I.
300 Bücher über die Revolution hatte man erwartet, an die 600 sind bisher erschienen. Die Fernsehanstalten haben drei Dutzend Sendungen geplant: Serien, Spielfilme, Dokumentarstreifen, Experten-diskussionen. Eine Kostprobe lieferte Yves Mourousi im Dezember 1988 mit der Rekonstruktion des Prozesses gegen Ludwig XVI. Die Zuschauer des privaten Kanals TF 1 waren aufgefordert, sich per BTX an der Urteilsfindung zu beteiligen. 120 000 Franzosen spielten beim TV-Tribunal mit, 55 Prozent von ihnen sprachen den König posthum frei. Wer sich nicht leisten kann, im neu hergerichteten Caf Procope zu speisen, kann sich jeden Samstag auf dem Bildschirm von Pierre Miquel vorführen lassen, welche großen Männer der Revolution dort verkehrten.
Nicht nur in den Medien und in Paris wird die Revolution gefeiert, sondern auch in der Provinz. Zur Eröffnung des Bicentenaire starteten von den Hauptorten der Departements 98 Montgolfieren, beladen mit Glückwunschkarten des Malers Folon, dessen blau-weiß-rotes Vogelemblem alle Revolutionspublikationen schmückt. Am 21. März gedachten sämtliche Schulen des Landes der Revolution mit der Pflanzung von Freiheitsbäumen, und für den Juli haben die von der Erziehungs-und der Menschenrechtsliga gegründeten „Comites Liberte Egalit Fraternit" (CLEF) Kundgebungen im ganzen Lande geplant. Insgesamt sind bisher allein für Frankreich mehr als 6 000 Veranstaltungen registriert. Die Palette reicht vom Staatsakt bis zum Projektunterricht, vom Straßentheater bis zum Universitätskolloquium. Es scheint, als sei die ganze Nation vom Festrausch ergriffen und einig in der Entschlossenheit, die Revolution gebührend zu feiern.
Dabei hatte alles zunächst stockend und eher lustlos begonnen. Die von Mitterrand geplante Weltausstellung mußte abgeblasen werden, da der Bürgermeister von Paris ein Verkehrschaos in der Stadt befürchtete. Der Plan, die Tuileriengärten zu erneuern, wurde aus Kostengründen aufgegeben. Verärgert darüber, daß dem Präsidenten der Gipfel der Staatschefs wichtiger sei als das Volksfest am 14. Juli, das aus Sicherheitsgründen verschoben werden sollte, sagte der Popstar Jean-Michel Jane sin Konzert ab. Yves Mourousi klagte: „Die Situation ist grotesk. Man hat einen Minister für das Bicentenaire ernannt
Der 45jährige Jeanneney ist der dritte Präsident des Organisationskomitees für die Revolutionsfeiem. Seine beiden Vorgänger, der Geschäftsmann Michel Baroin und der Altpolitiker Edgar Faure, sind im Amt gestorben. Auf sie hatte man sich in der Phase der Kohabitation geeinigt, weil sie auf beiden Seiten des politischen Spektrums konsensfähig waren. Jeanneney, obwohl nach dem Wahlsieg der Sozialisten ernannt, gilt ebenfalls als ein Mann des Kompromisses. Als Zeithistoriker gehört er keiner der antagonistischen Schulen der Revolutionsgeschichtsschreibung an und hütet sich, Stellung zu beziehen. Da er seine offizielle Aufgabe darin sieht, „das großartige Erbe der Revolution darzustellen und zu verteidigen“, akzeptiert er den Historiker-streit über die richtige Interpretation dieses Erbes als „Zeichen wissenschaftlicher Vitalität“. Sein Ziel sieht er mehr in der „Koordinierung der vielfältigen Jubiläumsaktivitäten“ als in der zentralen Planung eines „großen Projektes“
So kann denn — außer der Schreckensherrschaft — alles gefeiert werden: die Wissenschaftler der Revolutionszeit im Technik-Museum La Villette; die Eröffnung der Generalstände im royalistischen Versailles; der Initiator der Sklavenbefreiung, Toussant Louverture, in der Trabantenstadt La Courneuve; die Menschenrechtserklärung mit der Einweihung des Ehrendenkmals auf dem Mars-feld, einer Segelregatta in Rouen und einem Staatsakt unter dem Triumphbogen von La Däfense; der Sieg der Revolutionstruppen und die Geburtsstunde der Republik mit einem militärhistorischen Spektakel in Valmy.
Worauf es ankomme, meint Jeanneney, sei allein das „Engagement“, mit dem „die ewigen Werte der Republik“ verteidigt und — so ließe sich hinzufügen — der Lyrismus, mit dem sie beschworen werden. Da ist die Rede von der „Fackel des Ideals“, die „unter den Lichtem des Festes weitergetragen“ werde, von der „Ernte der symbolischen Gesten, die Wurzel schlage in einem Boden, der ebenso ewig wie unerschöpflich sei“
Ist das nun die Jubiläumsrhetorik der offiziellen Festveranstalter, die auch von 1889 oder 1939 sein könnte, oder trifft dies die Stimmung der Franzosen im Jahre 1989? Sind die intellektuellen und politischen Eliten sich über die Funktion des Bicentenaire einig, oder stehen sich alternative Konzepte gegenüber? Ist der von Jeanneney hochgelobte Pluralismus der Veranstaltungen Programm oder Notlösung?
II. Die Schule des Republikaners ist das Fest
Das Feiern der Revolution war für alle republikanischen Regierungen eine prekäre Aufgabe. Einerseits verstand der Staat sich als Staat aller Bürger, als Verkörperung der nationalen Einheit; andererseits bedeutete, der Revolution zu gedenken, die Siege des einen Lagers über das andere zu feiern. Hinzu kam die schwierige Verknüpfung der Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte von 1789 mit der Verfassung von 1793, weil das hier garantierte sakrosankte Recht auf Eigentum im Widerspruch stand zu der dort vorgenommenen Erweiterung der Menschenrechte um ihre soziale Dimension. Dieser Widerspruch bewirkte einen partiellen Gedächtnisschwund in der Erinnerung an die Revolution, der bereits in den frühen revolutionären Festen zum Ausdruck kam und in der selektiven Amnesie der memoirecollective heute noch deutlich ist
Schon Robespierre hatte das Fest als einen „bedeutsamen Teil der öffentlichen Erziehung“ betrachtet und ihm „die Weckung großherziger Gefühle, die Liebe zum Vaterland und die Achtung der Gesetze“ zum Ziel gesetzt
Die zögerlichen Vorbereitungen der Gedenkfeierlichkeiten seitens des Staates scheinen dafür zu sprechen, daß die classe politique nicht mehr recht an die Mobilisierungskraft nationaler Gedenkjahre glaubt. Die Überzeugungsrepublikaner im Regierungslager fürchten denn auch, daß in einem von blasierten Postrevolutionären nachlässig organisierten Revolutionsfestival die „republikanische Wachsamkeit“ verloren gehe. Die aber ist für den Altmarxisten, ehemaligen Guerillero und langjährigen Staatsrat Rgis Debray „eine staatsbürgerliche Pflicht und eine Bedingung von Identität“
An zwei Orten müsse dieser Kampf vorbereitet werden: im revolutionären Fest, das Debray sich deshalb „voluntaristisch, strahlend und offensiv“ wünscht, und in der Schule. „Bei uns“, erklärte er in einem Interview mit „Le Monde“, „ist der Tempel der Revolution weder die Börse noch ein Mausoleum oder eine Kathedrale, sondern die Volksschule.“ Der Filmregisseur Louis Malle hat diese Idee auf Regierungskosten in einen 30 Sekunden-TV-Spot umgesetzt und für die gute Sache seine Aversion gegen das Reklamefernsehen überwunden. „Libert, galit, fraternit — trois mots d’amour“ flüstert eine suggestive Stimme in das fröhliche Durcheinander einer Schulklasse aus Kindern verschiedener Nationalitäten die Botschaft der republikanischen Integration.
Ecole et Armee — meme combat. Im Kabinett Rocard sind die militanten Republikaner dünn gesät, aber nicht von ungefähr durch den Verteidigungsminister Chevönement vertreten. Nachdem er das Erziehungswesen mit Hilfe einer Synthese von Computer und Marseillaise erneuern wollte, plante er zum Bicentenaire die Glorifizierung der Armee durch eine Rekonstruktion des Sieges von Valmy. Ob es gelingen wird, den Revolutionsfeiem über Schule und Armee militanten Geist einzuflößen, ist fraglich. Dazu bedürfte es entschlossener Mittler und bereitwilliger Adressaten.
Es gibt zwar unter den Lehrern offenbar die Bereitschaft, sich in den von der Unterrichts-und Menschenrechtsliga organisierten „CLEFs“ zu engagieren, und Meinungsumfragen zufolge begrüßt die Mehrheit der Bevölkerung die Gedenkfeiern zur Revolution. Für die meisten Franzosen bedeuten sie aber lediglich die nützliche Auffrischung ihrer Schulkenntnisse über ein Ereignis, dessen nationale Bedeutung ihnen geläufig ist. Nur wenige Befragte — darunter in erster Linie Kommunisten und Sozialisten — erkennen darin eine politische Handlungsanweisung für die Gegenwart. Und was die Jugendlichen anlangt, so sind 69 Prozent zwar davon überzeugt, daß der Mensch „ein Ideal braucht“, und 59 Prozent sind sogar bereit, „ihr Leben dafür einzusetzen“. Aber an der Spitze der verteidigungswürdigen Werte steht die Familie (84 Prozent). Für eine „Veränderung der Gesellschaft“ würden nur 14 Prozent der Jugendlichen Opfer bringen
III. Die Apotheose des kleinsten gemeinsamen Nenners
Es bestand immer schon ein Widerspruch zwischen dem selbstzufriedenen Befeiern der revolutionären Errungenschaften und dem subversiven, unabge-schlossenen Charakter der Revolution. Um den zivilen Frieden zu sichern, haben die republikanischen Regierungen allfällige Gedenkprogramme um ein möglichst konsensuelles Stück Erbe gruppiert. Das machte zwar historische Amputationen notwendig, gewährleistete aber, daß mit der Hoffnung auf eine Fortführung der Revolution auch die Gefahr gegenrevolutionärer Aktionen gebannt wurde. 1989 ist der kleinste gemeinsame Nenner. auf den sich die Feierwilligen einigen konnten, die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte.
Sie stehen in Frankreich schon auf Platz eins der politiktheoretischen Diskussion, seit die von den sowjetischen Gulags (verspätet) aufgeschreckten und von den Revolutionen der Dritten Welt enttäuschten Intellektuellen sich vom Marxismus abgewandt haben und statt dessen einem humanitären, politischen Pragmatismus das Wort reden. Edgar Faure lieh dem Zeitgeist Ausdruck, als er die Menschenrechte zum Kemthema der Bicentenaire-Feiern erhob
Obwohl auch andere memorable Ereignisse der ersten Revolutionsphase gefeiert werden (z. B. die Entstehung der Nationalhymne mit einem Mammutspektakel von Jean-Paul Goude und mit einer Ausstellung im Musee d’Orsay sowie der hundertste Geburtstag des Eiffelturms) und Jeanneney sich gegenüber dem „Nouvel Observateur" ausdrücklich gegen eine Reduzierung des Bicentenaire auf die „Droits de l'homme" ausgesprochen hat, bilden sie doch dessen ideologisches Gerüst. Ihre Zelebration ist über die drei zentralen Festmonate verteilt: Am 26. Juni wird das von Yvan Theimer geschaffene Menschenrechtsdenkmal auf dem Marsfeld feierlich eingeweiht; am 16. Juli versammelt sich in Straßburg der „Jugendkonvent“, um eine „neue Menschenrechtserklärung“ zu erarbeiten; am 25. August defilieren die „größten Karnevals der Welt“ über die Champs Elyses als „internationale hommage an die Menschenrechte“, und tags darauf findet die erwähnte Feier unter dem Revolutionsbogen statt.
Die Veranstalter des Bicentenaire opfern indes nicht nur einer ideologischen Mode oder der internationalen Prestigesucht, wenn sie die „Ddclaration des droits de l’homme et du citoyen“ in den Mittelpunkt der Jubiläumsfeiern rücken. Mona Ozouf betont in ihrem Buch über das revolutionäre Fest die sakrale Bedeutung der Menschen-und Bürger-rechte für die von den Revolutionären entworfene Zivilreligion, die den unter dem Bannfluch der Kollaboration mit dem Ancien Regime stehenden Katholizismus ersetzen sollte. Der neue Kult brauchte zu seiner Verkündigung und Etablierung nicht nur Priester, Märtyrer, Hymnen und Ikonen, sondern auch ein heiliges Buch, in dem die Ursprungsgeschichte und die unverletzlichen Grundsätze der Republik aufgezeichnet waren. Dieses Buch war die „Deklaration der Rechte“, von Ozouf anspielungsreich „die Arche der Verfassung“ genannt. Es fand seinen Platz auf dem „Altar des Vaterlands“, wie das Allerheiligste von einem kostbaren Tabernakel umschlossen
Natürlich wird es Zuschauer geben, die diese sakral-artistische Geste nicht so interpretieren, wie sie verstanden sein will, nämlich als Ausdruck der permanenten Gefährdung der Menschenrechte, sondern als sensationelles Showbussiness, das von der mangelnden Verwirklichung sozialer Grundrechte ablenken soll. Genau an dieser Stelle setzt die Kritik des Altmarxisten Regis Debray ein, der den „Humanitarismus“ als Mystifikation und zynische Augenwischerei attackiert. Für ihn bedeutet die Kehrseite der öffentlichen Einmütigkeit über die Menschenrechte die Blockierung des sozialen Fortschritts. Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, will er den revolutionären Kampfgeist der frühen Republikaner wiederbeleben, d. h.den Antagonismus zwischen Gegnern und Verteidigern einer aktualisierten Revolution.
Mit diesem Ansinnen trifft Debray auf Verständnis bei den Randgruppen des politischen Spektrums auf der Linken wie der Rechten. In diese Kategorie gehört auch die Kommunistische Partei Frankreichs, die in den letzten Jahren spektakuläre Einbußen an Macht und Ansehen erlitten hat. Umso mehr besteht sie darauf, die legitime Erbin der Revolution zu sein. Als einzige Partei hat sie den Vorbereitungen des Bicentenaire 1987 eine Sitzung ihrer Führungsspitze gewidmet, die mit dem Bekenntnis zu einer „nouvelle revolution franaise" und einem scharfen Angriff aufden „kohabitionistisehen Sumpf der Mitterrand/Faure" endete. In der kommunistischen Zeitschrift „Revolution“ wird das offizielle Festprogramm als eine „mit dem Kapital abgesprochene ideologische Operation“ bezeichnet, die das Ziel habe, in der Bevölkerung „Resignation und Klassenkollaboration zu verbreiten“. Als Gegengift gegen die Konsensideologie, die nur dazu diene, „jeden Gedanken an eine gesellschaftlich-politische Veränderung zu diskreditieren“, empfiehlt der marxistische Historiker Claude Mazauric die Aufklärung der Massen über die „demokratische Energie, die den fortschrittlichsten Ideen der französischen Revolution bis heute innewohnt und weiterhin die Geister trennt“
Aus diametral entgegengesetzten Gründen verweigert sich die extreme Rechte dem bicentenairen Minimalkonsens, allen voran die Royalisten. Die gemäßigten unter ihnen, wie der Historiker’Jean Tulard, Mitverfasser eines zwölfhundert Seiten starken Nachschlagewerks über die Revolution, haben zwar nichts gegen die Erinnerungsfeiern, wollen aber, daß die Opfer der Revolution in sie eingeschlossen werden
Es sieht nicht so aus. als ob die verschiedenen rechtsradikalen Gruppierungen sich auf gemeinsame Aktionen gegen die Revolutionsfeiem einigen könnten. Schon 1889 scheiterte der Royalist Albert de Mun mit dem Versuch, eine antirepublikanische Massenkundgebung zu organisieren. Heute stehen dem Grafen von Paris für eine Verteidigung Ludwigs XVI. die Spalten von Le Monde zur Verfügung, die in einem Vorspann hervorhebt, daß „die Revolution, bevor sie sich zur Republik bekannte, mit dem König gegen das Privilegienwesen" gekämpft habe
Daß der vielzitierte Konsens trotzdem Sprünge aufweist, zeigt u. a. das Beispiel Robespierres
Das Bicentenaire ist eine einmalige Chance für Mitterrand, die Republik der Menschenrechte und sich selbst ins Rampenlicht der Weltöffentlichkeit zu rücken. Während in der Sorbonne ein hochkarätig besetzter, internationaler Kongreß über „Das Bild der französischen Revolution in der Welt“ tagt, wird er als turnusmäßiger Präsident der Europäischen Gemeinschaft versuchen, seiner Vision von Europa zum Durchbruch zu verhelfen. Der Besuch Gorbatschows in Paris wird ihm Gelegenheit geben, die Perestroika von 1789 abzuleiten und Frankreichs Image als Großmacht aufzubessem. Mit dem Regierungsgipfel der sieben größten Industriestaaten der Welt, der mit dem Höhepunkt der Revolutionsfeiern zusammenfällt, ist Mitterrands Ziel dann erreicht: Der kleinste gemeinsame Nenner wird zum größten nationalen Erfolg.
IV, Charlotte Corday in Himbeersoße oder die Revolution als fröhliche Folklore
Der Politologe Alain Duhamel sorgt sich, daß die Menschenrechts-Apotheose „zu pompös“ ausfallen könnte
In der Werbung sicherlich. Da veralbert z. B. ein Unternehmen für Milchprodukte auf seinen Plakaten den Lieblingsmythos der Franzosen. „Rate mal“, fragt eine kesse Marianne mit blonden Haaren, „wie’s mir gelungen ist, die Bastille zu stürmen“. Nun, sie hat ihr Leben lang Joghurt gegessen. Citroen zieht einen TV-Gag aus dem spielerischen Umgang mit dem Begriff „revolutionär“. Während das neueste Firmenmodell auf der chinesischen Mauer entlangrast, jauchzt ein seliger Chinese: „Levolutionäl!"
Auch Handel und Gastronomie verulken die Revolution zu Zwecken der Absatzförderung. So werden Nachbildungen der im Winter 1793/94 aus Not angeordneten „Gleichheitsbrote“ als blauweißrot eingefärbte Scherzartikel auf den Markt gebracht und Papageien gehandelt, die die Anfangszeile der Marseillaise krächzen. Auf 200 Millionen Wasserflaschen ließ die Gemeinde Vittel den Zusatz „Freiheit oder Tod“ drucken und wirbt damit sowohl für ihre Gesundheitsquellen als auch für Robert Hosseins Revolutionsstück, das in drei Monaten 600 000 Besucher anlockte. In diesem Falle, wie in zahlreichen anderen, liegen Klamauk, Kitsch und Kundenwerbung eng beisammen. Gelegentlich gerät das Ganze an die Grenze des guten Geschmacks — so wenn eine Dessert-Neuschöpfung unter dem Namen „Charlotte Corday in Himbeersoße“) angepriesen wird.
Die postrevolutionäre Gag-und Gadget-Ästhetik ironisiert das Erhabene und zersetzt etablierte Regeln des Umgangs mit den nationalen Heiligtümern. Ihre Subversivität richtet sich allerdings nicht gegen defizitäre gesellschaftlich-politische Verhältnisse, sondern dient der besseren Vermarktung des historischen Erbes und der Arbeitsbeschaffung für stellungslose Künstler der alternativen Szene. Die Parodie auf den gegenrevolutionären Heiligenkult in Gestalt eines Desserts wie die Entsakralisierung der Revolution durch Nachbildungen der Bastille in Gelatine sind nur das poppige Pendant zur Truppenparade auf den Champs Elyses.
Die bicentenäre Inszenierungskunst sieht von vomeherein zwei Arten von Veranstaltungen vor: die offiziellen Feiern mit ihrer ausgeklügelten, pädagogischen Repräsentationsdramaturgie und die für Improvisationen offenen, volkstümlichen Vergnügungen. Die einen dienen der Identitätsstiftung und dem politischen Prestige der Nation, die anderen dem Gemeinschaftsgefühl der Bürger und der Zahlungsbilanz. So hat Jacques Chirac die Aufnahme eines Hundertmillionenkredits für das Bicentenaire einerseits mit der „Berufung von Paris zur europäischen Hauptstadt“ gerechtfertigt und andererseits mit den Einnahmen, die sich die Metropole durch ihre zahlreichen Veranstaltungen erhofft. Geplant sind u. a.der Bau einer Bastille aus Pappelholz für Ausstellungen und „manifestations culturelles", die Rekonstruktion eines Handwerkerviertels in der Louis-Philippe-Passage, ein Theaterfestival, ein Feuerwerk auf der Seine und der feierliche Umzug von 2 500 Nachfahren von Akteuren der Revolution.
Die Beteiligten an diesem Umzug folgen einem Appell der Stadtverwaltung zur Ahnenforschung. Unter ihnen sollen sich Nachkommen geköpfter Adliger wie militanter Revolutionäre befinden. Falls sie, wie vorgesehen, am 25. Juni einträchtig miteinander von der Bastille zur Place de la Concorde ziehen (wo während des Terreur die Guillotine aufgestellt war), so würde im Jahre 1989 verwirklicht, was das Föderationsfest von 1790
Vergleicht man die Berichte über den 14. Juli 1790 mit denen von „Mai 68“, so werden die erinnerungsstiftenden Merkmale des „revolutionären Festes“ deutlich, von denen Jules Michelet 25) und die 68er schwärmen: Die spontane Begegnung einander fremder, aber gleichgesinnter Menschen, die fasziniert sind von der Möglichkeit, „etwas zu tun und zu bewirken“
Festliche Hochstimmungen dieser Art lassen sich nicht beliebig reproduzieren, und die historischen Beispiele belegen, daß sie bei den Regierenden eher Furcht und Repression als Jubel auslösen. Mona Ozouf weist zu Recht darauf hin, daß die gegenwärtige Festsehnsucht restaurative Züge trägt und in Gefahr steht, „ein unechtes kollektives Gedächtnis künstlich am Leben zu halten“
So sehr diese Bedenken auf die historischen Kostümspektakel und Revolutionen ä la Disney zutreffen mögen — sie unterschätzen das Potential an „convivialitd“, das in den für die Jugend vorgesehenen Festen steckt, und verkennen den Elan, mit dem das Bicentenaire von Teilen der Basis getragen wird. Es hat in Frankreich neben den offiziellen Festveranstaltem immer schon private Vereinigungen und politische Gruppen gegeben, die sich aus eigenem Antrieb für eine „commmoration chaleureuse“ des revolutionären Erbes einsetzten und dabei gelegentlich durchaus in Konflikt mit der offiziellen Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners gerieten. Teils gingen diese Gruppen aus dem radikalen Republikanismus, teils aus der Arbeiterbewegung hervor. Auch zum Bicentenaire haben sich solche Vereine gebildet oder zu ad hoc-Gruppen zusammengeschlossen.
Besonders rührig sind die bereits erwähnten Komitees „CLEFS 89“, die aus einer gemeinsamen Initiative der Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Erziehungs-und Menschenrechtsliga entstanden. Sie sind in allen Departements aktiv und setzen die Akzente ihrer Arbeit je nach den Interessen der Beteiligten und den regionalen historischen Vorgaben. Gemeinsam betreiben sie die Abfassung neuer „cahiers de dolances"