I. Die seditative Wirkung der Revolution — 200 Jahre danach
Die Szene findet sich in fast jeder Darstellung der Französischen Revolution: In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1789, als im Schloß von Versailles der Herzog von Liancourt den König wecken läßt, um ihn über die soeben aus Paris eingetroffenen Nachrichten, darunter auch die von der Eroberung der Bastille, in Kenntnis zu setzen, soll der König erschrocken ausgerufen haben: „Das ist ja eine Revolte!“, worauf ihm der Herzog entgegnet haben will: „Nein, Sire, das ist keine Revolte, das ist eine Revolution.“
Von fast allen großen Ereignissen der Weltgeschichte sind solche Sentenzen mehr oder minder hellsichtiger Beobachter überliefert. Früh, schon zu Beginn der fraglichen Vorgänge, wird darin deren weiterer Verlauf in wenigen Worten antizipiert. Analytischer Blick und prophetische Vorausschau fallen dabei in eins: Die scharfsinnige Ausdeutung des Augenblicks wird zur prognostischen Darstellung der Zukunft.
Die vielzitierte Bemerkung Goethes am Abend des 20. September 1792 nach einem unentschiedenen Artillerieduell zwischen preußischen und französischen Truppen nahe Valmy gegenüber einigen durchnäßten und frierenden Soldaten ist von ähnlichem Zuschnitt: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen, Ihr seid dabei gewesen.“ Das war gedacht als ein Trost für die Männer, die, abgerissen und deprimiert, sich um das Biwakfeuer drängten: Nach den ungeheueren Anstrengungen der letzten Tage und Wochen, dem mühseligen Vormarsch auf schlammigen Straßen und Wegen, hatten sie mit der entscheidenden Schlacht gerechnet, die den Feldzug siegreich beenden würde. Nun gab es keinen Sieg, schon gar kein Ende des Krieges, dafür — so Goethe — eine neue Epoche der Weltgeschichte und der freundliche Hinweis, man sei Augenzeuge ihres Anfangs geworden.
Am Abend des 14. Juli ist Ludwig XVI. eher schlechter Laune gewesen, als er sich zu Bett begab: Ein Jagdausflug hatte die nach den zurückliegenden politischen Turbulenzen erhoffte Abwechslung nicht gebracht, und weil er den ganzen Tag über nicht zum Schuß gekommen war, notierte der König in seinem Tagebuch — nicht minder symbol-trächtig als die wenige Stunden später erfolgende Replik des Herzogs von Liancourt — nur ein Wort: „rien“ — nichts.
Konzedieren wir Goethe und dem Herzog von Liancourt, daß sie die nur von ihnen selbst überlieferten Sentenzen in den besagten Situationen tatsächlich geäußert haben, so fällt auf, daß beide, Goethe mehr noch als der Herzog von Liancourt, das grundsätzlich Neue der Ereignisse betont haben. Ein bestimmtes Ereignis, wie etwa die Eroberung eines Stadtgefängnisses, das seit geraumer Zeit überwiegend als Munitionsdepot diente, oder ein sich über mehrere Stunden hinziehendes Artillerie-duell, wird in solchen Sentenzen als ein Wendepunkt der Geschichte sichtbar gemacht: nicht einige Tausend Aufständische, die einem unentschlossenen Hauptmann die Kapitulation der Bastille abtrotzten sondern — die Revolution; nicht einige Tonnen Pulver, die zu verschießen ob des anhaltenden Regens nur unter großen Mühen möglich war, sondern — eine neue Epoche der Weltgeschichte! Und daneben eine sich dramatisch zuspitzende politische Situation, seit Tagen andauernde Unruhen nicht nur in Paris, sondern auch in der Provinz, dazu eine Versammlung der Generalstände, die sich als Nationalversammlung konstituiert hat — und dazu die eigenhändige Eintragung des Königs, die besagt, daß an diesem Tage nichts vorgefallen sei, was im königlichen Tagebuch festgehalten zu werden verdiente. Sensibilität und Ignoranz gegenüber politischen Entwicklungen können schwerlich sinnfälliger zum Ausdruck kommen, als dies hier der Fall ist.
Und doch sind einige Zweifel angebracht, ob diese Äußerungen, als sie gemacht wurden, wirklich das besagen sollten, was wir heute aus ihnen heraushören, und ob wir nicht Sinngehalte in sie hineinlegen, die mehr aus unserer eigenen Sicht und Kenntnis der Geschichte erwachsen, als daß sie in den besagten Äußerungen zunächst wirklich enthalten gewesen wären.
Wenn Goethe von der „neuen Epoche der Weltgeschichte“ spricht, die von Valmy ihren Ausgang genommen habe, so verbinden wir dies ganz selbstverständlich mit dem, was sich in den fast zweihun-dert Jahren danach entwickelt hat, und wenn der Herzog von Liancourt die Eroberung der Bastille nicht als Revolte, sondern als Revolution beurteilt wissen will, so werden wir ihm sofort Recht geben, weil in unseren Vorstellungen der Begriffder Revolution untrennbar mit Ereignissequenzen verbunden ist, wie sie mit der Französischen Revolution erstmals in die Geschichte Eingang gefunden haben.
Feiern wir also womöglich nur uns selbst und unser politisches Selbstverständnis als den vorläufigen Endpunkt einer bis dahin nicht dagewesenen Phase gesellschaftlicher Mobilisierung und geschichtlicher Beschleunigung, wenn wir dem Herzog von Liancourt und Goethe in ihren Urteilen sofort beipflichten, während wir das schlichte „rien“ im königlichen Tagebuch als eine jener Formen politischer Insensibilität begreifen, denen diejenigen, die sie fortgesetzt an den Tag legen, schließlich zum Opfer fallen? Dienen also womöglich die Feiern und Jubiläumsveranstaltungen, die jetzt allenthalben anläßlich des Bicentenaire organisiert werden, die zahllosen Bücher und Aufsätze, Essays und Gedenkreden, nur unserer eigenen Selbstbestätigung und Selbstberuhigung?
Immerhin: Wenn die Französische Revolution, als deren Erben wir unsja in der überwiegenden Mehrheit begreifen oder als die wir doch zumindest begriffen werden wollen, den Beginn einer evolutiven Geschichte der Entfaltung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit darstellt, so ist damit zuletzt auch unsere eigene Gegenwart gerechtfertigt, und die zurückliegenden zweihundert Jahre sind sinn-haft in unser Selbstverständnis integriert — auch wenn wir Deutschen, die wir einstmals mit großer Emphase die „Ideen von 1914“ gegen die „Ideen von 1789“ gestellt haben zugegebenermaßen etwas spät dabei auf den richtigen Geschmack gekommen sind. Wenn alle Rechnungen so glatt aufgehen, zumal solche, die bei Ludwig XVI. und dem Herzog von Liancourt beginnen und über Goethe zu uns selbst führen, dann ist äußerstes Mißtrauen angebracht.
II. Was heißt Revolution?
„Marx sagt“, heißt es in einem Fragment Walter Benjamins, das im Umkreis der Thesensammlung „über den Begriff der Geschichte“ entstanden ist, „die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“ Wogegen Benjamin sich absetzt, ist eine (von ihm als sozialdemokratisch begriffene) Vorstellung von Geschichte, die in naivem Optimismus auf einen Fortschritt setzt, den sie weithin mit einer Vermehrung der verfügbaren materiellen Ressourcen identifiziert, und die Revolutionen als Beschleunigung dieses Fortschritts durch die Beseitigung politischer Fortschrittsbarrieren begreift. Dieser Vorstellung zufolge ist die Menschheit in einer steten Entwicklung begriffen, in der die Möglichkeit eines dialektischen Umschlags, einer Umkehr des Fortschritts infolge der Häufung der Fortschritte, ebensowenig eingeschlossen ist wie die Vorstellung, es könne der Fortschritt sein, der in den Abgrund führt.
Benjamin hat diesen Fortschritt anhand eines Bildes von Paul Klee, des „Angelus novus“, beschrieben: „Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen, und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen. die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm in den Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Von einem solchen Verständnis des Fortschritts hat Walter Benjamin die Idee der Revolution abkoppeln wollen: Nicht als „Lokomotiven der Weltgeschichte“ sollten Revolutionen verstanden werden, sondern als „Griff nach der Notbremse“, nicht als Beschleunigung des geschichtlichen Prozesses, sondern als dessen Verlangsamung, nicht als Forcierung der ökonomischen Dynamik, sondern als Rückgängigmachung dessen, was diese ökonomische Dynamik bewirkt hat.
Nur auf den ersten Blick mag es den Anschein haben, als habe Benjamin damit die Bedeutung von Revolution in ihr Gegenteil verkehrt; bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß er mit seiner Umdefinition des Verhältnisses der Revolution zum Fortschritt eher die ursprüngliche, um nicht zu sagen die authentische Bedeutung des Begriffs wiederhergestellt hat. Revolutionen bedeuten in der klassischen Politiktheorie zunächst nämlich nichts anderes als Etappen in einem Kreislauf der Verfassungsformen, der von der Monarchie zur Tyrannis, von der Aristokratie zur Oligarchie, von der Demokratie zur Ochlokratie führt, um dann wieder von vorne zu beginnen. Der griechisch-römische Historiker Polybios hat diesen in sich geschlossenen Kreislauf der Verfassungsformen erstmals theoretisch entwickelt, und am Beginn der Neuzeit haben — unter anderem — Niccolö Machiavelli und Louis LeRoy dieses Kreislaufmodell aufgegriffen und ausdifferenziert. Von Fortschritt, gar von einer Beschleunigung des Fortschritts oder womöglich von „einer neuen Epoche der Weltgeschichte“ konnte im Rahmen dieser Geschichtstheorie keine Rede sein: Es waren die stets gleichen Etappen eines Kreislaufs, den die Staaten durchschritten, wenn sie in „revolutionären“ Umschwüngen ihre Verfassungen änderten, bis ihre Kraft schließlich nach einigen dieser Umläufe erschöpft war und sie zerfielen oder untergingen
In einer solchen Theorie, die politische Veränderung durch Analogisierung oder Metaphorisierung der kreisförmigen bzw. elliptischen Gestirnbewegungen zu beschreiben sucht, war die Idee des Neuen, des noch nie Dagewesenen nicht unterzubringen. „Die naturale Metaphorik der politischen . Revolutionen* “, so Reinhart Koselleck, „lebte von derVoraussetzung, daß auch die geschichtliche Zeit immer von gleicher Qualität, in sich geschlossen, wiederholbar sei. Es blieb eine zwar immer strittige, aber in Anbetracht des Kreislaufs sekundäre Frage, auf welchem Punkt der Auf-und Abbewegung einer , revolutio‘ man den gegenwärtigen oder den erstrebten Verfassungszustand ansiedeln wollte. Alle politischen Positionen blieben aufgehoben in einem transhistorischen Revolutionsbegriff.“
Die politische Konsequenz, die Polybios und Machiavelli aus der Theorie eines die Revolutionen umschließenden Kreislaufs der Verfassungsformen gezogen haben, war die Aufforderung zu einer Politik der Revolutionsvermeidung: Da der Verfassungskreislauf die Kraft eines Staates über kurz oder lang verbrauchte, war es das klügste, wenn man solche Revolutionen nach Möglichkeit vermied, und man tat dies am ehesten dadurch, daß man eine gemischte Verfassung einführte, die, gleichsam als Nabe im sich drehenden Rad des Verfassungswechsels, die ärgsten Folgen des Kreislaufs zu meiden verstand.
Eine solche die Einförmigkeit der Geschichte und die Gleichgültigkeit der Verfassungsumschwünge betonende Revolutionsvorstellung kann schwerlich in die Vorgeschichte des modernen Revolutionsbegriffs gestellt werden, der heute in aller Regel an der Geschichte der Französischen Revolution exemplifiziert wird. Es kommt also nicht von ungefähr, wenn Eugen Rosenstock-Huessy und Karl Griewank, die Verfasser grundlegender und nach wie vor unverzichtbarer Monographien zu Revolution und Revolutionsbegriff in Europa, nicht den Verfassungskreislauf der antiken und frühneuzeitlichen Theoretiker, sondern die Reformationsideen des Spätmittelalters an den Anfang ihrer Darstellungen gestellt haben In diesen Reformationsideen ging es nun aber gerade nicht um eine Beschleunigung der Zeit, sondern vielmehr um deren Rückgängigmachung, um die Wiederherstellung eines früheren, guten Zustandes, der im Verlaufe der Zeit korrumpiert, untergraben, zerstört worden ist. Im Unterschied zum modernen Reformbegriff zielten diese Reformationsvorstellungen nicht auf die Anpassung zurückgebliebener politischer Strukturen an Verhältnisse, die sich im Verlaufe der Zeit gewandelt haben, sondern auf die Rückgängigmachung des Wandels der Zeiten und eines Verfalls der politischen Ordnung — mit dem Ziel, einen als gut gekennzeichneten ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Das Präfix „re“ in Re-formation und Re-volution verweist hier tatsächlich auf Rückkehr, Rückgewinnung, Wiederherstellung.
Wahrscheinlich würden solche Vorstellungen heute eher als konservativ denn als reformerisch oder gar als revolutionär bezeichnet, aber das zeigt zunächst nur, wie sehr heute die Vorstellungen von Fortschritt, Reform und auch Revolution miteinander verbunden sind Dabei geht es dem alten Reformations-und Revolutionsbegriff ja keineswegs um eine Bewahrung und Festschreibung des Bestehen-den, im Gegenteil: In der Regel treten „rückwärtsgewandte“ Reformations-oder Revolutionsvorstellungen der eigenen Gegenwart erheblich skeptischer, distanzierter und kritischer gegenüber, als dies „vorwärtsgewandte“ Reform-und Revolutionsvorstellungen tun. Ist für diese doch die Gegenwart eine, wenngleich noch unzureichende, Etappe des grundsätzlich bejahten Fortschritts, während sie in der alten Theorie nur den vorläufigen Endpunkt von Niedergang und Dekadenz darstellt. Als konservativ können diese Theorien allenfalls insofern bezeichnet werden, als in ihnen die Vergangenheit und nicht die Zukunft eine ethisch-politische Überlegenheitsvermutung für sich in Anspruch nehmen darf. Exakt diese Vorstellung hat Walter Benjamin rehabilitieren wollen, als er die Verknüpfung von Revolution und Fortschritt auflöste und Revolutionen nicht länger als Beschleunigungen der Geschichte, sondern als Versuche, die Geschichte anzuhalten, begriffen wissen wollte.
Keine Frage: Als der Herzog von Liancourt in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 1789 seinem König widersprach und die Ereignisse des Vortages als Revolution gewertet wissen wollte, hat er damit wohl kaum ein Anhalten der Geschichte, eine Rückführung der politischen Verhältnisse auf frühere Formen und auch nicht eine Drehung des Verfassungskreislaufs gemeint. Als er den Sturm auf die Bastille nicht als Revolte, sondern als Revolution gewertet wissen wollte, wollte er damit offenkundig sagen, daß die Ereignisse des Vortages die politische Ordnung in ihren Grundfesten erschüttert hatten. Werden in Revolten, so die gängige politikwissenschaftliche Unterscheidung, nämlich nur die normativen Grundlagen der bestehenden Ordnung gegen deren faktischen Zustand eingeklagt, so ist von einer Revolution, sei sie nun im oben diskutierten Sinne vorwärts-oder rückwärts-gewandt, erst dann zu sprechen, wenn in ihr den gegenwärtigen Verhältnissen fundamental widersprechende Normen durchgesetzt werden sollen, wenn also der bestehenden Ordnung der Anspruch, Gerechtigkeit zu verwirklichen, nicht nur im Hinblick auf ihren faktischen Zustand, sondern auch in bezug auf die ihr zugrundeliegenden Prinzipien abgesprochen wird.
Inwiefern aber sind am 14. Juli 1789 beim Sturm auf die Bastille grundlegende Prinzipien der überkommenen Ordnung in Frage gestellt worden? Ist nicht das Ancien Regime einen Monat zuvor, als sich der Dritte Stand unter Mitwirkung einiger liberaler Adliger und mehrerer Priester als Nationalversammlung konstituierte, und dann einen Monat später, in der berühmten Nachtsitzung vom 4. August, als die Vertreter des Ersten und des Zweiten Standes auf ihre Feudalrechte und Privilegien verzichteten, in seinen Prinzipien viel stärker in Frage gestellt worden als bei der Erstürmung des berüchtigten Stadt-gefängnisses am 14. Juli? Hatte also Ludwig XVI. womöglich Recht, als er die Ereignisse des Vortages als eine Revolte, nicht aber als eine Revolution gewertet wissen wollte?
Das kurze Gespräch zwischen Ludwig XVI. und dem Herzog von Liancourt ist offenbar schwerer zu beurteilen, als dies zunächst den Anschein hatte. In seinem Gehalt wird es denn auch unterschiedlich nuanciert Für die klassische Historiographie ist und bleibt der Sturm auf die Bastille eine entscheidende Etappe der Revolution, mit der diese den Kreis der Notabein verließ und die Massen ergriff; der Sturm auf die Bastille ist das Symbol der Revolution, er ist die Revolution — der Herzog von Liancourt hat recht. Für die „revisionistische“ Historiographie dagegen ist der Bastillesturm nur eine Absicherung der im Grunde bereits erfolgreichen Revolution durch die städtischen Volksmassen, ein symbolträchtiger Vorgang zwar, aber sicherlich kein Vorgang, in dem neue politische Prinzipien durchgesetzt worden wären — Ludwig XVI. hat demnach zumindest nicht unrecht. Darstellung und Beurteilung der Revolution hängen demnach ganz entscheidend davon ab, auf welchen Begriff von Revolution der Urteilende sich stützt.
Es wird nun zu zeigen sein, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der Revolutionäre von 1789 die Revolution nicht als eine Beschleunigung von ohnehin in Gang befindlichen Entwicklungen begriffen hat, sondern daß es ihnen im Gegenteil darum ging, einen Prozeß moralischer Korruption und politisehen Verfalls, als den sie die Geschichte der letzten Jahrhunderte ansahen, anzuhalten und rückgängig zu machen. Auf der Ebene der politischen Ideengeschichte ist die Französische Revolution auch ein Kampf um das „richtige“ Verständnis der Revolution gewesen: War die Revolution ein großer Schritt im säkularen Prozeß des Fortschritts, wie etwa der „Girondist“ Condorcet meinte, oder war sie, wie dies Robespierre und Saint-Just forderten, die Wiedergewinnung einer bürgerlich-republikanischen Tugend, die in der Zeit absolutistischer Herrschaft korrumpiert worden war und die es nun wiederherzustellen galt?
III. Von der politischen Selbstermächtigung zur Übermacht der Politik
Im Kreislauf der Verfassungsformen, wie ihn das politische Denken der Antike und der Frühen Neuzeit noch gekannt hat, hat eine Form von Gesetzmäßigkeit die politischen Abläufe bestimmt, die menschlicher Verfügung letztlich entzogen war: Die Intentionen, die man in seinen politischen Handlungen verfolgte, riefen nicht unmittelbar die angestrebten Wirkungen hervor, sondern neutralisierten und blockierten sich wechselseitig, bis sich zuletzt gleichsam mit Naturnotwendigkeit das Geschichtsgesetz der zyklischen Abfolgen durchsetzte. Alles, was den Bürgern unter diesen Umständen blieb, war, die Wirkung dieses Geschichtsgesetzes bei den eigenen Vorhaben und Plänen in Rechnung zu stellen, um so ein Quentchen von Autonomie in einer weitgehend determinierten politischen Welt zu bewahren. Revolutionen waren demgemäß keine Umwälzungen, in denen die Menschen wirklich ihre eigenen Ziele und Zwecke verfolgten, auch wenn sie dies im Verlaufe dieser Revolutionen zeitweise immer wieder zu können meinten, sondern diese Revolutionen liefen, den elliptischen Umlaufbahnen der Gestirne vergleichbar, nach Gesetzen ab, die den Menschen immer wieder die eng gesteckten Grenzen ihrer Macht vor Augen führten. Ganz anders verhält es sich dagegen mit einer Revolutionsvorstellung, der zufolge die Menschen auf politischen Wegen aus ihrer Gegenwart ausbrechen. um entweder einer als besser apostrophierten Zukunft zuzueilen oder sich um die Wiedergewinnung früherer Tugenden zu bemühen. Was hier unterstellt ist, ist eine weitgehende Verfügung des Menschen über sein Geschick. An die Stelle, welche im Kreislauf der Verfassungsformen die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte innegehabt haben, sind hier die Intentionen und Fähigkeiten der Menschen getreten. Nie wird dem Menschen so viel Einfluß auf die Geschichte zugesprochen wie im Zusammenhang mit revolutionären Veränderungen, weswegen auch nie so oft wie hier seine Fehler dafür verantwortlich gemacht werden, wenn schließlich doch Intention und Wirkung, Weg und Ziel nicht in ein und derselben Rechnung aufgehen. Wo nicht mehr auf eine wie auch immer bestimmte Eigengesetzlichkeit der Geschichte rekurriert werden kann, wenn es darum geht, die Differenz zwischen Absicht und Ergebnis zu erklären, da ist es die Ressource Mensch selbst, die sich gegenüber den großen revolutionären Vorhaben als unzureichend erwiesen hat. Als Versager oder als Verräter treten dann die Revolutionäre der ersten Stunde den Weg zur Hinrichtung an — das hat sich seit der Revolution in Frankreich mit einiger Regelmäßigkeit bei jeder revolutionären Umwälzung wiederholt.
Doch bevor diese Phase der revolutionären Desillusionierung beginnt, muß zuerst eine Epoche revolutionärer (und vorrevolutionärer) Selbstermächtigung durchlaufen werden. In ihr wird vehement die Geltung angeblicher Geschichts-und Politikgesetze bezweifelt, und jenen Überzeugungen und Ritualen, in denen sich die bestehende Ordnung als gottgegeben, naturnotwendig und altemativlos präsentiert, werden Schritt für Schritt Plausibilität und Überzeugungskraft entzogen. Diese Phase der Selbstermächtigung kann im Anschluß an Christian Meier, der den Begriff für die Entstehungszeit der attischen Demokratie geprägt hat, als Etappe eines gesteigerten „Können-Bewußtseins“ bezeichnet werden Bei diesem Können-Bewußtsein hat es sich nach Meier um ein antikes Äquivalent des neuzeitlichen Fortschrittsbewußtseins gehandelt, doch mußte auch in der Neuzeit zunächst ein solches Können-Bewußtsein vorhanden sein, bevor die Idee des Fortschritts, dann freilich zum Teil auch in der Gestalt eines sich unabhängig von menschlichem Tun vollziehenden selbstläufigen Fortschritts, sich auf breiter Front hat durchsetzen können.
Als Beispiel für dieses im Verlaufe des 18. Jahrhunderts in den Kreisen der französischen Aufklärer sich ausbildende Können-Bewußtsein soll eine Passage aus Rousseaus „Confessions" dienen: „Ich hatte gesehen, daß alles im letzten Grunde auf die Politik ankäme und daß, wie man es auch anstellte, jedes Volk nur das würde, was die Natur seiner Regierung aus ihm machen würde. So schien mir die große Frage nach der bestmöglichen Regierung sich auf jene zurückzuführen: . Welche Regierungsform ist dazu geeignet, das tugendhafteste, aufgeklärteste, verständigste, kurz, das beste Volk im weitesten Sinne des Wortes zu bilden?'“ Selbst Rousseau also, der doch so überaus pessimistisch war bezüglich einer ethisch-politischen Erneuerung Frankreichs, war von diesem Können-Bewußtsein zutiefst geprägt: Nicht die wie auch immer beschaffene Natur der Menschen, nicht das Milieu und nicht das Klima, mit denen die politischen Theoretiker des 16. und 17. Jahrhunderts argumentiert hatten, wenn sie die ethisch-politische Beschaffenheit eines Volkes untersuchten, sondern allein und ausschließlich die Politik, also menschliches Handeln, entscheidet über die Befindlichkeit einer Nation. Diese Monokausalität der Politik steigert nicht nur die politische Verantwortlichkeit, sondern fungiert zugleich als menschliche Selbstermächtigung: Der Mensch selbst ist es, der mit politischen Mitteln das tugendhafteste, aufgeklärteste und verständigste Volk hervorbringt. Er ist der Herr seines Geschicks. Dieser zentrale Gedanke der französischen Aufklärer ist die geistige Voraussetzung für die von der Nationalversammlung verabschiedete Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte, in deren Präambel es heißt: „Da die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung eingesetzt, erwogen haben, daß die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die einzigen Ursachen des öffentlichen Unglücks und der Verderbtheit der Regierenden sind, haben sie beschlossen, die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen in einer feierlichen Erklärung darzulegen, damit diese Erklärung allen Mitgliedern der Gesellschaft beständig vor Augen ist und sie unablässig an ihre Rechte und Pflichten erinnert; damit die Handlungen der Gesetzgebenden wie der Ausübenden Gewalt in jedem Augenblick mit dem Endzweck jeder politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Ansprüche der Bürger, fortan auf einfache und unbestreitbare Grundsätze begründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung und das Gemeinwohl richten mögen.“
Die politische Selbstermächtigung des Menschen kann schwerlich einen stolzeren Ausdruck finden. Das Jahr 1789 markiert den Einbruch dieses Selbstbewußtseins in die europäische Staatenwelt. „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen“, so Hegel später in seinen „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, „war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i.den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut ... Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang . . ., ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durch-schauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.“
Es ist bemerkenswert, daß Hegel bei der Charakterisierung der Französischen Revolution zunächst auf die kosmische Metaphorik der die Revolution als Kreislauf dechiffrierenden klassischen Theorie zurückgreift: Die um die Sonne kreisenden Planeten stehen für den ewig gleichen Gang der Dinge; all dies wird durchbrochen, wenn der Mensch sich anheischig macht, die politischen Verhältnisse nach Vernunftgesichtspunkten neu zu ordnen. So ist die Revolution in Hegels Sicht ein Triumph des Können-Bewußtseins über die Erfahrung der Determination, der Ausgeliefertheit, auch der realen Unterdrückung. Daß dieser Triumph jedoch nicht auf Dauer gestellt werden konnte, deutet Hegel an, wenn er in der Metapher vom Sonnenaufgang die Revolution ihrerseits wieder dem gesetzmäßigen Gang der Gestime unterwirft: Jedem Sonnenaufgang folgt mit Naturnotwendigkeit der Sonnenuntergang. Zwischen Auf-und Untergang aber liegt die Bahn, welche die Sonne an einem Tag zurücklegt, und von dieser Bahn gibt es kein Abweichen. Einmal in Gang gesetzt, geht die Revolution einen ihr vorherbestimmten Gang, und nichts und niemand kann sie davon abbringen oder auch nur ihren Lauf anhalten.
Diese Erfahrung mußte auch der Revolutionär Barnave machen, als er am 15. Juli 1791 in einer großen Rede dazu aufforderte, die Revolution nunmehr zu beenden: „Ihr habt getan, was gut Juli 1791 in einer großen Rede dazu aufforderte, die Revolution nunmehr zu beenden: „Ihr habt getan, was gut war für die Freiheit und die Gleichheit; keine willkürliche Gewalt ist verschont worden, keine Anmaßung der Eigenliebe, keine widerrechtliche Besitzergreifung von Eigentum ist ungestraft geblieben; Ihr habt alle Menschen vor dem Gesetz gleichgemacht; Ihr habt dem Staat wiedergegeben, was ihm genommen wurde.“ 14) Jeder Schritt weiter aber werde dieses Gebäude gefährden. „Auf der Linie der Freiheit“ wäre „die erste Handlung, die noch folgen könnte, die Vernichtung des Königtums“, und „auf der Linie der Gleichheit“ wäre es „der Angriff auf das Eigentum“ 15). Bamave hat darauf gesetzt, daß die Revolution, da sie das ihr bestimmte Ziel erreicht habe, gestoppt werden könne, daß es, in den Worten Hegels, möglich sei, die Sonne im Zenit anzuhalten. Darin hat er sich getäuscht.
Als Vemiaud knapp zwei Jahre später, am 13. März 1793, vor den Konvent trat, um über die Gleichheit zu sprechen, schien er die Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens geahnt zu haben; er schien die Spaltung des Konvents über die Frage, ob die Revolution ihr Ziel erreicht habe und nun beendet werden könne: „Ein Teil seiner (des Konvents) Mitglieder betrachtete die Revolution an dem Tage, da Frankreich sich zur Republik konstituiert hatte, als vollendet; sie hielten es von da an für richtig, der revolutionären Bewegung Einhalt zu gebieten . . . Andere Mitglieder meinten, beunruhigt durch die Gefahren, die uns durch die Koalition der Tyrannen drohten, daß es zur Stärkung unserer Verteidigungskraft wichtig sei, das Feuer der Revolution weiter brennen zu lassen.“ Angesichts dieser Spaltung des Konvents, der Intrigen der Aristokraten und der sich ausbreitenden Furcht vor Verrat prägte Verniaud die seitdem vielzitierte Wendung, „daß die Revolution, gleich Saturn, allmählich all ihre Kinder verschlingen und schließlich den Despotismus mit seinen Drangsalen hervorbringen wird“
Ein knappes Jahr später, am 26. Februar 1794, hat Saint-Just in seiner Rede zur Rechtfertigung der Ventose-Dekrete, die eine Beschlagnahme des Vermögens von Revolutionsfeinden vorsahen, vor der Selbstläufigkeit der revolutionären Entwicklung resigniert, als er von der „Gewalt der Dinge“ sprach, die zu Resultaten führe, „an die wir nicht gedacht haben“ Fast zwangsläufig ist in Saint-Justs Rechtfertigung revolutionärer Maßnahmen an die Stelle der Vernunft die Gewalt und an die Stelle des Arguments das Schwert getreten. Saint-Just beruft sich auf einen Ablauf der Revolution, der sich unabhängig von den Absichten der Revolutionäre vollzieht: „Die Revolutionen gehen von der Schwäche zur Kühnheit und von dem Verbrechen zur Tugend fort. Man bilde sich nicht ein, ein dauerhaftes Staatsgebäude ohne Schwierigkeiten zu gründen; man muß einen langen Krieg mit allen Vorurteilen führen, und da der menschliche Eigennutz unbesiegbar ist, so kann die Freiheit eines Volkes fast nur durch das Schwert begründet werden.“
Saint-Just beschreibt, was die Revolution von einem Werk des Augenblicks zu einem langwierigen und mühseligen Prozeß werden läßt: Schwäche, Verbrechen, Vorurteile, Eigennutz. Die Vernunft, welche die politische Realität aus ihren Prinzipien heraus neu begründen will, betritt kein freigeräumtes Feld; Widerstand und Resignation. Verzweiflung und Verrat behindern den revolutionären Aufbau, und so schlägt der revolutionäre Prozeß Bahnen ein, die von den Akteuren nicht vorgesehen waren. Die Revolution geht ihre eigenen Wege, und die Revolutionäre müssen folgen, wenn sie Schritt halten wollen. Saint-Justs Argumentation kommt einer Absage an die politische Selbstermächtigung gleich.
Es gehört zu den Pikanterien der politischen Ideen-geschichte, daß ausgerechnet die marxistische Revolutionsforschung die klassische Zyklentheorie — in modifizierter Form — bezüglich der bürgerlichen Theorien der Neuzeit erneuert hat: Die aufsteigende Linie, als welche das Bündnis der Bourgeoisie mit den städtischen Volksmassen und mit der armen ländlichen Bevölkerung begriffen wird, und die absteigende Linie, in der sich die Bourgeoisie mit repressiven Maßnahmen ihrer einstigen Verbündeten entledigt, ergeben zusammengenommen einen Zyklus. Bei Manfred Kossok, einem der führenden Revolutionsforscher der DDR, liest sich das so: „Je nachdem, ob die Ablösung zwischen den einzelnen Faktionen (der Bourgeoisie) in progressiver oder degressiver Form verläuft, bewegt sich die Revolution in aufsteigender oder absteigender Linie. Solange die progressive Entwicklungslinie der Revolution anhält, kommt sie zyklisch ... an den Punkt, wo eine bestimmte Gruppe (Faktion) her-ausbricht und durch die nächstradikalere ersetzt werden muß.“ Damit ist die weitgehende Determiniertheit der Revolutionsgeschichte wiederhergestellt, und mit großem szientifischem Apparat wird nichts anderes gesagt als das, was Hegel in der Metaphorik des Sonnenaufgangs zum Ausdruck gebracht hat: Aufstieg, Zenit, Niedergang — und das alles mit quasi-naturgesetzlicher Notwendigkeit.
Als 1808 anläßlich des Erfurter Fürstentages Goethe und Napoleon zusammentrafen, soll der Kaiser dem Dichter erklärt haben, daß die Politik nunmehr — er meinte wohl: seit der Französischen Revolution — zum Schicksal geworden sei Der Optimismus der Aufklärer, daß die Menschen vermittelst der Politik ihre Geschichte selbst zu bestimmen vermögen, ist in sein Gegenteil umgeschlagen: Aus dem Mittel der Selbstermächtigung ist eine den Menschen fremd gegenübertretende Macht geworden, die ihren eigenen Regeln folgt — Politik als Schicksal. Solche Desillusionierungen waren nicht zuletzt eine Folge der Revolution, die wie kaum ein anderes Ereignis davor und danach die Hoffnungen der Menschen auf sich gezogen hat, um sie durch ihren Verlauf dann um so bitterer zu enttäuschen.
IV. Die Idee der Tugend: Rückkehr zur Sittlichkeit
Es ist die Spaltung der Revolutionäre in verschiedene Faktionen und die Abfolge dieser Faktionen in der Ausübung der Macht, die — folgt man den verschiedenen Revolutionstheorien — den Prozeß der revolutionären Veränderung vorangetrieben und die aufeinanderfolgenden Etappen der Revolu-tion zum Zyklus geschlossen hat. Robespierre freilich hätte, zumindest was sein eigenes Handeln im Rahmen der Revolution anbetrifft, einer solchen Sicht der Revolution entschieden widersprochen: Faktionsgegensätze waren für ihn ein Verhängnis, Ausdruck der Dekadenz und Tugendlosigkeit, die, nimmt man den Fall Dantons, selbst vor den engagiertesten Revolutionären nicht haltgemacht hatten. In Robespierres eigener Sicht stellte die Politik, die er betrieb, keine Radikalisierung und Faktionierung des revolutionären Lagers dar. sondern war vielmehr eine Verteidigung der Revolution gegen ihre gefährlichste Bedrohung: gegen die Faktionen.
Die öffentliche Gewalt, so Robespierre, müsse gegen alle Faktionen verteidigt werden, von denen sie angegriffen werde Zwei Feinde bedrohten nach seiner Ansicht die Einheit des revolutionären Frankreich, und dies seien der Moderatismus Dantons und der Ultrarevolutionarismus Huberts: „Sie gehen nach einem und demselben Ziele, wiewohl unter Fahnen von verschiedenen Farben und auf verschiedenen Wegen. Dieses Ziel ist die Auflösung der demokratischen Regierung und des Konvents, das ist, mit anderen Worten, der Triumph der Tyrannei. Die eine von beiden Faktionen will uns zur Schwäche, die andere zur Übertreibung hinreißen. Die eine will die Freiheit in eine Bacchantin. die andere will sie in eine Prostituierte verwandeln.“
Das nimmt sich aus wie eine frühe Form der uns aus den Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestens vertrauten Taktik der Ausschaltung revolutionärer Gegner durch ihre Gruppierung zu Rechts-und Linksabweichlern, denen gegenüber man selbst die Position der revolutionären Mitte besetzt. Aber geht es darin auf? Die Antwort hängt davon ab, als was man die Idee der Tugend in Robespierres politischer Konzeption beurteilt: als ideologische Integration disparater Bestrebungen unter einer Politik, die objektiv den Interessen des Kleinbürgertums entsprach, oder als den vorläufigen Endpunkt eines politischen Diskurses, der, beginnend in der politischen Theorie der Antike und wiederaufgenommen von Machiavelli, Montesquieu, Rousseau u. a., die Idee der Tugend — und nicht die des Interesses — als Grundlage der gesellschaftlichen Synthesis begriffen hat
In diesem politischen Diskurs sind Demokratie resp. Republik unlöslich geknüpft an die Idee der Tugend; nur dort, wo die Tugend, also eine Sittlichkeit, die das öffentliche Interesse über den privaten Nutzen stellt, herrscht, können Demokratien und Republiken bestehen. Wo hingegen die Tugend verfällt, das glaubt Robespierre aus der Lektüre der klassischen Autoren zu wissen, breiten sich catilinarische Existenzen aus, jene, die den Staat benutzen wollen, um ihre eigenen Interessen zu befördern, und ihnen folgen die Caesaren, die unter dem Versprechen, Ruhe, Sicherheit und Ordnung wiederherzustellen, die Republiken zerstören, die politischen Einflußmöglichkeiten des Volkes vernichten und alle Macht und Gewalt bei sich monopolisieren. Es ist der Verfall der Tugend, der in dieser Sicht den Kreislauf der Verfassungsformen antreibt und in Bewegung hält. Will man diesem Zyklus entgehen und den Gang der Ereignisse beherrschen, dann muß man die Republik auf der Tugend begründen und dafür Sorge tragen, daß diese Tugend nicht verfällt. So erklärte Robespierre in seiner Grundsatzrede „Über die Prinzipien der politischen Moral“ am 5. Februar 1794: „Was ist also das grundlegende Prinzip der demokratischen Regierung oder der Volksregierung, das heißt, was ist die wichtigste Kraft, die sie unterstützen oder antreiben soll? Es ist die Tugend! Und ich meine damit die öffentliche Tugend, die in Griechenland und Rom so viele Wunder vollbracht hat und die noch weit Erstaunlicheres im republikanischen Frankreich vollbringen soll. Ich meine jene Tugend, die nichts anderes ist als die Liebe zum Vaterland und zu seinen Gesetzen.“
Tugend, das hieß für Robespierre: Politikbeherrschung durch Selbstbeherrschung, das hieß, „daß man das öffentliche Interesse allen privaten Interessen vorzieht . . . Denn was sind diese Tugenden anders als die Seelenstärke, die einen Menschen zu solchen Opfern befähigen!“ Die Tugend war für ihn also der Inbegriff dessen, was das Allgemein-wohl imjeweiligen politischen Handeln direkt angestrebt, was jedenfalls gewollt und intendiert wird. Damit grenzte sich Robespierre gegen Vorstellungen ab, die darauf setzten, daß aus der Konkurrenz der Faktionen zuletzt doch das Allgemeinwohl hervorgehen werde. Die Rechnung des Pluralismus, wonach durch eine wechselseitige Balance der Einzelinteressen das öffentliche Interesse verfolgt werde, gehe indessen nicht auf, denn wenn den Partikularinteressen und dem Faktionalismus Tür und Tor geöffnet würden, werde die Tugend in den Herzen der Bürger korrumpiert und zerstört.
Die Tugend sollte die demokratische Republik nun nicht nur dadurch befestigen, daß sie dem Faktionalismus auf politischer Ebene die Grundlage entzog, sondern sie sollte auch die gesellschaftlichen Ursachen des Faktionalismus beseitigen. Die Tugend stützte sich gesellschaftlich auf eine Form von Kleineigentum, das zur Sicherung der Existenz hinreichte, es jedoch niemandem ermöglichte, andere in Abhängigkeit zu bringen. So konnte Robespierre in seiner Rede „Über die Grundsätze der revolutionären Regierung“ erklären, Hinterlist, Korruption und alle Laster stünden auf der Seite der Tyrannei, während die Republik nur die Tugend auf ihrer Seite wisse: „Die Tugenden sind einfach, bescheiden, arm, oft unwissend und manchmal sogar plump. Sie sind die Leibrente der Unglücklichen und das Erbgut des Volkes. Das Laster ist von allen Schätzen umgeben, mit allen Lockungen der Wollust und allen Reizen der Perfidie bewaffnet; es wird eskortiert von den gefährlichen für das Verbrechen ausgebildeten Talenten.“
Am klarsten und deutlichsten hat Saint-Just die revolutionäre Vision einer den Faktionskämpfen entzogenen und gegenüber den Versprechen des ökonomischen Fortschritts skeptischen Republik in seiner Rede zur Begründung der Ventöse-Dekrete entwickelt: „Eine Gesellschaft“, deren politische Verhältnisse nicht auf naturgemäßen Grundlagen beruhen, wo Eigennutz und Habsucht die geheimen Triebfedern vieler Menschen sind, welche durch die Verschiedenheit der Interessen entzweit werden, und die sich bemühen, alle Sittlichkeit zu zerstören, um der Gerechtigkeit zu entgehen — muß eine solche Gesellschaft nicht alles aufbieten, um sich zu reinigen, wenn sie sich ferner erhalten will? ... In einer Monarchie gibt es nur eine Regierung; in einer Republik gibt es mehrere Institutionen, teils um die Sitten zu regeln, teils um der Verderbnis der Menschen und der Gesetze Einhalt zu tun. Ein Staat, in welchem diese Institutionen fehlen, ist nur eine Scheinrepublik, und da in demselben jeder unter Freiheit die Unabhängigkeit seiner Leidenschaften und seiner Habgier versteht, so nistet sich die Gewinnsucht und der Egoismus unter den Bürgern ein, und diese besondere Vorstellung, welche sich jeder von seiner Freiheit je nach seinem Privat-22 interesse macht, führt die Knechtschaft aller herbei.“
Als am 28. Juni 1794 Robespierre und Saint-Just aufjenes Blutgerüst geschickt wurden, das sie zuvor für ihre Politik selbst immer mehr in Anspruch genommen hatten, wurde mit ihnen nicht etwa die Vorstellung eines weiteren revolutionären Fortschritts, der Akzeleration der Geschichte, sondern vielmehr deren Gegenteil exekutiert: die Vorstellung, eine dauerhafte Demokratie sei nur zu gewinnen, indem die ökonomische und soziale Entwicklung der letzten Jahrhunderte, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und deren psycho-soziale Folgen, Habgier und Besitzstreben, abgebremst und zum Teil wieder rückgängig gemacht würden. Für Robespierre und Saint-Just sollte die Revolution nur insofern „eine neue Epoche der Weltgeschichte“ heraufführen, als sie erstmals die Verwirklichung jener politischen Ideale war, von denen die Alten schon geträumt hatten. Insofern bedeutete die Revolution für sie, was sie etymologisch besagt: Rückkehr.
Robespierre und Saint-Just waren die letzten Revolutionäre, die noch einmal im klassischen Sinne Revolution als Rückkehr verstanden haben. Im 19. und 20. Jahrhundert war die Hegemonie des Fortschrittsgedankens dann so stark, daß die Idee, Revolutionen könnten die Geschichte, anstatt sie zu beschleunigen, auch anhalten, völlig verschwand. Das war sicherlich nicht zuletzt eine Folge dessen, daß sich unter dem Einfluß der Marxschen Theorie die Idee der Revolution mit der Vorstellung einer möglichen Forcierung der ökonomischen Entwicklung verstand. Heute, da sich die Zweifel an solch einfachen Entwicklungslinien mehren, könnte die alte Vorstellung von der Revolution als Rückkehr wieder an Bedeutung gewinnen. Robespierres Reden wären dann neu zu lesen, seine Gestalt neu zu beurteilen, und die Beschäftigung mit der Französischen Revolution hätte eine womöglich doch über die pure Selbstbestätigung hinausreichende Funktion.