Die Bevölkerungsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland
Josef Schmid
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Zusammenfassung
Die Aufeinanderfolge von geburtenstarken Jahrgängen der sechziger Jahre und einem unerwartet dauerhaften Geburtentief seit Beginn der siebziger Jahre wird die Bevölkerungsstruktur der Bundesrepublik in den kommenden Jahrzehnten prägen. Nach einer realistischen Schätzvariante wird die deutsche Bevölkerung bis zum Jahre 2000 auf über 54 und bis 2030 auf circa 42 Millionen zurückgehen. Bei Hinzuzählung eines gewissen Ausländeranteils dürfte die Gesamtbevölkerung dann mehr als 46 Millionen Menschen ausmachen. In der deutschen Bevölkerung kombinieren sich seit nahezu zwei Jahrzehnten niedrige Kinderzahlen mit steigender Lebenserwartung. Das führt zu einer beschleunigten Alterung: junge Menschen unter 20 werden von derzeit 13 Millionen auf 7. 2 im Jahre 2030, d. h. von 20 Prozent auf 15 Prozent absinken. Der Anteil der über 60jährigen wird dagegen von derzeit 22 Prozent bis 2030 auf 40 Prozent anwachsen. Diese Entwicklung wird hohe Anpassungsleistungen im Bereich des Bildungswesens, des Arbeitsmarktes, der Altersversorgung und des Gesundheitswesens erfordern.
Am Stichtag der letzten Volkszählung, am 25. Mai 1987, lebten auf dem Gebiet der Bundesrepublik 61 082 800 Menschen, 432 000 mehr als 1970. Darunter wurden 4, 15 Millionen Ausländer gezählt, deren Anteil sich seit der letzten Volkszählung 1970 um 70 Prozent erhöht hat. Während dieser 17 Jahre haben die Deutschen um fast 3 Millionen abge-
I. Schlaglicht auf die Bevölkerungssituation
Mitte der sechziger Jahre wurden jährlich noch etwas mehr als eine Million Neugeborene registriert; 1975, also nur zehn Jahre später, knapp über 600 000 Neugeborene: der Geburtenjahrgang hatte sich beinahe halbiert. Diesen Rückgang der Geborenenzahlen bezeichnet man gemeinhin als „Pillenknick“ — eine höchst oberflächliche Bezeichnung zwar für einen komplexen Sachverhalt, doch hat er dazu geführt, daß 1971 erstmals bei einer Bevölkerung in Frieden und Wohlstand mehr Gestorbene als Geborene gezählt wurden. Das war ein Novum in der Geschichte der modernen Welt, wenn nicht der Menschheit überhaupt. Das Geburtenaufkommen der Ausländer hatte die absolute Bevölkerungsabnahme im Bundesgebiet noch zwei Jahre nommen, die ausländische Bevölkerung ist dagegen um 1, 7 Millionen gestiegen.
Abbildung 6
Tabelle 3: Entwicklung demographischer „Belastungsquotienten“ in der Bundesrepublik Deutschland
Tabelle 3: Entwicklung demographischer „Belastungsquotienten“ in der Bundesrepublik Deutschland
Bevölkerung ist ein zäher, aber stetiger Fluß mit eigenen Wachstumskräften, einer eigenen Dynamik. Sie besteht im Zusammenwirken von Geburten.der Sterblichkeit bzw.der Lebenserwartung und dem Wanderungsgeschehen 1). hinausgeschoben. Ab 1973 steht auch die Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland im Zeichen eines jährlichen Überhanges der Sterbefälle. Mit Beginn der achtziger Jahre schrumpft die deutsche Bevölkerung allein jährlich um 100 000 bis 150 000 Menschen. 1984 standen 586 000 Neugeborene 704 000 Gestorbenen gegenüber. Der Geburtenrückgang hatte sich seit Mitte der siebziger Jahre zu einem Geburtendefizit summiert Wir bezeichnen es so, weil die Bevölkerungsverluste durch Sterbefälle von der Zahl der Geburten nicht ausgeglichen werden, um den Bevölkerungsbestand zu erhalten. Ab Mitte der siebziger Jahre werden nur zwei Drittel einer Generation durch eigenen Nachwuchs ersetzt. Die Wanderungsbilanz, eine unstete Größe, wird wie seit 1985 positiv bleiben.
Abbildung 7
Schaubild 4: Anteil der 15-bis 30jährigen an der Gesamtbevölkerung, 1986— 2040
Quellen: DIW: Deutsche Bank
Schaubild 4: Anteil der 15-bis 30jährigen an der Gesamtbevölkerung, 1986— 2040
Quellen: DIW: Deutsche Bank
Seit 1986 werden wieder mehr Geburten, und zwar deutlich über 600 000 registriert, was einen Geburtenanstieg um circa zehn Prozent bedeutet. Davon sind aber nur drei Prozent auf vermehrten Kinder-wunsch zurückzuführen, über sechs Prozent sind auf eine Geburtenwelle, die die geburtenstarken Jahrgänge der sechziger Jahre, die ins heiratsfähige Alter gekommen sind, zurückzuführen. Wenn alle Heiratswilligen der Geburtsjahrgänge von 1958 bis 1968 geheiratet und ihre Kinder haben, wird diese Quelle für Mehrgeburten versiegen; dieser „EchoEffekt“ auf einen Geburtenberg vor über 20 Jahren dürfte ein Vierteljahrhundert später wieder einen solchen Effekt hervorrufen, der aber noch viel schwächer ausfallen wird, als es dieser schon tat.
Die Bevölkerungsbilanz registriert die natürliche Bevölkerungsbewegung, die Entwicklung von Geburten-und Sterbefällen. Trotz des Geborenen-anstiegs 1987 auf 642 000 mußte man einen Sterbeüberhang (1987 von 45 000) feststellen. Die Ausländer sind an der Sterblichkeit nur zu einem Prozent beteiligt, am Geburtenaufkommen dagegen mit zehn Prozent.
Da die Wanderungsbilanz positiv ist, über 400 000 Fortzügen stehen über 500 000 Zuzüge gegenüber, bessert sie die negative natürliche Bilanz auf. Ihr ist zu danken, daß ab 1986 die Wohnbevölkerung der Bundesrepublik vorerst nicht mehr zurückgeht, und das könnte noch einige Jahre andauern. Hierseinur an die Hunderttausende von Aussiedlern zu erinnern. Dieser Zustrom fließt allerdings nicht ewig. Warum ein Geburtenanstieg, wie wir ihn derzeit verzeichnen, nur kurzfristiger Natur sein kann, und auch eine maßvolle Einwanderung, wie wir sie vielleicht wünschen, am Abwärtstrend wenig ändert, zeigen Prognosen,
Seit 1976 verfügen wir über Bevölkerungsvorausschätzungen bis zum Jahre 2030, getrennt nach deutschem und ausländischem Bevölkerungsanteil. Ersterer unterliegt größtenteils der natürlichen Bevölkerungsbewegung, letzterer neben dem eigenen Nachwuchs noch stark dem Wanderungsgeschehen. Das brauchbarste Modell („Modell I“) schreibt den defizitären Geburtentrend der Jahre 1976— 1978 fort, wonach die deutsche Bevölkerung von 57 Millionen im Jahre 1980 bis zum Jahre 2000 auf 52 Millionen und bis zum Jahre 2030 auf 38 Millionen zurückgegangen sein wird. 1986 mußte die als realistisch geltende Vorausschätzung auf einen neueren Stand gebracht werden: Am Geburten-trend brauchte wenig geändert zu werden, die Lebenserwartung jedoch, d. h. die Bevölkerung in den Altenjahrgängen wurde deutlich nach oben korrigiert. Außerdem rechnet man noch jährlich mit 13 000 bis 25 000 Einbürgerungen von Ausländern und Rückwanderungen Deutscher, womit man doch auf über 42 Millionen Deutsche um 2030 kommt — gegenüber 38 Millionen nach früheren Schätzungen. Hier wird der sich längst abzeichnende Alterungsschub eingerechnet, für dessen Be-B wältigung schon jetzt die Weichen gestellt werden müssen.
Schwieriger ist die Zahl der Ausländer zu prognostizieren. Vier Faktoren sind es, die ein Prognostiker berücksichtigenmuß:
1. Staatliche Gesetze (Asylrecht, Freizügigkeit im EG-Raum, Niederlassungsbestimmungen im Ausländerrecht, etc.).
2. Die Altersstruktur der ausländischen Bevölkerung; es ist eine junge Struktur: wenig alte Menschen, viele Menschen im Erwerbsalter und Eltern-paare mit Kindern, und zwar mehr Kindern als in deutschen Familien; erst in der 2. und 3. Generation gleichen sie sich darin den Deutschen an.
3. Die wirtschaftliche Konjunkturlage, die den entscheidenden Einfluß auf Zuzüge und Fortzüge ausländischer Arbeitnehmer hat.
4. Der wachsende Bevölkerungsdruck aus Ländern der Dritten Welt, der sich unabhängig von der jeweiligen Konjunkturlage Westeuropas aufbaut und anhalten dürfte. Inwieweit die westliche Völkergemeinschaft imstande ist, diesen Einwanderungsdruck zu steuern, steht noch dahin.
In den ersten Jahrzehnten nach dem Jahr 2000 könnten die Ausländer zehn bis zwölf Millionen zählen — vorausgesetzt, daß Ausländergesetz und Einbürgerungspraxis sich nicht ändern. Die offizielle Ausländerprognose zieht solch eine Einwanderung nicht ins Kalkül. Sie rechnet übervorsichtig mit einem Anstieg gegen sechs Millionen bis 2030 („Modell C“). Mit den gut 42 Millionen Deutschen ergäbe das eine offizielle Wohnbevölkerung von über 48 Millionen am Ende des Prognosezeitraums („Modell I + C“).
An der Abnahme der deutschen Bevölkerung um zehn bis 14 Millionen bis 2030 ist immer weniger zu zweifeln. Die Anpassungsprobleme aus abnehmender Bevölkerung behalten auch dann ihre Schärfe, wenn die Kinderwünsche in den Familien wieder steigen sollten. Es kann nicht oft genug betont werden, daß selbst eine beträchtliche Zunahme der Geburten in den nächsten Jahren an der Bevölkerungsentwicklung nichts Entscheidendes ändern könnte.
Die Vorausschätzungen bestätigen, daß wir uns längst in der Phase des sich von Jahr zu Jahr kumulierenden Geburtendefizites befinden. Das bedeutet langfristig eine Schmälerung der Müttergeneration, der eigentlichen Nachwuchsbasis, und kein Ende des Schrumpfens der deutschen Bevölkerung.
III Altersstruktur und Alterungsvorgang
Abbildung 3
Schaubild 2: Bevölkerungsentwicklung von 1910 bis 2030
Schaubild 2: Bevölkerungsentwicklung von 1910 bis 2030
Zur Beurteilung des prognostizierten Bevölkerungstrends ist der alleinige Blick auf die Bevölkerungsgröße nicht genug. Aufschlußreicher ist die innere Veränderung der Altersstruktur, die zwar in allen sozialen Epochen vor sich geht, bei anhaltendem Geburtendefizit aber besonders drastisch. Man hört häufig den Einwand, daß die ursprünglich zum Jahr 2030 erwarteten 38 Millionen Menschen genau der Bevölkerung des Bundesgebietes im Jahre 1925 entsprächen; nur mit einem großen Unterschied, der häufig vergessen wird: die Familien brachten damals noch ausreichenden Nachwuchs zur Welt, nämlich 2, 2 Kinder pro Familie, der zum vollen Ersatz der Elterngeneration gereicht und bewirkt hatte, daß der Altersaufbau tatsächlich dem Bild einer ägyptischen Pyramide glich.
In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre sieht sie aus wie eine schüttere, sauere Tanne mit schmalem Jugendsockel als Strunk, zeigt dann starke Ausfransungen in den Erwachsenenjahrgängen und eine nach oben sich ausdehnende Alterskrone. Die Alterspyramide um 2030 wird nach dem Muster eines kopflastigen Pilzes aufgebaut sein.
Die Alterung der deutschen Bevölkerung kennt einen relativen und einen absoluten Faktor. Relativ altert die Bevölkerung aufgrund eines Geborenen-defizits:indem der Jugendsockel schrumpft, nehmen die Altenjahrgänge anteilsmäßig zu; absolut nehmen die Altenjahrgänge zu, wenn die Lebenserwartung steigt — wenn immer mehr Angehörige eines Altenjahrgangs die nächsthöhere Altersstufe erreichen. Die Bevölkerung der Bundesrepublik ist hinsichtlich seiner Schlußlichtposition in der Geburtenhäufigkeit kürzlich von Italien überrundet worden. Sie hält aber die Spitze im demographischen Altern, weil relative und absolute Alterungsfaktoren Zusammentreffen. 1. Die Jugendjahrgänge 1970, im Jahr vor der letzten Volkszählung, waren noch 23, 2 Prozent der Wohnbevölkerung unter 15 Jahre alt, 1987 nur noch 14, 6 Prozent. Der Nachwuchs bis Ende des Pflichtschulalters hat sich also um ein gutes Drittel (35, 7 Prozent) verringert. Die Jahrgänge, die sich in den Ausbildungsgängen befinden — also bis unter 20 — haben 1970 noch 31 Prozent betragen (18, 8 Millionen bei einer Gesamtbevölkerung von 60, 651 Millionen); 1985 nur noch 23, 3 Prozent (14, 4 Millionen gegenüber 61, 049 Millionen); im Jahre 2000 dann 19, 6 Prozent mit 11, 7 Millionen und 2030 nur noch 15, 4 Prozent mit 7, 2 Millionen. Man sieht, wie sich die Geborenenhalbierung zwischen 1965 und 1972 langfristig in eine Halbierung der Jugendjahrgänge von 14, 4 Millionen auf 7, 2 Millionen fortsetzt.
Die einzige ausgleichende Bewegung ist der Nachwuch Millionen auf 7, 2 Millionen fortsetzt.
Die einzige ausgleichende Bewegung ist der Nachwuchs des ausländischen Bevölkerungsteils, von dessen stetigem Anwachsen wir ausgehen können. Eine sehr vorsichtige Zuwanderungsannahme unterstellt bis zum Jahre 2009 einen Wanderungsgewinn von jährlich 55 000 und ab 2010 einen ausgeglichenen Wanderungssaldo. Dieses „Modell C“ (Tabelle 2) erbrächte im Jahre 2030 einen erhöhten Jugendanteil von 7, 2 Millionen. Man vermutet allgemein, daß die Ausländerprognose zu niedrig angesetzt ist. Wir können uns auch auf ein Reserve-Szenario einstellen, das um 2030 mit 10— 15 Millionen Ausländem rechnet anstatt nur mit circa sechs 3). Dies dürfte auch die Prognose der Jugend-jahrgänge verändern, zumindest quantitativ. Noch wichtiger wäre die Frage nach der Verteilung der Bildungsqualifikationen. 2. Die Altenjahrgänge Seit der Volkszählung 1970 haben Menschen über 65 Jahren von acht Millionen (13, 2 Prozent) auf 9, 3 Millionen (15, 3 Prozent) zugenommen. Das durchschnittliche Pensionsalter macht die Einteilung ab 60 sinnvoll; damit ist ein sozialer Eintritt ins Alter bezeichnet, unabhängig von biologisch-physischen Alterserscheinungen. Die Altenjahrgänge sind die einzigen, die kontinuierlich zunehmen, und zwar von 12, 3 Millionen 1985 auf 17, 5 bis zum Jahre 2030, was einem Anstieg von heute 20, 3 auf 37, 3 Prozent entspricht. Eine leichte Steigerung der Lebenserwartung in den kommenden Jahrzehnten wird die Gruppe auf 40 Prozent der Gesamtbevölkerung bringen. Ein Mehr an Geburten und die Einwerbung jüngerer Migranten könnten diesen Anteilswert etwas drücken.
Gerontologen und Sozialpolitiker sind sich einig, daß man nicht einheitlich von „Alter“ sprechen kann 4). Die Lebenserwartung 60jähriger Männer beträgt noch gut 18 Jahre, diejenige 60jähriger Frauen noch 22 Jahre, so daß man das „Alter“ im althergebrachten Sinne erst ab 75 beginnen lassen möchte, zumal erst von da ab Pflegebedürftigkeit in nennenswertem Umfang vorkommt. Die „jungen“ oder „rüstigen Alten“ von 60 bis 75 könnten noch in mehrfacher Hinsicht Leistungserbringer sein. Sie werden das sogar sein müssen, weil die „alten Alten“ oder Hochbetagten ab Ende 70 stark zunehmen: Hier haben wir eine Art Bevölkerungsexplosion. 1986 waren in der Bundesrepublik 188 700 Menschen 90 Jahre und älter, das sind von 100 000 Deutschen 300. Hundert Jahre früher kamen nur 17 Menschen dieses Alters auf 100 000 Einwohner. Laut Statistischem Bundesamt waren im Jahre 1950 erst 20 000 Menschen 90 und älter, 1960 schon 40 000, im Jahr 1980 82 000 und im Jahre 2000 könnten es gar 444 000 werden, was heißt, daß dann von 100 000 Einwohnern durchschnittlich 730 Menschen 90 Jahre und älter sind.
Hier ist vielleicht eine Bemerkung zur Langlebigkeit von Frauen angebracht: Der Frauenüberschuß in den Altenjahrgängen rührt nur zum Teil von den männlichen Kriegsausfällen her, vielmehr von einer humangenetisch und verhaltensbedingten Über-Sterblichkeit des männlichen Geschlechts. In der Gesamtbevölkerung kommen auf 100 Männer 109 Frauen. Bei den über 60jährigen ist das Verhältnis 100 zu 179, bei den 85jährigen sogar 100 zu 293. 1986 gab es 1 620 hundertjährige Frauen, aber nur 396 Männer dieses Alters
Die Bewältigung der Altenfrage ist nicht nur eine finanzielle; sie wird organisatorische Konsequenzen erfordern (Schaffung von Betreuungseinrichtungen, Selbsthilfe-Netze der Alten; mehr Altenheimplätze mit mehr Personalbedarf). Pflegefälle nehmen erst ab 75 Jahren in vermehrtem Umfang zu. Durch den Rückgang der Kinderzahlen und die Berufstätigkeit der Töchter und Schwiegertöchter wird die Familienpflege häufig ausfallen. Das Öffnen der Einwanderungsschleuse ist nur bedingt eine Lösung, weil Sprach-und Kulturdifferenzen gerade den Pflegebereich nicht komplizieren sollen. 3. Menschen im Erwerbsalter Die Gruppe der Arbeits-oder Erwerbsfähigen zwischen 20 und 60 Jahren steht derzeit bei 35 Millionen; sie hat im Zuge des Eintritts der geburtenstarken Jahrgänge in das Erwerbsalter diese Höhe erreicht. Sobald diese sich zur Gänze im erwerbsfähigen Alter befinden und von da ab nur die geburten-schwachen Kohorten (der ab 1970 Geborenen) nachkommen können, beginnt sich — um im Bild der Alterspyramide zu bleiben — diese Gruppe von unten her zu verdünnen und auch als solche zu altern (siehe Schaubild 3).
Bis 1993/95 wird noch ein Zuwachs zu erwarten sein, ab dann jedoch beginnt eine unweigerliche Abnahme, auch nachdem die „Frauenreserve“ ausgeschöpft ist. Die weibliche Erwerbsbeteiligung ist in der Bundesrepublik im Vergleich zu anderen Industrienationen niedrig. Die Vorausschätzungen ergeben einen langsamen Rückgang bis 2010 auf 32 Millionen, und von da ab ein beschleunigtes Absinken, und zwar auf 28, 8 Millionen 2020 und 22, 8 Millionen im Jahre 2030: Ein Rückgang um 13 Millionen der Menschen im erwerbsfähigen Alter in nur gut 40 Jahren.
Nun geht die sogenannte Arbeitsmarktbilanzja von anderen Größen aus. Von der Gruppe der Menschen im erwerbsfähigen Alter, dem äußeren demographischen Rahmen der Arbeitstätigkeit, ist zunächst das Arbeitskräftepotential zu unterscheiden. Es besteht aus den Erwerbstätigen, derzeit 25 Millionen, den 2, 2 Millionen registrierten Arbeitslosen und der „Stillen Reserve“, die sich im Wartestand fühlt oder aufhält. Wir werden bis Mitte der neunziger Jahre mit über 28 Millionen sogenannten Erwerbspersonen (Erwerbstätige und Arbeitslose) rechnen müssen. Nun unterliegt auch das Arbeitskräftepotential und in dessen Verlängerung die Gruppe der Erwerbspersonen dem allgemeinen Abnahmetrend, der aber durch besondere Bevölkerungsbewegungen aufgefangen werden kann. Daher mag interessant sein zu wissen, daß bis Ende 1990 mit einem Andrang von zusätzlichen 600 000 Menschen auf den Arbeitsmarkt zu rechnen ist. Ohne ihn würde das Erwerbspotential schon ab 1988 sinken, so erst ab 1993/95. Dieser jährliche „Andrang“ setzt sich aus einem Wanderungseffekt, einem Verhaltenseffekt und einem demographischen Struktureffekt zusammen: — HO 000— 160 000 (anerkannte) Asylanten, Ausländer und Aussiedler (Zuwanderungseffekt); — 40 000 durch höhere Erwerbsbeteiligung zumeist von Frauen (Verhaltenskomponente); — 50 000 sind Nachwuchs deutscher und ausländischer Familien (demographische Welle).
Diese jährlich circa 200 000 mehr Arbeitsplatzsuchenden verzögern und mildern die Abnahme-kurve. 1988 strömten mehr als 200 000 deutsch-stämmige Aussiedler aus dem Osten in die Bundesrepublik — mit weiterhin zunehmender Tendenz. Laut Arbeitsmarktbilanz kämen sie eigentlich erst in 20 Jahren zur rechten Zeit. 4. Die Generationenverhältnisse — demographisch gesehen Es ist statistischer Brauch geworden, die Erwerbsfähigen als die Jahrgänge ab 20 bis unter 60 Jahren zu fassen. Die Nicht-Erwerbsfähigen bzw. -tätigen oder abhängigen Jahrgänge teilen sich in die bis unter 20jährigen und die „Altenlast“ der über 60jährigen — letzterer Terminus — ursprünglich korrekt und wertfrei — wird mit einer gewissen Scheu und Vorsicht verwendet. Jugend-und Alten-jahrgänge werden einmal gesondert auf die Erwerbsfähigen zwischen 20 und 60 bezogen und (unverfänglicher) als „Jugendquotient“ bzw. „Altenquotient“ ausgewiesen. Zusammengenommen ergeben sie jedoch den Gesamtlastenquotient. In der Realität stimmen die Grenzen natürlich nicht; viele treten schon vor dem 20. Lebensjahr in das Erwerbsleben ein und viele arbeiten über das 60. Lebensjahr hinaus. Auch die Erwerbsbeteiligung der beiden Geschlechter ist sehr unterschiedlich. Frauen im Alter von 50 und mehr sind wesentlich seltener als ihre männlichen Altersgenossen berufstätig. Trotzdem benötigen wir diese demographischen Relationen, um die Grobstruktur des Generationenvertrags und das jeweilige Leistungspotential der Erwerbsbevölkerung zwar vereinfachend, aber doch prägnant wiederzugeben. Eine Voraus-planung der gesetzlichen Alterssicherung ist ohne eine solche Betrachtung nicht möglich.
Im Jahre 1910 waren nur acht Prozent der Menschen 60 Jahre und älter. Auf je 100 Erwerbsfähige kamen demnach 17 ältere. Das ist also der Alterslastquotient von damals, der seinen Namen noch nicht verdient hatte. Der geringe Anteil der Älteren war auf die hohe Sterblichkeit zurückzuführen (die Lebenserwartung betrug damals im Durchschnitt unter 50 Jahre), vor allem aber aufdie hohe Geburtenhäufigkeit, die seinerzeit so problematisch war, wie heute in den Entwicklungsländern. Im Jahr 1985 betrug der Anteil der 60jährigen und älteren 20 Prozent und der Alterslastquotient 36 zu 100.
Wenn wir wieder die Vorausschätzung nach „Modell I + C“ zugrunde legen, einschließlich der Annahme, daß die Sterblichkeit bis zur Jahrhundertwende noch um fünf Prozent abnimmt, dann erhöht sich der Anteil der über 60jährigen noch nicht gleich, weil die geburtenstarken Jahrgänge um 1960 noch für einen relativen Ausgleich sorgen. Im Jahr 2000 werden auf 100 Erwerbstätige jedoch schon 44 Menschen im Alter von 60 Jahren und mehr kommen, so daß sich dann im Spitzenjahr 2030 ein Alterslastquotient von 81 zu 100 ergeben wird.
Weil der Anteil der abhängigen Jugendlichen sich gegenüber den Menschen im erwerbsfähigen Alter verringert, wird gleichzeitig der Jugendlastquotient von 40 auf etwas über 30 absinken. In diesem Zusammenhang wird der Vorschlag diskutiert, die auf Seiten der Jugendjahrgänge angeblich freiwerdenden Ressourcen auf die wachsende Altenlast umzubuchen. Davor ist dringend zu warnen. Eine Hochtechnologiegesellschaft muß in ihre Jugendjahrgänge besonders investieren, da sie auf Jahrzehnte hinaus der Aktivposten ihrer Volkswirtschaft und ihres Sozialsystems sind.
IV. Familien-und Haushaltsstruktur
Abbildung 4
Tabelle 2: Modellrechnungen zur Gesamtbevölkerung (Deutsche und Ausländer), 1985-2030
Quelle: Bundesminister des Innern, 1987; Anlage 3 1990 2000 Modell I plus Modell C 2010 2020 2030
Tabelle 2: Modellrechnungen zur Gesamtbevölkerung (Deutsche und Ausländer), 1985-2030
Quelle: Bundesminister des Innern, 1987; Anlage 3 1990 2000 Modell I plus Modell C 2010 2020 2030
Bevölkerungswissenschaft will nicht das private Glück vermessen. Doch nichts steht außerhalb von Einflüssen und Rückwirkungen in der industriellen Zivilisation. Familie ist die Instanz, die einer Kultur biologisch Dauer verleiht. In der „natürlichen“ Bevölkerungsbewegung mischen sich biologische Reproduktion, das natürliche Ende jedes lebendigen Organismus mit einer bestimmten kulturellen Überformung Gut 90 Prozent der Kinder stammen immer noch aus Ehen und Familien. Mit ihrer Gründung ist in hohem Maß eine Entscheidung für Nachwuchs verbunden Eheverhältnisse und der Wandel der Familienformen liegen existentiell jeder Gesellschaft zugrunde. Staatliche Politik hat kein eindeutiges und einfaches Verhältnis zu Ehe und Familie. Daß das Sozialstaatskonzept genaue Analysen benötigt, ist außerhalb jeder Diskussion. Die Hervorbringung des Nachwuchses ist Privatsache; sobald er zur Welt gebracht ist, greifen Staat und Gesellschaft als Zukunftsträger nach ihm. Private und öffentliche Kalkulationen scheinen nicht mehr übereinzustimmen. Der Generationenersatz wird zur Illusion.
Daß in der amtlichen Statistik die Familie hinter der Haushaltsgröße verschwindet, kränkt die Kultur-kritik schon seit einem Jahrhundert. Der Zwang zur Nüchternheit erlaubt aber keine Sentimentalitäten. Unser Mikro-Zensus zählt circa 25 Millionen Pri-yathaushalte, darunter acht Millionen Ein-Person-Haushalte und 17 Millionen Mehrpersonen-Haus-halte. Unter diesen Mehrpersonen-Haushalten sind solche, in denen „Nichtverwandte“ Zusammenleben. Wir können davon ausgehen, daß dies in der Mehrzahl eheähnliche Verbindungen sind, „Zusammenleben ohne Trauschein“ genannt. Sie dürften — niedrig gerechnet — eine Million umfassen. Den Rest gliedern wir in Generationen-Haushalte, wovon die kinderlosen Ehepaare wiederum von den Ehepaaren mit Kindern, d. h. von „Familien“ 7 Millionen oder 34 Prozent aller Haushalte) zu trennen sind. Die 400 000 Drei-und Mehr-Generationen-Haushalte spielen eine immer geringere Rolle. Auffallend sind die vielen „Alleinstehenden“: die Ledigen, verheiratet getrennt Lebenden, Verwitweten oder Geschiedenen mit Kindern — letztere Gruppe nimmt wegen der vielen Scheidungen stark zu.
Die Familien-und Haushaltsgrößen werden zumeist durch die Kinderzahlen bestimmt; hier ein historischer Vergleich: Aus Ehen, die um 1900 geschlossen wurden, gingen im Durchschnitt vier bis fünf Kinder hervor, von denen circa drei das Kindesalter überlebten. Die Hälfte aller Ehen hatte noch vier und mehr Kinder. Während damals aus 100 Ehen an die 500 Kinder hervorgingen, gehen aus 100 Ehen, die seit 1970 geschlossen wurden, lediglich 150 Kinder hervor. Das Reproduktionsverhalten dieser Ehen verteilt sich wie folgt: 20 Prozent sind kinderlos, 25 Prozent haben ein Kind, 40 Prozent zwei Kinder und 15 Prozent haben noch drei Kinder und mehr. Wir sprechen hier von einer Schrumpfung der Geburtenordnung: Während sich früher die Gebärphase über viele Ehejahre erstreckte, konzentriert sie sich heute auf wenige Jahre 8).
Seit zehn Jahren pendelt die Zahl der Eheschließungen um 350 000. 1971 war das letzte Jahr, in dem die Zahl der Eheschließungen (432 000) nochgrößer war als die der Ehelösungen durch Tod oder Scheidung Man hatte bis in die siebziger Jahre scherzhaft von der „verheirateten Gesellschaft“ gesprochen. Seit den siebziger Jahren jedoch nimmt der Anteil der Verheirateten an der Bevölkerung ab, weil zum einen die Ehescheidungen steigen und zum anderen wir eine sinkende Heiratsneigung von Ledigen, Verwitweten und Geschiedenen feststellen müssen. Der Anteil der Nicht-Verheirateten an den Hauptheiratsjahrgängen wird immer größer. Zum anderen fällt auch eine gewisse Zurückhaltung bei der Wiederverheiratung auf. Sie stand lange bei 80 Prozent, so daß Zweifel an der Institution Ehe gar nicht aufkommen wollten. Nun jedoch heiraten nur noch zwei Drittel der Geschiedenen erneut. Manche führen dies auf die Scheidungsfolgen nach dem Ehe-und Familienrecht von 1976 zurück, die große finanzielle Belastungen bringen können.
Es ist auffällig, daß Geburtentief und verändertes Heiratsverhalten der jüngeren Generation zeitlich zusammenfallen. Die jüngere Generation bleibt länger unverheiratet. Sicher ist dies auch auf die verlängerte Ausbildungsphase und den späteren Berufseinstieg zurückzuführen; nicht zuletzt aber auf eine gewachsene Zurückhaltung gegenüber der Ehe als Lebensform, Diese „Ehemüdigkeit“ finden wir bei beiden Geschlechtern. Für Männer gestaltet sich die berufliche Etablierung zusehends schwieriger, immer mehr Frauen werden finanziell unabhängig und werden gegenüber Bindungen kritisch. Sie entwickeln einem Schlagwort zufolge, einen eigenständigen „weiblichen Lebenszusammenhang“. Sexuelle Bedürfnisse werden nicht mehr nur in der Ehe befriedigt. All dies mag dazu führen, daß die Menschen, die niemals heiraten, vielleicht auf 25 Prozent der Bevölkerung anwachsen werden.
Das Scheidungsgeschehen ist lebhaft und führt nicht selten zur Rückkehr in eine Einzelexistenz. Alle Industrienationen melden hohe Scheidungsziffern. In der Bundesrepublik stiegen sie rapide in den siebziger Jahren; mit 120 000 bis 130 000 Ehe-scheidungen in den letzten Jahren ist inzwischen die Scheidungshäufigkeit der Nachkriegszeit übertroffen worden, wo die Gründe hierfür auf der Hand lagen. Inzwischen dürften neue hinzugekommen sein:
Das Nachlassen der religiösen Bindungen wie der Hinweis auf die Anforderungen des Berufslebens, die die Partner einander entfremden, gehören zu den alten Gründen. Der industriellen Revolution ist der allgemeine soziale Aufstieg der Bevölkerung zuzuschreiben. Mit dem Bildungsgrad und den neuen Erlebnisqualitäten sind auch die Ansprüche an den jeweiligen Partner gestiegen. Ehen werden nicht mehr zur Sicherung materieller Existenz geschlossen, sondern sind den persönlichen Neigungen und Entscheidungen überantwortet. Die In-stanzen, die einst Orientierungshilfen gewesen waren, haben sich verflüchtigt
Mit dem Rückgang der Kinderzahlen in den Familien ist ein bedeutsames Scheidungshindernis weggefallen. „Scheidungswaisen“ sind immer weniger Gegenstand besonderer Rücksicht durch scheidungswillige Eltern. Zwischen Scheidungshäufigkeit und geringer Kinderzahl in den Ehen ist ein Zusammenhang nicht zu leugnen. 100 000 Kinder sind jährlich von der Scheidung der Eltern betroffen. Die Hälfte aller Ehen, die geschieden werden, ist kinderlos. Die Scheidungsquote beträgt 30 Prozent, d. h. ein Drittel aller Ehen wird geschieden, von Jungehen sogar nach drei bis fünf Jahren ein Viertel. 18 Prozent aller ehelich geborenen Kinder werden vor dem 18. Geburtstag „Scheidungswaisen“. Die Hälfte von ihnen wird Stiefeltern bekommen -
Früher hat der Beitrag, den man für die Familie leistete, Rang und Ansehen verliehen. Inzwischen haben sich die Beurteilungsinstanzen vertauscht. Heute urteilt der einzelne darüber, was ihm eine Familie noch nützen kann. Das individuelle Nutzenkalkül bildet die Meßlatte für den Sinn und Zweck von Familie.
Der Reiz, ein neues Leben mit einem neuen Partner zu beginnen, ist unwiderstehlich in einer Gesellschaft, in der auch menschliche Beziehungen Warencharakter annehmen, d. h.der Gebrauchsprüfung und Erneuerung unterliegen. Durch die Scheidung wird immer häufiger eine getroffene Lebens-entscheidung revidiert, wenn sie sich als unbefriedigend erweist. Wie bereits erwähnt, sind die Frauen kritischer geworden. Bei Untersuchungen wollten etwa nur die Hälfte von ihnen denselben Mann wieder heiraten, während etwa 80 Prozent der Ehemänner mit ihrer Partnerwahl zufrieden waren
Das Scheidungsgeschehen ist die Hauptquelle für die große und vielschichtige Gruppe der Alleinlebenden geworden. Sie dürfte viel zum Verständnis der gegenwärtig sich vollziehenden Veränderungen im Familien-und Partnerschaftsbereich beitragen Der Mikro-Zensus des Jahres 1985 weist — wie oben erwähnt — 7, 3 Millionen Alleinlebende aus: Verwitwete, ledige Frauen und Männer, geschiedene Frauen und Männer sowie verheiratet getrenntlebende Männer und Frauen. Alleinleben von Witwern und Witwen in einem Einzelhaushalt kennt man von früher, auch ihr Zusammenleben ohne zu heiraten ist eine alte Sache; neu ist, daß die Zahl der Witwen und Witwer immer mehr zunimmt. Wir haben circa 3% Millionen Witwen und circa 500 000 Witwer. Ledige Frauen und Männer -ledige Männer etwas weniger als ledige Frauen — um etwa 1, 5 Millionen und circa 500 000 geschiedene Frauen. Nicht zu verwechseln ist diese Gruppe mit den 11, 8 Millionen sogenannten „Alleinstehenden“: Ledige, Geschiedene, Verwitwete und Getrenntlebende, die alle mit Kindern Zusammenleben
Familien Alleinstehender, also mit minderjährigen Kindern, machen 12, 8 Prozent aller Familien aus. In ihnen leben 10, 8 Prozent aller Kinder unter 18 Jahren. Hinsichtlich der Alleinlebenden war 1970 ein Einschnitt festzustellen: Waren vorher die meisten Alleinlebenden Witwen und Witwer, so sind es ab 1970 Geschiedene. Außerdem haben wir in der Bundesrepublik 157 000 unverheiratete bzw. „ledige“ Mütter (wie man sie früher unrichtig nannte), mit 179 000 minderjährigen Kindern.
Dies zeigt, was sich hinter der Kategorie „Ein-Person-Haushalte" alles verbergen kann. 1939 machten sie erst zehn Prozent aus, 1950 schon fast 20 Prozent und 1985 bereits 33 Prozent der Haushalte. Ebenso ist der Anteil der Menschen, die in Ein-Person-Haushalten wohnen, von drei Prozent 1939 auf fast Prozent angewachsen. Jeder siebente bis achte Mitbürger lebt allein. In den Großstädten des Bundesgebietes mit 100 000 und mehr Einwohnern gibt es schon 40 Prozent Ein-Person-Haushalte. Hier lebt schon fast jeder fünfte allein. Auch in den kleineren Gemeinden ist ein rascher Anstieg zu beobachten. Im übrigen handelt es sich um eine Entwicklung, die wir in ganz Europa verfolgen können 15).
Wohnungsmarkt und Architektur müssen neben den ökonomischen und den staatlich und sozial gesteuerten Bedingungen mehr und mehr die demographische Lage beachten. Steigende Alterung bedeutet nicht nur mehr Witwen-und Witwerhaushalte, sondern auch mehr Zusammenleben alter Menschen; es bedeutet aufgrund des bisherigen Scheidungs-und Trennungsgeschehens eine laufende Veränderung der Lebensarrangements in allen Lebensphasen.
V. Problembereiche
Abbildung 5
Schaubild 3: Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung
Quelle: Statistisches Bundesamt 1987
Schaubild 3: Anteil der Erwerbsbevölkerung an der Gesamtbevölkerung
Quelle: Statistisches Bundesamt 1987
Im Zusammenhang mit den Folgen der Bevölkerungsentwicklung werden der Reihe nach die Altersversorgung und soziale Sicherheit allgemein genannt, soweit sie mit der Verschiebung der Alters-strukturen in Verbindung steht. Die Gesundheitskosten haben sich auch als alterungsbedingte Größen erwiesen. Auch Fragen des wirtschaftlichen Wachstums infolge von Immigration werden, wie die vorgenannten, intensiv erörtert. Nun sollen abschließend Problembereiche von soziologischer Seite behandelt werden, die eher zwischen den großen Linien der Handlungsbedarfsdiskussion aufgetaucht sind und die wert wären, ebensoviel Aufmerksamkeit und Besorgnis zu erregen wie die inzwischen großen etablierten Themen. 1. Beschäftigung und Humankapital Das Verhältnis von Bevölkerung und Wirtschaft wurde oft zu einfach gesehen. Bis in die siebziger Jahre hinein war man der Ansicht, daß eine Veränderung der Bevölkerung — sei es nach oben oder nach unten — in einer flexiblen, dynamischen Marktwirtschaft keine Rolle spielen dürfe. Es würden sich allemal ausgleichende und selbstheilende Kräfte regen, so meinte man, die für ein Gleichgewicht sorgen würden: über weitere Technologisie-rung, Steigerung der Produktivität, räumliche Mobilität und Anpassung des Berufssystems an veränderte Wirtschaftsstrukturen. Sie würden die demographisch anfallenden Kosten für Erziehung und Ausbildung decken; und falls der Mensch wirklich so wertvoll werden sollte, was liegt dann näher, als wieder mehr Kinder zu haben, um deren Zukunft man sich ja keine Sorgen zu machen brauche. Es herrschte die Meinung vor, daß nach einiger Zeit alles wieder ins soziale und demographische Lot käme Die Konsumgüterindustrie hatte sich angestrengt und recht gut auf die veränderte Alters-struktur reagiert (statt Babynahrung nun Alten-kost).
Die Probleme zeigen sich erst, wenn bestimmte Produktionsvoraussetzungen ins Blickfeld rücken, die menschenabhängig sind. Es ist die Produktionsseite, nicht die Konsumseite, die uns Sorgen bereitet. Bevölkerungsrückgang wird zum Problem, wenn er langfristig angelegte gesellschaftliche Leistungen beeinträchtigt, wenn eine abnehmende Be15 völkerung dort zu Reaktionen zwingt, wo sie als Einflußfaktor gar nicht vorgesehen war. Man ging davon aus, daß die Rentenbezieher gegenüber den Beitragszahlem immer stark in der Minderzahl sein würden; daß das Verhältnis der Gesunden zu Kranken, von jung zu alt immer ein günstiges bleiben müsse. Wir wissen, daß dies keinesfalls so bleibt. Die Bundesrepublik wird dem Zwang zur industriellen Höchstleistung nicht entgehen; sie muß bestrebt bleiben, mit intelligenten Produktketten am Weltmarkt eingefädelt zu sein und den weltweiten Übergang von rohstoff-und arbeitskraftintensiven zu High-Tech-Produktionsformen mitzuvollziehen. Nach aller geschichtlicher Erfahrung macht ein fundamentaler Wandel der Produktionstechniken erwerbsfähige Menschen nur vorübergehend überflüssig. Das Verhältnis von Wirtschaft und Bevölkerung läuft auf die Frage hinaus, die der wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium schon 1980 in seinem Gutachten gestellt hat: Kann die Wirtschaft mit schrumpfender Erwerbs-bevölkerung weiter wachsen? Und es heißt dann als Antwort: „Die wichtigste Voraussetzung hierfür ist, daß die Rate des technischen Fortschritts die Schrumpfungsrate der Erwerbsbevölkerung übersteigt. Eine Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens und damit des Lebensstandards ist langfristig auch bei schrumpfender Bevölkerung möglich, solange überhaupt technischer Fortschritt realisiert wird.“
Welche Probleme entstehen, wenn der Bevölkerungsrückgang über eine Produktivitätssteigerung wettgemacht werden soll? Diskutiert werden folgende Konzepte: — die Verlängerung der Lebens-und/oder Wochenarbeitszeit; — die Steigerung der Erwerbsbeteiligung, insbesondere der Frauen, und schließlich — der technische Fortschritt, der reinvestierbare Gewinne und höhere Einkommen schafft und die staatlichen Leistungen auf Niveau hält.
Das Verhältnis von Erwerbsbevölkerung und technischem Fortschritt ist nicht unproblematisch: Die Zahl der Erwerbstätigen — wie oben erwähnt — beträgt seit 1960 konstant etwa 26 Millionen. Die Erwerbspersonen insgesamt werden bei leicht erhöhter Frauenerwerbstätigkeit und Immigration noch bis an die 30 Millionen zunehmen, um dann die allgemeine Bevölkerungstendenz nachzuvollziehen, und das heißt: Schrumpfung, weil nur noch geburtenschwache Jahrgänge ins Erwerbsleben einrücken, und Alterung des Erwerbspotentials ab 1993/95. *
Das Humankapital wird bei einem Bevölkerungsrückgang aus folgenden Gründen teurer: a) Quantität muß verstärkt durch Qualität ersetzt werden, was nur in funktionierenden niveauvollen Einrichtungen geschehen kann. b) Die Natur des technischen Fortschritts allein läßt den Bedarf an Qualifizierten ansteigen. Der Anstieg ist außerdem nötig, um Nachfragerückgänge im eigenen Land mit hochwertigen Exporten ausgleichen zu können. c) Nicht nur das zahlenmäßige Schrumpfen des Erwerbspotentials, auch seine inneren Altersverschiebungen sind zu beachten.
Eine Alterung des Erwerbspotentials kann sich als Technologiebremse erweisen, was sozial-und industriepolitisch verhindert werden muß. Schwach besetzte Jugendlichenjahrgänge erlauben keine bildungspolitischen Ausfälle mehr wie in den letzten 15 Jahren.
Die Entwicklung des technologischen Wandels gestattet es nicht mehr, den technischen Fortschritt allein über die nachwachsende Generation zu bewältigen und einzuführen. Das heißt, daß die Lern-Willigkeit oder -fähigkeit von 40-bis 60jährigen thematisiert werden muß. Das Schlagwort der „Akzeptanz“ neuer Technologien wird auf die „älteren“ Arbeitnehmer ausgedehnt werden müssen. Die Vorstellung, nur mit 18-bis 38jährigen innovativ arbeiten zu können, wird sich bald als Ideologie der Nachkriegszeit erweisen.
Das Humankapital und seine ständige qualitative Erneuerung wird unter verstärkten Problemdruck geraten. Die Schrumpfung des Erwerbspotentials erfordert ein dynamisches Bildungs-und Ausbildungskonzept, das nicht nur vom Staat und den bestehenden Bildungseinrichtungen allein getragen werden kann. Dazukommen müssen Umschulung, Weiterbildung und Förderung der Bereitschaft zur räumlichen Mobilität. Alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen müssen auf dieses Ziel ausgerichtet werden. Es ist durchaus möglich, daß im Falle wirtschaftlicher Einbrüche Altenlast (Renten-und Gesundheitswesen) und Jugendlast (als Bildungs-und Ausstattungsinvestitionen) zu harten Entscheidungen für das eine oder das andere führen können. 2. Einwanderung Die Einwanderung wird sich als Dauerthema in Politik und Öffentlichkeit etablieren. Die Hinweise zur Ausländerprognose deuten auf das derzeit diskutierte Themenfeld: einmal bezüglich der sozialen Integration, sodann hinsichtlich der Aufrechterhaltung von Arbeitskräftepotential und Produktivi tat Die soziale Integration hat eine gewisse Priorität, weil ihre bisherige Form in der Bundesrepublik den Industrie-und Wohlfahrtsstaat ermöglicht hat. Ein egalitärer, sozialer Rechtsstaat steht als Ergebnis einer wechselvollen, nationalpolitisch unglücklichen Geschichte da und scheint sie wettzumachen
Es besteht kein Zweifel, daß Einwanderung in erster Linie die außereuropäische meint und das soziokulturelle Gefüge und die Assimilationskraft auf eine harte Probe stellen wird. Selbst die Zuwanderung Volksdeutscher und Osteuropäer erzeugt Unruhe, wenn sozialpolitische Großzügigkeit plötzlich unter das Gesetz der Masse fällt und abgebaut werden muß. Doch dieser Zustrom hat begrenztes Reservoir und wird versiegen. Die Freizügigkeit im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft wird zuerst Kapitalverschiebungen und nicht so sehr eine Völkerwanderung auslösen. Bestünde dazu in den Herkunftsländern ein Anlaß, dann hätte sie bereits eingesetzt. Die benachbarten Industrienationen stehen vor ähnlichen Problemen und steuern in defizitäre Geburtentrends, wenn auch nicht mit der Schärfe der Bundesrepublik.
Es führt also kein Weg an einer Einwanderung vorbei. und es wird eine außereuropäische und fremd-kulturelle Einwanderung sein. Die Bundesrepublik hat hier zwei Optionen: 1. Das erste wäre ein Beibehalten der bisherigen unübersichtlichen Praxis, die versucht, die offenen Schleusen (Berlin. Asyl, Zwischenlandungen) mittels Zusatz und Nachtragsbestimmungen zu verengen. Einwanderung ist dann ein Schlüpfen durch Paragraphenlöcher (Jugendlichennachzug aus den ehemaligen Anwerbestaaten), durch Löcher an der grünen Grenze und Asylsuchende, die abgewiesen, aber nicht repatriiert werden.
2. Die andere Option wäre der Übergang zur offiziellen Einwanderung und großzügigen Einbürgerung. Sie würde im Sinne der Aufrechterhaltung des Arbeitskräftepotentials und der Produktivität wirken. Hier würde der Praxis der klassischen Einwanderungsländer gefolgt, die klare, wenn auch strenge Vorschriften erlassen. Die Deklaration zum Einwanderungsland, von der die Bundesrepublik eindeutig Abstand nimmt, beinhaltet eine qualitative Bevölkerungspolitik: Die Anzahl von Menschen ausgewählter Herkunftsregionen, außerdem ihr Alter, Qualifikation und Gesundheitszustand werden staatlicherseits festgelegt.
Die erstgenannte Option hat den Vorteil, ohne Grundrechtsänderungen auszukommen und die politische Debatte um einen heiklen Vorgang kleinzuhalten. Die Risiken sind, daß ein politisches Handlungsmuster sich nicht sichtbar an einem Problem-punkt zeigt und Bevölkerungsschichten irritiert werden, die von Einwanderung unmittelbar berührt werden. Ein „multistrategisches Weiterwursteln“ ergibt in puncto Einwanderung keine „multikulturelle Gesellschaft“, für die übrigens kaum befriedigende Vorbilder existieren.
Die zweite Option hat den Vorteil, Einwanderung nach ökonomischen Vorgaben vor sich gehen zu lassen. Die Wirtschaft dürfte ohnehin noch in den neunziger Jahren Einwanderung verlangen, wenn Produktionsengpässe und offene Stellen weiter zunehmen.
Die Nachteile liegen nicht so klar auf der Hand. Schon bei Abfassung der Angaben und Fragen in den betreffenden Formularen, geschweige denn der ethnisch-rassischen Quotierung der erwünschten (und wahldemokratisch konsensfähigen)
Einwanderungspopulation wird sich niemand vordrängen wollen. Spätestens hier wird sich zeigen, daß die Einwanderungsfrage weit davon entfernt ist.dem demokratischen Entscheidungsprozeß überantwortet zu werden. Denn dies setzt voraus, daß sie aus der Polarität zwischen Ausländer-feindlichkeit und moralgestützter Weltfremdheit herausgeholt und zum plebiszitären Abstimmungsgegenstand gemacht wird.
Qualifizierte Zuwanderer verändern die Sozialstruktur.
Selektive Immigration ist ein vielfacher „Seiteneinstieg“ ins Schichtgefüge. Sie wird die mit viel sozialpolitischer Energie gehobene einheimische untere Mittelschicht wieder hinabdrücken und das zementieren, was man inzwischen Zweidrittel-13 gesellschaft nennt. Eine soziale und ökonomische Polarisierung in den Gemeinden, wie sie in der Bundesrepublik nach internationalem Vergleich weitgehend beseitigt ist, würde wieder aufbrechen; das zeigen jedenfalls die Erfahrungen der USA.
Häufig will man über Einwanderung das Geburten-niveau heben, d. h. Jugend „importieren“. Diese Absicht zeigt nur während der ersten Generation eine Wirkung. Es ist erstaunlich, wie sich sogar türkische Familien in der zweiten Generation dem „generativen Verhalten“ der Deutschen annähem. Außerdem sinken in allen Entwicklungsländern mehr oder weniger stark die Geburten. Bis Mitte des kommenden Jahrhunderts erwarten die demographischen Abteilungen der Vereinten Nationen den Nachvollzug der industriellen Bevölkerungsstruktur auch in den Entwicklungsregionen. In den asiatischen Ländern ist er schon weit gediehen und zeigt ähnliche Symptome des Alterungsprozesses wie in Europa. Wer also die Dritte Welt als unerschöpfliche industrielle Reservearmee für das geburten-schwache Europa hält, muß sich auf Enttäuschungen gefaßt machen. Es handelt sich hier um eine besondere Form von „Ausländerfreundlichkeit“, die nicht recht an die Entwicklung der Dritten Welt glauben will. 3. Bevölkerungspolitik Bei der Bevölkerungspolitik geht es um das Verhältnis von Nachwuchs und Staat. In Frankreich ist es unproblematisch; dort erwartet man vom Staat, für Generationenersatz und eine ausgeglichene Bevölkerungspyramide zu sorgen; die enormen Mittel, die der französische Staat hierfür aufwenden muß, sind bekannt
Abgesehen von den Belastungen, die dem Begriff Bevölkerungspolitik noch aus der NS-Vergangenheit anhaften, türmt er in der Bundesrepublik „politologische“ Schwierigkeiten auf. Ein-und Auswanderungsbestimmungen sind immer ein Stück Bevölkerungspolitik und als staatliches Handlungsfeld ziemlich unstrittig. Außer Diskussion stehen Maßnahmen, die nicht auf Veränderung der Bevölkerungsstruktur zielen, sondern nur als Begleiterscheinung die demographische Struktur berühren: bevölkerungsrelevante oder -bezogene Maßnahmen. Mütterpaß und Schwangerenvorsorge haben die Säuglingssterblichkeit reduziert; dies tun nicht minder Kindergeld, Wohngeld und alle familien-und kindbezogenen Leistungen des Staates. Ein großzügiges Gesundheitswesen erhöht die Lebenserwartung usw.
Bevölkerungsrückgang (gleichbedeutend mit Alterung) erfordert laufend Anpassungsleistungen: zuerst selbststeuemde in einem Marktsystem, sodann staatliche Subventionen für demographisch bedingte Kostenberge (etwa in Form der Bundeszuschüsse). Sobald sich die Anpassungen „im Rahmen des Bestehenden“ erschöpft haben, muß in den Bevölkerungsvorgang selbst eingegriffen werden. Dabei scheint das Einfachste, dem Einwanderungsdruck von außen sanft nachzugeben und ihn bis zur „Murrgrenze“ des Volkes gestatten. Doch auch dieser Anpassungsstufe scheinen Grenzen gesetzt, wenn man sich das Ausmaß an Einwanderung vor Augen hält, das nötig wäre, das Geburtendefizit zu stoppen. Bis zur kleinen Geburtenwelle ab 1986 hätte es jährlich einer de-facto-Zuwanderung von 150 000 Menschen bedurft. Diese Zahl müßte stetig steigen, sobald geburtenschwache Jahrgänge zur „elternschwachen" bzw. „mütterschwachen“ Nachwuchsbasis werden und den Bevölkerungsrückgang beschleunigen — selbst wenn sich die Geborenen-zahlen erhöhen sollten. Nur eine Einwanderung von einer halben Million Menschen jährlich könnte die deutsche Geborenenlücke füllen -
Die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung zu „generativem Verhalten“ und „ehelicher Fruchtbarkeit“ ermutigen nicht zu unmittelbarer politischer Umsetzung — im Gegenteil: Je mehr Forschung in diesen Komplex eingedrungen ist, je mehr sie die Vielschichtigkeit und Situationsgebundenheit des „Niedrig-Fruchtbarkeitssyndroms“ aufdeckte, um so weniger war sie imstande, der Politik klare Handlungsrichtungen aufzuzeigen. Auch sind die modernen Geburtenrückgangsgründe ungeklärt. Sie sind so eng mit der industriellen Revolution und ihren Auswirkungen verknüpft, daß jeder Versuch, die Geburten anzuheben, unter dem reaktionären Tatverdacht steht, die Industriegesellschaft partiell rückgängig machen zu wollen.
Inzwischen mußte die Bevölkerungswissenschaft durch die neuen Lebensstile und ego-bestimmten Kosten-Nutzen-Kalküle durchfinden. Hier wirken keine „Faktoren“, sondern kulturökologische Zusammenhänge: Placierungsnöte des männlichen Geschlechts treffen immer häufiger auf eigenständige weibliche Lebenszusammenhänge und erzeugen jene Mischung aus Hedonismus und Bindungsangst. Jetzt braucht nur noch die „strukturelle Rücksichtslosigkeit“ der Hochtechnologiegesellschaft gegenüber der Familie hinzuzukommen, wie sie der Bielefelder Soziologe Franz-Xaver Kaufmann jüngst genannt hat, und die „Bleigewichte" am Generationenersatz sind in groben Zügen charakterisiert
Neben der Frage der Wirksamkeit von Maßnahmen trat bald die der Rechtmäßigkeit eines staatlichen Eingriffs in eine „Privatsphäre“. Die Anregung des Kinderwunsches mit pädagogischen und finanziellen Mitteln bedarf der demokratischen Legitimierung. Sie bringt eine Konzeptänderung mit sich: Es ist nicht Aufgabe des Staates, Kinderwünsche anzuregen, sondern jene Barrieren zu beseitigen, die dem Nachwuchs entgegenstehen. Versäumnisse der Politik können so am besten thematisiert und repariert werden: Fehlende Kinderbetreuungseinrichtungen, mangelnde Vereinbarkeit von Mutterrolle und Beruf, zu geringe Stützung des zweiten und dritten Kindes sind nur Stichworte für eine längerfristige Strategie Sie kann an der negativen Bevölkerungsbilanz nur etwas ändern, wenn sie eine maßvolle Erhöhung der Geburten mit einer wohldosierten Einwanderung kombiniert. Auf 100 Ehen kommen derzeit 130 Kinder, und das sind um 90 Geburten zu wenig, um die Elterngeneration zu ersetzen. Es müßte mit einer bestimmten Maßnahmenkonstellation gelingen, die Kinderzahl anzuheben.
Ein Zielmodell könnte von 16 Prozent Kinderlosen und sechs Prozent „Kinderreichen“, das sind Familien mit vier Kindern, ausgehen; je 29 Prozent hätten ein oder zwei Kinder, und 20 Prozent müßten sich für ein drittes Kind entscheiden. Das heißt, daß für ein begrenztes und als erreichbar definiertes Zielmodell von 171 Kindern auf 100 Ehen die freiwillige Kinderlosigkeit deutlich zurückgehen und die Bereitschaft, ein drittes Kind großzuziehen, steigen müßte. Um dies zu bewirken, werden Staat und Gemeinden die Nachwuchsentscheidungen junger Paare auf eine solidere Grundlage stellen müssen, denn eine in Grenzen mögliche Anhebung des Geburtenniveaus böte eine kombinierbare Teil-alternative zu massiver Einwanderung.
So langsam und zäh die Bevölkerungsbewegung erscheint, so wenig darf man zu ihrer politischen Beeinflussung Zeit verstreichen lassen. Was in 20 Jahren gewollt oder verhindert werden soll, muß bereits jetzt in Angriff genommen werden. Der bürokratische Wohlfahrtsstaat, auf den wir nicht mehr verzichten wollen, hat zumindest an einer Stelle etwas angerichtet: Er hat das Bewußtsein vom notwendigen Ineinandergreifen der Generationen zu ihrer Existenzsicherung beseitigt. Der Faden muß nun über den Einbau von Familienkomponenten in die sozialen Sicherungssysteme neu geknüpft werden. Die Sicherung ausreichenden Nachwuchses, der zwar „privat“ hervorgebracht, im Augenblick seines Daseins aber zum „öffentlichen Gut“ wird, muß als ordnungspolitische Aufgabe erkannt und angegangen werden.
Josef Schmid, Dr. phil., Dr. rer. pol. habil., geb. 1937: Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft der Universität Bamberg; Studium der Nationalökonomie (Diplom-Volkswirt), der Soziologie und Philosophie. Veröffentlichungen u. a.: Einführung in die Bevölkerungssoziologie, Reinbek 1976; Bevölkerung und soziale Entwicklung, Boppard 1984; Bevölkerungsveränderungen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Revolution auf leisen Sohlen, Stuttgart 1984; zahlreiche Publikationen zur Bevölkerungswissenschaft und zur demographischen Situation der Industrienationen und der Dritten Welt.
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