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Das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition | APuZ 16-17/1989 | bpb.de

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APuZ 16-17/1989 Das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition Grundgesetzverständnis und Verfassungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland Grundgesetz und Rechtsprechung Die Bundespräsidenten Von Theodor Heuss bis Richard von Weizsäcker Artikel 1

Das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition

Dieter Grimm

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Zusammenfassung

Die längste Tradition hatte in Deutschland der Verfassungstyp der konstitutionellen Monarchie. Die Verfassungen dieses Typs beruhten auf Gewährung durch den Monarchen und befestigten das monarchische Prinzip. Sie besaßen keine herrschaftsbegründende, sondern nur herrschaftsmodifizierende Bedeutung, lehnten Demokratie und Gewaltenteilung ab und gaben dem Monarchen ein starkes Übergewicht gegenüber der Volksvertretung. Die Paulskirchen-Verfassung von 1848/49, die das System unter Beibehaltung der Monarchie auf eine demokratische, aber nicht sozialstaatliche Grundlage stellen sollte, scheiterte. Den Bruch mit dieser Tradition führte die Weimarer Verfassung von 1919 herbei. Im Gegensatz zu ihren Vorläufern konstituierte sie die Herrschaft neu. Sie stellte die Legitimationsgrundlage vom monarchischen auf das demokratische Prinzip um und unternahm in ihrem Grundrechtskatalog Anstrengungen zur Lösung der sozialen Frage. Es gelang ihr jedoch nicht, zur unbestrittenen Konsensbasis von Politik zu werden. Das Grundgesetz verbindet mit der konstitutionellen Monarchie Föderalismus und Rechtsstaat, mit der der Weimarer Verfassung zusätzlich Republik, Demokratie und Sozialstaat. Es versucht jedoch, die Defizite der Weimarer Verfassung bei der Konkretisierung dieser Prinzipien zu vermeiden. Dabei ragen ein materielles Demokratie-und Rechtsstaatsverständnis sowie der unbedingte Wille zur Geltung der Verfassung hervor.

I. Der deutsche Frühkonstitutionalismus

Als am 23. Mai 1949 das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet wurde, hatte der Verfassungsstaat in Deutschland bereits eine 140jährige Tradition. Die ersten deutschen Verfassungen folgten damit den ersten modernen Verfassungen überhaupt, den nordamerikanischen und der französischen aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, in relativ kurzem Abstand nach. Während diese aber das Produkt erfolgreich geführter Revolutionen gegen die angestammte Staatsgewalt waren, gingen die deutschen Verfassungen gerade von der bestehenden Staatsgewalt aus. Diese stand dabei zwar unter einem starken Erwartungsdruck aus der Bevölkerung, die sich durch ihren Einsatz in den Befreiungskriegen gegen Napoleon ein Anrecht auf nationale Einheit und politische Beteiligung erworben zu haben glaubte. Doch fehlte dem deutschen Bürgertum nicht nur die Machtbasis, sondern auch der Wille zu einer gewaltsamen Durchsetzung seiner Verfassungsforderungen. Wo Verfassungen entstanden, waren sie daher stets freiwillige Gewährungen der Fürsten — anfangs meist einseitig oktroyiert, später in der Regel mit den Volksvertretungen paktiert, nie aber von diesen allein in Geltung gesetzt.

Daß sich die deutschen Fürsten auf Verfassungen einließen, hatte seinen Grund freilich nicht in einer Aneignung des politisch-sozialen Programms, dem die revolutionären Verfassungen Nordamerikas und Frankreichs rechtlichen Ausdruck gaben. Die deutschen Verfassungen waren vielmehr das Ergebnis eines Kalküls der bestehenden Staatsgewalt zur Festigung ihrer Herrschaft unter veränderten Bedingungen. Als treibende Kraft erwies sich dabei meist die hohe Bürokratie, die die Notwendigkeit einer Umwandlung der ständischen Feudalgesellschaft in die bürgerliche Erwerbsgesellschaft erkannt hatte. Für Verfassungen sprach in diesem Zusammenhang ein ganzes Bündel von Motiven: die Beschränkung des fürstlichen Eigenregiments; die Entmachtung der alten, reformfeindlichen Füh-rungseliten; die Verbindung von Gesellschaft und Staat, vor allem dort, wo er durch Gebietszuwachs nicht auf alte Loyalitäten gegenüber dem Herrscherhaus bauen konnte; endlich der hohe Kredit-bedarf des Staates, dessen Deckung von Sicherheilen für das Bürgertum in Gestalt parlamentarischer Kontrolle der Staatsfinanzen abhängig schien. In den meisten Fällen vermochten aber erst aktuelle Anstöße die widerstrebenden Fürsten zu überzeugen — anfangs vor allem drohende Souveränitätseinbußen. später auch revolutionärer Druck.

Diese Genese konnte den deutschen Verfassungen nicht äußerlich bleiben. Während die revolutionär durchgesetzten Konstitutionen Amerikas und Frankreichs die monarchische Staatsgewalt gegen eine demokratische austauschten, tasteten die auf freiwilliger Selbstbindung des Monarchen beruhenden deutschen Verfassungen die Legitimationsgrundlage der Herrschaft nicht an. Sie bestätigten vielmehr das vorkonstitutionelle, auf göttliche Stiftung zurückgeführte Herrschaftsrecht der Dynastie und legten Wert darauf, daß der Fürst alleiniger und konsensunabhängiger Träger der gesamten Staatsgewalt sei. Nur auf der Ausübungsebene verpflichtete er sich, seine vordem absolute Herrschaft in bestimmten Bereichen zu begrenzen und von der Zustimmung einer Volksvertretung abhängig zu machen. Es war diese Unterscheidung zwischen Trägerschaft und Ausübung der Staatsgewalt, die der deutsche Konstitutionalismus der kurzlebigen französischen Charte constitutionnelle von 1814 entlehnt hatte und unter dem Namen „monarchisches Prinzip“ zur Grundnorm aller deutschen Verfassungen bis 1918 erhob. Diese besaßen also im Gegensatz zu den westlichen von vornherein keine herrschaftskonstituierende, sondern nur herrschaftsmodifizierende Bedeutung.

Infolgedessen konnte der Fürstenstaat seinen Anspruch, aus überlegener Einsicht in das Gemeinwohl zu handeln, auch im Konstitutionalismus aufrechterhalten. Die Gesellschaft erschien demgegenüber als Ansammlung partikularer Interessen. Diese Interessenpluralität war zwar durch die Zurücknahme der umfassenden staatlichen Verfügungsbefugnis legitim geworden, blieb aber auf die Privatsphäre beschränkt. Konkurrierende politische Vorstellungen wurden dagegen weiterhin als illegitim betrachtet. Daran hielt der Staat auch gegenüber den politischen Parteien fest, die sich im Vormärz allmählich aus den Fraktionen der Landtage zu formen begannen. Im Verhältnis zu ihnen pochte er auf seine Neutralität. Doch handelte es sich nicht um die Neutralität des demokratisch-pluralistischen Staates, der für die verschiedensten Parteiprogramme offen ist, sondern um die vorde-mokratische Neutralität, die auf dem übergeordneten Standpunkt eigener Gemeinwohlgewißheit beruht und die Parteien in die Rolle partikularer Interessenträger drängt. Die Verfassung begrenzte auf diese Weise zwar den Wirkungsbereich des Staates und ließ gesellschaftliche Mitsprache zu, nahm ihm aber nicht den Charakter des Obrigkeitsstaates.der im wahren Interesse seiner Untertanen zu handeln beansprucht.

Aus demselben Grund konnte auch die Volksvertretung nicht als Teilhaber an der Staatsgewalt verstanden werden. Gewaltenteilung galt als unvereinbar mit dem monarchischen Prinzip. Das Parlament nahm vielmehr nur die Position einer Vertretung der Gesellschaft beim Staat ein, und seine Kompetenz erschöpfte sich in einem Vetorecht gegenüber dessen Absichten, soweit sie Freiheit und Eigentum berührten. Als Gesetzgeber galt aber weiter der Monarch allein, und selbst das Initiativrecht war anfangs ihm vorbehalten. Die Volksvertretung repräsentierte zwar die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit gegenüber dem Staat. Dennoch war das Wahlrecht weitgehend auf Eigentümer begrenzt. Das entsprach den Vorstellungen des vorindustriell konzipierten Liberalismus, der im Eigentum den Beweis für Leistung sah und annahm, daß nach der Lockerung der Standesschranken jeder die Möglichkeit habe, Eigentum zu bilden. Noch engeren Besitzkriterien unterlag die Wählbarkeit, und zusätzlich befriedigte die indirekte Wahl das Zuverlässigkeitsbedürfnis des Staates. Überdies mußte die Volksvertretung ihren Einfluß in der Regel mit Ersten Kammern teilen, deren Mitglieder nicht durch Wahlen bestimmt wurden, sondern Kraft ihres privilegierten Status oder monarchischer Ernennung zur Repräsentation berufen waren.

Der Anspruch des Monarchen, alleiniger Träger der Staatsgewalt zu sein, wurde dadurch gestützt, daß die traditionelle Machtbasis des absoluten Fürstenstaates von der Konstitutionalisierung ausgenommen war. Heer, Bürokratie und Diplomatie blieben Fürstendomäne und wurden der gesellschaftlichen Mitsprache nicht geöffnet. Dazu kam das nun fast ganz verstaatlichte Schulwesen. Allerdings verschaffte das Budgetrecht den Parlamenten indirekte Zugriffsmöglichkeiten auch auf diejenigen Bereiche der Staatstätigkeit, die nicht dem Gesetzesvorbehalt unterlagen. Wo der Staat zur Aufrechterhaltung seines Apparats oder zur Verwirklichung seiner Absichten auf Steuern angewiesen war, mußte er den Konsens mit der Volksvertretung suchen. Das Budgetrecht bildete so den kritischen Punkt der konstitutionellen Monarchie, an dem sich Konflikte kristallisieren konnten, ohne daß dafür eine verfassungsrechtliche Lösung vorgesehen war. Daran zeigt sich, daß das monarchische Prinzip in Wirklichkeit auf schwächeren Füßen stand, als die Verfassungen glauben machten. Das Verfassungssystem gab zwar dem Monarchen ein eindeutiges Übergewicht vor der Volksvertretung, es war aber keineswegs monistisch, sondern durchaus dualistisch konstruiert.

So wie sich die Genese des deutschen Verfassungsstaats im Legitimationsprinzip und in der Kompetenzverteilung zwischen Monarch und Volksvertretung niederschlug, wirkte sie sich auch auf die Grundrechte aus. Waren sie in den amerikanischen und französischen Verfassungen vorstaatlich begründet und als Menschenrechte formuliert worden, so konnten sie in den freiwillig gewährten deutschen Verfassungen lediglich als staatlich verliehene Rechtspositionen gelten und auch nur Staatsbürgern zustehen. Vor allem fehlte ihnen aber diejenige Funktion, die der französischen Menschenrechtserklärung ihre große Bedeutung gab. Grundrechte enthielten hier die sinngebenden Prinzipien für die gesamte Rechts-und Sozialordnung und zeichneten im Kem dasjenige Programm vor, nach dem der Gesetzgeber die Rechts-und Sozialordnung von ständisch-feudalen auf bürgerlich-liberale Maximen umstellen sollte. In Deutschland markierten die Grundrechte dagegen nur den Bereich, in welchem der Staat seine Aktivitäten künftig an die Zustimmung der Volksvertretung binden wollte. Insofern garantierten sie im Kontakt zwischen Staat und Bürgern den Rechtsstaat, bestimmten aber nicht den Grad der Freiheitlichkeit des Sozialsystems insgesamt.

Auch im Inhalt der Grundrechte wirkte sich die unterschiedliche Entstehungsweise aus. Die deutschen Grundrechte kamen den amerikanischen und französischen nahe, was die Herstellung persönlicher Freiheit und den Schutz der Privatsphäre angeht. Schon das Eigentum wurde aber nur gegen den staatlichen Zugriff gesichert. Dagegen konnte es keine umfassende Eigentumsfreiheit geben, solange das Feudalsystem nicht völlig beseitigt worden war. Das geschah aber erst in der Revolution von 1848. Ebenso galt die Gleichheit nur im Hinblick auf den Staat und sicherte dort Steuergleichheit, gleiche Dienstpflicht und gleichen Ämterzugang. In der gesellschaftlichen Dimension blieb das Gleichheitsprinzip dagegen nur begrenzt verwirklicht. solange noch Standesschranken aufrechterhalten wurden. Schließlich zeigte sich der deutsche Verfassungsstaat, in dem der Fürst den Anspruch auf alleinige Einsicht in das Gemeinwohl erhob, äußerst sparsam mit kommunikativen und politisch verwendbaren Grundrechten. Die Pressefreiheit stand in den Grundrechtskatalogen, wurde aber durch die Beschlüsse des Deutschen Bundes von 1819 sogleich wieder zurückgenommen; Vereinigungs-und Versammlungsfreiheit fehlten gänzlich.

Die Individualfreiheit war unter diesen Umständen im deutschen Konstitutionalismus keine umfassende Freiheit, die die freie Teilnahme an der Ge-staltung der öffentlichen Verhältnisse einschloß. Sie erwies sich vielmehr als eine staatsabgewandte Freiheit, die ihr Anwendungsfeld in der eng begrenzten Privatsphäre hatte. In erster Linie betraf das die Wirtschaft. Hier war sie allerdings ganz im westlich liberalen Sinn gedacht. Der Staat überließ die ökonomischen Beziehungen mehr und mehr dem eigenen Belieben der Individuen und nahm das Ergebnis als Ausdruck frei gewählten Verhaltens hin, ohne es seinerseits nochmals an Kriterien materieller Gerechtigkeit zu messen. Ebensowenig kümmerte er sich um die materiellen Voraussetzungen des Freiheitsgebrauchs. Der Staat verließ sich darauf, daß in einem System gleicher rechtlicher Freiheit, das die Entfaltungshindemisse der alten ständischen Ordnung beseitigte, jeder die Möglichkeit besaß, sich die tatsächlichen Voraussetzungen des Freiheitsgenusses durch Leistung zu erwerben. Not und Elend waren dadurch nicht ausgeschlossen, konnten aber auf individuelles Versagen zurückgeführt werden und galten insofern nicht als ungerecht. Gerade wegen dieses Freiheitsverständnisses, dem die zahlreichen Einrichtungen der sozialen Sicherheit, die die ständisch-feudale Gesellschaft besessen hatte, zum Opfer fielen, war der Verfassungsstaat, auch der deutsche, in seinen Anfängen kein Sozialstaat.

Trotz aller Abschwächungen, die die deutschen Grundrechtskataloge von den amerikanischen und französischen trennten, entwarfen sie aber immer noch ein Gesellschaftsbild, hinter das die bestehende Ordnung weit zurückfiel. Die Volksvertretungen wurden daher nicht müde, Gesetze zur Verwirklichung der Grundrechte zu fordern, und auch die Staatsrechtslehre der Zeit war voll von Klagen über die Diskrepanz zwischen Grundrechten und geltendem Gesetzesrecht. Umgekehrt sahen sich die Monarchen und ihre Regierungen durch die Zustimmungsrechte der Volksvertretung oft in der Verwirklichung ihrer politischen Pläne gestört. Daher waren Wahlbeeinflussungen, Mandatsbehinderungen, Verfassungsdurchbrechungen an der Tagesordnung, und selbst Staatsstreiche zur Beseitigung der lästigen Verfassungsfesseln kamen vor. Daran wird ein entscheidender Mangel der neuen Verfassungen sichtbar: ihre Durchsetzungsschwäche. Ohne eine gerichtliche Instanz, die den Sinn der Verfassungsartikel bindend feststellen und Verfassungsverstöße korrigieren konnte, setzte sich im Konfliktfall regelmäßig die Verfassungsauslegung der Regierung durch und blieben Verfassungsverletzungen ohne Sanktion. Die praktische Bedeutung namentlich der Grundrechte war unter diesen Umständen gering.

II. Die Verfassung des Nationalstaats

Die Verfassungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den meisten deutschen Klein-und Mittelstaaten eingeführt worden waren, trugen unverkennbar Übergangscharakter: Einerseits war der Fürstenstaat nicht mehr stark genug, seinen absoluten Herrschaftsanspruch aufrechtzuerhalten; andererseits war die bürgerliche Gesellschaft noch nicht stark genug, den Staat ihren Interessen dienstbar zu machen. Das Ergebnis bestand in einem Kompromiß, der durch die Formel des monarchischen Prinzips nur mühsam verdeckt wurde und für beide Seiten problematisch blieb. Während dem liberalen Bürgertum grundrechtliche Freiheit und politische Partizipation nicht weit genug gingen, näherten sie sich für die Anhänger von Ständetum und Fürstensouveränität bereits dem Jakobinismus. Auch einzelne Monarchen hätten sich nach den ersten Erfahrungen mit Volksvertretungen gern wieder von ihrer Verfassung getrennt. Dagegen litten die sogenannten niederen Klassen der Bevölkerung auf dem Land unter der unfertigen Entfeudalisie-rung, in der Stadt unter der begonnenen Liberalisierung; sie erwarteten von der Verfassung sozialen Fortschritt. Jede Kräfteverschiebung mußte daher den Verfassungskompromiß bedrohen.

Die Revolution von 1848, in der das seit 1815 ungestillte Einheits-und Freiheitsverlangen der Deut-sehen, die teils noch von Agrarkrisen, teils schon von der Industrialisierung verursachten Nöte der unteren Klassen, die Belastungen der Bauern und das Emanzipationsstreben des wirtschaftlich erstarkten Bürgertums zusammenflossen und sich nach langer Unterdrückung aller politischen Regungen Ausdruck verschafften, blieb, was ihr Verfassungskonzept anbelangt, letztlich eine bürgerliche Angelegenheit. Die Frankfurter Nationalversammlung beruhte zwar auf allgemeinem und gleichem Wahlrecht. Dessen ungeachtet hatte das Parlament sozial eine stark bildungsbürgerliche und politisch eine überwiegend liberale Zusammensetzung. Die Verfassung, die hier erarbeitet wurde, war im Kern ein Kompromiß zwischen bürgerlichen Liberalen und bürgerlichen Demokraten. Als erste deutsche Verfassung kam sie aber weder im Weg fürstlichen Oktrois noch aufgrund einer Vereinbarung von Monarch und Volksvertretung, sondern als im Namen des Volkes beschlossenes Gesetz zustande. Das Ergebnis überschritt den bisher in Deutschland erreichten Verfassungsstandard beträchtlich. Die Paulskirchen-Verfassung verwirklichte das bürgerlich-liberale Verfassungsprogramm und näherte sich damit den Verfassungen der westlichen Welt an, ging aber trotz der sozialen Veränderungen, die seit den Anfängen des Konstitutionalismus eingetreten waren, nicht darüber hinaus. Der Bruch mit der Verfassungstradition des Vor-märz zeigt sich in erster Linie am Legitimationsprinzip. Ohne dies ausdrücklich auszusprechen, gab die Paulskirchen-Verfassung doch deutlich zu erkennen, daß sie sich als Produkt der Volkssouveränität verstand. Sie hielt zwar an der Monarchie fest, der Monarch blieb aber nicht länger der unabhängig von der Verfassung legitimierte Herrscher, sondern bezog seine Herrschaftsbefugnis aus der Verfassung und fungierte als Organ eines von ihm unterschiedenen Staates. Allerdings sollte die Monarchie erblich sein, so daß sich das Volk nach der Wahl des Monarchen seines Einflusses auf die Reichsspitze begab. Demokratisch legitimiert war das Amt, nicht sein jeweiliger Träger. Auch die Machtfülle des Monarchen blieb beträchtlich. Die Exekutivgewalt lag allein bei ihm und der nur von seinem Vertrauen abhängigen Regierung. An der Gesetzgebung, die in den Händen eines Parlaments lag, das sich gemäß dem föderalistischen Aufbauprinzip des Reiches in ein Volkshaus und ein Staatenhaus teilte, hatte er in Form eines suspensiven Vetos teil. Die Durchsetzungsschwäche der vormärzlichen Verfassung sollte durch ein Reichsgericht behoben werden, das nicht nur von Staatsorganen, sondern auch von jedem Bürger gegen Verfassungsverstöße der Staatsgewalt angerufen werden konnte.

Davon profitierten vor allem die Grundrechte. Sie spiegelten die Erfahrung der Reaktionspolitik des Vormärz wider, deren Opfer viele der Paulskirchen-Abgeordneten gewesen waren. Der Katalog überschritt den bis dahin in Deutschland erreichten Grundrechtsstandard erheblich. Hinter den Menschenrechtserklärungen der westlichen Verfassungen blieb er nur in seiner Begründung, nicht in seinem Inhalt zurück. Die Grundrechte wurden nicht als vorstaatliche Menschenrechte betrachtet. Darin kommt nicht allein die allmähliche Ablösung des revolutionären Vernunftrechts durch die kontinuitätsbedachte Historische Schule, sondern auch die Furcht des Bürgertums vor den weiterreichenden sozialen Forderungen des Vierten Standes zum Ausdruck. Das liberale Grundrechtsprogramm fand ungeschmälerte Geltung. Standesschranken und Feudalstrukturen, soweit sie die Reformära des frühen 19. Jahrhunderts überlebt hatten, wurden beseitigt, Freiheit und Rechtsgleichheit umfassend hergestellt, die politischen Grundrechte ohne Abstriche garantiert. Dagegen konnte sich die Mehrheit der Nationalversammlung nicht zur Aufnahme sozialer Grundrechte in die Verfassung entschließen. Sie blieb noch ganz dem Interesse und der Vorstellungswelt des aufstrebenden Bürgertums verhaftet.

Die Differenzen, die in der Debatte über die sozialen Grundrechte sichtbar geworden waren, verweisen auf eine grundlegende Schwäche der deutschen Revolution von 1848, die schließlich zu ihrem Scheitern beitrug. Liberale und soziale Kräfte waren sich in der Überwindung der alten Ordnung, nicht aber über die Gestaltung der neuen einig. Als die Linke einsehen mußte, daß ihre Anliegen in der Verfassung unberücksichtigt bleiben würden, folgte der ersten eine zweite, stark sozial motivierte Revolutionswelle im Herbst 1848, die das liberale Bürgertum verschreckte und dem monarchischen Staat wieder annäherte. Diesem konnte die innere Spaltung der Revolution nicht entgehen. Nach einer Phase der Lähmung und Konzessionsbereitschaft übernahmen die monarchischen Kräfte wieder die Initiative. Als die Nationalversammlung in Frankfurt im Dezember 1848 die Grundrechte in Kraft setzte, war die Revolution in Österreich und Preußen bereits militärisch niedergeschlagen. Im Frühjahr 1849 wurde sie auch im restlichen Deutschland liquidiert. König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen lehnte die Kaiserkrone ab, die Reichsverfassung trat nicht in Kraft. Der 1815 als lockerer völkerrechtlicher Verein gegründete Deutsche Bund lebte wieder auf, der 1848 in Kraft gesetzte Grundrechtskatalog wurde 1852 aufgehoben.

Verfassungspolitisch ist das Ergebnis der gescheiterten Revolution ambivalent. Einerseits war der Verfassungsstaat in Deutschland nunmehr endgültig etabliert. Wo bisher noch absolutistisch regiert worden war, traten jetzt Verfassungen in Kraft. Die Verfassungen übertrafen auch in zahlreichen Einzelheiten den Standard des vormärzlichen Konstitutionalismus. Insbesondere wurden Entfeudalisie-rung und Pressefreiheit nicht mehr dauerhaft in Frage gestellt. Andererseits blieb das monarchische Prinzip bestehen. Keine Verfassung bekannte sich zur Volkssouveränität. Es verschwand aber auch das bürgerliche Verlangen nach ihr. Der Fehlschlag der Revolution hatte vielmehr einen Mentalitätswechsel zur Folge. Nicht nur baute das Bürgertum zur Abwehr des Vierten Standes auf den Staat. Auch Veränderungen — voran die ersehnte nationale Einheit — traute es nur noch der Obrigkeit, nicht mehr sich selber zu. Demokratie und Rechtsstaat, die vorher aufeinander bezogen gewesen waren, traten dadurch auseinander. Vorrangig wurde die Sicherung des erweiterten bürgerlichen Freiheitsstandards. Die Freiheit blieb aber weiterhin in der Privatsphäre beheimatet und verlor ihren emanzipatorischen Charakter. Das postrevolutionäre Grundrechtsverständnis nahm eine defensiv-etatistische Wende.

Der Versuch, den Verfassungskompromiß in Richtung auf eine Parlamentarisierung der Regierung fortzuentwickeln, den das preußische Bürgertum in den sechziger Jahren unternahm, wurde in dem Augenblick aufgegeben, als die Herstellung der nationalen Einheit durch Bismarck in greifbare Nähe rückte. Umgekehrt widersetzten sich die Konservativen mittlerweile nicht mehr der Konstitutionalisierung des 1871 gegründeten Reichs. Seine Verfassung unterschied sich jedoch wesentlich von derje-nigen, die aus der Revolution von 1848 hervorgegangen war. Legitimationsgrundlage blieb das monarchische Prinzip. Doch war in dem föderalistischen System, das seinerzeit allein in Frage kam, nicht ein einziger Monarch Träger der Staatsgewalt, sondern die Gesamtheit der an der Reichsgründung beteiligten Fürsten und Städte. Das Staatsoberhaupt mit dem Titel eines Deutschen Kaisers — in Personalunion an das preußische Herrscherhaus geknüpft — war staatsrechtlich gesehen dagegen nur der Präsident des Bundes und sein Repräsentant nach außen, kein Souverän. Die Souveränität lag beim Bundesrat, in dem die Mitgliedstaaten vertreten waren und dem der vom Kaiser berufene Reichskanzler vorsaß. Bei der Gesetzgebung mußten Bundesrat und Reichstag Zusammenwirken. Eine Gewaltenteilung nach westlichem Muster war weiterhin nicht akzeptiert.

Paulskirchen-Errungenschaften wurden jedoch in Gestalt des allgemeinen Wahlrechts für den Reichstag beibehalten. Bismarck hatte sich dabei von der Erkenntnis leiten lassen, daß allgemeine Wahlen konservativere Parlamente hervorzubringen pflegten als das Zensuswahlrecht. Erst mit fortschreitender Industrialisierung wurde diese Einschätzung unzutreffend. Der sozialdemokratischen Partei kamen die Früchte ihrer wachsenden Wählerstimmen trotzdem nicht in vollem Umfang zugute, weil ungeachtet der starken Wanderung vom Land zur Stadt die Wahlkreiseinteilung unverändert blieb, so daß in einem städtischen Wahlkreis ein Vielfaches der Stimmen eines ländlichen Wahlkreises zum Erfolg nötig war. Die Wahlen wurden im Kaiserreich aber endgültig zu Parteiwahlen, und die Parteien beherrschten den Parlamentsbetrieb. Da jedoch das monarchische Prinzip unverändert galt, erhielt sich auch die staatsrechtliche Stellung des Parlaments. So wie dieses keine Staatsgewalt ausübte, sondern nur den Souverän in der Ausübung seiner Staatsgewalt einschränkte, verharrten auch die Parteien an der Schwelle des Staates. Insbesondere erlangten sie keinen Einfluß auf die Regierungsbildung. Die Parlamentarisierung der Regierung blieb unerfülltes Desiderat bis kurz vor Ende des Kaiserreichs. Im Unterschied zur Paulskirchen-Verfassung, aber auch zu den Einzelstaatsverfassungen, verzichtete die Reichsverfassung auf Grundrechte. Sie war reines Organisationsstatut. Die Erklärung bestand darin, daß nicht das Reich, sondern nur die Einzelstaaten in direktem Kontakt zum Bürger stünden. In Wahrheit war auch das Interesse des Bürgertums an grundrechtlichen Sicherungen längst gesunken. Hatte es noch im Vormärz immer von neuem die gesetzliche Einlösung der grundrechtlichen Verheißungen gefordert, so war dem bürgerlichen Freiheitsverlangen inzwischen gesetzgeberisch weitgehend Rechnung getragen worden. Das Interesse richtete sich unter diesen Umständen stärker auf die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. Hauptforderung des liberalen Bürgertums im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Verwaltungsgerichtsbarkeit. Dagegen wären die als sinngebende Prinzipien für die gesamte Sozialordnung verstandenen Freiheitsrechte in dieser Situation eher den unterbürgerlichen Schichten zugute gekommen, denen zwar auch die rechtliche Freiheit, nicht aber die materielle Grundlage ihres Gebrauchs zur Verfügung stand. Wenn daher die Staatsrechtslehre die Grundrechte nunmehr im Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung aufgehen Heß und ihnen jede das geltende Gesetzesrecht überschießende rechtliche Programmatik absprach, so nahm sie damit allen sozialen Forderungen die verfassungsrechtliche Legitimation und trug zur Sicherung des Status quo bei.

Auf die soziale Frage, die sich in der Phase der Hochindustrialisierung erheblich verschärfte, gab es auf diese Weise keine verfassungsrechtliche Antwort. Der erste Ansatz zu ihrer Lösung — Bismarcks Sozialversicherung — erfolgte unterhalb der Verfassung. Dennoch ist die Verfassungslage in diesem Zusammenhang nicht irrelevant. Es erscheint vielmehr bemerkenswert, daß es in Staaten, die dem liberalen Verfassungsmodell näher standen als Deutschland, im 19. Jahrhundert nicht mehr zu vergleichbaren Maßnahmen kam. Hier pflegten vielmehr die bürgerlich dominierten und der Regierung vorgeordneten Parlamente jede Begrenzung der wirtschaftlichen Freiheit unter Berufung auf die grundrechtlich abgesicherte Eigentums-und Vertragsfreiheit zu verhindern. Der nicht von der bürgerlichen Gesellschaft abhängige, in seiner paternalistischen Tradition ungebrochene deutsche Staat, für den der Liberalismus nicht Dogma, sondern nur Mittel zur Stärkung der eigenen Macht gewesen war, hatte es demgegenüber leichter, die Tradition der sozialen Fürsorge in dem Augenblick wiederzubeleben, in dem von der Arbeiterschaft ernstliche Desintegrationsgefahren drohten. So gesehen war die verfassungspolitische Rückständigkeit des deutschen Staates eine der Bedingungen seiner sozialpolitischen Fortschrittlichkeit.

III. Die erste deutsche Demokratie

Die hundertjährige Tradition der konstitutionellen Monarchie endete mit dem Thronverzicht Kaiser Wilhelms II. und aller übrigen deutschen Fürsten sowie der Ausrufung der Republik im November 1918. Ob ihr wieder ein Verfassungsstaat nachfolgen würde, war für eine kurze Zeitspanne ungewiß. Außer Frage stand die Ersetzung des monarchischen Prinzips durch die Volkssouveränität. Doch konkurrierten rätedemokratische Konzepte sowjetischen Musters mit parlamentarischen Demokratievorstellungen, bis sich im Dezember 1918 der Berliner Kongreß der Arbeiter-und Soldatenräte mehrheitlich für die Wahl einer verfassunggebenden Nationalversammlung entschied, nachdem schon im Vormonat durch die Pakte zwischen dem SPD-Vorsitzenden Ebert und der Obersten Heeresleitung sowie zwischen Gewerkschaften und Unternehmern Vorentscheidungen zugunsten einer gemäßigten Veränderung gefallen waren. Diese verfassungspolitische Weichenstellung fand die Nationalversammlung vor, als sie ihr Werk begann. Die Nationalversammlung war aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgegangen, an denen erstmals auch Frauen teilnahmen. Politisch dominierten die Oppositionsparteien des Kaiserreichs: die Sozialdemokraten, das katholische Zentrum und die Linksliberalen, während die alte Rechte und die neue Linke in der Minderheit blieben.

Die Verfassung, die die Weimarer Nationalversammlung im August 1919 beschloß, brach mit der Verfassungstradition der konstitutionellen Monarchie in zwei wesentlichen Hinsichten. Sie wechselte die Legitimationsgrundlage der politischen Herrschaft aus und ersetzte das monarchische durch das demokratische Prinzip. Die Weimarer Verfassung beanspruchte auf diese Weise anders als ihre Vorgängerinnen nicht nur herrschaftsmodifizierende, sondern herrschaftskonstituierende Geltung. Ferner veränderte sie die bürgerlich-liberale Basis der Grundrechte und unternahm es, diese auch sozialen Inhalten zu öffnen. Sie tat das aber nicht unter Preisgabe der klassisch-liberalen Grundrechte, sondern hielt an einer grundrechtlich begrenzten Staatsgewalt fest und fügte diesen Begrenzungen lediglich Handlungsaufträge an den Staat im Grundrechtsrang hinzu. Mit der Übernahme staats-begrenzender Grundrechte entschied sie sich zugleich für die Beibehaltung des Rechtsstaats, der im Kontakt mit den Bürgern an das Gesetz gebunden war. Endlich blieb es bei der föderalistischen Gliederung des Reiches, wenngleich sich nach dem Sturz der Monarchie die Gewichte zum Zentralstaat verschoben.

Das demokratische Prinzip ließ keine außerkonstitutionelle Staatsgewalt mehr zu. Alle staatlichen Amtsträger mußten ihre Legitimation unmittelbar oder mittelbar auf die Volkswahl zurückführen lassen. Das Volk war aber keineswegs auf die Parlamentswahl beschränkt. Es hatte das Recht zu Volksbegehren und Volksentscheid und wählte außer dem Reichstag auch den Reichspräsidenten unmittelbar. Das verlieh diesem eine verhältnismäßig starke Position, wie sich überhaupt die aus der Monarchie gewohnte Vorstellung einer starken und keineswegs nur repräsentativen Reichsspitze im Weimarer System fortsetzte. Die Gewaltenteilung, die nun nicht mehr am monarchischen Prinzip scheiterte, kam dadurch nicht in ihrer puren Form zum Tragen. Wie zuvor der Monarch setzte der Reichspräsident die Regierung ein. Im Unterschied zur Monarchie konnte das Parlament der Regierung aber das Mißtrauen aussprechen und sie dadurch stürzen. Das band unter normalen Bedingungen den Reichspräsidenten bei der Regierungsbildung von vornherein an die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. Überdies verfügte der Reichspräsident über das Recht der Parlamentsauflösung sowie über eine vom Parlament unabhängig Notverordnungskompetenz. Er besaß aber kein Veto mehr gegen Gesetzesbeschlüsse des Reichstags.

Der Reichstag war im demokratischen System nicht mehr bloß die beim Staat akkreditierte Vertretung der Gesellschaft, sondern selbst Inhaber der — freilich nicht mehr ungeteilten — Staatsgewalt. Damit blieben auch die politischen Parteien, die im Reichstag dominierten, nicht mehr an der Schwelle des Staates zurück, sondern gewannen direkten Einfluß auf das Staatshandeln. Wenngleich die Verfassung von ihnen noch keine Notiz nahm, waren sie doch keine extrakonstitutionellen Gebilde mehr. Die Hauptfunktion des Reichstags bestand in der Gesetzgebung. Jedoch machte sich die gemischt repräsentativ-plebiszitäre Demokratiekonzeption der Verfassung darin bemerkbar, daß dem Volk verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung standen, selber in den Gesetzgebungsprozeß einzugreifen. Auch in seiner interessenbezogenen verbandlichen Gliederung war das Volk in den Gesetzgebungsprozeß durch einen Reichtswirtschaftsrat eingeschaltet, allerdings nur mit konsultativer Funktion. Dagegen erschien es der Nationalversammlung mit dem Grundsatz der Volkssouveränität nicht vereinbar, die unmittelbar vom Volk legitimierten Staatsorgane einer umfassenden Verfassungskontrolle zu unterwerfen. Der Staatsgerichtshof war auf die Entscheidung von Föderalismus-Streitigkeiten und die Wahlprüfung beschränkt.

Der Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung nahm durch die Einfügung sozialer Grundrechte an Umfang stark zu. Er teilte die Grundrechte in fünf Abschnitte: Im ersten, „Die Einzelperson“ überschriebenen, waren die klassischen liberalen Freiheitsrechte versammelt. Im zweiten, der „Das Gemeinschaftsleben“ betraf, fanden sich die politischen Freiheitsrechte, ferner eine Reihe von Institutsgarantien, so für Ehe und Familie, für die Gemeinden und das Beamtentum. Der dritte Abschnitt betraf Religion und Religionsgesellschaften, der vierte Bildung und Schule und der fünfte das Wirtschaftsleben. Hier fanden sich die bemerkenswertesten Veränderungen gegenüber den Grundrechtsgehalten des 19. Jahrhunderts. Die wirtschaftliche Freiheit wurde am Beginn in die Grenzen der „Gerechtigkeit mit dem Ziel der Gewähr-B leistung eines menschenwürdigen Daseins für alle“ verwiesen. Die Vertragsfreiheit sollte nur nach Maßgabe der Gesetze bestehen. Ebenso galt für das Eigentum, daß Inhalt und Schranken vom Gesetz bestimmt wurden. Es folgte eine Reihe sozialer Grundrechte und Absichtserklärungen sowie grundrechtlicher Verheißungen, die die persönlichen Existenzvoraussetzungen, die familiären Verhältnisse und vor allem das Arbeitsleben betrafen.

Die Weimarer Verfassung litt in der kurzen Zeit ihrer Existenz darunter, daß sie den gesellschaftlichen Verhältnissen vorangeeilt war. Die Herrschaftsform, die sie errichtet hatte, fand in der Bevölkerung und in der aus der Monarchie übernommenen Beamtenschaft keinen ausreichenden Rückhalt und verlor in jeder Krise weiter an Kredit. Die Parteien, die die Verfassung trugen, gerieten bereits bei der ersten Reichstagswahl in die Minderheit. Die Weimarer Verfassung behielt dessen ungeachtet Geltung, weil ihre rechten und linken Gegner sich nicht auf eine Alternative einigen ließen. Sie wurde unter diesen Bedingungen aber nicht zum gemeinsamen Fundament politischer Konkurrenten für den geordneten Austrag ihrer Gegensätze, sondern blieb selbst politisches Streitobjekt. Der Kampf setzte sich innerhalb der Staatsrechtslehre fort und erschwerte so die allmähliche Herausbildung eines Verfassungskonsenses auch auf der juristischen Ebene. Vollends abträglich war es der Verfassung, daß sie keine Gelegenheit hatte, sich über einen längeren Zeitraum hinweg unter Normalbedingungen zu bewähren. Die Geschichte der Weimarer Republik ist überwiegend eine Geschichte von Notsituationen und Ausnahmezuständen.

Dabei erwies es sich für die Verfassung als besonders nachteilig, daß die Weimarer Gesellschaft keine positive Einstellung zum demokratischen Pluralismus fand. Je unversöhnlicher sich die verschiedenen Weltanschauungen und Interessen zeigten — und so zum Kompromiß unfähig wurden —, desto mehr wuchs das Verlangen nach einem überlegenen, von den Parteien und Interessengruppen unabhängigen Staat, das sich anfangs an der vergangenen Monarchie, später zunehmend an neuen populistischen Mustern orientierte. Die parlamentarische Demokratie geriet dadurch in Mißkredit, und die Erwartungen richteten sich vermehrt auf den Präsidenten. Als es den Parteien, deren Koalitionen ohnehin stets höchst labil gewesen waren, seit 1930 nicht mehr gelang, eine parlamentarisch gestützte Regierung zu bilden, mußte der Reichspräsident mit seiner verfassungsrechtlichen Kompetenz der Regierungsbildung, Parlamentsauflösung und Notgesetzgebung eingreifen, um den Staat handlungsfähig zu erhalten. Unter dem wachsenden Druck extremer Parteien auf der Rechten und Linken förderten die demokratischen Parteien die schleichende Aushöhlung der Demokratie, indem sie, unfähig sich zu einigen, die Präsidialdiktatur stillschweigend duldeten.

Von der Staatsrechtslehre, auch der demokratisch gesonnenen, kam in dieser Situation keine Unterstützung. Die Staatsrechtslehre verharrte vielmehr überwiegend in der formalistischen Haltung, die sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eingenommen hatte. Diese Einstellung betraf in erster Linie die Grundlagen der Verfassung. Demokratie und Rechtsstaat. Der Rechtsstaat wurde als Bindung der staatlichen Gewalt an das Gesetz begriffen; er richtete an den Inhalt des Gesetzes aber keinerlei Erwartungen. Ausschlaggebend war allein der formal korrekt gebildete Staatswille. Die Demokratie wurde überwiegend als Verfahren zur Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen verstanden. Ihre Grundlage war das Mehrheitsprinzip, und was immer die Mehrheit im vorgeschriebenen Verfahren beschloß, genoß verbindliche Geltung. Auf dieser Basis war es nicht nur möglich, daß die Verfassung durch jeden Beschluß mit verfassungsändernder Mehrheit ohne Änderung ihres Textes durchbrochen werden konnte. Es ließ sich unter demokratischen Gesichtspunkten auch nichts dagegen einwenden, wenn die Demokratie selber im demokratischen Verfahren aufgehoben wurde.

Zwar enthielt die Verfassung materielle Prinzipien in Gestalt der Grundrechte. Doch fuhr die Staatsrechtslehre fort, auch diese formal zu deuten. Nach der Auffassung, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts durchgesetzt hatte. galten sie nicht gegenüber dem Gesetzgeber. Dieser konnte sie vielmehr nach Belieben einschränken, und da die Verwaltung an das Gesetz gebunden war, blieb den Grundrechten keine das Gesetzmäßigkeitsprinzip überschießende Bedeutung. Sie liefen, wie sich die Staatsrechtslehre ausdrückte, leer. Das galt erst recht für die Erweiterung des Grundrechtskatalogs um soziale Grundrechte, die die Nationalversammlung in Reaktion auf die Folgen von Liberalismus und Industrialisierung beschlossen hatte. Da die Staatsrechtslehre eine Grundrechtsbindung des Gesetzgebers nicht anerkannte, konnte es sich bei diesen gerade an ihn adressierten Grundrechten nur um rechtlich unverbindliche Proklamationen handeln, deren Einlösung dem Belieben der jeweiligen Mehrheit anheimgestellt blieb. Wo sich dagegen ein materielles Verständnis der Grundrechte andeutete, verband es sich häufig nicht mit liberalen oder sozialen, sondern mit besitzindividualistischen oder völkischen Vorstellungen.

Der Nationalsozialismus hatte es angesichts eines solchen Verfassungsverständnisses leicht, seine Ankündigung einzulösen, daß er die Demokratie mit ihren eigenen Waffen schlagen wolle. Hitlers Regierungsübemahme ging so wie zahlreiche andere Regierungswechsel der Weimarer Republik vonstatten, und so wie zahlreiche andere Reichskanzler ließ er sich Neuwahlen zusichem, durch Notverordnungen Ausnahmekompetenzen einräumen und vom Parlament zur Gesetzgebung ermächtigen. Der Unterschied lag in der damit verbundenen Absicht. Kann man den Regierungen, die sich bis 1932 desselben Instrumentariums bedient hatten, unterstellen, daß sie es zur Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände benutzen wollten, so ging es Hitler darum, den Verfassungsstaat mit seinen grundrechtlichen und gewaltenteilenden Politik-begrenzungen gänzlich zu beseitigen. Das geschah sukzessive durch Suspendierung der Grundrechte, Abschaffung des Föderalismus, Aufhebung der Gewaltenteilung, Ausschaltung der rivalisierenden Parteien, Erhebung der NSDAP zur Staatspartei und Säuberung des Staatsapparats von politisch als unzuverlässig geltenden Angehörigen. Die Weimarer Verfassung wurde damit, ohne daß sie als Ganzes außer Kraft gesetzt worden wäre, ins Gegenteil verkehrt.

IV. Wiederbegründung und Stärkung des Verfassungsstaats

Für die Gestaltung des Grundgesetzes ist es prägend geworden, daß auf der Basis des Weimarer Verfassungsverständnisses keine Abwehr gegen die Selbstpreisgabe der demokratischen Ordnung möglich war. Der Parlamentarische Rat wollte eine Wiederholung dieses Vorgangs ebenso vermeiden wie verschiedene Regelungen der Weimarer Verfassung, denen Mitschuld am Zusammenbruch der Demokratie zugeschrieben wurde. Ohne Rücksicht auf die Weimarer Verfassung und ihr Schicksal kann das Grundgesetz daher nicht verstanden werden. Dennoch wäre es falsch, in ihm den Gegensatz zur Weimarer Verfassung zu sehen. Das Grundgesetz erklärt Republik, Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Bundesstaat zu seinen obersten Prinzipien. Alle werden wiederum in der Menschenwürde verankert. Geht man von dieser Selbst-charakterisierung aus, so steht es in seinen Grundlagen der Weimarer Verfassung näher als jeder anderen deutschen Verfassung. Sämtliche Prinzipien lagen auch dieser zugrunde. Eine Brücke zur konstitutionellen Monarchie führt dagegen lediglich über den Rechtsstaat und den Bundesstaat. Selbst die Paulskirchen-Verfassung, die 1948/49 am ehesten als Identifikationsobjekt empfunden wurde, läßt sich nur mit Einschränkung als demokratisch, als republikanisch und sozialstaatlich hingegen gar nicht bezeichnen.

Lehren aus der Weimarer Erfahrung suchte das Grundgesetz aber bei der Konkretisierung der obersten Prinzipien zu ziehen. Insbesondere sollte die Abschaffung der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung auf demokratischem Wege verhindert, jeder darauf gerichtete Versuch schon im Keim erstickt werden. Als Mittel fungiert eine Materialisierung der Demokratie, wie sie demokratischen Staaten, denen die Scheitemserfahrung von Weimar erspart blieb, fremd ist. Die Grundprinzipien der Verfassungsordnung sind nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. Sie werden der demokratischen Disposition ebenso entzogen, wie der Deutsche Bund das monarchische Prinzip der Disposition des Verfassungsgebers entzogen hatte.

Diese Entscheidung des Grundgesetzes setzt sich in der verfassungsrechtlichen Ermächtigung fort, die Fundamentalgegner der grundgesetzlichen Ordnung vom politischen Prozeß fernzuhalten. Politische Parteien, die die freiheitliche demokratische Grundordnung bekämpfen, können für verfassungswidrig erklärt und aufgelöst, Vereinigungen mit solchen Zielen verboten werden, Einzelpersonen bestimmter politisch verwendbarer Grundrechte verlustig gehen. Insoweit ist das Grundgesetz politisch nicht offen, sondern geschlossen. Als „streitbare“, „wehrhafte“, „abwehrbereite“ Demokratie grenzt es sich ausdrücklich vom formalen Demokratieverständnis der Weimarer Verfassung ab.

Fragt man, ob das Grundgesetz deswegen eine scheindemokratische Verfassung ist, so muß genau unterschieden werden, was es dem demokratischen Entscheidungsprozeß entzieht. Läßt man den Föderalismus beiseite, so handelt es sich um die Demokratie selbst samt ihrem legitimierenden Grund, der Menschenwürde, sowie die in ihrem Interesse garantierte Individualfreiheit mit dem Flankenschutz in Gestalt von Rechtsstaat, Sozialstaat und Gewaltenteilung. Die Beschränkung der demokratischen Freiheit bezieht sich also gerade auf Demokratie und Freiheit. Ausgeschlossen sind nur solche politischen Programme, die den Anspruch absoluter Verbindlichkeit erheben und deswegen notwendig auf Unterdrückung aller konkurrierenden Interessen und Überzeugungen ausgehen müssen. Das Grundgesetz setzt mithin eine Absolutheitsregel ein, um Absolutheitsansprüche abzuwehren. Darin liegt die Differenz zwischen Art. 79 Abs. 3 GG und der Ewigkeitsgarantie des monarchischen Prinzips, und insofern er sich auf den Schutz der Demokratie bezieht, ist Art. 79 Abs. 3 GG mit demokratischen Prinzipien vereinbar. Das Recht des Souveräns, das Grundgesetz insgesamt durch eine andere Verfassung abzulösen, kann Art. 79 Abs. 3 GG ohnehin nicht aufheben.

Da die wichtigste Ursache für den Zerfall der Weimarer Demokratie nach Ansicht des Parlamentari-B sehen Rats in einem von der Weimarer Verfassung begünstigten Versagen des Parlaments zu suchen war, legte er besonderen Wert darauf, dieses künftig in seiner Verantwortlichkeit zu stärken. Deswegen ist nach dem Grundgesetz das Parlament das einzige vom Volk direkt legitimierte Staatsorgan. Eine Schwächung seiner Kompetenzen durch konkurrierende Präsidentenbefugnisse oder Appell-möglichkeiten ans Volk sollten ausgeschlossen sein. Der Bundestag kann sich nach dem Grundgesetz weder der Regierungsbildung noch der Gesetzgebung entziehen. Der Bundeskanzler wird von ihm gewählt und darf nur durch gleichzeitige Wahl eines neuen abgelöst werden (konstruktives Mißtrauensvotum). Ermächtigungsgesetze sind gänzlich untersagt. Ein vom Parlament unabhängiges Verordnungsrecht des Präsidenten oder der Regierung besteht nicht. Parlamentarische Verordnungsermächtigungen an die Regierung sind nur in engen Grenzen zulässig. Den Parteien, die Parlament und Regierung beherrschen, wird eine demokratische Binnenordnung vorgeschrieben. Der Bundespräsident ist auf repräsentativ-symbolische Funktionen beschränkt.

Ebenso wie er sich um eine Festigung der parlamentarischen Demokratie bemühte, wollte der Verfassungsgeber die Grundrechte stärken. Art. 1 Abs. 3 GG erklärt alle Grundrechte zu unmittelbar geltendem Recht und wendet sich damit gegen die Übung der Weimarer Staatsrechtslehre, den Grundrechtskatalog in einen Teil, der Rechtsgeltung besaß, und einen anderen, der nur rechtlich unverbindliche Programmsätze enthielt, aufzuspalten. Ferner stellt das Grundgesetz klar, daß die Grundrechte sämtliche Staatsgewalten binden. Damit ist der im Kaiserreich entwickelten und in der Weimarer Republik übernommenen Ansicht, daß die Grundrechte nur für die Exekutive, nicht für die Legislative gelten, der Boden entzogen. Mittels der Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte überwand das Grundgesetz auch den nur auf Verfahrenskorrektheit bedachten formalen Rechtsstaat und ersetzte ihn durch einen materiellen. Jede Grundrechtseinschränkung bedarf einer gesetzlichen Grundlage. Das Gesetz muß die Grundrechtseinschränkung kenntlich machen. Auch im Fall zulässiger Einschränkung darf der Wesensgehalt eines Grundrechts nicht angetastet werden. Die Plazierung des Grundrechtskatalogs an der Spitze der Verfassung bringt die Bedeutungssteigerung zum Ausdruck.

Im Grundrechtsinhalt überbot das Grundgesetz die Weimarer Verfassung hingegen nicht, sondern lehnte sich eher an die Paulskirchen-Grundrechte an. Es beschränkte sich auf die klassischen Freiheitsrechte und institutionellen Garantien. Der Erfahrung der nationalsozialistischen Diktatur sind aber eine Reihe von Ergänzungen und Präzisierungen zu verdanken. Auf die soziale Grundrechtsproblematik verweisen nur das Koalitionsrecht des Art. 9 Abs. 3 GG und die an Art. 153 WRV angelehnte Formulierung der Eigentumsgarantie. Dagegen distanziert sich das Grundgesetz von der Weimarer Verfassung bezüglich der sozialen Grundrechte. Zwar erlaubt Art. 15 GG die Sozialisierung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln gegen Entschädigung. Im übrigen beschränkt sich das Grundgesetz aber auf die Proklamation des sozialen Rechtsstaats, ohne dessen Inhalt näher zu präzisieren. Die Sozialstaatsklausel verbietet unter diesen Umständen nur die Rückkehr zum laissez-faire-Prinzip des Liberalismus und überläßt die Entscheidung, ob das Gebot durch ein Minimalprogramm der Verhinderung von existenzieller Not oder durch ein Maximalprogramm weitgehender Angleichung der Lebensverhältnisse verwirklicht wird, den jeweiligen politischen Mehrheiten.

Der Parlamentarische Rat beschränkte sich aber nicht darauf, Fehler früherer Verfassungen zu verbessern. Er bemühte sich zusätzlich, die unbedingte Einhaltung der Verfassung durch die Staatsgewalt zu sichern. Die Durchsetzungsschwäche war ja das große Defizit des Verfassungsrechts seit den Anfängen — übrigens nicht nur in Deutschland — gewesen. Die gescheiterte Paulskirchen-Verfassung hatte darauf reagiert; die Weimarer Nationalversammlung war der Meinung gewesen, auf spezielle Vorkehrungen verzichten zu können. Die Befolgung der Verfassung blieb so dem good will der Staatsgewalt überlassen und war desto gefährdeter, je weniger Rückhalt die Verfassung in der Bevölkerung besaß. Der Parlamentarische Rat richtete daher eine eigene Durchsetzungsinstanz in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts ein und stattete es mit einer Kompetenzfülle aus, die kein anderes Gericht dieser Art aufweisen kann. Neben Föderalismus-Streitigkeiten, die auch in der Weimarer Republik justiziabel waren, kann das Bundesverfassungsgericht über Streitigkeiten zwischen Staatsorganen, über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, über Grundrechtsbeschwerden jedes Einzelnen, über das Verbot politischer Parteien und die Verwirkung der Grundrechte sowie eine Reihe weiterer Fragen entscheiden.

Unter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts haben insbesondere die Grundrechte eine vorher nie gekannte Wirksamkeit erlangt. Zum einen ist ihre Abwehrkraft gegen staatliche Freiheitseingriffe durch die Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsprinzips entscheidend gestärkt worden. Danach endet die Eingriffsbefugnis des Staates in Grundrechte nicht erst an der Wesensgehaltsgrenze des Art. 19 Abs. 2 GG. sondern schon dort, wo ein Eingriff intensiver als nötig und zumutbar ausfällt. Ferner hat das Gericht den Grundrechten durch die Entfaltung ihrer objektivrechtlichen Bedeutung als Werte oder Gestaltungsprinzipien ganz neue Anwendungsdimensionen erschlossen. In ihrer objek-tiven Bedeutung werden die Grundrechte zum einen aus der einseitigen Abwehrhaltung gegen den Staat gelöst und können diesen auch zum Handeln, nicht nur zum Unterlassen verpflichten. Zum anderen werden sie aus der einseitigen Ausrichtung auf den Staat gelöst und gewähren ihren Freiheitsschutz rundum, gleichgültig, ob die Gefahr vom Staat oder von privater Seite ausgeht. Neben die Abwehr-rechte des Einzelnen gegen den Staat tritt dadurch eine Schutzpflicht des Staates für die grundrechtliehe Freiheit, die er durch gesetzliche Maßnahmen und tatsächliche Leistungen zu erfüllen hat.

Im politischen Bereich liegt die wichtigste Leistung des Bundesverfassungsgerichts darin, daß es für die Offenhaltung des politischen Prozesses gesorgt hat. Die Neigungen der Regierungsparteien, ihre Position zur Verbesserung der eigenen Wahlchancen zu nutzen, oder die Versuchungen der Großparteien, ihre kleineren oder neuen Konkurrenten zu benachteiligen und zu behindern, sind ebenso eingedämmt worden, wie etwa die Versuche, politisches System und öffentliches Kommunikationssystem kurzzuschließen. Die Existenz einer solch großzügig ausgestatteten Kontrollinstanz läßt freilich den politischen Prozeß nicht unberührt. Sie wirkt wie eine dauernde Einladung, politische Niederlagen durch juristische Siege wettzumachen und schon die politische Auseinandersetzung im Blick auf den möglichen Rechtsstreit zu führen. Dadurch verstärkt sich die Juridifizierungstendenz, die der deutschen Politik ohnehin eigen ist, seit das deutsche Bürgertum die Beteiligung an der Staatsgewalt verfehlte und deswegen auf ihre rechtliche Zähmung setzte. Die verfassungsrechtliche Ambivalenz liegt darin, daß die Verfassung keineswegs immer klare Anweisungen enthält, so daß vielfach genuin politische Entscheidungen im Gewand der Verfassungsinterpretation fallen und sich auf diese Weise der demokratischen Verantwortung und Revision entziehen.

Mag sich in der Verrechtlichungstendenz von Politik auch eine deutsche Eigentümlichkeit fortsetzen, so fällt die Antwort auf die Frage, ob das Grundgesetz Ausdruck einer spezifisch deutschen Verfassungstradition sei, doch negativ aus. Weit eher läßt sich behaupten, daß mit dem Grundgesetz der Anschluß an die westliche Verfassungstradition vollzogen ist, ohne daß deswegen alle Traditionen gekappt worden wären. Wieweit darin eine Bedingung seiner hohen Akzeptanz und Effektivität liegt, ist schwer zu ermitteln. Verfassungen werden durch ihren politisch-sozialen Kontext ebenso geprägt, wie sie diesen wiederum prägen können. Dem Grundgesetz ist es zugute gekommen, daß der Bundesrepublik bisher tiefe Erschütterungen und zahlreiche Fundamentalgegner erspart geblieben sind. Das anfänglich indifferent aufgenommene Grundgesetz konnte sich unter diesen Umständen alsbald zur Konsensbasis aller politischen Kräfte entwikkeln und ist nicht wie die meisten seiner Vorgänger politisches Streitobjekt geblieben und auf diese Weise um seine Funktion gebracht worden. Darin unterscheidet es sich am stärksten von der älteren deutschen Verfassungstradition.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dieter Grimm, Dr. iur., LL. M., geb. 1937; Studium der Rechtswissenschaft und der Politikwissenschaft in Frankfurt, Freiburg, Berlin, Paris und Harvard; seit 1979 Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld; seit 1987 Bundesverfassungsrichter. Veröffentlichungen neueren Datums zur Verfassungsgeschichte: Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt 1987; Entstehungs-und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: D. Simon (Hrsg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt 1987; Die Grundrechte im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft, in: J. Kocka (Hrsg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1988; Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 1, Frankfurt 1988.