I. „Scharen wir uns um die Verfassung“ Der schwierige Umgang mit dem Grundgesetz
Verfassungen normieren das Zusammenleben im Inneren von Gesellschaften, sie legen Gesellschaften auf eine politische Ordnung fest, konstituieren politische Systeme. Verfassungen werden nach Revolutionen. inneren Umbrüchen oder friedlichen Verfahren von Totalrevisionen gegeben — selten aber konstituieren sie zugleich einen vordem nicht existenten Staat als politische Handlungseinheit eines Volkes. Anders das Grundgesetz: Es hob die Bundesrepublik Deutschland aus der Taufe. Mit der Verkündung des Grundgesetzes vor 40 Jahren, am 23. Mai 1949. war die Bundesrepublik Deutschland gegründet. Die Bundesrepublik ist das Ergebnis eines verfassungsmäßigen Konstitutionsaktes.
Der für Konstituierungsverfahren typische Abschluß der unmittelbaren Legitimation durch Volksabstimmung fehlte der neu gegründeten Republik jedoch. Teilweise wurde daher von einem Oktroi der Alliierten gesprochen, wobei sowohl der tatsächliche Einfluß der Westmächte als auch die deutsche Handschrift bei der Ausgestaltung des Grundgesetzes — und überwiegend auch der Länderverfassungen — übersehen wurde In der Tat hatten die Bonner Verfassungsberatungen fernab aller Verfassungsöffentlichkeit stattgefunden. Sie standen im Schatten des Frankfurter Wirtschaftsrates, der sich wesentlich größerer öffentlicher Aufmerksamkeit erfreute, weil er mit seinen wirtschaftlichen Maßnahmen, die den Abbau der Zwangswirtschaft und die ökonomische Regeneration verfolgten, die Alltagssorgen und -probleme der Bevölkerung sehr viel stärker berührte. Der Prozeß der Bestellung der Mitglieder des Parlamentarischen Rates wie der Zustimmung zum Bonner Grundgesetz hatte sich zudem dezentral — über die einzelnen Länder und ihre Parlamente vermittelt — vollzogen. Erst die sich in der Bundestagswahl im August 1949 dokumentierende hohe Zustimmung zu den politischen Kräften, die den Verfassunggebungsprozeß getragen hatten, konnte als Konsens ex post factu angesehen werden. Aufgrund dieser besonderen Umstände der Verfassunggebung wurde dem Grundgesetz zum Zeitpunkt seiner Verkündung nicht die Bedeutung beigemessen, die ihm aus der Retrospektive beikommen muß, zumal das Grundgesetz selbst seinen Geltungsanspruch unter den Vorbehalt der Vorläufigkeit stellte — was in der Geschichte demokratischer Verfassungen einzigartig war — und der neugegründete Weststaat ohne das Attribut der Souveränität auskommen mußte.
Diese Besonderheiten der bundesdeutschen Verfassunggebung lassen es auch einsichtig erscheinen, daß der Gründungsakt nicht von jener symbolischen Bedeutung geprägt ist. wie das für die Konstitutionalisierung moderner Nationalstaaten charakteristisch ist. In der Erinnerung an die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, in der jährlichen Feier der französischen Revolution am 14. Juli wird die Einheit der Nation unter Rückbezug auf ihren identitätsstiftenden Ursprung symbolisch repräsentiert, vergewissert sich die Nation ihrer selbst, wird nationales Selbstverständnis aktualisiert.
„Verfassungspatriotismus“ aber, soweit er als ein auf den konstitutionellen Gründungsvorgang bezogener Akt kollektiven Bewußtseins der Zugehörigkeit zu Staat oder Nation verstanden werden kann, war in der geschichtlichen Situation von 1949 für die Bundesrepublik eine verwehrte Identifikationsmöglichkeit. In nationalstaatlicher Hinsicht fehlte dem Patriotismus das Substrat. Das Grundgesetz war „nur“ die Verfassung eines deutschen Teilstaates. Das Verhältnis zur Verfassung konnte 1949 deshalb nur eine Vemunftbeziehung. nicht eine Beziehung des Gefühls sein Staatsbewußtsein und Nationalbewußtsein fielen auseinander. Was für die Vereinigten Staaten als Geltungsgrund ihrer nationalen Existenz angeführt werden kann, daß nämlich die amerikanische Gesellschaft durch nichts anderes als „durch die patriotischen Gefühle, die der Verfassung entgegengebracht werden“, geeint sei ist der Bundesrepublik ab origine als Modus politischer Identitätsbildung versagt geblieben. Kann man die Verfassung der Vereinigten Staaten nicht abschaffen, ohne die Nation abzuschaffen so müßte umgekehrt das Grundgesetz überwunden werden, um die Nation zu erlangen. Das Grundgesetz ist die Erinnerung an den Verlust nationalstaatlicher Einheit und zugleich Auftrag und Mahnung, „die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“ (Präambel). Das Grundgesetz begreift sich nur als provisorisch, dazu bestimmt, einer „Übergangszeit eine neue Ordnung zu geben“ (Präambel). Seine ratio constitutionis liegt im Verweis auf eine unbestimmte Zukunft, auf eine gesamtstaatliche. vom „deutschen Volke in freier Entscheidung“ beschlossene Verfassungsordnung (Art. 146 GG).
In dieser Ambivalenz des bundesdeutschen Konstitutionsaktes liegt auch die auffallende Zurückhaltung begründet, dem Ereignis des Inkrafttretens des Grundgesetzes jene für Konstitutionen charakteristische „Aura der Ehrwürdigkeit“ zu geben, die eine Erhebung des 23. Mai zum „nationalen Verfassungstag“ zum Ausdruck brächte Das Grundgesetz eignet sich also nicht als Gegenstand kultischer Verfassungsverehrung, wie es immer wieder von Beobachtern für die Verfassungsentwicklung der USA festgestellt worden ist Ein „weltoffener Verfassungspatriotismus“, wie er als „eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien“ und als „vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens“ verstanden werden kann lädt jedoch zur Identifikation mit den freiheitlichen, demokratischen und grundrechtlichen Errungenschaften des Grundgesetzes ein.
Das Grundgesetz bot der jungen Republik damit die Chance, ihr Staatsbewußtsein über einen freiheitlichen und demokratischen Verfassungspatriotismus herzuleiten und aufzubauen — eine historische Möglichkeit, die angesichts gescheiterter demokratisch-konstitutioneller Bewegungen in der deutschen Geschichte nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Im Grundgesetz konnte der Entwurf für eine bessere Gesellschaft, für ein demokratisches Deutschland gesehen werden, das Grundgesetz war gewissermaßen „der Versuch des Volkes, sein besseres Ich gegen sich selbst darzustellen und durchzusetzen“ So hatte auch der Parlamentarische Rat Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu ziehen versucht. als er für wesentlich erachtete Strukturdefekte der Weimarer Reichsverfassung, vor allem die Dualstruktur von parlamentarischem und präsidentiellem System, überwand. Die besondere Werthaftigkeit des Grundgesetzes war ebenfalls das Ergebnis einer negativen Rezeption der Weimarer Verfassung, deren vermeintlicher Wertrelativismus für die Machtergreifung Hitlers mitverantwortlich gemacht wurde. Deshalb beschloß der Parlamentarische Rat eine inhaltliche Unabänderbarkeit (Art. 79 GG) für die grundlegenden freiheitlichen und demokratischen Verfassungsprinzipien, die zugleich „wehrhaft“ gegen antidemokratische Kräfte behauptet werden sollten, um pseudolegalen Machtergreifungen „streitbar“ entgegentreten zu können.
Um die Grundrechtsbindung der staatlichen Gewalten zu überwachen und Verletzungen einklagbar zu machen sowie die Verfassungswidrigkeit politischer Organisationen festzustellen, schuf der Parlamentarische Rat eine besondere Verfassungsgerichtsbarkeit, die den Vorrang der Verfassung auch institutionell absichern soll. Schließlich sollte das parlamentarische Regierungssystem durch die Einfügung des konstruktiven Mißtrauensvotums und die „kanzlerdemokratische“ Zuschneidung von Stellung und Befugnissen des Regierungschefs krisenfest gemacht werden. Die Parteien, in Weimar noch als „extrakonstitutionelle Erscheinungen“ (Triepel) behandelt, erhielten ein besonderes „Pn-vileg" im Prozeß der politischen Willensbildung zugesprochen
Das Grundgesetz im Parteienstreit Das Grundgesetz hatte mit diesen Festlegungen inhaltlich sehr viel mehr als ein transitorisches Organisationsstatut normiert. Es enthält den normativen Plan für einen freiheitlichen Verfassungsstaat repräsentativ-parlamentarischen Zuschnitts, der keinen Zweifel an seinem Geltungsanspruch zuläßt. Doch schien sich die Bundesrepublik zunächst nicht als jene aufgeklärte „Verfassungsgemeinschaft“ konstituiert zu haben, die ihren Identifikationspunkt in den demokratischen und grundrechtlichen Verfassungsprinzipien gefunden hat. Zunächst überlagerten die grundsätzlichen konstitutionellen Konflikte der fünfziger und sechziger Jahre um Westintegration. Wiederbewaffnung und Notstandsbefugnisse den Konsens über das Grundgesetz. Im darauf folgenden Jahrzehnt und zu Beginn der achtziger Jahre — in der Phase starker parteipolitischer Polarisierung um gesellschaftliche Reformvorhaben der sozial-liberalen Koalition — zeigte sich dann ein gänzlich anderer Umgang mit dem Grundgesetz: In der Auseinandersetzung um Gesetzesvorhaben wie etwa zum Schwangerschaftsabbruch, zum Ehe-und Scheidungsrecht, zu Wehrdienstnovelle und Untemehmensmitbestimmung traten Politiker und Publizisten, Bischöfe und Professoren in einen Wettlauf um die vermeintlich höhere Weihe der Verfassung; sie versuchten, den „Boden des Grundgesetzes“ exklusiv für sich und ihre politischen Vorhaben zu okkupieren. Die politischen Akteure „scharten“ sich um die Verfassung Zuweilen machten die Bundesdeutschen den Eindruck, als seien sie ein „Volk von Grundgesetzbekennern" — eine Ersatzlösung, zu der sie Zuflucht nahmen, weil es wegen des „Schocks der deutschen Katastrophe“ (J. Fest) und des Verlustes nationalstaatlicher Einheit kaum ein in gemeinsamer politischer Identität wurzelndes Bürgerbewußtsein der Zugehörigkeit geben konnte. In diesem Sinne wurde das Grundgesetz mehr als andere Verfassungen in der deutschen Geschichte zu einem Identifikationspunkt der zweiten deutschen Republik.
Doch warf dieses Identifikationsbedürfnis auch Probleme auf. welche die Stellung des Grundgesetzes selbst in Mitleidenschaft zogen. Denn der politische Zugriff auf das Grundgesetz stilisierte die bundesdeutsche Verfassung zu einem politischen „Über-Ich". das den Erwartungen und Ansprüchen seiner politischen Bekenner unmöglich gerecht werden konnte. Wo jeder den schützenden Mantel der Verfassung um sich und seine politischen Vorhaben legen wollte, mußte der Mantel zerlegt werden. Das Grundgesetz rückte damit in das Zentrum des politischen Streites; die parteipolitische Funktionalisierung ließ das Grundgesetz zu einem Kampfinstrument, zu einem Feldzeichen in der politischen Auseinandersetzung verkommen: Politische Kontroversen wurden zur Alternative von Verfassungsvollzug oder Verfassungswidrigkeit hochstilisiert, der politische Gegner wurde vom „Boden des Grundgesetzes“ verdrängt und erhielt das Etikett demokratischer Unzuverlässigkeit.
Soweit es sich bei diesem „Kampf um das Grundgesetz“ nicht allein um legitime und in allen demokratischen Verfassungsstaaten übliche verfassungspolitische Auseinandersetzungen um verfassungsändernde Gesetze oder verfassungsgerichtliche Entscheidungen handelte, trat hier eine Besonderheit bundesdeutscher Verfassungskultur zutage, die — die deutsche Tradition des Staatsidealismus fort-schreibend — in der Verfassung die in verbindliche Rechtsform gekleidete metapolitische „Idee der reinen Vernunft“ erblickt, dabei aber zum einen übersieht, daß Verfassungen in erster Linie „instruments of government“, also Sets von Spielregeln für die politische Willens-und Entscheidungsbildung sind, und zum anderen verkennt, daß inhaltlich-programmatische Festlegungen in der Verfassung, ganz zu schweigen von moralisch-ethischen Werten, in demokratischen und pluralistischen Gesellschaften immer unterschiedlichen Deutungen und damit dem Meinungsstreit ausgesetzt sind. Das bundesdeutsche Verfassungsverständnis, wie es sich vor allem in der Grundwertediskussion der siebziger Jahre dokumentierte, verlangte aber von der Verfassung Unmögliches, nämlich unstreitige Konsensgrundlage zu sein und gleichzeitig allen politischen Bestrebungen und Parteirichtungen (hilfs-) legitimatorisch zur Seite zu stehen Bei dem Versuch, unter Berufung auf die Verfassung parteipolitische Positionen zu rechtfertigen, sind unterschiedliche Akzentuierungen festzustellen, die Auskunft geben über das Verfassungs-und Politikverständnis der das Verfassungsleben wesentlich prägenden politischen Parteien. CDU und CSU artikulieren ein in der Tendenz statisches Verfassungsverständnis, das das Bestehende zu bewahren und zu sichern sucht und dabei tatsächlich in der Verfassung inkorporierte oder vorgeblich in die Verfassung hineininterpretierte Werte gegen Veränderung und „Aushöhlung“ zu verteidigen bemüht ist. Paradebeispiel ist hier der von der damals oppositionellen CDU/CSU-Fraktion Ende 1973 eingebrachte Antrag zur „Wahrung der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland“, der — nach kontroversem Vorspiel — zur bislang umfassendsten Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages am und Februar 1974 führte. Liberale Kritiker vermuteten im Antrag der CDU/CSU die Absicht, sich nach der Verdrängung aus der Rolle der „Staatspartei“ nunmehr als „Verfassungspartei“ darzustellen und die „propagandistisch beglückende Identität von CDU und Verfassung“ nachzuweisen. Die SPD zeigt ein im Vergleich eher dynamisches Verfassungsverständnis, wonach das Grundgesetz „uneingelöste Versprechen“ beinhaltet, damit zum politischen Aufgabenkatalog für Veränderung und Fortschritt wird. Werte sind für die SPD nicht ein für allemal festgeschrieben, sondern bedürfen der stets zu konkretisierenden Realisierung. Paradebeispiel ist hier die Ableitung von Reformen im gesellSchafts-und wirtschaftspolitischen Bereich aus dem „Katalog der Aufgaben .... zu denen uns das Grundgesetz in Wirklichkeit auffordert“. Konservative Kritiker sahen hierin eine „rote Verfärbung des politischen Grundwassers unserer Verfassungsordnung“ 14).
So geriet die Diskussion um politisch bedingte Wertedifferenzen zwischen den Parteien zu einem Streit um die vermeintliche Schwächung des Wertekonsenses und der verfassungsrechtlichen (Ab-) Sicherung von Grundwerten in der Verfassung. Unterschiedliche Konzeptionen, die einmal stärker den Wertordnungscharakter und einmal mehr den Spielregelcharakter der Verfassung betonten, standen hinter dem Verfassungsstreit. Grundwerte sind nach dem statisch-staatlichen Verfassungsverständnis der Unionsparteien dem kurzfristigen Wechselspiel von Meinungsbildung und Mehrheitsentscheidung vorgegeben und in einen vorausliegenden verfassungsrechtlichen Wertekonsens eingebunden. Nach dem dynamisch-gesellschaftlichen Verfassungsverständnis der Sozialdemokraten bringen neue Mehrheitsentscheidungen das von einem Kon-sens getragene aktualisierte Wertebewußtsein immer wieder prozessual hervor. Zusammengefaßt bedeutet dieser Unterschied: Konsens durch Vollzug vorgegebener Wertordnung oder Konsens durch demokratisch-politische Werterealisierung und -aktualisierung, Grundwertedemokratie versus Mehrheitsdemokratie 15).
Diese sich im Verfassungsstreit ausdrückenden Antinomien des Grundgesetzverständnisses wurden allerdings überbrückt von einer Auffassung, die von der FDP und auch von maßgeblichen Politikern der anderen Parteien geteilt wurde. Sie sehen im Grundgesetz weder ein reformistisches Auftrags-buch noch einen den Status quo sichernden Werte-oder Interessenbunker; sie wollen vielmehr die Verfassung im tagespolitischen Meinungskampf weniger beansprucht wissen und die rahmensetzende Funktion des Grundgesetzes hervorheben. Ein solches Verständnis entspricht dem im Grundgesetz normierten Verhältnis von verfassungsrechtlicher Festlegung und Absicherung von Werten einerseits und politischer Offenheit für den demokratischen Prozeß andererseits. Es entspricht auch einer demokratischen Verfassungskultur, die den offenen politischen Konflikt fordert, wobei die Verfassung die gesellschaftlichen und politischen Interessenkonflikte kanalisiert und in befriedender Absicht begrenzt.
Das Grundgesetz im Institutionenstreit Der Zusammenhang von Verfassung und politischem Prozeß stellte sich während der siebziger Jahre auch in institutioneller Hinsicht problematisch dar. Die Reform des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches (1973/74). die Reform des Ehe-und Scheidungsrechtes (1973), die Novelle zum Kriegsdienstverweigerungsrecht (1977), die Neu-fassung unternehmerischer Mitbestimmung (1976) sowie die Neugestaltung der Deutschlandpolitik durch den Grundlagenvertrag mit der DDR (1972) waren nicht nur politisch umkämpft, sondern sie wurden auch einer verfassungsrechtlichen Über-prüfung unterzogen und zum Teil vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt („Fristenlösung“ des Schwangerschaftsabbruchs 1975, „Postkartenlösung“ der Wehrdienstverweigerung 1978)
Die „Verlängerung der Opposition über das Bundesverfassungsgericht“ setzte das Gericht den Vorwürfen des „Obergesetzgebers“, der „Konterkapitäne von Karlsruhe“, der „Entmächtigung des Par-is) lamentes“ und der „Usurpation von evidenten Aufgaben des Gesetzgebers“ aus. Mit Blick auf das Bundesverfassungsgericht forderte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt die „Notwendigkeit der Selbstbeschränkung der Verfassungsorgane“; nicht jeder könne „seine Kompetenzen bis an den Rand ausschöpfen wollen“. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Emst Benda, konterte diese Vorwürfe mit dem Hinweis, daß dem Bundesverfassungsgericht als „Hüter der Verfassung“ die Sicherung des labil gewordenen „staatsund gesellschaftspolitischen Grundkonsenses“ obliege
Der institutionelle Verfassungskonsens zwischen Legislative — dem Bundestag und seinen Mehrheitsfraktionen — und der Judikative — dem Bundesverfassungsgericht — schien brüchig, zumindest aber unsicher geworden zu sein. Doch lag der Grund für diese institutionellen Unsicherheiten und Schuldzuweisungen weniger in einer allgemeinen „Labilisierung“ des Grundkonsenses als vielmehr in der Polarisierung der Parteien und dem Bestreben der parlamentarischen Opposition, den politischen Widerstand gegen sozial-liberale Reformgesetze nach der parlamentarischen Niederlage über den Bundesrat hinaus in das Bundesverfassungsgericht als letzter Instanz hinein zu verlängern. Hier wie auch schon in den fünfziger Jahren zeigte sich, daß die Oppositionsparteien selten bereit sind, die parlamentarische Niederlage hinzunehmen, statt dessen aber die Politik der jeweiligen Regierung zur Überprüfung vor das Bundesverfassungsgericht bringen, um so im Falle des gerichtlichen Testates der Verfassungswidrigkeit die politische Niederlage in einen schlußendlichen Erfolg zu wenden
Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch selber nicht unerheblich durch Formen des „judicial activism“ zur in den siebziger Jahren besonders deutlich zu beobachtenden Juridifizierung des demokratischen Prozesses und damit zu einer — wie Helmut Ridder sarkastisch formulierte — „Verklärung des Tods demokratischer Politik durch die juristische Weltanschauung“ beigetragen. Nicht selten führte das Verfassungsgericht im Zuge seiner „Wertejurisprudenz“ die „wertbestimmte Ordnung“ des Grundgesetzes gegen den politisch-demokratischen Prozeß an und verengte damit den legislativen Handlungsspielraum über das im Grundgesetz vorgesehene Maß hinaus. Besonders deutlich wurde dies bei strukturellen Spannungen im Bereich der Grundrechte. Wenn etwa gleichrangige Grundrechte in einem politischen Konfliktfall gegeneinander stehen, ist das Grundgesetz insofern „offen“, als hier der Gesetzgeber für die Konkretisierung der Grundrechte und den damit verbundenen Ausgleich von Interessen und Grundwerten das verfassungsrechtlich geforderte Organ ist, wohingegen sich die Rolle des Bundesverfassungsgerichtes auf die Kontrolle der legislativen Entscheidung zu beschränken hat. So bestand in der umstrittenen Frage der „Fristenlösung“ bei der Reform des Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches eine Grundrechtsspannung zwischen dem Freiheitsrecht der Mutter und dem Schutz des ungeborenen Lebens. Hierbei war nicht das Ziel — der Schutz beider Güter —, sondern einzig die Methode — Indikationenlösung oder Fristenlösung — strittig. Die Wahl der politischen Methode zum Schutze von Rechtsgütem aber muß. wenn beide Schutzgüter gleich geschützt bzw. beeinträchtigt werden und die Frage damit eine politisch-ethische Option wird. Sache des gesetzgeberischen Ermessens, der entscheidungsfähigen Mehrheit sein. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1975 aber wurde die Meinung des nicht direkt demokratisch legitimierten Gerichts an die Stelle der Mehrheitsentscheidung des gewählten Gesetzgebers gesetzt.
Die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung legislativer Spielräume gilt vor allem für die Bereiche der kulturellen und sozialen „Lebensordnungen“ (Carlo Schmid), in denen sich historische Kompromisse zwischen den maßgeblichen gesellschaftlichen Kräften der Gründungszeit, Kirchen und Unionsparteien auf der einen sowie Gewerkschaften und SPD auf der anderen Seite, dokumentieren Nur wenige explizite Festlegungen sind deshalb in wirtschafts-und gesellschaftspolitischer Hinsicht getroffen worden, die den Gesetzgeber für die Folgezeit gebunden haben. Verfassungsrechtliche Kompromisse bedeuten politische Offenheit für die gesetzgeberische Ausgestaltung. Dies gilt insbesondere für die Wirtschaftsordnung, die im Grundgesetz entgegen weit verbreiteter politischer Meinung und trotz „verwandtschaftlicher“ Nähe zwischen liberal gedeuteten Grundrechten und marktwirtschaftlichen Prinzipien nicht festgelegt ist. Das Instrumentarium des Grundgesetzes läßt vielfältig gemischte Formen der Wirtschaftsordnung zu. Vom Eigentumsschutz über die Gemeinwohlverpflichtung bis zur Sozialisierungsmöglichkeit erstreckt sich der wirtschafts-und gesellschaftspolitische Handlungsspielraum des Gesetzgebers. In dem Urteil zur Mitbestimmung vom 1. März 1979 hat das Bundesverfassungsgericht deshalb auch zu Recht wieder eine größere Zurückhaltung gegenüber gesetzgeberischen Maßnahmen erkennen lassen
Ein Verständnis des Grundgesetzes, das einer demokratischen politischen Verfassungskultur angemessen wäre, ist in vierzig Jahren ein Desiderat bundesdeutscher Selbstfindung geblieben. Mit dem Ende der starken parteipolitischen Polarisierung sowie den politischen Themenwechseln in den achtziger Jahren scheint sich der Umgang mit der Verfassung allerdings entkrampft zu haben. Eine Besinnung auf die rahmensetzende Funktion von Verfassungen und die originäre Legitimität des politischen Konfliktes könnten helfen, ein realitätsadäquates Verfassungsverständnis zu entwickeln, das Leistungsvermögen und Leistungsgrenzen der Verfassung richtig einzuschätzen vermag.
Das Grundgesetz ist, wie jede moderne rechts-und sozialstaatliche Verfassung, zugleich „Schranke und Anregung“ Damit stellt das Grundgesetz Normen und Institutionen zur Verfügung, die eine funktionstüchtige Demokratie und eine gerechte Sozialordnung ermöglichen, aber nicht garantieren. Genausowenig wie die Weimarer Verfassung die Auflösung der Weimarer Republik und die Diktatur des Nationalsozialismus verursacht hat, hat das Grundgesetz das Wirtschaftswunder oder die politische Stabilität der Bundesrepublik bewirkt. Auch konnte das Grundgesetz nicht, etwa auf dem Wege des „Selbstvollzugs“ seiner normativen Kraft, Garant von demokratischem Neuanfang und Vergangenheitsbewältigung sein. Hier spielen extrakonstitutionelle ökonomische, soziokulturelle und politische Faktoren eine sehr viel maßgeblichere Rolle. Und doch spiegeln sich im Bonner Grundgesetz die politischen, sozialen und ökonomischen Ordnungsvorstellungen wider, die die Verfassung und ihre Auslegung, Interpretation und Änderung über 40 Jahre geprägt haben. In den Verfassungsdiskussionen hat sich nicht zuletzt die Suche nach einem bundesrepublikanischen Selbstverständnis manifestiert.
II. Verfassungsrechtliche Änderungen und verfassungspolitische Einschätzungen
Das Grundgesetz ist in den vergangenen 40 Jahren insgesamt fünfunddreißig mal geändert worden, zuletzt am 21. Dezember 1983 durch eine Erweiterung des Satzes 4 von Art. 21 I GG. wonach die Transparenz der Finanzen der politischen Parteien durch Angabe ihres Vermögens einschließlich etwaiger Schulden erhöht werden soll. Die Änderungsgesetze brachten insgesamt 114 Einfügungen. Änderungen oder Aufhebungen von Grundgesetz-artikeln. Dies stellt für eine nur 40jährige Lebensdauer des Grundgesetzes eine bemerkenswerte verfassungsändernde Aktivität des mit Zweidrittelmehrheit beschließenden Verfassungsgesetzgebers dar.
Nicht alle Änderungen markieren herausragende verfassungspolitische Einschnitte Gleichwohl kann die Summe einer Reihe von Änderungen einen grundlegenden materiellen Wandel der Verfassung und Verschiebungen der ursprünglich in ihr festgelegten Gewichte bewirken. So handelt es sich bei vielen förmlichen Änderungen um die Übertragung von Länderkompetenzen auf den Bund oder um eine Festlegung der Zuständigkeit des Bundes für vordem nicht geregelte Materien, zum Beispiel Erzeugung und Nutzung der Kernenergie, Ausbildungshilfen, wirtschaftliche Sicherung von Krankenhäusern, Regelung von Krankenhauspflegesätzen, Abfallbeseitigung, Lärmbekämpfung, Ausdehnung der Rahmengesetzgebung des Bundes auf die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens u. v. m. in Art. 74, 75 GG. Nimmt man diese Änderungen als Ganzes, so haben sie dem Bund ein beträchtliches Maß an Neuzuständigkeiten und Eingriffsmöglichkeiten übertragen. Die Erweiterung der Gesetzgebungs-und Verwaltungskompetenzen des Bundes zeigt, daß die bundesstaatliche Ordnung des Grundgesetzes sich in der tatsächlichen Entwicklung in erheblichem Maße von der ursprünglichen Vorstellung einer stark föderalistischen Verfassung fortentwickelt hat.
Die stärkere unitarische Ausrichtung des Grundgesetzes manifestiert sich auch im Institut der Gemeinschaftsaufgaben (Abschnitt VIII a, Art. 91 a. 91 b GG) und in der Neuregelung der bundesstaatlichen Finanzordnung. Das Grundgesetz hatte hier — mit maßgeblicher Einflußnahme der Alliierten — eine strenge Trennung der Haushalte von Bund und Ländern vorgenommen (Art. 106, 109 GG). In der Folge aber ist nicht nur der Finanzausgleich unter den Ländern wiederholt und zuletzt aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Juni 1986 umgestaltet worden; auch die Verteilung der Steuern zwischen Bund und Ländern hat sich mehrfach verändert. Die Neufassung des Artikels 109 GG und die Finanzreform von 1969 haben schließlich — mit der Schaffung von Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf ein konjunkturgerechtes Verhalten der Länder und Gemeinden bei der Kreditaufnahme und bei der Bildung von Rücklagen sowie durch die Erweiterung der in den Bund-Länder-Verbund einbezogenen Steuern — eine enge Verflechtung von Bund und Ländern geschaffen.
Insgesamt ist die Verantwortung des Bundes für die Finanzen und den Konjunkturverlauf vor allem durch das zu Artikel 109 GG erlassene Stabilitätsgesetz von 1967 gestärkt worden. Hierdurch hat die Bundesregierung weitreichende wirtschaftspolitische Regelungsbefugnisse zur Abwendung konjunktureller Rezessionen in die Hand bekommen: Das Stabilitätsgesetz enthält umfassende Ermächtigungen, aufgrund derer die Bundesregierung unter anderem die Finanz-, Haushalts-und Kreditwirtschaft der Länder und auch der Gemeinden steuern kann, wenn dies etwa zur Abwendung einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erforderlich ist. Die gesamtwirtschaftliche Verantwortung des Staates, zuerst formuliert im Kontext keynesianischer Wirtschaftspolitik und Grundlage einer Politik der „Globalsteuerung“ (Karl Schiller), fand so Eingang in das Grundgesetz und schuf als «normatives Aktionsmodell" (Alex Möller)
Rechtspflichten für die staatlichen Organe in Bund und Ländern. Diese Verfassungspolitik basierte auf der Prämisse, daß Konjunktur-und Wirtschaftspolitik steuerbar seien. Die für alle fortgeschrittenen Industriegesellschaften zu beobachtende Zentralisierung sozioökonomischer Planungs-und Steuerungstätigkeitpolitischer Systeme hat somit im Zuge der wirtschaftlichen Rezession in den späten sechziger Jahren ihre verfassungsrechtliche Absicherung im Grundgesetz gefunden.
Die durch Grundgesetzänderungen begleiteten Strukturwandlungen des Föderalismus und die zunehmende sozialstaatliche Planungsaktivität sind nicht kritiklos hingenommen worden. Werner Weber hatte schon früh vom „restaurierten, fiktiven und oktroyierten Föderalismus“ gesprochen, damit die Einflußnahme der Alliierten gemeint und diese föderale Ordnung für wenig realistisch befunden. Hans Dichgans machte das Bedürfnis nach bundes-einheitlichen Regelungen, wie es sich in den ersten zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik in den Änderungen des Grundgesetzes manifestiert hatte, zum Grund seiner Forderung nach einer neuen verfassunggebenden Nationalversammlung. Ernst Forsthoff schließlich beklagte die „Umbildung des Verfassungsgesetzes“ durch die Zunahme sozialstaatlicher Planungstätigkeit 24).
Weber und vor allem Forsthoff aber waren noch Gefangene eines rechtsstaatlichen Verfassungsbegriffes, der aus dem frühen Konstitutionalismus stammte, Staat und Gesellschaft strikt trennte und Freiheit des Individuums nur als negative Ausgrenzung gegenüber staatlichen Übergriffen verstand. Dieses Verfassungsverständnis konnte weder die soziale Verantwortung des Staates noch die zunehmende Durchdringung von Staat und Gesellschaft durch Planung, Steuerung und Intervention erfassen. Vor allem aber hatte das Grundgesetz selbst den Grundsatz des sozialen Bundesstaates aufgestellt, der nun in der konkreten industriegesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik realisiert wurde. Die genannten förmlichen Verfassungsänderungen und auch der sozialstaatliche Wandel der Auslegung von ehedem grundrechtlichen Abwehrrechten — wie zum Beispiel der Berufsfreiheit des Art. 12 GG durch das Numerus-clausus-Urteil von 1972 — waren die natürliche Folge.
Föderalistische Politikverflechtung und sozialstaatliche Planungstätigkeit aktualisierten das Verfassungsprinzip des sozialen Bundesstaates in einem 1949 allerdings nicht vorausgesehenen Ausmaß. Die vom Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission für Verfassungsreform, die vor allem die gewandelte bundesstaatliche Ordnung einer Prüfung unterzog — „ob und inwieweit es erforderlich ist. das Grundgesetz den gegenwärtigen und voraussehbaren zukünftigen Erfordernissen — unter Wahrung seiner Grundprinzipien — anzupassen“ —, sah keinen Grund für eine Totalrevision des Grundgesetzes. Eine gewisse Abkehr von der ursprünglich sehr föderalen Ordnung ergäbe sich, so das Ergebnis der Enquete-Kommission, zwangsläufig durch die verstärkte sozialstaatliche Planungstätigkeit in der Industriegesellschaft. Die verstärkte Planung staatlicher Aufgaben sei notwendig und gerechtfertigt, um dem Bürger eine gerechte Teilhabe am Sozialprodukt zu garantieren.
Verschiedentlich geäußerten Forderungen nach einer verfassungsmäßigen Absicherung von Entscheidungs-oder zumindest Mitentscheidungsbefugnissen von Verbänden oder Interessengruppen im Bereich der Gesetzgebung durch die grundgesetzliche Verankerung eines „Bundeswirtschafts-und Sozial-rates“ — was zu einer verfassungsrechtlichen Legitimierung der vielbeklagten „Verbändeherrschaft“ geführt hätte — begegnete die Enquete-Kommission jedoch mit Ablehnung Damit war aber noch keine Antwort auf das Problem gefunden, ob sich der moderne Sozial-und Leistungsstaat über die verfassungsinterpretatorische Akzeptanz hinaus zusätzlicher positivrechtlicher Legitimation durch die grundgesetzliche Einfügung von sozialen Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträgen versichern sollte. Die mit dieser Problemstellung betraute, im Herbst 1981 von den Bundesministern des Innern und der Justiz eingesetzte „Sachverständigen-Kommission Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge" hat in ihrem Schlußbericht die Bereiche Arbeit und Ausbildung. Umweltschutz, Kultur (und Datenschutz) einer ergänzenden Regelung im Grundgesetz für würdig befunden Diese Empfehlungen sind bislang — mit Ausnahme eines Beschlusses des Bundesrates vom Juli 1987, dem Umweltschutz Verfassungsrang als Staatsziel (allerdings mit Gesetzesvorbehalt) zu geben — nicht weiter verfolgt worden.
Verfassungsrechtlich äußerst bedeutsame Einschnitte in der Geschichte des Grundgesetzes waren die Einfügung von und Wehrverfassung Notstands Verfassung. Die Wehrverfassung schuf Möglichkeiten zur Einschränkung von Grundrechten (Art. 17a, Art. 5, 8, 17. 11, 13). Die Notstandsverfassung schränkt bei Eintreten des Verteidigungsoder des Spannungsfalles sowie bei innerem und Katastrophennotstand ebenfalls Grundrechte ein und modifiziert durch Einsetzung eines „Gemeinsamen Ausschusses“ sowie durch Änderung des Gesetzgebungsverfahrens den staatlichen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß.
Verfassungspolitisch waren beide Änderungen des Grundgesetzes heftig umstritten. Bei der Wehrverfassung ging es um die endgültige Integration in den Westen und deren Vereinbarkeit mit der Wiedervereinigung sowie um die zuvor heftig bekämpfte . Remilitarisierung* Westdeutschlands. Die Notstandsregelung beschwor Erinnerungen an den Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung — das Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten -herauf und ließ die Befürchtung einer grundgesetzlich beförderten Versuchung zum diktatorischen Mißbrauch aufkommen.
Beide Änderungen wandelten nicht nur den Charakter des Grundgesetzes, sie beeinflußten auch wesentlich das politische Selbstverständnis vieler Gruppen des neuen Staates und forderten den ersten organisierten gesellschaftlichen Protest gegen das politische System der Bundesrepublik heraus. Einerseits wurden beide Einfügungen als die letzten Schlußsteine in der „Staatswerdung“ der Bundesrepublik angesehen; sie waren „positiv-rechtliche Fortschreibung“, „Nachbesserung“ und „Normierung potentieller Staatsbehauptung“ Auf der anderen Seite wurden und werden diese Änderungen der Verfassungsordnung als „Entliberalisierung des Grundgesetzes“ und als Beginn einer Entwicklungslinie eingeschätzt, die zum „malträtierten“ und „lädierten“ Grundgesetz geführt habe. Eine inhaltliche Identität bestehe nicht mehr zwischen dem Grundgesetz von 1949 und der Notstandsverfassung von 1968
Beide Ansichten berühren wichtige Teilaspekte der Entwicklung. Tatsächlich wurde der Wehrbeitrag auch als Mittel zur Erlangung staatlicher Wiederanerkennung und Souveränität betrachtet. Durch die Notstandsregelung erloschen zugleich die Souveränitätsvorbehalte der westlichen Alliierten aus Artikel 5 II des Deutschlandvertrages von 1952. Mit dem Abschluß der „Staatswerdung“ war aber zugleich der Weg zur Wiedervereinigung verstellt. Die im Grundgesetz eingebaute Doppelstrategie von Transitorium und Vollstaatlichkeit der Bundesrepublik wurde de facto und endgültig zugunsten letzterer aufgegeben.
Mit der Einfügung von Wehr-und Notstandsverfassung wurden auch die Hoffnungen der politischen Linken enttäuscht, die ein entschieden antimilitaristisches und antifaschistisches Deutschland als historische Konsequenz angemahnt hatten. Hier schien die Wehrverfassung den friedensstaatlichen Charakter des Grundgesetzes (Art. 25. 26 GG) auszuhöhlen. obwohl das Grundgesetz in Artikel 24 auch die Einordnung der Bundesrepublik in ein System „gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ vorgesehen hatte. Die Notstandsverfassung barg scheinbar die Gefahr, die Umwandlung eines freiheitlich-demokratischen Systems in einen autoritärdiktatorischen Staat nach dem Vorbild der Präsidialregierungen am Ende der Weimarer Republik und des nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetzes verfassungsrechtlich zu ermöglichen. Die schon zuvor in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht festgestellte „Restauration“ schien sich hier auch politisch-rechtlich zu manifestieren, zumal die Verabschiedung der Notstandsgesetze in eine Entwicklungsphase der Bundesrepublik fiel, die durch politischen Immobilismus — repräsentiert durch die Große Koalition — und bürgerschaftlichen Protest — dargestellt durch die „Außerparlamentarische Opposition“ — gekennzeichnet war. In dieser innenpolitisch angespannten Situation konnten die Notstandsgesetze als potentielles „Repressionsinstrument“ des Staates gegen unliebsame direkt-demokratische Aktivitäten von unten wahrgenommen werden.
Die Befürchtungen, die mit der Notstandsverfassung verbunden wurden, haben sich nicht bewahrheitet. Doch hat die Notstandsverfassung die in Deutschland bereits einmal aktualisierte Gefahr einer zum autoritär-diktatorischen Mißbrauch tauglichen „Nebenverfassung“ ins Grundgesetz eingelassen, da Parteien. Parlament und Regierung aus einer demokratisch-parlamentarischen Bewältigung von Krisen entlassen und Grundrechte elementar eingeschränkt werden können. Andererseits bleibt nach wie vor zu erwägen, ob ungeschriebenes Notstandsrecht in der Form von „Schubladengesetzen“ der Exekutive in einem Notfall nicht eher die Möglichkeit gibt, sich bei der Bewältigung von Ausnahmezuständen über Verfassung und grundrechtliche Sicherungen hinwegzusetzen. Hier haben Verfassungsstreit und grundgesetzliche Normierung in einem besonders sensiblen Verfassungsbereich immerhin die Öffentlichkeit her-und auch Kontrollmöglichkeiten bereitgestellt.
III. Nach vierzig Jahren: Verfassungskonsens und neue verfassungspolitische Herausforderungen
Das Grundgesetz hat sich in seiner 40jährigen Existenz in Text und Auslegung erheblich gewandelt. Das kann nicht verwundern, haben doch Gesellschaft und politisches System der Bundesrepublik nach gescheiterter deutscher Republik, nationalsozialistischer Diktatur und militärischer Kapitulation ihr Aussehen und ihre Identität erst finden müssen. Der nachhaltigste Wandel betrifft die äußeren Rahmenbedingungen der Bundesrepublik und ihrer Verfassung. Die außenpolitische Entscheidung der Bundesrepublik für die Westintegration, früh vollzogen, sowie der in den siebziger Jahren auch vertraglich anerkannte gewandelte deutschlandpolitische Kontext haben die ursprünglich transitorische Geltungsabsicht des Grundgesetzes überholt. Eine Reihe von Verfassungsänderungen. vor allem die Einfügung der Wehr-und Notstandsverfassung. haben aus dem Grundgesetz eine Vollverfassung, aus einem auf einen deutschen Ge-samtstaat gerichteten Staatsfragment einen souveränen Staat gemacht. Der bereits in den fünfziger Jahren aufbrechende und im Grundgesetz angelegte Zielkonflikt von supranationaler und Westintegration einerseits sowie staatlicher Wiedervereinigung andererseits ist von den faktischen Verhältnissen zugunsten der kaum noch in Frage gestellten Westorientierung und europäischen Integration entschieden worden. So haben auch Bundesregierung und Bundestag wiederholt — und im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Moskauer (1970) und des Grundlagenvertrages (1972) — klargestellt. daß „eine friedliche Herstellung der nationalen Einheit“, an der rechtlich festzuhalten die Bundesregierung nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1973 verpflichtet ist. nur in einem „europäischen Rahmen“ denkbar ist
Das vom Grundgesetz gesetzte Ziel der Wiedervereinigung in Form eines nationalen Gesamtstaates entspricht kaum mehr der konkreten geschichtlichen Lage, wiewohl andere — föderale, konföderative? — Formen des (einzel-) staatlichen Nebeneinanders oder Miteinanders denkbar bleiben. De facto hat die politische Entwicklung die Bundesrepublik und die DDR zu Definitiva werden lassen; der explizite Charakter der Vorläufigkeit des Grundgesetzes ist längst verlorengegangen. Damit aber muß sich die Bundesrepublik einer eigenen Staatsräson versichern. Verfassungsbewußtsein und Verfassungskonsens werden deshalb tatsächlich zu Orientierungspunkten eines freiheitlichen und demokratischen Staatsbewußtseins. Diese Staatsräson muß auch mehr sein als der von Konjunkturen und außenpolitischen Bedrohungswahrnehmungen abhängige Basiskonsens der Nachkriegszeit. Die von besorgten in-und ausländischen Beobachtern immer wieder gestellte Frage nach Zusammenhalt und Identität der Bundesdeutschen jenseits von „Wirtschaftswunder“ und „kommunistischer Bedrohung“ — und damit nach der „Zuverlässigkeit“ der Bundesrepublik — läßt sich mit dem Verweis auf eine der politischen Kultur des Westens verpflichtete, wachsende „Verfassungsgemeinschaft“ beantworten. Denn nach 40 Jahren fällt die Bilanz der Orientierung an demokratischen und freiheitlichen Verfassungsprinzipien sehr viel positiver aus, als die politischen Aufgeregtheiten einer um ihr Selbstverständnis ringenden, „verunsicherten“ Republik (Sontheimer) in den siebziger Jahren vermuten ließen.
Das Grundgesetz hatte, wie eine jede demokratische Verfassung, nur ein . Design* für das politische System und die möglichen Grundlinien der gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik entworfen, dabei aber deutliche Wegmarken gesetzt. Nach 40 Jahren ist festzustellen, daß die politische Praxis, die Verfassungswirklichkeit, das Grundgesetz nicht überholt, seine tragenden demokratischen wie grundrechtlichen Entscheidungen vielmehr bestätigt, Anpassungsfähigkeit demonstriert und damit die Akzeptanz des Grundgesetzes trotz fundamentaler verfassungspolitischer Konflikte und einem in Teilen bedenklichen Stil im Umgang mit der Verfassung gesichert hat. Der Verfassungskonsens, die Zustimmung zu dem vom Grundgesetz konstituierten Regime von Grundrechten und demokratischen, rechts-und sozial-staatlichen Staatszielen, ist intakt. Er ist sicher „pluralisiert". damit aber auch breiter und tragfähiger geworden. Denn Voraussetzung für den Konstitutionalismus als „vital creed“ ist es, daß sich unterschiedliche Gruppen und Vorstellungen in der Verfassung und ihrer Deutung wiederfinden können -Geschlossene Weltbilder und monolithische Wertvorstellungen tragen keinen Verfassungskonsens in einer pluralistischen Demokratie. Das anzunehmen, machte den Irrtum derjenigen aus, die den Verfassungskonsens, ihren partikularen Verfassungskonsens, gefährdet sahen. So verwundert es nicht, daß selbst in der Phase starker parteipolitischer Polarisierung in den siebziger Jahren Umfragen eine hohe Zustimmungsrate zum Grund-31) gesetz und dem von ihm festgelegten demokratischen System aufwiesen. Auf die Frage, ob man ein neues Grundgesetz brauche, „um zu einer wirklichen Demokratie zu kommen“, antworteten im Jahr 1972 nur 22 Prozent. 197419 Prozent und 1978 elf Prozent mit „ja“. 50, 61 bzw. 70 Prozent der Befragten meinten, daß das Grundgesetz vollkommen ausreiche Deutliche Zeichen eines an freiheitlichen Verfassungsprinzipien orientierten „Verfassungspatriotismus“.der an die demokratischen Verfassungstraditionen des Westens anknüpft, waren auch im Ergebnis einer anderen Umfrage zu erkennen. Auf die Frage nach möglichen Aktivitäten zum dreißigsten Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes nannten 44 Prozent als „wichtigste“ Aktivität: „Erinnern an die Wichtigkeit unserer im Grundgesetz geschützten Grundrechte“. Die nachfolgenden Nennungen waren: „allgemeine Besinnung auf die deutsche Geschichte“ (32 Prozent); „den Gedanken vermitteln, wie wichtig der weitere Ausbau unserer Demokratie ist“ (29 Prozent); „Rückblick auf die bisherige Geschichte und die Bundesrepublik Deutschland“ (25 Prozent); „Aufklärung über die Möglichkeiten des Bürgers, sich an unserem Staat zu beteiligen“ (21 Prozent)
Die positive Einschätzung des Grundgesetzes korrespondiert mit einem über lange Zeiträume feststellbaren konstant großen Vertrauen in Justiz und Verfassungsgerichtsbarkeit. Von den an der „Staatsleitung“ beteiligten Institutionen wird dem Bundesverfassungsgericht regelmäßig das höchste Vertrauen entgegengebracht, während dem parlamentarischen Gesetzgeber stärkeres Mißtrauen entgegenschlägt Hier wirken einerseits traditionelle Vorurteile gegenüber „der“ Politik und den Parteien nach, andererseits ist der den Mangel an demokratischer Tradition und nationalstaatlicher Identität kompensierende Glaube an die Neutralität von Richtern und die befriedende Schiedsrichterrolle der Verfassungsgerichtsbarkeit zu veranschlagen. Der vom Parlamentarischen Rat normierte Vorrang der Verfassung und die Etablierung einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit finden so ihre konsensuale Bestätigung auch noch nach 40Jahren. Die Folge davon ist, wie beschrieben, die teilweise und situativ unterschiedlich starke Verlagerung der politischen Auseinandersetzung und Entscheidungsbildung vor das Forum der Verfassungsgerichtsbarkeit.
Die von starker Zustimmung getragene Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht nicht nur zum Hüter der Grundrechte gegen politische, gesetzgeberische oder administrative Übergriffe, sondern auch zum zentralen Akteur der Verfassungsentwicklung werden lassen. Letzteres trifft nicht allein für Bereiche und Verfassungsaufträge zu. wo der Gesetzgeber untätig blieb — Regelung der Gleichberechtigung, des Strafvollzugs oder der Gleichstellung nichtehelicher Kinder —, sondern auch für den verfassungsfortbildenden Bereich, um das Grundgesetz in seiner Schutzfunktion neuen Entwicklungen und Herausforderungen anzupassen („Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ im „Volkszählungs-Urteil“). Das Bundesverfassungsgericht hat hier einen wesentlichen Beitrag zur Durchsetzung und Akzeptanz des demokratischen und sozialen Verfassungsstaates in der Bundesrepublik geleistet Zudem hat das Bundesverfassungsgericht durch Ausbau elementarer (Aktiv-) Bürgerrechte zur Offenheit des demokratischen Prozesses beigetragen, wenngleich zuletzt im Bereich der Parteienfinanzierung das Recht des Bürgers auf gleiche Teilhabe an der politischen Willensbildung nur unzureichend gewürdigt. die Herrschaft der Parteien jedoch über das grundgesetzliche Privileg hinaus prämiert worden ist
Auch als „instrument of govemment“. als Spielregelwerk des politischen Systems, hat sich das Grundgesetz bewährt, ohne daß es größeren Revisionen im Bereich der demokratischen Organisationsnormen unterzogen worden ist. Es hat das Regierungssystem nach den Weimarer Erfahrungen erfolgreich stabilisiert, ohne politischen Wandel und Regierungswechsel institutionell zu behindern. Die Überbetonung des repräsentativ-parlamentarischen Zuschnitts des politischen Systems der Bun-desrepublik war als Abwehrreaktion auf die Weimarer Reichsverfassung konzipiert, mußte dann aber in den sechziger und siebziger Jahren direkt-demokratische Legitimitätsanfechtungen, die sich zunächst in der Außerparlamentarischen Opposition und in verstärkter Bürgerbeteiligung artikulierten, hinnehmen. Die Enquete-Kommission „Verfassungsreform“ zeigte in bezug auf direktere Mitwirkungsrechte des Volkes an der politischen Willensbildung kaum institutioneile Phantasie, lehnte die Einfügung plebiszitärer Elemente wie Referenden und Volksbegehren auf allen politischen Entscheidungsebenen ab und schlug allein geringfügige Modifikationen im Wahl-und Parlamentsrecht — zum Beispiel die Einführung begrenzt-offener Wahllisten und die Stärkung parlamentarischer Kontrollrechte — vor
Soziale Bewegungen, allen voran die Friedens-und Umweltbewegung sowie zahlreiche Bürgerinitiativen, verliehen Ende der siebziger Jahre in einem veränderten (welt-) ökonomischen Kontext nicht nur dem partizipatorischen und „postmateriellen“ Wertewandel politischen Ausdruck, sondern rückten auch die gemeinwohlrelevanten Themen wie Umweltschutz und Friedenssicherung in den politischen Vordergrund, die von den „etablierten“ politischen Kräften nicht oder nur unzureichend aufgenommen worden waren. Obwohl Ziele und Organisationsprinzipien der sich aus den sozialen Bewegungen herausbildenden neuen Parteigruppierung der „Grünen“ von Vertretern der „alten“ Parteien lange Zeit für unvereinbar mit den repräsentativdemokratischen Prinzipien der Verfassung gehalten wurden, demonstrierte das vom Grundgesetz geformte parlamentarische System seine Fähigkeit zur Erneuerung, indem es die neue politische Kraft in das existierende System der politischen Willens-und Entscheidungsbildung integrierte.
Mit der Entstehung neuer politischer Konfliktlinien veränderte sich nicht nur die politische Agenda, sondern meldeten sich auch neue verfassungspolitische Forderungen nach umweit-, sozial-, friedens-und kulturpolitischen Ergänzungen des Grundgesetzes. Die auf Veranlassung der Bundesregierung eingesetzte „Sachverständigen-Kommission“ untersuchte, „ob detaillierte Staatszielvorstellungen oder Gesetzgebungsaufträge in das Grundgesetz aufgenommen werden sollen“, und schlug in ihrem Schlußbericht vor, den Schutz von Kultur und natürlichen Lebensgrundlagen sowie die staatliche Verantwortung für Arbeit und Ausbildung als Staatszielbestimmungen im Grundgesetz zu verankern. Eine Realisierung der Vorschläge ist bislang nicht in Sicht Mit der Aufnahme von neuen, über die bereits bestehenden demokratischen, rechts-, sozial-und bundesstaatlichen hinausgehenden Staatszielbestimmungen würde sich der instrumentelle Charakter des Grundgesetzes verändern. Appellative und programmatische Forderungen würden das Grundgesetz „material“ aufladen. Politische Impulse, nicht zuletzt für den Gesetzgeber, wären gesetzt, die große Bedeutung von Umweltschutz, sozialem Frieden und kultureller Selbstverpflichtung des Staates qua Verfassungsrang unterstrichen. Vor Überforderung wäre das Grundgesetz aber nicht sicher; eine weitere Verlagerung von politischen Interessen-, Ziel-und Methodenkonflikten auf die juristische Ebene wäre vorprogrammiert — und dies ohne Erfolg in der Sache. Denn der Abbau von Arbeitslosigkeit und der Schutz der Umwelt gelingen nicht qua Verfassungsvollzug, sondern müssen politisch erreicht, beschlossen und durchgesetzt werden.
So zeigt die Diskussion um Staatszielbestimmungen und Gesetzgebungsaufträge erneut die nicht immer beachteten Grenzen konstitutionellen Leistungsvermögens auf. Der soziale, planende und intervenierende, der „gesamtverantwortliche“ Staat, wie er sich unter der Herrschaft des Grundgesetzes entwickelt hat, läßt sich nicht allumfassend und konkret zugleich normieren. Das Grundgesetz war in seiner Konzeptionsphase noch vom Leitbild des liberalen Ordnungs-und Rechtsstaats geprägt; der sozialstaatliche Umbruch läßt den verfassungsrechtlichen Normbereich anwachsen, aber gleichzeitig und zunehmend hinter dem gesellschaftlichen Wandel hinterherhinken. Die Geltungsbedingungen sozialstaatlicher Normen sind andere als die von rechtsstaatlich zu überwachenden und einklagbaren Normen. Zugleich nimmt die politiksteuemde Kraft von Verfassungsnormen ab.
Staatlichem Handeln, Entscheiden und Steuern sind privatwirtschaftliche sowie aus technologischer Entwicklung und internationaler Verflechtung resultierende Grenzen gezogen Technische Entwicklungen und Großprojekte sind langfristig irreversibel und binden nachfolgende Generationen. Inter-und supranationale Politik-und Problemverflechtung engen nationale Handlungsspielräume ein und verlagern Entscheidungen auf übernationale Organisationen und Institutionen. Die Errichtung des europäischen Binnenmarktes ist ein Beispiel. Im nationalen Rahmen hängen Erfolg und Effizienz staatlichen Handelns in wachsendem Maße von extrakonstitutionellen Akteuren — Unternehmen, Verbänden und Interessengruppen -ab. Der moderne Staat muß sich einerseits seiner staatlichen Souveränität — im Sinne von Entscheidungs-und Steuerungskompetenz — versichern, will er nicht Legitimationseinbußen hinnehmen, delegiert andererseits aber Entscheidungs-und Steuerungskompetenz an nicht-oder überstaatliche Entscheidungsträger, um ordnungspolitischen Ansprüchen oder supranationalen Verbindlichkeiten nachzukommen.
Der nach außen hin „offene“ und nach innen hin „kooperative“ Verfassungsstaat entzieht sich traditionellen Kriterien des Konstitutionalismus und wird auch die Bundesrepublik — nicht zuletzt auch durch die Ausbildung einer „multikulturellen Gesellschaft“ im Inneren mit sehr unterschiedlichen Lebensweisen — vor erhebliche verfassungspolitische Identitätsprobleme stellen. Das Grundgesetz war vor 40 Jahren bewußt nicht als nationale Verfassung beraten und verabschiedet worden. Das Grundgesetz, das in sich nicht nur den Verweis auf die Erringung nationaler Einheit trägt, sondern auch die Bundesrepublik auf eine dienende Funktion für den Frieden in Europa und der Welt verpflichtet, birgt in sich die Chance, als Verfassung einer postnationalen Gesellschaft die überzeugende Geltung zu erhalten, die es sich in den ersten 40 Jahren seiner Existenz erworben hat.