I. Die Justizkonzeption des Grundgesetzes
Die freiheitlich demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz konstituiert, läßt sich als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluß jeglicher Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt Was den Richter angeht, so hat man nicht zu Unrecht gesagt, daß dieser des Grundgesetzes liebstes Kind sei. In der Tat hat sich das Grundgesetz der Rechtsprechung besonders intensiv und verständnisvoll angenommen und den Richter unter den Organen des Staates so herausgehoben, wie das nie zuvor in der deutschen Verfassungsgeschichte der Fall gewesen ist. Die Gründe dafür werden einsichtig, wenn man sich die Entstehungssituation des Grundgesetzes vergegenwärtigt.
Als das Grundgesetz geschaffen wurde, war das Bewußtsein dafür lebendig, welche Rechtsnot in der NS-Diktatur und vielfach auch noch in den ersten Jahren nach 1945 geherrscht hatte. Das NS-Regime hatte die Menschenrechte mit Füßen getreten. die Führerwillkür zum Recht erklärt, das Unrecht zum System gemacht. Das Beschämendste daran war vielleicht, daß es Juristen gab, die diesen Niedergang des Rechts noch bejubelten (z. B. als „völkische Rechtserneuerung"), und damit bewiesen, wie tief ein Kulturvolk sinken kann, wie dünn das Eis ist, das wir Zivilisation und Rechtskultur nennen.
Aus dem Erleben der Unrechtsherrschaft erwuchs bei den Frauen und Männern, die das Grundgesetz schufen, der Wille, die Bundesrepublik zu einem Staat des Rechts zu machen, wie er nicht nur in der deutschen Geschichte ohne Beispiel war. Sie wollten die neue Ordnung als bewußten Gegenpol dessen gestalten, was man damals Gewaltherrschaft nannte und auch heute so nennen sollte. In jenen Jahren gab es kein Wort, das so oft gebraucht wurde wie das Wort Recht. Es bestand ein elementares Bedürfnis, wieder in einer Ordnung des Rechts zu leben. Gustav Radbruch schrieb damals: „Demokratie ist ein preisenswertes Gut, Rechtsstaat aber ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sichern.“ Und ein anderer bedeutender Rechtsdenker jener Tage. Adolf Arndt, sprach in bezug auf die Rechtsnot des Volkes unter Hitler davon, daß Rechtlosigkeit unbehauster mache als das Niederbrennen unserer Gebäude. hungriger als der Mangel an Brot, durstiger als ein Entbehren von Wasser
Die Wiederherstellung der vom NS-Regime beseitigten richterlichen Unabhängigkeit war nach 1945 beim Wiederaufbau der Rechtspflege eine rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes gingen indessen in ihrer Justizkonzeption weit über das hinaus, was vorher in den Verfassungen deutscher Staaten Regelungsinhalt gewesen war. Schon der Verfassungskonvent in Herrenchiemsee hatte Einigkeit darüber erzielt, daß der Rechtspflege in der Verfassungsurkunde ein eigener Abschnitt gewidmet werden sollte Im Verlauf der weiteren Beratungen erhielt der IX. Abschnitt des Grundgesetzes dann jenen umfassenden Inhalt, durch den sich die verfassungsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik auch in dieser Beziehung von den früheren Staatsordnungen auf deutschem Boden abhebt. So wurde nicht nur, an Montesquieus Esprit des Lois (XI,4,6) anknüpfend, zwischen verschiedenen Funktionen der einheitlichen Staatsgewalt unterschieden und deren getrennte Ausübung durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung vorgesehen (Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Art. 1 Abs. 3 GG), wie es klassischem liberalen Verfassungsdenken entsprach. Die rechtsprechende Gewalt wurde vielmehr mit einer zuvor nicht erreichten Deutlichkeit von der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt getrennt und — über Montesquieu, der ständige Gerichte ablehnte und die richterliche Gewalt als „en quelque facon nulle“ betrachtete, hinausgehend — als eine besondere Erscheinungsform der einheitlichen Staatsgewalt zu einer echten, die anderen Staatsorgane hemmenden und kontrollierenden Macht ausgestaltet
Die Rechtswegklausel des Art. 19 Abs. 4 GG mit der Gewährleistung lückenlosen Rechtsschutzes gegenüber Maßnahmen der öffentlichen Gewalt, die damit verbundene Beendigung des Schwebezustandes der Verwaltungsgerichtsbarkeit zwischen Justiz und Verwaltung und die Etablierung einer ausgedehnten Verfassungsgerichtsbarkeit ergänzten diese verfassungsstrukturelle Tendenz, die man als verfassungspolitische Grundentscheidung für den Richter bezeichnen kann. Auch in der sprachlichen Fassung des Art. 92. wonach die rechtsprechende Gewalt den Richtern anvertraut ist. kommt diese Aufwertung zum Ausdruck; kein anderer den Staatsfunktionen gewidmeter Abschnitt des Grundgesetzes ist, wie Stern zutreffend hervorgehoben hat, mit einer so inhaltsschweren Aussage eingeleitet worden.
Die Rechtsprechung sollte nicht mehr im Schatten von Legislative und Exekutive stehen, sondern beide Gewalten im System der freiheitsverbürgenden checks and balances kontrollieren. Auf diese Weise entstand eine Verfassungslage, in welcher der Richter in jedem Falle das letzte Wort hat und das Prinzip der Gewaltenteilung zu einer besonderen Art der justizförmigen Kontrolle überhöht wurde.
Man hat oft versucht, die in dieser Weise getroffene Verfassungsentscheidung für die rechtsprechende Gewalt herunterzuspielen. Schon Werner Weber sah in ihr einen „gefährlichen Anachronismus“ andere einen romantischen Rückgriff auf die Ideen-welt des 19. Jahrhunderts Kritiker aller Schattierungen sind seither nicht müde geworden, von einer verfassungspolitischen Fehlorientierung zu sprechen, die die Justiz überfordert oder doch „am Rande dessen liegt, was Gerichte von ihren Voraussetzungen. Methoden und ihrer Durchsetzungskraft her überhaupt leisten können“ Demgegenüber muß mit Entschiedenheit betont werden, daß die Hervorhebung der rechtsprechenden Gewalt im Grundgesetz nichts weniger als ein Zufalls-treffer ist. sondern eine bewußte Willensentscheidüng der Verfassungsväter war. Nicht allein aus historischen Gründen — so wenig diese unterschätzt werden sollen — wurde die Ausdehnung der richterlichen Befugnisse vorgenommen, sondern auch und vor allem aus gesellschaftspolitischen Motiven.
Ausgangspunkt war die Erkenntnis, daß sich die Staatstätigkeit in allen Industriestaaten in einem früher unvorstellbaren Maß ausgedehnt hatte Staatsintervention, Bürokratisierung, Mechanisierung und die dadurch bewirkten Abhängigkeiten waren die erkennbaren Trends, denen man sich nicht willenlos fügen wollte. Je mehr die Macht der Apparate wuchs, um so notwendiger erschien es, die Freiheit des Bürgers mit den Mitteln des Rechts zu stärken. Jedes Gesetz ist aber zunächst nur ein Stück Papier. Um Recht zu gewährleisten, ein Gesetz effektiv zu machen, bedarf es des Rechtsschutzes, der Rechtspflege und damit des Richters.
Aus diesem Ansatz her erklärt sich die das herkömmliche deutsche Verfassungsdenken transzendierende Aktivierung des Rechtsstaatsprinzips. Um der Freiheit des Bürgers willen sollte die Macht von Legislative und Exekutive beschränkt werden. Die klassische Lösung der Gewaltenteilung erschien jedoch nicht mehr als zureichend, um den modernen Leviathan zu zähmen. Der altliberale, bürgerliche Rechtsstaat war ein „Gesetzesstaat“ gewesen, der sich damit begnügt hatte, für das Handeln der als frei vorgestellten Individuen den Rahmen zu sehen. Auf dem realen Hintergrund der bürgerlichen Gesellschaft jener Zeit glaubte man damals, Staat und Gesellschaft als getrennte Sphären definieren und zur Bändigung der Staatsmacht auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit vertrauen zu können. Seitdem sich der Staat im Interesse des menschenwürdigen Lebens aller, also aus Gründen sozialer Gerechtigkeit, genötigt sieht (manchmal auch nur genötigt glaubt), in die Sozialordnung einzugreifen, hat sich die Lage indessen grundlegend gewandelt Das Gesetzmäßigkeitsprinzip allein bietet keinen ausreichenden Schutz vor staatlicher Allmacht mehr; es muß vielmehr Vorsorge getroffen werden, daß die ganze Macht des Staates von dem Gedanken des Rechts getragen wird. Aus diesem Grunde wurde der Staat des Grundgesetzes nicht bloß, wie es altliberaler Tradition entsprochen hätte, als „Gesetzgebungsstaat“, sondern ebenso sehr auch als „Rechtsprechungsstaat“ konzipiert. Der recht-sprechenden Gewalt wurde die Rolle des Garanten oder Hüters des Rechtsstaates zugewiesen, der auch über die Gewaltenteilung selbst wacht.
Eine starke Portion Mißtrauen kam hinzu, die man angesichts der geschichtlichen Erfahrungen nicht ohne Grund der Demokratie entgegenbrachte (und von der das Grundgesetz an vielen Stellen Zeugnis ablegt). Schließlich war Hitler auf formal demokratischem Wege und unter Zustimmung jubelnder Menschenmassen an die Macht gekommen. Die Gerichtsbarkeit erschien gegenüber demokratischen Tendenzen als mäßigendes Element geeignet. Gegengewichte gegen die unberechenbare Volksherrschaft zu bilden.
Von dieser verfassungspolitischen Zielsetzung also profitierte die Justiz. Man kann allerdings nicht sagen. daß die Verfassungsväter und -mütter von einem unbekümmerten Optimismus geleitet wurden, was die reale Beschaffenheit der Justiz angeht. Die deutsche Justiz war entstanden in einer Zeit, in der sich der Staat im wesentlichen auf die Setzung der Rechtsnormen und die Überwachung ihrer Einhaltung beschränkte. Dafür ausgebildet, stand sie den Wandlungen, die das Verhältnis von Gesellschaft und Staat seither erfahren hatte, mehr oder weniger hilflos gegenüber. Die Bürokratisierung der Rechtspflege sowie die Mittelmäßigkeit ihres Personals waren seit Anfang des Jahrhunderts oft beklagt worden Im Bismarck-Reich wie in der Weimarer Republik war der Richter seinem Zuschnitt nach trotz der Trennung der Gewalten stets ein „kleiner Justizbeamter“ geblieben. Nun sah man einen wesentlichen Grund für das Versagen derJustiz in der Zeit des NS-Regimes in der system-bedingten Subalternität des deutschen Richters, dessen Mangel an persönlichem, politischem und geistigem Format es den NS-Machthabem ermögÜcht hatte, ihn zu einem willfährigen Befehlsempfänger zu machen und seine Tugenden wie Arbeitseifer, Korrektheit und Unbestechlichkeit in den Dienst verbrecherischer Zwecke zu stellen Deshalb wurde ein neuer Richtertyp angestrebt, der unter Herauslösung aus der Beamtenschaft eine Auslese im Hinblick auf fachliche Tüchtigkeit, menschliche Haltung und politisches Verantwortungsbewußtsein darstellen sollte.
Die Belastung der Justiz durch ihre Mitwirkung an den Verbrechen der NS-Zeit wurde durchaus empfunden, auch ihre in der Weimarer Republik zutage getretene Neigung, sich als Staat im Staate zu fühlen, losgelöst von der Verantwortung gegenüber dem Volk als demokratischem Souverän. Man erkannte auch, daß die Bindung an das Gesetz nicht ausreichen konnte, um die Gefahr der Richterwillkür zu bannen, da die Richter selbst es ja sind, die bestimmen, wieweit diese Bindung ihr Ermessen einengt. Wenn die Richter aber den Rechtsstaat kontrollieren, wer kontrolliert dann die Richter? Die Antwort, die von den Verfassungsvätern auf diese Frage gefunden wurde, lief auf eine politische Einflußnahme bei der Bestellung wie bei der Abberufung der Richter hinaus.
Einmal wurde die Bestellung der Richter am Bundesverfassungsgericht und an den obersten Bundes-gerichten nicht wieder — wie es dem Herkommen entsprochen hätte — in die Hände der Exekutive gelegt, aber auch nicht in die der Richter selbst, wie es von vielen Richtern gewünscht wurde. Eine sich selbst ergänzende Richterkaste, die sich von der Gesellschaft, über die sie richtet, abhebt, wollte man nicht. Statt dessen wurden zum Zweck der Richterwahl Ausschüsse eingerichtet, die maßgeblich von den politischen Parteien besetzt wurden und auch weiterhin werden.
Zum anderen wurde — in Anlehnung an das impeachment in den Vereinigten Staaten — die Möglichkeit geschaffen, die Richter, die gegen die tragenden Grundsätze der Verfassung verstießen, im Wege der Richteranklage ihrer Ämter zu entheben. Auf diese Weise sollte jener Permissivität gegenüber der Demokratie entgegengewirkt werden, die der Justiz der Weimarer Republik eigen gewesen war. Der Richter des neuen Staates sollte diesem nicht mehr „wertneutral“ gegenüberstehen, sondern von den Werten der Verfassung durchdrungen sein.
Ergänzt wurde dieses Verfassungsprogramm durch die justizpolitischen Forderungen nach einer Reform der Justiz und der Ausbildung der Juristen. Die neue Organisation der Justiz sollte die Justiz näher an das Volk heranbringen, die neue Ausbildung dafür sorgen, daß Richter wirklichkeitsnah urteilen und nicht bloß juristische Spezialisten sind. Zugleich sollten sie zu charaktervollen Persönlichkeiten erzogen werden, die selbständig denken und urteilen und gegenüber Rattenfängern wie Hitler immunisiert sind.
II. Schwierigkeiten bei der Verwirklichung der Justizkonzeption
Man kann diesem Programm Größe nicht absprechen. Untersucht man. warum es in wesentlichen Punkten nicht Wirklichkeit geworden ist. so kann der Widerspruch nicht übersehen werden, der sich daraus ergibt, daß die Verfassungsväter einerseits für den Richter eine Auslese anstrebten, andererseits aber durch die Garantie des perfektionistisehen Rechtsschutzes die Zahl der Richter auf heute nahezu 18 000 erhöhten. Die Quantität ist allemal der natürliche Feind der Qualität. Bedeutsamer noch als diese Widersprüchlichkeit war indessen. daß es an der realen sozialen Grundlage fehlte, auf der dieses Programm hätte aufbauen können.
Denn die Justizkonzeption des Grundgesetzes mußte mit ganz anderen Richtern und Staatsanwälten verwirklicht werden, als sie erforderlich gewesen wären, um den großen Plan zu verwirklichen. Nur eine kleine Zahl von Juristen blieb im Entnazifizierungsnetz hängen. Spätestens auf Grund des Gesetzes zu Art. 131 Grundgesetz — oft schon früher — kehrten nahezu alle Richter und Staatsanwälte in die Justiz zurück, die bis 1945 im Justiz-dienst gestanden hatten. Infolgedessen war die Justiz mit solchen Juristen ausgestattet, die ihre berufliche Sozialisation in der Weimarer Republik und unter dem NS-Regime erfahren hatten. Wenn daraus auch nicht der Schluß zu ziehen ist, daß diese Juristen weiter Nazis gewesen wären, so war es doch unrealistisch, anzunehmen, daß diese Generation imstande gewesen sein könnte, das neue, demokratische Richtertum zu bilden, das die Justiz-konzeption des Grundgesetzes im Auge hatte.
Personelle Kontinuität führte auch zur Beibehaltung der überkommenen Strukturen in der Organisation der Justiz und in der Juristenausbildung. Seit Jahrzehnten war erkannt, daß die Subaltemisierung des Richtertums damit zu tun hatte, daß man die Richter nicht aus dem Anwaltsberuf oder anderen juristischen Berufen auswählte, sondern die frisch-gebackenen Absolventen der juristischen Ausbildung zu Richtern machte. Dieses Rekrutierungssystem beruhte auf einer Überschätzung des Schulwissens gegenüber der Alltagserfahrung, die in Wahrheit der Lebensnerv des Rechts ist. Für den künftigen Richter aber gibt es nichts Wichtigeres, als daß er eben nicht dauernd und von Anfang an hinter dem Richtertisch gesessen und vom Podium auf die Rechtsuchenden herabgeblickt hat. Dennoch hatte man nicht den Mut zur Änderung. Es blieb bei den alten Schläuchen, und man konnte nur hoffen, daß es wenigstens ein neuer Wein war.der in die alten Schläuche gegossen wurde.
Auch daran haperte es aber. Obwohl hier kein Pauschalurteil abgegeben und keineswegs die Leistungen einzelner geschmälert werden sollen, ist die Feststellung nicht zu umgehen, daß — aufs Ganze gesehen — den überkommenen Strukturen auch die Mentalitäten entsprachen. Wie die Juristenfakultäten, so verstand auch der Bundesgerichtshof seine Arbeit nicht als Neuansatz, sondern als Funktionsnachfolge nach dem Vorbild des Reichsgerichts, dessen Verstrickung in die NS-Verbrechen erst allmählich bekannt wurde. Die Wiederkehrdes Naturrechts — eine an sich verständliche Reaktion auf das NS-System, das elementare Rechtsgrund-sätze mit Füßen getreten hatte — blieb auch beim Bundesgerichtshof Episode Sie hatte freilich das oberste Gericht der Bundesrepublik durch einige familien-und strafrechtliche Entscheidungen. die den Geist christlich-patriarchalischer Soziallehre atmeten, in den Verdacht einer Rückständigkeit gegenüber der Moderne gebracht, die selbst in dieser Restaurationsepoche auffallen mußte
Die Justizkultur in dieser ersten Nachkriegsphase erwies sich damit als getreues Spiegelbild der politischen Kultur der Gesamtgesellschaft. Diese war weder charakterisiert durch scharfe ideologische Gegensätze noch durch eine wertbewußte, auf Emanzipation und Selbstbestimmung gerichtete, also inhaltlich verstandene Demokratie Kennzeichnend für sie waren vielmehr Tendenzen der Formalisierung und Entpolitisierung. Es war — das darf gerade auch in bezug auf die Justiz hervorgehoben werden — die Epoche der Bürokratie.
Wenn dennoch auch in dieser durch weitgehende Dominanz der alten Orientierungsmuster und ein unhistorisches, formales Demokratieverständnis gekennzeichneten Phase über erfreuliche Entwicklungen zu berichten ist, so ist dies hauptsächlich dem Bundesverfassungsgericht zu verdanken, dessen Einrichtung sich als ein Gewinn für die deutsche Demokratie erwies. Hier war ein Gericht geschaffen worden, für das es in der deutschen Rechtsgeschichte kein Vorbild gab und das deshalb auch an keine Tradition anknüpfen konnte. Das Bundesverfassungsgericht entdeckte Schritt für Schritt die Bedeutung des Grundrechtskatalogs in der Verfassung, der seinem Inhalt nach kodifiziertes weltliches Naturrecht ist. aber keine bloße Philosophie bleiben, sondern unmittelbare Geltung im Rechts-alltag erhalten sollte. Es ist das Verdienst dieses Gerichts den Funda-mentalaussagen des Grundgesetzes über die staatliche Ordnung der Bundesrepublik praktische Bedeutung im Alltag verliehen und zu einem effektiven und dynamischen Prinzip des Rechts gemacht zu haben, das die Richter aller Gerichte zu beachten und in Aktion umzusetzen haben.
Außerordentlich schwer fiel der Justiz auch die Verfolgung der NS-Verbrechen. in denen sich die Erblast der Vergangenheit unübersehbar präsentierte. Versäumnisse der Justiz und der Politiker gingen hier Hand in Hand. In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes wurden Nazis zwar wegen der Verbrechen, die sie 1933 und dann vor allem in der letzten Kriegsphase begangen hatten, zur Rechenschaft gezogen. Die Abneigung. sich mit der NS-Vergangenheit insgesamt zu beschäftigen, führte dazu, daß jahrelang nichts getan wurde, um die Naziverbrechen aufzuklären, die gegen die Juden, Polen und andere „Fremdvölkische“ begangen worden waren. Die Justiz reagierte nur auf Anzeigen und unterließ es, selbst nachzuforschen, obwohl seit 1950 die ihr von den Alliierten in bezug auf die Verfolgung von Naziverbrechen auferlegten Beschränkungen entfallen waren Die Rücksicht auf Wählerstimmen beeinflußte auch das Verhalten solcher Politiker, die an sich über den Verdacht erhaben waren, die Bestialität der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen beschönigen zu wollen. So wurde lange Zeit nicht deutlich genug ausgesprochen, worum es ging.
Ebenso wurde es versäumt, den Staatsanwälten und Richtern die rechtlichen Instrumente in die Hand zu geben, die es ihnen ermöglicht hätten, die Prozesse in angemessener Zeit durchzuführen und zu beenden.
Andererseits kann festgestellt werden, daß in den durch das geltende Recht und durch das Fehlen besserer Regelungen gezogenen Grenzen zumindest seit Ende der fünfziger/Anfang der sechziger Jahre die Richter und Staatsanwälte in der Bundesrepublik mit Sorgfalt und Fleiß gearbeitet und Schwierigkeiten — wiez. B.den mit dem zeitlichen Abstand vom Verbrechen schwindenden Wert des Zeugenbeweises — überwunden haben. Unter juristischem Aspekt verdient ihre Arbeit oft hohe Anerkennung. Als ich 1982 in Jerusalem einen Vortrag über dieses Thema hielt, brachte kein Geringerer als der israelische Oberrichter Gabriel Bach, der als Generalstaatsanwalt lange Zeit mit der Verfolgungspraxis der Bundesrepublik befaßt war und sie genau kennt, dies unumwunden zum Ausdruck. Ein Lob aus solchem Munde wiegt viel. Freilich ist in der Weltöffentlichkeit der juristische Gesichtspunkt gerade hier nicht ausreichend, wo es um Politik und Moral ging und die sittliche Grundlage eines Staates auf dem Spiel stand, der jede auch nur gedankliche Kontinuität mit jenem Staat vermeiden mußte, der Konzentrationslager eingerichtet und Millionen willkürlich definierter Minderheiten ermordet hatte.
III. Zuwachs an demokratischer Wertorientierung
Mitte der sechziger Jahre ging für die Bundesrepublik die Nachkriegszeit zu Ende, d. h. die Rekonstruktionsperiode. An ihrem Ausgang präsentierte sich die politische Ordnung der Bundesrepublik als überraschend stabil. Die Gesellschaft befand sich in einem nie zuvor erreichten Wohlstand. Eine allmähliche Verbürgerlichung der westdeutschen Kultur schien stattzufinden, auch eine gewisse „Amerikanisierung“. die mit der Bereitschaft zu Pragmatismus einherging.
Wer genauer hinsah, vermochte allerdings die Vorboten jener Unruhe nicht zu übersehen, die — wiederum von den USA ausgehend — vom Ende der sechziger Jahre an dem Geschehen ihren Stempel aufdrückte. Die Ideenstille der Adenauer-Ära wurde beklagt, die Bereitschaft zum Konflikt gefordert, die breitestmögliche Öffnung der Universitä-ten für alle Schichten sowie die Demokratisierung der Herrschaftsstrukturen betrieben. Für die Justiz bedeutete dieser Paradigmenwechsel eine Herausforderung, durch die sie — wie die gesamte politische Kultur der Bundesrepublik — einen Zuwachs an demokratischen Werthaltungen erfahren hat.
Die wohl einschneidendste Veränderung vollzog sich im Strafrecht. Hier hat die Justiz die damals postulierte Abkehr vom Vergeltungsstrafrecht und die Hinwendung zu den Gedanken von Prävention und (Re-) Sozialisierung bewußt mitvollzogen. Im Ergebnis ablehnend verhielt sich dagegen die Justiz zu den Plänen einer Neustrukturierung und Demokratisierung der Justiz, obwohl diese an die Justiz-reformpläne schon vor 1914 und in der Weimarer Republik anknüpften, auf die Verfassung zurückgriffen und das erklärte Ziel hatten, die Justizkonzeption des Grundgesetzes zu verwirklichen Viele Richter konnten sich die „Emanzipation der rechtsprechenden Gewalt“ nicht anders als auf stän-discher Grundlage, in Form der kooperativen Autonomie der Justiz, vorstellen; andere wollten auf den bürokratischen Zuschnitt und die Rangordnung in der Justiz nicht verzichten. Den Reformern wurde Nivellierung oder gar „Gleichschaltung“ vorgeworfen; das Reformleitbild, so hieß es, sei nicht der aus hierarchischen Zwängen befreite Richter, sondern der politische Kommissar die Einführung von Richterwahlausschüssen auch in den Ländern und die Stärkung der mit Einzelrichtern besetzten Amtsgerichte hätten zum Ziel, der Parteipolitik den Zugriff auf die Rechtsprechung zu ermöglichen.
Die Ablehnung der Justizreform bedeutete indessen nicht, daß sich die Justiz dem Geist des Zeitalters der Gleichheit auf Dauer verschließen wollte. Es wurde erkannt, daß die Reform der Justiz so lange eine hohle Phrase bleibt, als sie nicht jedermann die reale Chance gibt, sein Recht vor Gericht durchzusetzen. Die Richter erkannten ebenso an, daß der Bürger nicht bloßes Objekt des Gerichts-verfahrens sein dürfe. Die Gerichte begegnen dem Bürger nicht mehr von oben herab, sondern einfach und menschlich — unter Verzicht auf den militärischen Kommandoton und obrigkeitliche Attitüde. Man kann von einer „Humanisierung“ des Gerichtsverfahrens sprechen, die auch kompensatorische Hilfen für ungewandte Bürger einschließt Wie die Reformfähigkeit der Justiz überhaupt, so wurde allerdings auch die Vermenschlichung des Gerichtsverfahrens durch das Phänomen des politischen Terrorismus auf eine harte Probe gestellt. Im großen und ganzen kann man jedoch feststellen, daß die Justiz diese Probe ohne ins Gewicht fallende Einbußen an Liberalität und Menschlichkeit überstanden hat, so schwer es ihr die Terroristen mit ihrem herausfordernden, oft skandalösen Verhalten auch machten. Da auch die Gesetzgebungsorgane sich bewußt wurden, daß die Freiheit zentimeterweise stirbt, ist es in der Bundesrepublik gelungen, größere Einbrüche in die Rechtsstaatlichkeit zu vermeiden und dem Terrorismus mit den Mitteln eines liberalen Strafrechts wirksam zu begegnen.
Für die tatsächliche Aneignung demokratischer Orientierungen in dieser Phase spricht auch der Wandel in der Einstellung zur Politik, der bei der heutigen Justiz festzustellen ist. Der in der Vergangenheit so tief geträumte Traum des angeblich unpolitischen Richters ist ausgeträumt. Die meisten Richter erkennen mehr und mehr an, daß sie zwar keine Parteipolitik betreiben dürfen, aber im Rahmen des Rechts Interpretations-und Gestaltungsräume haben, die sie verantwortlich im gesamtgesellschaftlichen Interesse („Gemeinwohl“) ausfül. len müssen. Wenn es die Aufgabe des Richters in dieser Zeit ist, sich nach dem Zusammenbruch der klassischen juristischen Methodenlehren ein neues Selbstverständnis zu erarbeiten, so sind die Richter der Bundesrepublik auf diesem Wege bemerkenswert vorangekommen.
Damit ist allerdings nicht gesagt, daß die Justiz — ein weitgehend bürokratisiertes Gebilde — nun von Kopf bis Fuß innovativ geworden wäre. Die Zurückhaltung gegenüber Neuerungen ist grundsätzlich bestehen geblieben. Die meisten Richter verhalten sich pragmatisch; Reformplänen treten sie mit einer Fülle meist ablehnender Argumente gegenüber. Ist eine Reform vom Gesetzgeber durchgeführt, finden sie sich jedoch mit dieser ab und führen sie loyal durch.
Bemerkenswert ist vor allem die Tatsache, daß die Justiz von heute kein Monolith mehr ist. Unterschiede in der Rechtsprechung — etwa zwischen den unteren und den oberen Instanzen der Verwaltungs-und Arbeitsgerichtsbarkeit — resultieren oft aus Unterschieden in der Mentalität. Ausgesprochen konservativen Richtern stehen ebenso dezidiert liberale gegenüber. Das „juste milieu“ wurde insbesondere durch Richter mit radikal demokratischen oder radikal sozialistischen Neigungen in Frage gestellt. Die Justiz ist heute weit mehr als früher ein Spiegel der Gesellschaft. In der großen Mehrheit definiert sich die Richterschaft, die sich sozial vorwiegend aus dem mittleren und Kleinbürgertum rekrutiert, allerdings nach wie vor als politische Mitte, wobei sie mehr nach der rechten als nach der linken Mitte tendiert. Unübersehbar ist aber die Veränderung in den Einstellungsweisen, in denen sich weit mehr Liberalität und Toleranz äußern, als dies früher der Fall gewesen ist.
Wird nach den Ursachen des Attitüdenwandels gefragt, so darf der Anteil nicht übersehen werden, der auf das Konto der Veränderungen in der personellen Substanz der Justiz geht. Es gibt keine Richter mehr, die noch im Dritten Reich tätig gewesen sind. Die Richter und Staatsanwälte aus den mittleren Altersklassen, die heute den Alltag der Justiz bestimmen, sind nicht im Hitlerreich erzogen, sondern mit dem Grundgesetz groß geworden. Diese Jahrgänge haben gewiß an sich die Wirkungen der juristischen Sozialisation erfahren, sie haben aber auch die sechziger und siebziger Jahre bewußt mit erlebt. Man kann wohl sagen, daß sie weniger politische Scheuklappen haben als ihre Vorgänger, für die Politik ein garstig Lied oder schmutziges Geschäft war (oft beides zusammen). Interessant ist, was die 1982 erschienene Untersuchung von Heldrich/Schmidtchen über „Gerechtigkeit als Beruf über die Einstellung der jüngeren Richter zutage gefördert hat. Danach unterscheidet sich die politische Orientierung der jungen Richter trotz der unterschiedlichen Sozialisationsprozesse vor allem in der Ausbildung nur wenig von den Einstellungen, die für die gesamte Generation, um die es sich handelt, typisch sind. Die Richter dieser Generation stehen nicht im Gegensatz zu ihren Altersgenossen in anderen Berufen, sie nehmen an den allgemeinen Veränderungen des politischen Meinungsklimas teil. Ein Gleiches kann man von den mittleren Altersgruppen in der Justiz sagen. Im Klartext bedeutet das: Die Richter sondern sich nicht von der Gesellschaft ab. Sie befinden sich weder in einem Elfenbein-noch in einem Paragraphenturm; von Meinungsexklusivität kann keine Rede sein. In der Einstellung der Richter gegenüber dem politischen System spiegelt sich vielmehr das Meinungsklima der Gesellschaft wider. Die Justiz ist also in die politische Kultur der Bundesrepublik integriert; sie ist nicht besser und nicht schlechter als die Gesamtgesellschaft, was die demokratisch-politischen Werthaltungen, Orientierungen und Einstellungsmuster angeht.
IV. Nicht erfülltes Grundgesetz?
Im Jahre 1960 erschien von Adolf Arndt ein Vortrag mit dem Titel „Das nicht erfüllte Grundgesetz“ Die Formel, die der politisch einflußreiche Jurist damit gefunden hatte, machte schnell Karriere. Vergleicht man das, was den Schöpfern der Verfassung als Justizbild vorschwebte und damals, wenn auch gebrochen und in Bruchstücken, in den Justizartikeln der Verfassung seinen Ausdruck fand, mit der heutigen Lage, so ist die Feststellung nicht zu umgehen, daß die Entwicklung trotz der aufgeführten Fortschritte hinter dem, was das Grundgesetz zum Inhalt hat. erheblich zurückgeblieben ist. Sollte man da nicht die Amdtsche Formel aufnehmen und mit dem Ruf „Erfüllt das Grundgesetz!“ auf weitere Fortschritte zur Verwirklichung der grundgesetzlichen Justizkonzeption dringen?
So naheliegend diese Schlußfolgerung auch ist — mir scheint, daß sie unrealistisch wäre. Die Probleme, die in den sechziger Jahren die Gemüter bewegten, haben in der öffentlichen Einschätzung nicht nur an Aktualität verloren; sie haben auch im Bewußtsein der Richter selbst an Bedeutung eingebüßt und werden von diesen nicht mehr als Herausforderung empfunden. Die Richterschaft hat sich im gegenwärtigen Zustand eingerichtet; sie hält fest an den Errungenschaften jener Jahre, ist aber nicht daran interessiert, die Justizartikel des Grundgesetzes sozusagen mit Punkt und Komma in Gesetzgebung und Praxis umzusetzen. Neue Probleme sind mittlerweile an die Stelle derjenigen getreten, die bei der Schaffung des Grundgesetzes und noch in den sechziger Jahren im Vordergrund standen.
Die Verfassung stellt, wie Konrad Hesse einmal bemerkt hat, stets nur Aufgaben Sie selbst löst die Probleme nicht. Zur tätigen Kraft wird die Verfassung erst, wenn diese Aufgabe ergriffen wird, wenn im allgemeinen Bewußtsein und namentlich im Bewußtsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen der Wille zur Verwirklichung der Verfassung lebendig ist. Das aber ist in bezug auf die Justizkonzeption des Grundgesetzes nicht mehr der Fall, auch wenn die Verfassung als solche Geltung und Wirkkraft behalten hat. So wie die Dinge heute liegen, ist es schon schwierig, das Erreichte zu bewahren und auszubauen.
Zu den neuen Herausforderungen, mit denen sich die Rechtsprechung auseinandersetzen muß, gehört vor allem der Umstand, daß sich immer mehr Probleme vom Gesetzgeber zur Justiz verlagern, weil sich die den Gesetzgebungsprozeß beherrschenden Parteien immer weniger in der Lage sehen, drängende Fragen politisch zu lösen. Die abnehmende Problemlösungskapazität aber führt die Rechtsprechung in die Versuchung, anstelle der Legislative selber rechtsbildend tätig zu werden. So verfehlt es ist, in der politischen Richterfunktion als solcher bereits eine die Verfassungsstruktur in Frage stellende Usurpation zu sehen, so wenig kann übersehen werden, daß der Funktionszuwachs der Rechtsprechung die Stellung des Parlaments als des verfassungsmäßigen Gesetzgebungsorgans schmälert. Der — an sich richtige — Ruf nach der Selbstbeschränkung der Gerichte verfängt um so weniger, je mehr die Unfähigkeit der Legislative zunimmt, Probleme frühzeitig zu erkennen und der gesetzgeberischen Regelung zuzuführen. So ist Toquevilles Beobachtung, daß es in einer Demokratie kaum ein politisches Ereignis gebe, bei dem nicht die Autori-tät des Richters bemüht werde in der Bundesrepublik weitgehend Wirklichkeit geworden.
Ein Irrtum ist es auch, wenn man meint, die Rechtsprechung kenne die Akzeptanzprobleme nicht, denen die Gesetzgebung begegnet. Namentlich Bundesverfassungsgerichts-Entscheidungen, die mit knapper Stimmenmehrheit gefällt werden, haben dies deutlich gemacht, erst recht die Patt-Entscheidung zur Sitzblockade
Schließlich ist auch die Rechtsprechung keineswegs von dem in der Gesellschaft anzutreffenden Subjektivismus frei. Das schon von Heldrich/Schmidtchen namentlich bei (damals) jungen Richtern konstatierte „Gefühl der Freiheit ohne korrespondierende Verantwortung“ zeigt den Ernst der Lage auf. Die steigende Macht der Rechtsprechung verlangt von den Richtern ein erhöhtes Verantwortungsbewußtsein in bezug auf Rechtsfindung, Werteabwägung und Folgenvoraussicht.
Als eine Institution der Freiheit, die keinen Herrn über sich verträgt, kann die Justiz nur gedeihen, wenn dem Freiheitssinn des Richters ein Bewußtsein gesellschaftlicher Verantwortung korrespondiert, das sein Tun leitet und bindet. Fehlt es daran, so verliert die Justiz ihren gesellschaftlichen Rückhalt und damit die Grundlage, auf der ihre Autorität und ihre Wirkungschancen beruhen. Richter dürfen keine Wetterhähne sein, die sich nach dem Winde drehen. Was sie entscheiden, müssen sie verantworten können. Leicht verletzlich, wie die Justiz ist, darf sie nicht außer acht lassen, daß auch die richterliche Macht mehr als bloß der Ableitung ihrer Kompetenz aus der Verfassung bedarf.
Alle Macht ist letztlich auch Macht über das Bewußtsein. Nimmt die Bereitschaft ab, Richter-sprüche ohne Rücksicht auf ihren Inhalt hinzunehmen, so muß sich die Judikative auf die ihr gemäße Weise um Konsensbildung bemühen:
— durch anerkennungswürdige Entscheidungen, die die für die Identität der Gesellschaft konstitutiven Werte verwirklichen;
— durch ein faires Verfahren, das allen Beteiligten echte Partizipationschancen verschafft, und schließlich — durch sorgfältige Begründungen, die offenlegen, von welchen Voraussetzungen das Gericht ausgegangen ist und wie es seinen Spruch verantwortet. Mehr getan werden sollte schließlich auch, um die Grundprinzipien rechtsstaatlicher Rechtsprechung stärker im gesellschaftlichen Bewußtsein zu verankern. Wieviel hier noch zu tun ist, zeigen nicht zuletzt auch die vielen Eingaben, mit denen sich tagtäglich Bürger, die sich von den Gerichten ungerecht behandelt fühlen, an die Legislative — insbesondere an den Petitionsausschuß — und an Stellen der Exekutive — Gerichtspräsidenten, Minister, Bundeskanzler — wenden, um die Korrektur gerichtlicher Entscheidungen zu erreichen. Daß die Gerichte von Legislative und Exekutive unabhängig sind, daß der verfassungsmäßig verankerte Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit es auch den höchsten Rangstellen der Exekutive verbietet, gerichtliche Entscheidungen zu berichtigen oder in das dieser vorausgehende Verfahren einzugreifen, ist selbst gebildeten Mitbürgern weithin unbekannt. Nicht wenige Bürger erwarten vielmehr von den höchsten Rängen der Politik und Verwaltung eine die Justiz korrigierende „Gerechtigkeit“ — kaum anders als im Zeitalter des Absolutismus jener in die Legende eingegangene Wassermüller Arnold, der den Preußenkönig Friedrich II. darum anging, das Urteil zu kassieren, aufgrund dessen der Erbzinsherr die Mühle des Müllers hatte versteigern lassen. Ohne Frage: Kaum ein Bereich des öffentlichen Lebens ist dem Bürger so fremd wie der der Justiz.
Macht man sich klar, daß es in einem Gemeinwesen nur soviel Recht geben kann wie es rechtlich denkende Bürger gibt, dann sollte kein Zweifel darüber möglich sein, daß Rechtserziehung — als Erziehung zum demokratischen Rechtsstaat — in weit intensiverer Weise betrieben werden muß, als dies bisher der Fall ist
In der pluralistischen Gesellschaft der Gegenwart mit ihren zentrifugalen Tendenzen ist diese Aufgabe notwendiger denn je. Verfassung und Recht — Freiheit schützendes soziales Recht — sind nicht nur der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält; sie liefern auch die Orientierungen, deren die Bürger dieser Gesellschaft bedürfen.