheit den Präsidenten auf sechs Jahre. Danach wird es nicht mehr den Staatsrat mit seinem Vorsitzenden als kollektives Staatsoberhaupt geben. Der Kandidat oder die Kandidaten für das Präsidentschaftsamt werden aus den Reihen der Nationalversammlung vorgeschlagen, müssen aber nicht aus ihr hervorgehen
Der Präsident verfügt über weitreichende exekutive und repräsentative Zuständigkeiten. Er ist Vorsitzender des Landesverteidigungskomitees und Oberbefehlshaber der Armee. Der Präsident kann die Gegenzeichnung von Gesetzen verweigern und sie zur Neubehandlung an den Sejm zurücküberweisen. Der Sejm kann das Veto des Präsidenten mit Zweidrittelmehrheit aufheben. Rechtsakte des Präsidenten müssen vom Ministerpräsidenten gegengezeichnet werden. Ausgenommen davon sind Rechtsakte, die die Außen-und Verteidigungspolitik betreffen. Im Falle einer „Gefährdung der Sicherheit des Staates“ oder bei Naturkatastrophen kann der Präsident für drei Monate den Ausnahmezustand verhängen. Die Verlängerung des Ausnahmezustandes um weitere drei Monate ist nur einmal möglich und bedarf der Zustimmung von Sejm und Senat. Während des Ausnahmezustandes dürfen Verfassung und Wahlrecht nicht geändert und Sejm und Senat nicht aufgelöst werden.
Der Präsident kann Sejm und Senat auflösen, wenn das Parlament nicht in der Lage ist, innerhalb von drei Monaten eine Regierung zu bilden und den mehrjährigen Wirtschaftsplan zu verabschieden, oder wenn ein vom Sejm verabschiedetes Gesetz gegen die Verfassung oder die Vorrechte des Präsidenten verstößt. Nach der Auflösung des Parlaments schreibt der Präsident Neuwahlen aus. Bei Verletzung von Verfassung und Gesetzen und für Vergehen kann der Präsident vor dem Staatstribunal angeklagt werden. Die Anklageerhebung kann auf Beschluß von Zweidrittel der Mitglieder der Nationalversammlung erfolgen. Nach der Anklageerhebung darf der Präsident sein Amt nicht mehr ausüben. Es wird dann vorübergehend vom Sejm-Marschall übernommen
Die richterliche Unabhängigkeit wird sich auf das in der Verfassung festzuschreibende Prinzip der Unabsetzbarkeit der Richter gründen. 2. Gewerkschaftspluralismus Das Protokoll über den Gewerkschaftspluralismus wurde von drei Seiten unterzeichnet, da die kommunistisch gelenkten Gewerkschaften unabhängig von der Regierungsseite auftraten (und bis zuletzt Obstruktionspolitik betrieben). Es unterschrieben Minister Aleksander Kwasniewski, der stellvertretende OPZZ-Vorsitzende Romuald Sosnowski und der „Solidarno" -Berater Tadeusz Mazowiecki. Die drei Seiten bekennen sich in dem Dokument zu den Vereinbarungen zwischen den Streikkomitees und der Regierung von August 1980, zur allgemeinen Deklaration der Menschenrechte und anderen Menschenrechtsvereinbarungen sowie zur Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Wegen der Schwierigkeiten, die aus dem Nebeneinander verschiedener Gewerkschaften erwachsen können, erwarten die Unterzeichner, daß es nicht zu einem gegenseitigen Überbieten bei Forderungen kommt. Streiks sollen auch in Zukunft nur das „letzte Mittel“ sein.
Unverzüglich realisiert werden sollen das Recht auf Gewerkschaftsgründung, insbesondere die Legalisierung der „Solidarnosc“; die freie Gestaltung der Gewerkschaftsstrukturen nach Branchen, Regionen, Berufsgruppen oder anderen ILO-Kriterien; die Festlegung der Grundsätze des Zusammenwirkens verschiedener Gewerkschaften in einem Betrieb; vollständige Rehabilitierung der vom Kriegsrecht und seinen Folgen betroffenen „Solidarnosc“ -
Aktivisten mit Recht auf Wiedereinstellung; die Rückgabe von „Solidarno" -Standarten und -Symbolen; Ausarbeitung eines Gewerkschaftsgesetzes für private Landwirte. 3. Wirtschafts-und Sozialpolitik Das vom ZK-Sekretär und Wirtschaftsexperten Wladyslaw Baka und dem Mitglied des Gesellschaftlichen Primasrates und Ökonomen Witold Trzeciakowski unterzeichnete Protokoll ist das am wenigsten konkrete Protokoll, da in dem Ausschuß die größten Interessengegensätze zutage traten. Es ist eher eine Ansammlung von Zielbeschreibungen als ein Dokument operativer Politik.
Das Protokoll sieht u. a. vor: die Verbesserung der Marktversorgung und der Lebensbedingungen der Bevölkerung, insbesondere durch die Verminderung des Anteils des Energie-und Rohstoffkomplexes in der Investitionsgüterindustrie auf dem Wege der Verminderung des Material-und Energieverbrauchs der Wirtschaft zugunsten der Lebensmittel-B und Bauindustrie sowie des Umweltschutzes; die Beseitigung des Haushaltsdefizits in den nächsten zwei bis drei Jahren; Schritte gegen die zunehmende „Dollarisierung“ des Marktes (d. h.den immer weiter um sich greifenden Erwerb von Gütern und Dienstleistungen ausschließlich auf Valutabasis); innere und später äußere Konvertibilität des Zloty; Indexierung der Löhne mit achtzigprozentigem Inflationsausgleich (dem stimmten die OPZZ-Gewerkschaften — einen hundertprozentigen pauschalen Inflationsausgleich fordernd — nicht zu); Einschränkung der Arbeitsplatzgarantie; Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung nach den Gesetzen des Marktes und der Konkurrenz bei gleichzeitiger Stärkung der Arbeiterselbstverwaltung und verfassungsmäßiger Garantie der unterschiedlichen Eigentumsformen (staatlich, genossenschaftlich, privat); Neuregelung des Schuldendienstes, der in seiner bisherigen Form eine Belastung für die gesamte Entwicklung der polnischen Wirtschaft, der Versorgung.des Investitionsimports und der Konkurrenzfähigkeit nach außen darstellt. 4. Erste Schritte zur Realisierung des „historischen Kompromisses“
Einen Tag nach der Legalisierung der „Solidarnosc“ vor dem Warschauer Wojewodschaftsgericht mit dem Statut von 1980 konstituierte sich am 18. April vereinbarungsgemäß die „Verständigungskommission“, die von Innenminister Kiszczak und dem „Solidarnosc“ -Vorsitzenden Wasa geleitet wurde. In der paritätisch besetzten Kommission wollen die Unterzeichner der Vereinbarungen über deren Einhaltung und über die Regelung von Problemen diskutieren, über die am „runden Tisch“ keine Einigung erzielt werden konnte. Es wurden zwei Arbeitsgruppen für Wirtschaft und Sozialpolitik und für Interventionen berufen. Zusätzliche Arbeitsgruppen können bei Bedarf eingesetzt werden. -
Ein weiterer Schritt zur Verwirklichung der April-Vereinbarungen war die Wiederzulassung der Gewerkschaft der Individualbauern „Solidarno" am 20. April.
Drei Gesetzesvorlagen, die die Regierung Rakowski am 26. April im Sejm einbrachte, gehören zwar nicht zu den Ergebnissen der Verhandlungen am „runden Tisch“. Sie sind aber ebenfalls ein Reflex der politischen Umbruchsituation in Polen. Mit den Gesetzesinitiativen, die das Verhältnis zwischen Kirche und Staat auf eine neue Grundlage heben sollen, wird der historische Ausgleich insbesondere mit der katholischen Kirche besiegelt. Die Gewissens-und Bekenntnisfreiheit wird gesetzlich garantiert, das Verhältnis zwischen Staat und katholischer Kirche auf eine bisher nicht vorhandene gesetzliche Grundlage gestellt, und in einem dritten Gesetz werden die bisher von der Sozialversicherung ausgeschlossenen 62 000 Geistlichen aller Religionsgemeinschaften Polens in das Sozialversicherungssystem integriert
VII. Der Prozeßcharakter des Systemwandels
Die Vereinbarungen vom 5. April 1989 sind eine politische Premiere im Realsozialismus, die in ihrer systemverändernden Konsequenz weit über das hinausgehen, was in anderen reformorientierten Ländern des Warschauer Paktes — wie in Ungarn und in der Sowjetunion — an Systemwandel bisher impliziert ist. Ungarn will einen „runden Tisch“ nach polnischem Vorbild erst noch zustande bringen.
Doch angesichts der historischen Vereinbarungen zwischen der Partei und einer Opposition, die die friedliche, evolutionäre Überwindung des bestehenden Systems nicht aufgegeben hat, sondern vielmehr während der Abschlußveranstaltung am 5. April — vom Fernsehen landesweit übertragen — die Verwirklichung der parlamentarischen Demokratie ohne das Attribut „sozialistisch“ und die faktische Entmachtung der PZPR in absehbarer Zeit einforderte, will sich in der polnischen Bevölkerung keine Begeisterung einstellen; kein Vergleich also zu der Euphorie im Sommer 1980 nach der Unterzeichnung der „Gesellschaftlichen Vereinbarungen“ in Stettin, Danzig und Jastrzbie, aus denen die „Solidarnosc“ hervorging. Die Skepsis in einem breiten Spektrum der Bevölkerung ist nicht zu übersehen Nüchternheit und Realitätssinn sind aber auch die besseren Voraussetzungen für eine Ingangsetzung des evolutionären Systemwandels als Euphorie. Anlaß für Überschwang gab es ungeachtet des historischen Augenblickes weder für die Regierungskoalition noch für die „Solidarnosc“. Die Realisierung der Vereinbarungen, über deren rechtsverbindlichen Charakter sich trefflich streiten ließe, da der „runde Tisch“ kein Verfas-sungsorgan ist, erfordert von allen Parteien entschiedenen politischen Willen, Geduld und ein hohes Maß an politischer Kultur.
Mit der Anerkennung des Mehrparteiensystems, des Prinzips freier Wahlen und der parlamentarischen Demokratie, des Gewerkschaftspluralismus, der Unabhängigkeit der Gerichte, der weltanschaulichen Neutralität des Staates und des Erziehungssystems sowie der marktwirtschaftlichen Prinzipien werden praktisch alle Grundlagen des sozialistischen Systems zur Disposition gestellt. Andererseits mußte sich die Opposition vorläufig darauf einlassen, daß das Nomenklatura-System noch nicht abgeschafft wird. Der Ko-Vorsitzende des Ausschusses für politische Reformen, Geremek, sagte dazu in einem Interview: „Sie (die Nomenklatura) ist geschwächt, da sie sich überlebt hat, aber sie existiert weiterhin. Und es war sehr bezeichnend, daß man am , runden Tisch 1 über viele Sachen reden und vieles erledigen konnte; das aber nicht. Deshalb, weil es hier um konkrete Interessen geht, und das sind die Interessen einer Schicht und der Partei.“ Allein bei der Richterwahl erreichte die Opposition eine wichtige Einschränkung des Nomenklatura-Systems. Auf das Wahlsystem für die Sejm-Wahl im Juni ließ sich die Opposition nur unter der Bedingung ein, daß die übernächsten Wahlen zum Parlament (spätestens 1993) völlig demokratisch sein werden. Auch die Vorverlegung der Wahlen von Oktober auf Juni war ein Zugeständnis der Opposition. Sie muß — eben noch unter den Bedingungen der Illegalität agierend — aus dem Stand einen weniger als zwei Monate dauernden Wahlkampf ohne ausreichende Mittel führen. Die Strategie der Regierung war es, alle Vorteile so früh wie möglich angesetzter Wahlen zu nutzen Dem „Bürgerkomitee“ Lech Wasas — der aus dem Beraterstab und Anhängern der „Solidarno" hervorgegangenen politischen Gegenelite zum Regierungs-und Staatsapparat — fehlt es an organisatorischen Erfahrungen und einem umfassenden Zugang zu den Massenmedien. Die finanziellen und technischen Mittel für den Druck von Plakaten, Flugblättern, Transport usw. mußten innerhalb weniger Tage geschaffen werden. Was generell noch fehlt, ist der Unterbau für eine Demokratie
Von allen Beteiligten wird der rasche Umbau des Systems als ein großes, risikoreiches Experiment verstanden, für das es kein Vorbild in der Geschichte politischer Ordnungen gibt. Alle Übereinkünfte und Regelungen — auch die vom „runden Tisch“ — haben etwas Vorläufiges. Polen befindet sich am Beginn der neunziger Jahre in einer Phase permanenter Evolution oder einer „Revolution Schritt für Schritt“, wie die „Polityka“ auf ihrer Titelseite verkündete
Während bei der Erörterung der Demokratisierung des politischen Systems Polens die Aufmerksamkeit auf die allmähliche Etablierung der Opposition konzentriert ist, tut sich auf der Regierungsseite etwas, das ein weiteres Symptom für den unaufhaltsamen Wandel in Polen ist, aber von den Massenmedien weitgehend unbeachtet bleibt.
VIII. Die Regierungskoalition — Suche nach neuer Identität
In dem kurzen polnischen Wahlkampf steht „der Opposition“ auf der anderen Seite „die Regierungskoalition“ gegenüber. Das heißt, die hegemoniale PZPR teilt sich die Regierungssitze mit den „Verbündeten“, der Vereinigten Volkspartei (ZSL) und der Demokratischen Partei (SD). Bisher entsprach der Teilung der Sitze aber nicht die Teilung der Macht Die Bündnisparteien waren in der Vergangenheit nicht souveräne Partner, sondern eher Transmissionsriemen der PZPR in gesellschaftliche Schichten, die von den Kommunisten vernachlässigt wurden, wie die Bauern, die Intelligenz und das Handwerk.
Bei diesen bisher „zuverlässigen“ Verbündeten ZSL und SD tut sich nunmehr Umstürzendes. Von der ausländischen wie auch von der polnischen Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, wird die sich von Monat zu Monat beschleunigende Entwicklung unterschätzt, die der „führenden“ Partei zusätzlich zu der Auseinandersetzung um den eigenen Kurs (Stichwort „Sozialdemokratisierung“) und mit der Opposition schwere Probleme beim Regieren bescheren wird. In der kommenden Legislaturperiode wird die Evolution in den Bündnisparteien ein Spannungselement ins Regierungslager tragen, das von der PZPR bisher in seiner Tragweite noch nicht ganz wahrgenommen wurde.
Die Koalitionäre wollen nicht für die Vergangenheit verantwortlich gemacht werden, in der sie nicht wirklich mitbestimmen konnten, sondern allein die Legitimationsbasis der PZPR zu verbreitern hatten. Die beiden kleineren „Altparteien“ ZSL und SD sehen sich dem Zwang ausgesetzt, in absehbarer Zeit in freien Wahlen politisch überleben zu müssen. Dazu suchen sie nun ein eigenes Profil — natürlich auf Kosten der PZPR. Bezeichnend für diese Profil-und Glaubwürdigkeitssuche war der 14. Parteitag der SD (17. — 20. 4. 1989). Hier fand ein unvorhergesehener Aufstand der Delegierten gegen das Parteiestablishment statt, der mit einer verzweifelten Suche nach der eigenen Identität ein-herging. Der Parteitag wurde auch als „Kongreß der letzten Chance“ tituliert. Einer der vier (!) Kandidaten für den Parteivorsitz, Jan Janowski, meinte: „Die Jahre bis zu den nächsten Wahlen entscheiden über Sein oder Nicht-Sein.“
Für die Abrechnung mit der Vergangenheit des Realsozialismus und der Parteigeschichte seit der „Gleichschaltung“ Ende der vierziger Jahre stehen bemerkenswerte Entscheidungen des SD-Kongresses: die Abwahl des bisherigen Vorsitzenden Tadeusz W. Mlynczak, der wie seine Vorgänger nach der obligatorischen Zustimmung des Politbüros der PZPR zur Kandidatur zum Parteichefgewählt worden war und nun für das mangelhafte Profil der Partei in der Vergangenheit büßen mußte; die Forderung nach parlamentarischer Demokratie ohne Einschränkungen, die mit dem Begriff „Sozialismus“ verbunden werden; Wiederherstellung des Prinzips der Gewaltenteilung; Direktwahl des Präsidenten durch das Volk; Änderung der Staatsbezeichnung in „Republik Polen“; die Wiederanbringung der Krone auf dem Wappenadler als Symbol der Souveränität der Republik. Im Parteiemblem der SD wurde das rote Feld durch ein blaues ersetzt, auf dem der Adler seine Krone durch die Entscheidung des Kongresses zurückerhielt. Mit der absoluten Mehrheit der Delegierten votierte der Parteitag auch für eine Änderung des Parteinamens in „Polnische Demokratische Partei“ (PPD). Der Beschluß erlangte allerdings keine Gültigkeit, da es zu dieser Satzungsänderung einer Zweidrittelmehrheit bedurft hätte, die knapp verfehlt wurde. Nun sollen die Parteimitglieder in einem Referendum über den zukünftigen Parteinamen entscheiden
Während des lebhaften, bisweilen chaotisch verlaufenden Parteitags der Demokraten wurden Stimmen laut, die selbstbewußt betonten, daß die Regierungskoalition mit der PZPR nicht auf ewig abgeschlossen worden sei und — wenn die Parteiziele in der Regierung nicht ausreichend berücksichtigt würden — die Partei sich nach neuen Allianzen umsehen müsse. In manchen Feldern ist die SD schonjetzt der Programmatik der Opposition näher als der PZPR. Das zeigte sich beispielsweise bei der Diskussion am „runden Tisch“ über die Rechtsreform. Ein „Platzen“ der Koalition droht noch nicht. Aber die Mehrheitsverhältnisse bei Abstimmungen im neuen Sejm werden anders sein, als sie sich theoretisch aus dem Zusammenzählen der Stimmenblöcke — hier Regierungskoalition, da Opposition — ergeben würden. Einen Vorgeschmack gab die Abstimmung über die Berufung des ehemaligen Regierungssprechers Jerzy Urban zum Informationsminister in der Sejmsitzung am 27. April. Urban wurde nur mit knapper Mehrheit bestätigt. Aus Parlamentskreisen verlautete, alle anwesenden Abgeordneten der ZSL und der SD hätten offenbar zusammen mit den unabhängigen Abgeordneten gegen den wenig beliebten Urban gestimmt. Sie hätten während der Abstimmung laut dagegen protestiert, daß die PZPR ihren Kandidaten entgegen dem Versprechen nach mehr Mitsprache der Koalitionsparteien durchgedrückt habe
IX. Perspektiven
Von entscheidender wirtschaftlicher, politischer und psychologischer Bedeutung für die weitere Entwicklung in Polen wird sein, ob die westlichen Demokratien durch großzügige wirtschaftliche Unterstützung von sinnvollen Projekten im Rahmen der Wirtschaftsreform demonstrieren, daß sie der größten politischen Umwälzung in Polen seit 1944 eine Chance geben.
Die internationalen Rahmenbedingungen für eine Förderung des wirtschaftlichen und politischen Wandels in Polen waren noch nie so gut wie heute unter den Bedingungen der Ost-West-Annäherung in Europa und unter Berufung auf die gemeinsamen kulturellen, zivilisatorischen und wirtschaftlichen Werte. Erstmals findet sich Polen auch in einem prinzipiellen Gleichklang mit der Sowjetunion, wenn es den Umbau seines Systems vorantreibt. Generalsekretär Gorbatschow hat der polnischen Reformpolitik in den vergangenen Jahren immer wieder sein Wohlwollen bekundet. Und die Tatsa-che, daß die Möglichkeit einer offiziellen Reise des „Solidarnoäc“ -Vorsitzenden Lech Wasa nach Moskau erkundet wird, spricht für die historische Chance, die sich für die politische Erneuerung in Ostmitteleuropa ergibt. Sie bedarf aber eines entsprechenden ökonomischen Unterbaus, damit sie wirklich genutzt werden kann. Da ist das westliche Europa gefragt.