I. Vorbemerkung
Die Französische Revolution kennt keine verbindliche Deutung ihrer Ursachen, ihres Verlaufs und ihres Sinns, und es sieht so aus, als würde es dazu auch nicht kommen, jedenfalls nicht zu Lebzeiten dieser oder der nächsten Generation. Das liegt ganz an ihrer Natur: Sie hat von Anfang an Bekenntnisse jeder Art erzeugt und provoziert, sie hat ihre „Konfession“ — ähnlich wie in den Glaubenskriegen vergangener Zeiten — in und außerhalb Frankreichs mit Propaganda und Gewalt durchgesetzt, sie hat Identifikationsmuster für Jünger, Gegner und Epigonen geschaffen, und diese Identifikationsmuster haben ihre Kraft großenteils bewahrt. Zwei Beispiele mögen diese Behauptung illustrieren.
Das erste Beispiel: Ende der sechziger Jahre hatte ich Gelegenheit, in einem konservativ-katholischen Studienzentrum in Paris Gespräche über die Französische Revolution zu führen. Dort war man in ernster Gefaßtheit und ohne Neigung zur Diskussion der Auffassung, die schon der 1753 geborene savoyardische Staatsdenker Joseph de Maistre vertrat, daß nämlich die Revolution eine unmittelbare Ausgeburt der Hölle gewesen sei, eine Strafe der Vorsehung für die damalige Zeit und ihre Sünden. Aus dem Übel der Revolution seien in der Folge alle weiteren Übel dieser Welt erwachsen: der Liberalismus, der Sozialismus, das Freimaurertum und die Russische Revolution mit allen ihren Folgen.
Das zweite Beispiel: Als Franfois Mitterrand am 10. Mai 1981 bei den Präsidentschaftswahlen gesiegt hatte, zogen seine Anhänger „zur Bastille“, d. h. auf den Platz, auf dem einst die Bastille stand, die von den Revolutionären am 14. Juli 1789 eingenommen worden war, und feierten den Sieg. Für sie hatte der Wahlerfolg den gleichen symbolischen Wert wie einst für die Zeitgenossen von 1789 die Einnahme der Bastille.
Insofern ist die Französische Revolution keineswegs „beendet“, wie der Historiker Francois Furet einmal gemeint hat. Beendet sind lediglich die Ereignisse. Aber die Französische Revolution wirkt weiter, sowohl im Bereich der „nackten Tatsachen“ (etwa durch Abschaffung der grundherrlichen Rechte, u. a. durch die Ausweitung des Jagdrechts auf jedermann) als auch vor allem in den Köpfen: Das, was der Zeitgenosse um und nach 1789 von der Französischen Revolution glaubte, war oft himmelweit verschieden von dem, was sich wirklich ereignete, aber es war meist geschichtswirksamer als die einfache Realität. Ebenso ist das, was die Franzosen von der Französischen Revolution meinen, bis heute kulturell und politisch im Lande wirksamer als das, was die Forschung — so sie denn diesen Namen verdient — bis heute über sie herausgefunden hat.
Dabei ist die Revolution in der öffentlichen Meinung Frankreichs seit langem ein geschlossenes Ganzes, sozusagen ein „Block“ — nach dem vielzitierten Wort Clemenceaus von 1897: „La Revolution est un bloc“ —, der zur politischen und moralischen Stellungnahme herausfordert. Das hat zur Folge gehabt, daß dieser ganze Komplex niemals — wie andere Gegenstände der Neueren Geschichte — ausschließlich zum Diskussionsstoff der akademischen Historie wurde. Der Fachhistoriker der Revolution in Frankreich ist, ganz im Gegensatz zu vielen anderen Neuzeithistorikern, mit seiner ganzen Wissenschaftlerexistenz in die politische und geistige Situation seines Landes eingebunden. Er hat insofern oftmals über das gewöhnliche Maß des Metiers hinausgehende Schwierigkeiten, Distanz zu seinem Forschungsgegenstand zu finden, der gleichzeitig auch immer ein Politikum ist.
Umgekehrt wirkt in der Regel jede Ausführung eines französischen Historikers über diese Revolution unmittelbar in die in diesem Punkt sehr empfindliche Öffentlichkeit hinein, gewinnt so unabhängig von ihrer wissenschaftlichen Qualität und von der kritischen Urteilsfähigkeit ihres Autors rasch den Charakter eines politischen Bekenntnisses und gerät in Gefahr, zum tagespolitischen Argument deformiert zu werden. Dies ist jüngst bei dem großen Historiker Pierre Chaunu deutlich geworden, der im Zuge seiner Untersuchungen über die Massenhinrichtungen von Konterrevolutionären in der Vende 1793/94 das reichlich unbedachte Wort von einem „Genozid“ benutzte (Massenmord ist noch lange nicht Völkermord) — ein Wort, mit dem sich die heutige Linke trefflich in Verlegenheit bringen läßt, soweit sie zur Kommemoration der Jakobinerdiktatur ansetzt: Wird doch auf diese Weise das Objekt ihrer Verehrung in die Nähe der nationalsozialistischen Staatsverbrecher und ihrer Taten gerückt. Auch wenn es Chaunu so nicht gemeint haben sollte: Jetzt läßt sich das Wort nicht mehr in den Elfenbein türm der Universität zurückholen, wo es korrigiert und differenziert werden könnte.
Diese Verstrickung der wissenschaftlichen Debatte in die jeweils aktuelle politische Diskussion hat, wie anders gar nicht zu erwarten, zu heftigen Auseinandersetzungen der verschiedenen Revolutionsinterpreten geführt, zu endlosen Polemiken und Rechtfertigungen, mitunter zu Versuchen, die Quellen nachträglich im Sinne einer bestimmten Deutung zu fälschen (berühmt sind die handschriftlichen Korrekturen der Originalquellen durch Alphonse Aulard in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts). Wie ein roter Faden ziehen sich intime Feindschaften zwischen weltanschaulich und ideologisch festgelegten Fachspezialisten durch die Geschichte der Geschichtsschreibung der Französischen Revolution, durch jene „Diskussion ohne Ende“, wie sie der niederländische Historiker Pieter Geyl einmal genannt hat Es liegt auf der Hand, daß die unter solchen Bedingungen geführte Gesamtdebatte notwendig die weltanschaulich-ideologischen Positionen der beiden letzten Jahrhunderte spiegelt.
II. Die konservative Interpretation
Unter den Hauptströmen der Revolutionsinterpretation bilden die liberale Deutung der Ereignisse, die in Ansätzen bereits mit den großbürgerlichen Reformbemühungen 1788/89 begann, sowie die konservative Kritik dieser Reformbemühungen die beiden ältesten Schulen. Dabei ist bemerkenswert, daß die konservative Kritik schon vorhanden war, als die Reformbewegung der „Honoratiorenrevolutionäre“ des „parti national“, im September 1788 in Gang kam. Anders gesagt: Der Rauch war schon in der Luft, als das Feuer äusbrach.
Das klingt paradox, bleibt aber nicht lange ein Rätsel, wenn man die jüngeren Forschungen über die Aufklärung und ihre kämpferische Zurückweisung durch die Gegenaufklärung im 18. Jahrhundert in Frankreich kennengelemt hat. Einen guten Schlüssel für ein Verständnis dieses Phänomens liefert der Artikel „Fanatique, Fanatisme“ von Thomas Schleich im „Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680— 1820“ Hier wird in geduldiger Kleinarbeit der Kern der konservativen Kritik in scharfen religiösen Kontroversen verortet, etwa in den Auseinandersetzungen um die Bulle Unigenitus, um den Quietismus und insbesondere um die Positionen der Hugenotten vor und anläßlich ihrer Ausweisung aus Frankreich im Jahre 1685. Dieser Kem ist ein unerbittlich starrer Katholizismus, der — auf hohem Argumentationsniveau — mit absolutem Geltungsanspruch auftritt, eigentlich durchaus in der Tradition der Theorie und Praxis der Häretikerverfolgungen des spätmittelalterlichen Frankreich. Er war im 18. Jahrhundert als staatskirchliche Haltung eine Position, die sich relativ leicht mit politischen, sozialen und wirtschaftlichen Konfliktstoffen der Zeit auffüllen ließ und schließlich von diesen dominiert wurde.
Das bedeutet: Wo immer und auf welche Weise auch immer ab 1788 Kritik an staatlichen oder gesellschaftlichen Verhältnissen geübt wurde, waren die Gegenargumente schon bereit und die Federn schon gespitzt, um die Kritik zurückzuweisen, ja, um sie als Ansätze zur Zerrüttung von Staat und Gesellschaft bzw. von Thron und Altar zu brandmarken.
Entsprechend einer im konservativen Lager verbreiteten Neigung, unter Berufung auf transzendentale, traditionale und empirisch gewonnene Wertmaßstäbe rasch und harsch Kritik zu üben, zumeist punktuell und prinzipiell zugleich, setzte die konservative Kritik der Französischen Revolution sofort ein, praktisch noch, bevor diese richtig ausbrach. Sie begann mit dem Memorandum der Prinzen von Geblüt an den König vom Dezember 1788, das den Monarchen vor Konzessionen an den damals durchweg benachteiligten Dritten Stand warnte und andernfalls das Schreckgespenst eines Bürgerkriegs an die Wand malte, eigentlich sogar mit Bürgerkrieg drohte
Diese sich zunächst prophylaktisch gebende Kritik wurde dann breit und massiv mit der Umwandlung der Generalstände in eine Assemblee nationale durch die Kammer des Dritten Standes am 17. Juni 1789. Diese Kritik wurde unter verschiedensten Gesichtspunkten anfangs von Abgeordneten der Nationalversammlung vorgetragen (Cazals, Lally-Tollendal, Abb de Maury). Sie äußerte sich in periodischen Veröffentlichungen (Mercure de France) und in zahlreichen Einzelschriften, die ab Herbst 1789, der gewaltsamen „Heimholung“ der königlichen Familie nach Paris am 5. /6. Oktober, zunehmend aus Emigrantenkreisen kamen.
In der Periode zwischen der Gefangensetzung und der Hinrichtung Ludwigs XVI. (1792/93) und der Wiedereinsetzung der Bourbonen (1814/15) kam diese konservative Kritik zwangsläufig aus dem Ausland, ob sie nun von Franzosen, Engländern oder Deutschen stammte. Meist stand sie in direkter oder indirekter Beziehung zu den außenpolitischen Verwicklungen, die sich durch die Revolutionskriege seit 1792 ergeben und die das europäische Staatensystem von Grund auf verändert hatten. Drei Hauptvarianten sind zu unterscheiden: 1. Den Anfang hatte bereits im Herbst 1790 der Ire Edmund Burke mit seinen „Reflections on the Revolution in France and on the Proceedings in Certain Societies in London Relative to That Event“ gemacht, die bis zum Erscheinen der systematischen Zurückweisung der Französischen Revolution durch Hippolyte Taine die radikalste Infrage-stellung der revolutionären Prinzipien, Ereignisse und Ziele überhaupt darstellten. Burkes Fundamentalkritik wurde bemerkenswerterweise bereits drei Jahre vor der Zeit der Grande Terreur und damit vor dem Höhepunkt der Revolution verfaßt. Dennoch fiel sie so scharf aus, als wäre die Jakobinerherrschaft schon damals Realität gewesen.
Burkes wichtigster Kunstgriff ist fast aller konservativen Kritik gemeinsam: Er zeichnete zunächst ein rosiges Bild der Epoche vor 1789. Hiernach besaß das französische Königreich des Ancien Rögime, d. h.des ständischen Absolutismus, eine gute, ausgewogene Verfassung, deren zuverlässige Hüter die Parlamente (die obersten Gerichtshöfe) waren; es hatte einen tugendsamen, tapferen Adel, einen sittenstrengen Klerus und ein fleißiges, bescheidenes Volk. Alles Unheil habe erst am 17. Juni 1789 mit der Erklärung des Tiers-Etat zurAssemblee nationale begonnen. In dieser Nationalversammlung hätten skrupellose Advokaten den Ton angegeben. Ehrgeizig und ohne Respekt vor der Würde des Monarchen hätten sie Zug um Zug die tragenden Säulen der alten Verfassung gestürzt und ihr eigenes lärmendes Regime errichtet, daraufausgerichtet, in rationalistischer Gleichmacherei die menschliche Natur und die Erfahrungen der Geschichte zu vergewaltigen.
Da Burke die Verhältnisse des alten Frankreich und der Revolution bis 1790 im großen und ganzen nur aus Berichten von Emigranten und ihnen nahestehenden Kreisen kannte, waren seine Vorstellungen einseitig geprägt. Seine Geschichtsdeutung ist daher aufgrund falscher Prämissen fehlerhaft und fragwürdig: Burke weiß nichts von der die alte Monarchie blockierenden Opposition der Parlamente, er weiß nichts von den Vorgängen der tiefen Staatskrise 1787/89, vom Finanzgebaren der Krone und dem schließlichen Staatsbankrott, von der diffamierenden Zurücksetzung des Tiers-Etat, der Korruption in der Verwaltung, der Frivolität am Versailler Hof, der allgemeinen Bevölkerungsexplosion und dem überall fühlbaren Preisanstieg für Lebensmittel in den Jahren 1787 bis 1789. So steht er fassungslos vor einer Kette von Ereignissen, die er mißbilligt, weil sie seinen politischen Überzeugungen zuwiderlaufen. Burkes Deutung ist bis heute der Ausgangspunkt des angloamerikanischen wie kontinentalen (besonders auch deutschen) politisch-konservativen Verständnisses der Französischen Revolution geblieben. Ihr tieferer Grund ist ein tiefverwurzelter Respekt vor altüberkommenen, gewachsenen Ordnungen im Bereich des Politischen, demgegenüber die Französische Revolution das Prinzip der willkürlichen Machbarkeit politischer und sozialer Ordnungen verkörpert. 2. Ein ähnlicher Ausgangspunkt läßt sich auch für die erste konservative Kritik durch die französischen Emigranten feststellen. Schon 1789 wurde die inzwischen vielfach wiederholte, bis heute nicht aus Quellen belegbare Konspirations-oder Komplott-These geboren, nach der eine Reihe geheimer Zirkel der Illuminaten, Freimaurer und Jakobiner die Revolution schon Jahre im voraus minutiös geplant und dann 1789 verabredungsgemäß herbeigeführt hätte (Comte de Ferrand, Abb Barruel, Abbe Duvoisin). Über die Vordergründigkeit dieser These ging dann allerdings die legitimistische Staatstheorie der Bourbonenrestauration rasch hinaus, die durch die Namen de Maistre, de Lamartine und de Bonald charakterisiert ist und die bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend die Revolutionsinterpretation des katholischen Frankreich darstellte.
Diese Auffassung deutete die revolutionäre Epoche als unmittelbar von Gott herbeigeführtes Strafgericht über das sittenlose, vom Glauben verlassene Ancien Regime, sie sah mit de Maistre „un caractre satanique dans la Revolution“. Diese Ablehnung der Revolution als Inbegriff der Anarchie und der Zerstörung ging zweifellos auf existentielle Erschütterungen zurück, die aus dem Erlebnis des Bruchs der Revolution mit der katholischen Kirche und besonders der harten Priesterverfolgungen und der Proklamierung eines nichtchristlichen „Kults des höchsten Wesens“ zur Staatsreligion resultierten. Diese Deutung der Revolution ist bis heute — wie eingangs erwähnt — im frankophonen Raum weit verbreitet (B. Fay, J. Ousset), obwohl die Römische Kirche selbst sich seit der Jahrhundertwende von ihr distanziert hat. 3. Von der religiös motivierten Deutung des revolutionären Gesamtkomplexes ist in Frankreich eine andere konservative Interpretation zu unterscheiden: die erstmals durch Taine vorgetragene macht-staatlich-nationalistische Kritik. Bezeichnenderweise war es die bittere Erfahrung des Untergangs des Zweiten Kaiserreiches, die Taine zur Reflexion über die Entstehung der Französischen Revolution veranlaßte. Sein ab 1876 erschienenes Werk „Les origines de la France contemporaine“ stellte die Frage, wie man Frankreich vor den endlosen Umwälzungen hätte bewahren können, die seit 1789 seine politische Existenz erschütterten. Die Fragestellung war also aktuell-politischer Natur, und die Ergebnisse ließen erkennen, daß die Antworten schon vorher feststanden. Taine sah zwar als erster Historiker die Entstehung der Revolution als Ergebnis des allmählichen Autoritätsverlusts der Regierung unter Ludwig XVI. und des Zweifels an der alten sozialen Ordnung. Er identifizierte die Revolutionäre jedoch nicht mit dem ganzen Volk. Für ihn waren sie vielmehr „contrebandiers“, „vagabonds“, „mendiants“, „la derniere plebe“ oder „bandits“. Ähnlich bezeichnete er die Jakobiner als charakterlose soziale Mißgeburten.
Für Taines Beurteilung ist letztlich die Einsicht maßgebend, daß alle Anläufe zu nationaler Größe und Selbstbestätigung seit der Revolution von 1789 regelmäßig im Desaster endeten. Der Glanz der Epoche des Sonnenkönigs wurde nie wieder erreicht. Aus dieser historischen Erinnerung heraus verurteilen noch heute neo-royalistische Autoren (O. Aubry, P. Gaxotte) die Französische Revolution und finden damit in der Öffentlichkeit Resonanz.
III. Die liberale Interpretation
Die liberale Deutung der Französischen Revolution — von Anhängern einer materialistischen Geschichtsbetrachtung auch oft „bürgerliche“ oder „bürgerlich-idealistische“ Interpretation genannt — beginnt mit dem ersten revolutionären Akt des Tiers-Etat, mit der Erklärung der General-stände zur Nationalversammlung gegen den Willen der Privilegierten und der Krone am 17. Juni 1789. Zahllose Zeitgenossen (so Mirabeau, Sieyes, Bailly, Etienne Dumont de Genöve) haben die Bedeutung dieses Schritts erkannt, die darin bestand, daß in einem Zug die durch die Verfassungskonvention seit einem halben Jahrtausend bestehende partikulare Interessenrepräsentation der privilegierten Stände liquidiert und gleichzeitig die Prärogative der Krone, im wesentlichen die Kompetenz über die politischen Grundentscheidungen, weitgehend usurpiert wurde. In der kollektiven Erinnerung hat dann allerdings der Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 infolge seines erdrückend stärkeren Symbolgehalts größere Bedeutung gewonnen als der juristisch komplizierte, jedoch viel folgenreichere Schritt vom 17. Juni, der ohne Glanz und ohne Volksbeteiligung vor sich ging.
Die beiden Höhepunkte der Revolution aus der Sicht der zeitgenössischen Honoratiorenrevolutionäre (für die im zeitgenössischen Französisch der Begriff „bourgeoisie“ gebräuchlich war, der sich mit „Besitz und Bildung“ recht gut ins Deutsche übersetzt) waren die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte vom 26. August 1789 und die Schaffung der ersten geschriebenen Verfassung Frankreichs vom 3. September 1791, dem Vorbild der kontinentalen Repräsentativverfassung für das ganze 19. und einen Teil des 20. Jahrhunderts bis etwa in die Weimarer Verfassung oder in das Grundgesetz hinein. Fast einhellige Zustimmung fanden diese Vorgänge zunächst besonders in Deutschland und der Schweiz (Görres, Georg Forster, Fichte, Herder, Schiller, Kant, Wieland, Klopstock, Hegel, Wilhelm v. Humboldt), aber auch — trotz der Kritik Burkes — in England und Amerika (C. Fox, Paine. Jefferson). Die positive Resonanz schlug jedoch nach Beginn der revolutionären Expansion im Herbst 1792 und angesichts der Jakobinerdiktatur ab Mitte 1793 fast durchweg in Ablehnung um.
Die daraus resultierende zwiespältige Haltung charakterisiert bis heute die liberale Revolutionsinterpretation. Sie unterscheidet im Gegensatz zur konservativen und zur sozialistischen sowie marxistisch-leninistischen Deutung recht genau zwischen bejahenswerten und negativen Entwicklungen, Handlungen und Grundsätzen der Revolution. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts hat sie unterschiedliche Züge angenommen, dabei teilweise stark beeinflußt von der Opposition gegen die verschiedenen monarchischen und cäsaristischen Systeme der Zeit, aber auch geprägt von einem Unbehagen vor den entstehenden sozialen Massenbewegungen.
Im einzelnen hat die liberale Interpretation stets die Rolle der Aufklärung als konditionierendes Element der Revolution betont. So gelten aus der Retrospektive vor allem Montesquieu (den die bürgerlichen Zeitgenossen von 1789 noch als „aristocrate" diffamierten). Voltaire und Rousseau als die geistigen Wegbereiter der großen revolutionären Neugestaltung Frankreichs. Hinsichtlich der politischen und sozialen Verhältnisse bedient sich diese Deu-B tung eines Kunstgriffs, ähnlich wie das auch bei den Konservativen „im Laden gegenüber“ geschah, um eine pointierte Äußerung von Franfois Furet aufzugreifen. War aus konservativer Sicht das Ancien Regime bei Ausbruch der Revolution ein blühendes Staatswesen, so waren aus bürgerlicher Sicht die Mißstände in diesem Staat im Jahr 1789 gar nicht mehr zu überbieten. Hoher Klerus und Adel erscheinen als eine privilegierte Kaste, die, ohne Leistungen zu erbringen, die höchsten Positionen im Staatsapparat auf Kosten der Allgemeinheit besetzt hielt. Dem Ancien Regime werden vorgehalten: die durch Lettres de cachet geübte Willkürjustiz, die Frivolität und die Intrigen am königlichen Hof, die finanzielle Mißwirtschaft, die Korruption und Inkompetenz der Verwaltung, das ungleiche Besteuerungssystem, die mangelnden Aufstiegschancen für Bürgerliche, ein Vernachlässigen der Lehren der Aufklärung. Als diese allgemeinen Mißstände schließlich ein unüberbietbares Ausmaß angenommen hatten, mußten sich notwendig die richtigen Grundsätze des Dritten Standes durchsetzen, weil einfach jedermann außer den Privilegierten von ihnen überzeugt war und der Staat nicht länger ohne sie aufrechtzuerhalten gewesen wäre. Dabei werden die Verankerung der bürgerlich-revolutionären Grundsätze im Naturrecht und ihr Bezug zu den Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit, der Rationalität, der Transparenz und der Moral hervorgehoben.
An dieser Stelle setzt in den bürgerlich-idealisierenden Darstellungen im allgemeinen die Handlung des „revolutionären Dramas“ ein. Bei dem Romantiker Michelet ist es das „gute Volk von Frankreich“, das seine Ketten zerbrochen hat und nunmehr handelt. Anonyme Kollektive wie „ganz Paris“, „die Nation“, „die öffentliche Meinung“ sind die Agierenden. Die Einzelpersönlichkeiten treten dahinter zurück; sie sind entweder Interpreten des Volkswillens oder werden von diesem auf die Guillotine geschickt. Eigensüchtige Interessen, institutioneile Bedingungen bleiben bei Michelet unerwähnt. Für ihn — wie für die gesamte liberale Interpretation — ist charakteristisch, daß er den Terror der Jakobinerdiktatur zwar entsetzlich findet, aber angesichts der Bedrohung Frankreichs durch die monarchischen Mächte Europas für unvermeidlich hält, sozusagen in der unerbittlichen Logik der Geschichte begründet sieht.
Die Vertreter dieser Richtung waren — in Deutschland im Vormärz, in Frankreich nach der FebruarRevolution von 1848 — durchweg überzeugte Republikaner und gehörten mit Beginn der III. Republik der politischen Linken, meist den Radikalso-zialisten an; denn ob man die Botschaft von 1789 begrüßte oder sie zurückwies, machte damals das Hauptkriterium für die Unterscheidung zwischen republikanischen Linken und monarchistischen Rechten aus. In der III. Republik wurde dann auch der 14. Juli zum Nationalfeiertag erhoben (1880); aus der Berufung auf die Menschen-und Bürger-rechte von 1789 wurde ein nationaler Kult, dem sich noch Patriotismus und Laizismus zugesellten.
Am vollkommensten hat Alphonse Aulard, erster Inhaber des 1885 an der Sorbonne geschaffenen Lehrstuhls für Geschichte der Französischen Revolution, all diese Tendenzen verkörpert. Im wesentlichen hat seine Geschichtsschreibung Danton kanonisiert; sie hat ihn als den Mann der Milde, den Promotor einer aufgeklärten laizistischen Republik, als pragmatischen Politiker und vor allem als Helden des bedrohten Vaterlandes gesehen und so als Vorläufer Gambettas gedeutet. Als sein böser Gegenspieler erschien Robespierre: „ 93, das ist 89, das sich verteidigt, aber 94, das ist Robespierre, der angreift.“ Doch gelang es Clemenceau mit seiner berühmten „Blockthese“, auch diese Gegensätze zu überbrücken. War die Auffassung von der Einheit der Revolution zunächst nur ein Kampfmittel gegen den Boulangismus und den nationalistischen Neo-Royalismus, so wurde sie in der Folge allmählich zu einem nationalen politischen Mythos.
Den sozialen Problemen der Französischen Revolution nachzugehen, war den liberalen Interpreten nie ein besonderes Bedürfnis, und so haben sie diesen bedeutsamen historischen Komplex (Probleme der Bauernschaft, der breiten städtischen Bevölkerung, insbesondere ihrer politisch aktiven „Mikroelite auf der Ebene der Stadtviertel“ [Furet], der Sansculotten) erst in den letzten Jahrzehnten in ihre Darstellungen aufgenommen, zuerst mit der großen Revolutionssynthese aus der Feder von Franfois Furet und Denis Richet
Furet hat die liberale Interpretation der Französischen Revolution nachgerade auf eine qualitativ neue Ebene gehoben, auf eine — verbaliter — ideologiefreie, rein analytische. Bei ihm ist „bürgerliche Revolutionshistorie“ mehr als idealisierende Kommemoration; hier finden sich Selbstreflexion, Distanz zur Quelle und zum Untersuchungsgegenstand, packende Erzählung, brillante Polemik in der Auseinandersetzung mit Gegnern. Gleichwohl, ganz vermag Furet den Einfluß Hegels nicht zu verleugnen: Die Revolution wird schließlich doch auch in ihrem tieferen Sinn gedeutet, und da ist sie denn — es ist schwer zu widerlegen, aber noch schwerer zu beweisen — eine Etappe auf dem langen Marsch der Menschheit in eine bessere Zukunft, eine wesentliche Station der Selbstbefreiung der Zivilisierten aus den ihnen angelegten Fesseln, ein gewaltiger Hebel für die Emanzipation der Menschen schlechthin.
Die sozialistische Interpretation
Dieser Typus der Revolutionsdeutung hat in hohem Maße jakobinische bzw. neujakobinische Wurzeln und bietet im 20. Jahrhundert häufig das Beispiel einer Variante des Historischen Materialismus, die man — vielleicht nicht besonders scharf — als „Gefühlsmarxismus“ bezeichnen könnte. Eine Anekdote mag das verdeutlichen: Albert Soboul (19141982), seinerzeit Inhaber des bereits erwähnten Revolutionsgeschichtslehrstuhls an der Sorbonne, galt zu seinen Lebzeiten stets als orthodoxer Vertreter einer materialistischen Geschichtsbetrachtung. Doch machte eine Episode auf dem großen Revolutionscolloquium in Göttingen im Jahr 1975 auf die Fragwürdigkeit einer solchen Etikettierung aufmerksam Soboul vertrat bei dieser Gelegenheit die These, die — durch die Revolution begünstigte und von ihrem politischen Gewicht her erstarkte — Masse der kleinen Landeigentümer habe fortan eines der fortschrittlichen Elemente der in der Französischen Revolution zum Durchbruch gekommenen kapitalistischen Gesellschaft gebildet. Der Einwurf, die moderne wirtschaftsgeschichtliche Forschung sehe dies gerade umgekehrt, prallte an ihm ab. Ein weiterer Einwurf, Marx selbst habe im Grunde das in der Revolution entstandene bäuerliche Parzelleneigentum gesehen als „nicht mehr, oder noch nicht der kapitalistischen Produktionsweise, sondern einer aus untergegangenen Gesellschaftsformen überkommenen Produktionsweise unterworfen“ (MEW 25, S. 280-281), fand zunächst keinen Glauben. Dann, konfrontiert mit der Marxschen Textpassage (sie stammt aus dem ja keineswegs unbekannten Hauptwerk „Das Kapital“), verhielt er einen Augenblick lang überrascht. Schließlich brach es mit dem ihm eigenen Midi-Temperament aus ihm hervor: „Je ne suis pas marxologue — je suis marxiste („Ich bin kein Marxologe — ich bin Marxist“)!“
Die von Soboul mehr als ein Vierteljahrhundert lang mitrepräsentierte Gruppierung der französischen sozialistischen Revolutionsdeutung pflegt das Bewußtsein der weltgeschichtlichen Einzigartigkeit der Revolution ebenso wie das nationale Erbe, das mit ihr verbunden ist. Sie kann heute für sich in Anspruch nehmen, zumindest in Frankreich unter den Gebildeten die stärkste Resonanz von allen Interpretationen der Revolution zu besitzen. Mit Jean Jaurs, Albert Mathiez, Georges Lefebvre, Albert Soboul und Michel Vovelle zählen einige der bedeutendsten Revolutionshistoriker des 20. Jahrhunderts zu ihren Vertretern. Mehr als jede andere Schule hat diese Gruppierung zur Erforschung der Einzelphänomene wie des Gesamtvorgangs der Revolution beigetragen.
Ihre Tradition reicht zurück bis in die Zeit noch vor Veröffentlichung des Kommunistischen Manifests. 1847 hatte Louis Blanc die erste sozialistische Darstellung der Geschichte der Französischen Revolution veröffentlicht, in der er sich für die Diktatur Robespierres erwärmte. Blanc sah in der Terreur den ersten Schritt zu einem Zukunftsstaat der Fraternit^ und in Robespierre den großen gescheiterten Sozialisten, dessen Werk fortzusetzen war. Diese Interpretation wurde von Jaurs 1901 in seiner „Histoire socialiste de la Revolution franaise" wiederaufgenommen: Die Revolution war für ihn das historische Modell der politischen Machtergreifung einer Klasse, die wirtschaftlich bereits herrschte, und zugleich das Modell einer — unter Robespierre sich andeutenden — sozialen Demokratie. Bei Jaurs ist die revolutionäre Botschaft unverkennbar der Konzeption einer reformerisch orientierten Demokratie nahe.
Albert Mathiez wurde in den zwanziger Jahren der eigentliche Wiederentdecker Robespierres, dessen uneigennütziges Handeln und makellose Tugend er dem korrumpierten Charakter Dantons gegenüberstellte. Er forderte damit die auf Aulard eingestimmte laizistisch-liberale Linke (fast möchte man sagen: die dogmatischen Liberalen) heraus, die Danton zum Symbol des pragmatischen, umsichtigen Republikaners erhoben hatten. Im Verlaufdieser Kontroverse verglich Mathiez seinen Helden, den „Unbestechlichen“, mit Lenin, dem „Robespierre, der Erfolg gehabt hat“ Es war so Mathiez, der zum ersten Mal eine Beziehung zwischen der Französischen Revolution und der russischen Oktoberrevolution herstellte. In der folgenden Diskussion ging es dann um die Frage, ob die Revolution von 1917 als eine Fortsetzung der Revolution de l’Egalite von 1792 (Errichtung der egalitären Republik) angesehen werden könne oder nicht.
Mathiez vertrat die Auffassung, beide Ereignisse stellten im Grunde den gleichen Vorgang dar: Sie hatten die gleichen Ursachen, gebrauchten die gleichen Mittel und hatten dieselbe Vision, nämlich die Umformung der gesamten Gesellschaft. Wenn Robespierre scheiterte, so deshalb, weil er keine kohärente, dem Marxismus vergleichbare Doktrin besaß. Nichtsdestoweniger war Robespierre in den Augen von Mathiez der Vorfahre der Oktoberrevo-lution und die Jakobinerdiktatur die erste Diktatur des Proletariats, das erste kollektivistische Experiment.
Unter den späteren sozialistischen Historikern in Frankreich ist keiner dieser kühnen Deutung gefolgt, sicher aus gutem Grund. Wohl sahen auch sie, etwa wie Lefebvre und Soboul, in der Politik der Jakobinerdiktatur egalitäre Züge, auch Ansätze zur Vergemeinschaftung der Konsumgüter (nicht der Produktionsmittel), z. B. in der Maximum-Gesetzgebung, in Emtebeschlagnahmungen u. ä.; aber sie lehnten es ab, diese Politik „sozialistisch“ zu nennen. Lediglich für gewisse Gedankengänge der Ertrages (Jacques Roux, Chaumette, Hebert) oder für die „Verschwörung der Gleichen“ (Babeuf) trifft ihrer Auffassung nach diese Qualifizierung zu.
Für Mathiez wie für Lefebvre und Soboul — für Vovelle liegen die Dinge etwas anders, worauf noch einzugehen sein wird — stand im übrigen fest, daß die Revolution das Ergebnis eines Klassenkampfes war, des Kampfes der Bourgeoisie gegen den Feudaladel. Der Sieg des Bürgertums bedeutete dabei den Sieg des modernen Kapitalismus und die Französische Revolution den Prototyp des revolutionären Wegs dahin. Dabei wollte das Bürgertum keineswegs von vornherein den Ruin der Aristokratie. Doch die Intransingenz der Privilegierten und die vom Ausland gesteuerte Konterrevolution zwangen es, das gesamte Ancien Regime kompromißlos zu liquidieren. Zu diesem Zweck verbündete es sich mit den ländlichen und städtischen Volksmassen: Es kam zur Volksrevolution und zur Installierung der Demokratie. Die Zunftmonopole wurden aufgehoben, der Feudalbesitz wurde zerstört, die Freiheit der kleinen Produzenten hergestellt und Frankreich zu einem großen nationalen Markt zusammengeschmolzen. Auf diese Weise wurde die kapi-talistische Produktion von allen feudalen und staatsmerkantilen Hemmnissen und Auflagen befreit, sowohl auf dem Agrarsektor als auch auf dem der industriellen Fertigung. Zwei Bedingungen dieses Wegs zur kapitalistischen Gesellschaft sind klar erkennbar: die Zerstückelung des feudalen Grundeigentums und die Befreiung der Bauern. Deshalb bildet die Agrarfrage geradezu eine „position axiale“ (Soboul) der Französischen Revolution.
Von daher erklärt sich auch das große Interesse dieser sozialistischen Schule der Revolutionsdeutung an der Sozial-und Wirtschaftsgeschichte, die für sie eine Geschichte der Unterschichten, der „Massen“, und nicht der „Helden“ ist. Ernest Labrousse hat zum ersten Mal das Problem der zyklischen und saisonalen Lohn-und Preisschwankungen während des Ancien Rgime und der Revolution untersucht (1944) und damit starke Impulse zu ähnlichen quantitativen Studien gegeben. Georges Rudd hat eine Untersuchung über die Struktur und Mentalität der revolutionären Massen aus Quellen der Pariser Polizeipräfektur erarbeitet (1959) und dabei ebenfalls die Möglichkeiten der quantitativen Methode aufgezeigt. Im übrigen weiß sich diese sozialistische Deutung der Revolution darin einig, daß der dynamische Part der Revolution keineswegs von der Handelsbourgeoisie, sondern von der Masse der kleinen Produzenten gespielt wurde, denen bis dahin der Klerus und der Adel den Mehrgewinn abgenommen hatten. Die Groß-oder Handelsbourgeoisie — so besonders Lefebvre und Soboul — habe sich jeder politischen Lösung, solange sie ihren eigenen Interessen nicht entgegenstand, flexibel angepaßt: zuerst den konstitutionellen Monarchisten, dann den Feuillants, dann den Girondisten. Die Jakobinerdiktatur dagegen sei das kurzlebige politische Instrument der kleinen autonomen Bauern-und Handwerkerproduzenten gewesen, die ihr Ideal in einem demokratischen Gemeinwesen unabhängiger Kleinstunternehmen gesehen hätten (Soboul); die Überspannung des Reglementierungsinstrumentariums habe jedoch zum Scheitern der jakobinischen Republik, einer echten „Volksfront-Lösung“ (Lefebvre), geführt. Insgesamt sei die Revolution zwar Etappe auf dem Weg zur kapitalistischen Gesellschaft gewesen, sie sei jedoch in dreifacherWeise als einzigartiges französisches Ereignis charakterisiert: Als Revolution de la Liberte habe sie das bedeutendste Dokument der modernen bürgerlichen Freiheiten geschaffen. Als Revolution de l’Egalite habe sie u. a. versucht, Preise und Löhne in ein gerechtes, stabiles Verhältnis zueinander zu bringen (Maximum-Gesetz vom 29. September 1793), ein Sozialversicherungssystem und die Gleichheit der Bildungschancen einzuführen und so eine echte soziale Demokratie zu errichten. Als Revolution de l’Unite habe sie den nationalen Einheitsstaat hervorgebracht und damit das Modell eines vielkopierten Staatstypus. Durch diese drei Qualifizierungen wird die französische sozialistische Interpretation der Französischen Revolution bei aller längst erzielten wissenschaftlichen Differenzierung dem tagespolitischen Bedürfnis nach Deutung der Vergangenheit der französischen Nation gerecht und wirkt so in eminenter Weise in die Öffentlichkeit hinein.
V. Die marxistisch-leninistische Interpretation
Die marxistisch-leninistische Interpretation der Französischen Revolution war bis in die sechziger Jahre unseres Jahrhunderts hinein so gut wie ausschließlich in der Sowjetunion sowie in den mit ihr verbundenen Volksdemokratien verbreitet und hat dann nach und nach auch in westlichen Ländern Resonanz gefunden. Wenn ich recht sehe, ist ihr Einfluß hier aber wieder im Schwinden, da es ihr an jüngeren Forschem sowie an prägnanten Forschungsergebnissen fehlt. Entstanden in der StalinÄra als Teil einer staatlichen Ergebenheitshistorie, die mit häufigen Einflechtungen wörtlicher Zitate insbesondere von Stalin und Lenin, aber auch von Marx und Engels operierte, ist sie in erster Linie Lehr-und Handbuchgeschichtsschreibung mitunter recht wechselnden wertenden Inhalts geblieben. Eine der bemerkenswertesten Ausnahmen ist wohl das (Euvre des Leipziger Emeritus Walter Markov, das m. E. nach Originalität und Qualität das Beste ist, was die marxistisch-leninistische Revolutionshistorie überhaupt hervorgebracht hat, jedenfalls als Individualleistung.
Aus marxistisch-leninistischer Sicht ist die Französische Revolution das klassische Beispiel einer vollendeten bürgerlichen demokratischen Revolution.
Aufs Ganze gesehen, ergibt sich dabei folgende . Deutung:
Der tiefere Grund der Revolution ist in dem Umstand zu sehen, daß das feudalabsolutistische System des alten Frankreich den ökonomischen und sozialen Verhältnissen des Landes im späten 18. Jahrhundert nicht mehr entsprach, sondern einen Hemmschuh für die Entwicklung und das Wachstum der Produktivkräfte darstellte. Im Verlauf des revolutionären Prozesses haben sich dann gleichzeitig die sozioökonomische Basis, d. h. die Produktionsweise, und der ideologische Überbau, d. h. Politik, Staat, Recht und Ideen der Menschen, geändert. Insgesamt vollzog die Revolution von 1789 in Frankreich — ähnlich wie die Oktoberrevolution von 1917 in Rußland — den revolutionären Übergang zu einer höherstehenden Gesellschaftsformation, im konkreten Fall den von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft.
Aus dieser Sicht ist jede Revolution der Ausbruch einer stets vorhandenen, teils latenten, teils deutlich sichtbaren Spannung zwischen den sozialen Klassen einer Gesellschaft. Die sozial herrschende Klasse des alten Frankreich vor 1789 war die Aristokratie. Sie geriet in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einen immer schärferen Gegensatz zu der ökonomisch aufsteigenden und schließlich dominierenden Klasse der Bourgeoisie. Dieser Antagonismus hat 1789 zum offenen Konflikt zwischen beiden Klassen geführt. Dabei versicherte sich die Bourgeoisie mit Hilfe einer Reihe von Konzessionen der Unterstützung der Bauern und der städtischen unterbürgerlichen Klassen. Auf diese Weise vermochte sie die Aristokratie zu schlagen. Sie wurde ihrerseits in Gesellschaft und Staat zur herrschenden Klasse und beseitigte dank ihrer Verfügungsgewalt über den Staatsapparat alle Hindernisse, die der kapitalistischen Produktionsweise noch im Weg standen: Insofern war die Französische Revolution eine bürgerliche Revolution.
Diese bürgerliche Revolution hatte eine aufsteigende und eine absteigende Phase. Die aufsteigende Phase war durch eine Klassenallianz zwischen der Bourgeoisie, den bäuerlichen und den städtischen Massen gegen das alte System der von der Aristokratie dominierten Sozialbeziehungen, das sogenannte Ancien Regime, charakterisiert. Unmittelbar ausgelöst wurde die Revolution — so etwa Albert Zacharoviö Manfred — durch Bauern-revolten um die Jahreswende 1788/89 und durch Unruhen der hungernden städtischen Plebejer im Frühjahr 1789. Diese aktive Beteiligung der Volks-massen war die Grundbedingung für den Sieg der nach Macht dürstenden Bourgeoisie, welche die Gesellschaft nach „ihren Interessen entsprechenden kapitalistischen Grundsätzen“ umzugestalten begann.
Folgerichtig bildet aus marxistisch-leninistischer Sicht der 14. Juli — die Einnahme der Bastille -den Beginn der Französischen Revolution, da bei dieser Gelegenheit die revolutionären Volksmassen erstmals geschlossen in Erscheinung traten. Von da an hat sich dann nach dieser Deutung die Revolution kontinuierlich bis zur Jakobinerdiktatur weiterentwickelt. Dabei genoß überwiegend die Großbourgeoisie die Früchte des errungenen Sieges. Sie sicherte sich u. a. dank ihres Kapitals beim Verkauf der Nationalgüter den größten Teil an Grund und Boden. In der Loi Le Chapelier untersagte sie den Zusammenschluß der Arbeiter in Vereinen und Gewerkschaften und die Durchführung von Streiks. In der Verfassung von 1791 beschränkte sie dann in offenem Widerspruch zur Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte durch die Einführung eines Zensuswahlrechts die politischen Rechte auf die Klasse der Besitzenden und enthüllte so den wahren Charakter ihrer Absichten. Damals trennte sich die Großbourgeoisie von den übrigen revolutionären Kräften (demokratische mittlere Bourgeoisie. Kleinbourgeoisie, Bauern, Arbeiter, Stadt-und Landarme) und wurde zu einer konterrevolutionären Kraft, politisch repräsentiert von den Feuillants und den Girondisten. Doch das Volk — so diese Deutung — ging seinen Weg weiter. Durch den Volksaufstand vom 10. August 1792 (Sturm auf die Tuilerien, Außerkraftsetzung der Verfassung von 1791) gewann ein neues Gremium den Charakter eines Regierungsorgans: die revolutionäre Commune, die Dachorganisation der 48 Pariser Sektionen. Mit ihrer Hilfe und der des Jakobinerclubs gelang es der Bergpartei um Robespierre im neuen Konvent, die auf Beendigung der Revolution bedachten Girondisten auszuschalten (Juni 1793). Die jetzt entstehende Jakobinerdiktatur war „einer der Höhepunkte im Befreiungskampf der unterdrückten Klassen“ (Lenin). Durch Einführung eines Höchstpreissystems für die wichtigsten Verbrauchsgüter (Maximum), durch straffe Zentralisierung und Requisitionen griff sie energisch in die Interessensphäre der Großbourgeoisie ein. Doch war ihre Politik voll innerer Widersprüche: Sie tastete die Produktionsmittel und -weisen der Großbourgeoisie nicht an und bewegte sich im Zickzackkurs zwischen den Opportunisten um Danton und den Enrags und linken Jakobinern um Jacques Roux, Jacques Ren Hebert und Pierre Gaspard Chaumette.
Im Frühjahr 1794 zerfiel dann die Allianz, die die Jakobinerdiktatur getragen hatte. Die Bauern hatten ihr Ziel, nämlich die restlose Zerschlagung des Feudalregimes, erreicht und erwarteten mit Unzufriedenheit die vorgesehenen Emterequisitionen. Die städtischen Massen — besonders die Pariser Sansculotten — hatten während der Jakobinerdiktatur ihre Führerpersönlichkeiten verloren und waren betroffen über die vorgesehene Einführung eines Lohnmaximums. Und die Hauptkraft des Regimes, die Jakobiner, ertrug mehr und mehr nur mit Widerwillen den Kurs des Wohlfahrtsausschusses. Noch suchten sich Robespierre, Saint-Just und ihre Anhänger mittels der Grande Terreur im Juni/Juli 1794 an der Macht zu halten. Doch beseitigte der überwältigende Sieg der Revolutionstruppen gegen die Österreicher bei Fleurus Ende Juni 1794 auf lange Sicht die Gefahr der Konterrevolution. Damit war objektiv die Notwendigkeit für eine revolutionäre Klassenallianz nicht mehr gegeben: So brach die Terreur mit dem Sturz Robespierres am 27. Juli 1794 zusammen. Das Ende der aufsteigenden Phase der Revolution war erreicht.
Die absteigende Phase der Revolution kennt dann die eigentliche, egoistische Klassenherrschaft der Bourgeoisie, die „Bourgeois-Orgie“, von der Engels spricht (MEW 37, S. 156). Die scharfe Kritik, die Marx und Engels an ihr geübt haben, darf noch heute als Quintessenz aller einschlägigen marxistisch-leninistischen Studien gelten: „Unter der Regierung des Direktoriums bricht die bürgerliche Gesellschaft ... in gewaltigen Lebensströmungen hervor. Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des neuen bürgerlichen Lebens, dessen erster Selbstgenuß noch keck, leichtsinnig, frivol, berauschend ist; wirkliche Aufklärung des französischen Grund und Bodens, dessen feudale Gliederung der Hammer der Revolution zerschlagen hatte und welchen nun die erste Fieberhitze der vielen neuen Eigentümer einer allseitigen Kultur unterwirft; erste Bewegungen der freigewordenen Industrie — das sind einige von den Lebenszeichen der neuentstandenen bürgerlichen Gesellschaft“ (MEW 2, S. 130).
Die marxistisch-leninistische Interpretation lehnt jeden Versuch ab, einen inneren Zusammenhang zwischen der Französischen Revolution und der russischen Oktoberrevolution herzustellen. Die bürgerliche Revolution von 1789 habe sich darauf beschränkt, die Herrschaft einer Ausbeutergruppe durch die einer anderen Ausbeutergruppe zu ersetzen; die Oktoberrevolution von 1917 dagegen sei durch den Sieg der sozialistischen Produktionsweise und durch die Beseitigung jeder Ausbeutung des Menschen durch den Menschen charakterisiert.
Die Französische Revolution sei jedoch im Vergleich zum vorhergehenden Regime des „Feudalabsolutismus“ als eine neue Phase in der kontinuierlichen Aufwärtsentwicklung der französischen Gesellschaft zu sehen. Im einzelnen betont diese Interpretation den „revolutionären Instinkt“ der Massen als motorisches Element der Entwicklung bis 1793/94 und trägt so zu einer Mythologisierung des Verhaltens der Mittel-und Unterschichten während der Französischen Revolution bei. Das gilt für die Erhebung des 14. Juli 1789 ebenso wie für die Rolle der Sansculotten, der Pariser Sektionen und der Commune 1792/94. Ansätze zu sozialistischen Vorstellungen hätten sich da und dort gezeigt (u. a. bei Jacques Roux, Babeuf), doch seien sie für die Anschauungen der Jakobinerdiktatur nicht typisch gewesen. Um die Quintessenz in den Worten von Karl Marx auszudrücken: „Die Schreckensherrschaft mußte daher in Frankreich nur dazu dienen, durch ihre gewaltigen Hammerschläge die feudalen Ruinen wie vom französischen Boden wegzuzaubern. Die ängstlich-rücksichtsvolle Bourgeoisie wäre in Dezennien nicht mit dieser Arbeit fertig geworden. Die blutige Aktion des Volkes bereitete ihr also nur die Wege“ (MEW 4, S. 339).
VI. Die Französische Revolution aus der Sicht der „Monopolbrecher“: Von der Originalität einiger Außenseiter
Wenn im Vorangegangenen der Versuch unternommen wurde, die wichtigsten Grundpositionen der Revolutionsdeutung herauszuarbeiten, dann in dem Bemühen, das sichtbar zu machen, was Autoren bestimmter Gruppierungen miteinander verbindet, nicht das, was sie trennt. Diese Feststellung bedeutet für unseren Zusammenhang, daß der Leser von Fall zu Fall selber herausfinden muß, worin die spezifische Individualität etwa eines Taine, eines Markov, eines Furet besteht. Denn sie alle, die hier als Zugehörige zu bestimmten Gruppierungen der Revolutionsdeutung vorgestellt wurden, die wesentlich weltanschaulich oder ideologisch motiviert sind, sie alle schreiben zugleich auch auf ihre eigene unverwechselbare Art und Weise Revolutionsgeschichte.
Dieser Umstand scheint mir wirklich hervorhebenswert, denn nach dem oben Ausgeführten könnte es scheinen, als kämpften in der Deutung der Revolution im wesentlichen Geisterheere gegeneinander. Es kämpfen auch hehre Geister gegeneinander! Und diese sind außer durch eine bestimmte mehr oder weniger kohärente Grundhaltung in ihren Darstellungen und Interpretationen durch weitere Faktoren bestimmt: etwa durch emotionale Wertungen, durch persönliche Erfahrungen, die systematisiert werden, durch ein Sich-selbst-Wiederfmden in bestimmten Personen und Situationen der zu erforschenden Vergangenheit. Bei Franzosen kann das nationale Element unvermerkt dominieren, bei Nichtfranzosen können sich frankophile oder frankophobe Gefühlselemente in den weltanschaulichen Generalbaß mischen.
Man wird leicht verstehen, daß es neben den vorgestellten Grundpositionen der Revolutionsdeutung fast zahllose weitere, recht individuell geprägte Interpretationen und Interpretationsansätze gibt, die konkurrierend neben den skizzierten Positionen und natürlich auch konkurrierend nebeneinander stehen. Ich wüßte allerdings keine, die zu einer wirklichen Gruppierung geworden wäre; selbst die bekannte „Annales“ -Schule in Frankreich hat keinen Revolutionsspezialisten, geschweige denn eine Gruppierung hervorgebracht, von der man sagen könnte, hier hätten einige Historiker die gleiche verbindende Grundhaltung, den gleichen Interpretationsansatz.
Unter den individuellen Deutungen stößt man auf ein verblüffend breites Spektrum. Darunter sind solche, die die Revolution rassistisch oder biologistisch (etwa durch den Blutdruck der Akteure) erklären möchten, rein oder überwiegend faktographische — wie die von Jacques Godechot (die von unschätzbarem Nutzen sind durch die Zuverlässigkeit ihrer Daten-und Faktenvermittlung) — und vielfach auch solche, die der Erscheinung der Französischen Revolution mit neuen Fragestellungen und neuen methodischen Ansätzen zu Leibe rükken, bei denen individuelle Neugier und Originalität, u. U. auch persönliche Eigenart, jeden Anschluß an eine der oben aufgeführten Grundpositione verhindern oder verhindert haben.
Vorgestellt soll deshalb nur eine dieser Positionen werden, eine, die durch ihre Fragestellungen und Ergebnisse ein besonderes Augenmerk auf sich gezogen hat. Es handelt sich um den mentalitätsgeschichtlichen Ansatz, den — in verschiedenen Varianten — seit den siebziger Jahren sowohl Furet als auch Vovelle und neuerdings Rolf Reichardt vertreten. Gemeinsam ist allen diesen Autoren, ihren Mitarbeitern und Compagnons de route eine wesentliche Einsicht: nämlich die, daß in den letzten Jahrzehnten ökonomische Faktoren in der Revolutionsdeutung zu stark und unangemessen dominierten, daß dabei der Bück auf wichtige sozialpsychische Momente verstellt wurde oder verloren ging. Entdeckt wurde jetzt eine gelebte revolutionäre Kultur, die sich vielfältig ausdrückte: in Liedern, in Druckgraphik für den Massenkonsum, in neuen Festen, in neuen Verhaltensformen der breiten Bevölkerung, in neuen Kleidermoden u. ä. Entdeckt — oder wiederentdeckt — wurden die in der Revolution zum Zuge gekommenen neuen Formen der Soziabilität, wie sie sich im Wirken der Clubs, Sektionsversammlungen, Nachbarschaftszirkel etc. ausdrückte.
Furet ist in den siebziger Jahren von seiner ursprünglichen Deutung der Revolution etwas abgerückt, jener bereits skizzierten Neuauflage der liberalen Interpretation (die gleichwohl vorerst beim breiten Publikum die einzige mit seinem Namen verbundene bleibt). Er betont nunmehr als entscheidenden Faktor bei der Entstehung der Revolution eine im 18. Jahrhundert aufgekommene, völlig neuartige, nämlich in nuce „demokratische politische Kultur“. Sie sei auf zahlreichen Ebenen von den Eliten der Gesellschaft eingeübt worden -von den Akademien der Wissenschaften und den Freimaurerlogen bis hin zu den zahlreichen Aufklärungssozietäten aller Typen und Erscheinungsformen, etwa den Lese-und Korrespondenzzirkeln in der tiefsten Provinz, jenen Zirkeln, die Augustin Cochin um 1900 treffend „Socits de Pense" genannt hat (und die etwa von Habermas unter dem Stichwort „Strukturwandel der Öffentlichkeit" schon vor über 30 Jahren in ihrer Funktion erfaßt worden sind, ähnlich auch von Koselleck. Doch nehmen französische Revolutionshistoriker deutsche Forschungen sehr selten zur Kenntnis).
Furet sieht in diesen „Socits de Penske“ den eigentlichen Grund für den Untergang des Ancien Regime. Persönlich scheint mir, daß in dieser Interpretation eine wesentliche Bedingung mit den Ursachen der Revolution verwechselt wird: Aufklärungsgesellschaften gleichen bzw. ähnlichen Typs gab es nämlich zu dieser Zeit in ganz Europa, doch nirgendwo führte ihr Wirken zu einer Revolution wie der französischen von 1789. Selbstverständlich änderte sich durch ihr Wirken der Charakter der Gesellschaft, und zwar so, daß nirgendwo mehr eine Rückkehr zu den Verhältnissen etwa um 1760 möglich war. „Socits de Pense" mögen in der Tat eine der Grundbedingungen der Revolution von 1789 gewesen sein: Ihren Ausbruch und Verlauf, besonders die Eskalation der Gewalt bis 1794, erklären sie nicht befriedigend.
Vovelle und Reichardt sind sich in ihrem Ansatz relativ nahe. Beide betonen den enormen Bruch, den die Revolution im Alltagsverhalten der Menschen herbeiführte, insbesondere in den Mentalitäten der Massen. Doch indem sie aufzeigen, wie das Verhalten der Revolutionäre aus langfristigen Entwicklungen des Ancien Regime unmerklich heraus-wuchs und ab 1789 zur Dominanz gelangte und dabei immer wieder auf — in den Inhalten veränderte — Reproduktionsweisen zurückgriff, machen sie auch die Eingebundenheit der revolutionären Massen in globale, über Generationen hinweg wirksame und gelebte Verhaltensmuster deutlich.
Vovelles Grundthese ist: Der mentale Wandel während der Revolution war bedeutsamer und einschneidender als der Übergang zu neuen ökonomischen Verfaßtheiten. Reichardt geht noch weiter: Ihm zufolge dominieren die Kontinuitäten gegenüber den Brüchen von 1789. Dabei verweist er gleichwohl auf das, was sich während der Revolution in allen sozialen Schichten an mentalen Gegebenheiten grundlegend änderte. Seine weitgefächerten Arbeiten zeigten, daß gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland Revolutionsforschung betrieben wird, die internationale Beachtung verdient und findet.
Wenn man bedenkt, wie sehr sich die sozialistische und marxistisch-leninistische Historie auf Klassenantagonismen und den Wandel der Produktionsweisen als Erklärung für die Revolution festgelegt hatte, dann wirken die Ansätze Furets, Vovelles und Reichardts (sie alle gehören weltanschaulich weiß Gott nicht ins gleiche Lager) durchaus befreiend. Was bei ihnen aber wohl zu kurz kommt — jedenfalls nach meiner persönlichen Einschätzung —, das ist eine angemessene Berücksichtigung von Herrschaft und des Gebrauchs der politischen Macht für die Erklärung des Ausbruchs und des Verlaufs der Revolution. „Revolutionen brechen aus und sind unwiderstehlich“, hat Hannah Arendt einmal gesagt, „wenn sich herausgestellt hat, daß die Macht auf der Straße liegt.“ Diese Feststellung gilt für alle Phasen der Revolution: für ihren Ausbruch unter Ludwig XVI., dem unfähigsten unter allen bourbonischen Herrschern, für das Unvermögen der Feuillants und der Girondisten, anstelle des zerschlagenen alten einen neuen effektiven Herrschaftsapparat aufzubauen, für die Terreur unter Robespierre und dem Wohlfahrtsausschuß, denen dies entschieden gelang, bis hin zur Machtergreifung durch Napoleon Bonaparte am 18. Brumaire des Jahres VIII der Revolution. Es sei hier nicht einer Überbetonung des Gewaltmonopols und des Kampfes um die politische Macht zur Durchsetzung der jeweiligen Ordnungsvorstellungen das Wort geredet. Wenn man aber die entsprechenden Fragen aus einer Geschichte der Revolution ausklammert, bleibt sie notwendig ein Torso. An einer die intellektuelle Neugier in jeder ihrer Varianten stillenden Darstellung der Französischen Revolution fehlt es bisher noch immer, obwohl sie nicht prinzipiell unmöglich wäre.
Die Erklärung der Menschen-und Bürgerrechte vom 26. August 1789
In der Überzeugung, daß die Unkenntnis, das Vergessen oder die Verachtung der Menschenrechte die alleinigen Ursachen der öffentlichen Mißstände und der Verderbtheit der Regierungen sind, haben die in der Nationalversammlung vereinigten Vertreter des französischen Volkes beschlossen, in einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und geheiligten Menschenrechte darzulegen, damit diese Erklärung allen Mitgliedern des gesellschaftlichen Verbandes beständig vor Augen ist und sie ohne Unterlaß an ihre Rechte und Pflichten erinnert werden; damit die Handlungen der gesetzgebenden wie auch der ausübenden Macht in jedem Augenblick mit dem Zweck jeglicher politischen Einrichtung verglichen werden können und dadurch mehr geachtet werden; damit die Beschwerden der Bürger, von nun an auf einfache und unbestreitbare Grundsätze gegründet, sich immer auf die Erhaltung der Verfassung und das Wohl aller richten mögen. Infolgedessen erkennt und verkündet die Nationalversammlung in Gegenwart und unter dem Schutze des Allerhöchsten die folgenden Menschen-und Bürgerrechte:
1. Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaftlichen Unterschiede können nur auf dem allgemeinen Nutzen begründet werden.
2. Der Zweck jeder staatlichen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.
3. Der Ursprung jeder Herrschaft liegt wesensmäßig beim Volke; keine Körperschaft, kein einzelner kann Herrschaft ausüben, die nicht ausdrücklich von ihm ausgeht.
4. Die Freiheit besteht darin, alles tun zu können, was einem anderen nicht schadet; also hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen keine anderen Grenzen als jene, die den anderen Mitgliedern der Gesellschaft den Genuß dieser gleichen Rechte sichern. Diese Grenzen können allein durch das Gesetz bestimmt werden.
5. Das Gesetz darf nur die Handlungen verbieten, die der Gesellschaft schaden. Nur das, was das Gesetz verbietet, kann untersagt werden, und niemand kann zu einer Handlung gezwungen werden, die das Gesetz nicht gebietet.
6. Das Gesetz ist der Ausdruck des allgemeinen Willens. Alle Bürger haben das Recht, an seiner Gestaltung persönlich oder durch ihre Vertreter mitzuwirken. Es soll für alle Bürger das gleiche sein, es mag beschützen oder bestrafen. Da alle Bürger vor dem Gesetz gleich sind, so sind sie auch alle in der gleichen Weise zu allen Ehrenämtern, öffentlichen Stellungen und Beschäftigungen gemäß ihren Fähigkeiten zugelassen, ohne einen anderen Unterschied als den ihrer Kräfte und Geistesgaben.
7. Niemand darf außer in den durch das Gesetz bestimmten Fällen angeklagt, verhaftet oder gefangengehalten werden, und nur nach den Formen, die es vorgeschrieben hat. Wer willkürliche Anordnungen empfiehlt, erläßt, ausführt oder ausführen läßt, soll bestraft werden; aberjeder Bürger, der kraft des Gesetzes vorgeladen oder festgenommen wird, muß sofort gehorchen; durch Widerstand macht er sich strafbar.
8. Das Gesetz darf nur Strafen festsetzen, die unbedingt und offenbar notwendig sind, und man kann nur bestraft werden auf Grund eines Gesetzes, das vor der Straftat festgelegt und verkündet war und gesetzmäßig angewendet wurde.
9. Da jeder Mensch so lange für unschuldig gehalten wird, bis er für schuldig erklärt worden ist, soll, wenn seine Verhaftung für unumgänglich erachtet wird, jede Härte, die nicht notwendig wäre, um sich seiner Person zu versichern, durch das Gesetz streng unterbunden werden."
10. Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst nicht der religiösen, bedrängt werden, vorausgesetzt, daß ihre Äußerung nicht die durch das Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.
11. Die freie Mitteilung der Gedanken und Ansichten ist eines der kostbarsten Menschenrechte; daher kann jeder Bürger frei sprechen, schreiben, drucken, mit dem Vorbehalt, daß er verantwortlich ist für den Mißbrauch dieser Freiheit in den von dem Gesetz festgelegten Fällen.
12. Die Sicherung der Menschen-und Bürgerrechte erfordert eine öffentliche Gewalt; diese Gewalt ist also zum Vorteil aller eingesetzt und nicht zum besonderen Nutzen derer, denen sie anvertraut ist.
13. Für die Unterhaltung der öffentlichen Gewalt und für die Verwaltungsausgaben ist eine allgemeine Abgabe unerläßlich; sie muß gleichmäßig auf alle Bürger gemäß ihrem Vermögen verteilt werden.
14. Alle Bürger haben das Recht, selbst oder durch ihre Vertreter die Notwendigkeit der öffentlichen Abgaben festzustellen, sie frei zu bewilligen, ihre Verwendung zu überwachen und ihre Höhe, ihre Veranlagung, ihre Einziehung und ihre Dauer zu bestimmen.
15. Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Staatsbeamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen.
16. Eine Gesellschaft, in der die Garantie der Rechte nicht gesichert und die Teilung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.
17. Da das Eigentum ein unverletzliches und geheiligtes Recht ist, kann es niemandem genommen werden, wenn nicht die öffentliche, gesetzlich festgestellte Notwendigkeit es klar erfordert und unter der Bedingung einer gerechten und vorherigen Entschädigung.