Auswirkungen des Kabelfernsehens: Passivität und Vereinsamung durch Reizüberflutung im erweiterten Fernseh-(Unterhaltungs-) Angebot? | APuZ 15/1989 | bpb.de
Auswirkungen des Kabelfernsehens: Passivität und Vereinsamung durch Reizüberflutung im erweiterten Fernseh-(Unterhaltungs-) Angebot?
Rüdiger Schulz
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Zusammenfassung
Die von der Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems (KtK) 1976 empfohlenen, ursprünglich als , rückholbare‘ Modellversuche geplanten Kabelpilotprojekte haben nach der von der Bundesregierung Helmut Kohl ab 1982, ohne die Begleitforschungsergebnisse abzuwarten, eingeleiteten zügigen Verkabelung der Haushalte in der Bundesrepublik und West-Berlin einen anderen Stellenwert erhalten. Nachdem Ende 1988 bereits 11, 5 Millionen oder 45 Prozent aller Haushalte *. verkabelt waren und sich inzwischen rund 40 Prozent der anschließbaren Haushalte zum Empfang der erweiterten Programmangebote entschlossen haben, stellt sich die Frage, ob das Kabelfernsehen in der Bundesrepublik eingeführt werden soll, nicht mehr. Nachdem das duale Fernsehsystem mit einer Grundversorgung durch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten im Wettbewerb mit Zusatzangeboten privater Programmveranstalter inzwischen faktisch etabliert und verfassungsrechtlich abgesichert ist, kann es jetzt nur noch darum gehen, den „Prozeß der Evolution schrittweise zu erproben und kontrolliert zu gestalten“ (Eberhard Witte). In einer Synopse erster empirischer Forschungsergebnisse aus den vier Kabelpilotprojekten Ludwigshafen/Vorderpfalz, München, Dortmund und Berlin wird — auf Erkenntnisse bei Erwachsenen beschränkt — versucht, die Frage zu beantworten, ob es, wie viele Gegner des Kabelfemsehens erwarteten, nach dem Anschluß an das Kabelfernsehen zu „Passivität und Vereinsamung durch Reizüberflutung im erweiterten Fernseh-Unterhaltungs-Angebot kommt“. Die bisher mit unterschiedlich aussagekräftigen Untersuchungsansätzen ermittelten kurz-und mittelfristigen Auswirkungen sind geeignet, diese Frage zunächst zu verneinen. Bisher gibt es keine genügend gesicherten Erkenntnisse, die eine Rückholung des Kabelfemsehens nahelegen würden, wenn dies noch möglich wäre. Da sich jedoch Auswirkungen neuer Medienangebote vielfach erst langfristig zeigen, ist eine Fortführung der wissenschaftlichen Begleitforschung über das Ende der Pilotversuche hinaus unerläßlich.
I. Befürchtungen im Vorfeld
Vor nunmehr fast zehn Jahren wagte der damalige Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt, Albrecht Müller, auf Erkenntnisse aus 96 psychologischen Explorationen mit Bundesbürgern zur Akzeptanz des Kabel-und Satellitenfernsehens gestützt die Prognose: „Wenn die öffentliche Debatte um die neuen Medien stattfindet, dann wird am Ende mit großer Wahrscheinlichkeit eine Mehrheit gegen die neuen Medien sein.“ 1979 hatte das Münchner SINUS-Institut im Auftrag des Bundeskanzleramtes diese jeweils rund einstündigen Einzelexplorationen durchgeführt. Dabei wurden die Interviewten „im ersten Teil des Gesprächs, nachdem sie zuvor über ihre Femsehgewohnheiten, über ihre Bewertung des aktuellen Fernsehangebots exploriert worden waren, zu einer spontanen Stellungnahme zum Kabelfemsehen angeregt. Nach eingehender Beschäftigung mit dem Thema, wobei die Gesprächspartner stimuliert wurden, die Vor-und Nachteile des Kabelfernsehens gegeneinander abzuwägen, wurde dann wieder um ein Urteil gebeten.“ Nach Aufklärung über mögliche Vor-und Nachteile des Kabelfernsehens stieg der Anteil der eindeutigen Kabelablehner, der bei den ersten spontanen Stellungnahmen nur 33 Prozent betragen hatte, auf am Ende 56 Prozent. Den größten Zulauf erhielt die . *Ablehnungsfront aus der Gruppe der Neutralen und Uninformierten. Diese waren „durch die möglichen Nachteile des Kabelfernsehens in so starkem Maße beeindruckt, daß sie bis auf einen kleinen Rest in das Lager der Ablehner überwechseln“ Als wichtigste Argumente gegen das Kabelfemsehen führte Albrecht Müller folgende Befürchtungen an
Abbildung 12
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1. Manipulation des Fernsehzuschauers als Konsument und Wähler; 2. Beeinträchtigung zwischenmenschlicher Beziehungen („zunehmender geistiger Dämmerzustand“, „Unfähigkeit zum Gespräch und zum aktiven Aufeinanderzugehen“);
Abbildung 13
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3. Verführung zur geistigen und körperlichen Untätigkeit sowie 4. Nachteile und Gefahren speziell für Kinder und Jugendliche.
Obwohl Albrecht Müller die begrenzte Aussagefähigkeit der auf nur 96, nicht in allen relevanten Merkmalen repräsentativen Explorationen gestützten Ergebnisse erkannte, hielt er die „Eindeutigkeit und Signifikanz“ der gefundenen Veränderungen doch für so stark, daß er seine negative Prognose hinreichend abgesichert sah. Allerdings empfahl er, zur breiteren Fundierung derartige psychologische Explorationen bei einem repräsentativen Querschnitt von etwa 2 000 Mitbürgern zu „vervielfältigen“, was schneller politisch verwertbare Erkenntnisse liefern und letztlich „sozialwissenschaftlich aussagefähiger“ und zudem „unvergleichlich billiger“ sei als die vorgesehenen Kabelpilotprojekte
Zur Errichtung und Nutzung von Breitbandverteilnetzen empfahl die Kommission für den Ausbau des technischen Kommunikationssystems (KtK; Vorsitz: Professor Eberhard Witte) 1976 die Durchführung von Pilotprojekten (Modellversuche); 1978 faßten die Ministerpräsidenten der Länder einen entsprechenden Beschluß. Wie viele Gegner des Kabelfernsehens befürchtete auch Albrecht Müller, die Pilotprojekte würden entgegen den Absichten der damaligen Bundesregierung unter Helmut Schmidt vollendete Tatsachen schaffen und die medienpolitische Entscheidung über die Einführung des Kabelfernsehens präjudizieren. Niemand werde es wagen, die zur faktischen Erprobung in den Pilotprojekten erforderlichen enormen Investitionen zum Aufbau der Kabelnetze und der sendetechnischen Infrastruktur sowie für die Programmproduktion wieder rückgängig zu machen, zumal dies mit einem Abbau vieler, gerade neugeschaffener Arbeitsplätze verbunden wäre.
II. Veränderter Stellenwert der Pilotprojekte
Abbildung 7
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Die verbreiteten Zweifel an der „Rückholbarkeit" der ursprünglich ergebnisoffen geplanten Pilotprojekte waren insofern berechtigt, als unmittelbar nach dem Amtsantritt der Regierung Helmut Kohl vom neuen Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling die bundesweite Verkabelung der Haushalte eingeleitet und zügig vorangetrieben wurde, ohne die Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung in den erst 1984 mit großer zeitlicher Verzögerung gestarteten Pilotprojekten abzuwarten. Ende 1988 waren in der Bundesrepublik 11, 7 Millionen oder 45 Prozent aller Haushalte verkabelt. 39, 5 Prozent dieser Haushalte haben sich bisher zum Empfang der erweiterten Programmangebote des Kabelfernsehens entschlossen Die Frage, ob das Kabelfernsehen in der Bundesrepublik eingeführt werden soll, war damit bereits entschieden, sie stellt sich heute nicht mehr. Dagegen hatten erste Zwischenergebnisse aus den Pilotprojekten Einfluß auf die Frage, wie die Einführung am besten erfolgen kann, insbesondere im wirtschaftlichen und technischen Bereich sowie bei der politischen Willensbildung über die inzwischen verabschiedeten neuen Mediengesetze der Länder. Bernhard Vogel, langjähriger Vorsitzender der Medienkommission der Länder, sieht das Vierte Fernsehurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1986 als Bestätigung der im Ludwigshafener Pilotprojekt erstmals erprobten Konzeption eines dualen Rundfunksystems mit einer Grundversorgung durch die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten im Wettbewerb mit den Zusatzangeboten privater Programm-veranstalter. „Nicht zuletzt hat der Staatsvertrag zur Neuordnung des Rundfunkwesens vom 3. April 1987 die wesentlichen Gestaltungsmerkmale eines dualen Rundfunksystems herausgearbeitet, wie sie sich in der wissenschaftlichen Begleitung dargestellt haben — insbesondere in den Fragen der Finanzierbarkeit und der Rechtsgrundlagen, aber auch des Jugendschutzes und der Förderungsmöglichkeiten für den Offenen Kanal.“
Nach der faktischen Etablierung und auch verfassungsrechtlichen Absicherung des dualen Rundfunksystems in der Bundesrepublik Deutschland liegt der Wert der Pilotprojekte und ihrer noch nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Begleitung nicht mehr in einer Entscheidungshilfe für grundlegende medienpolitische Weichenstellungen. Vielmehr kann es, wie Eberhard Witte im Schlußbericht der Münchner Projektkommission resümiert, „nur darum gehen, den Prozeß der Evolution schrittweise zu erproben und kontrolliert zu gestalten“ Sollte die wissenschaftliche Begleitforschung unerwünschte Auswirkungen nachweisen, wären daraus politische und rechtliche Konsequenzen zu ziehen, wie z. B. medienpädagogische Maßnahmen, geänderte Zulassungsregelungen und Auflagen für die Programmveranstalter.
Vom Zwang zur kurzfristigen Politikberatung befreit, eröffnen sich den an der Begleitforschung beteiligten Wissenschaftlern jetzt auch größere Freiräume für eine vergleichende Bewertung des Beitrags der mit zum Teil sehr unterschiedlichen Forschungsansätzen gewonnenen inhaltlichen und methodischen Erkenntnisse für die kommunikationswissenschaftliche Wirkungsforschung.
III. Die Untersuchungsaufgabe
Abbildung 8
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Im vorliegenden Beitrag über Auswirkungen des Kabelfernsehens kann noch keine abschließende Bilanz der wissenschaftlichen Begleitforschung in den vier für die Modellversuche ausgewählten Pilot-gebieten Ludwigshafen/Vorderpfalz (Projektlaufzeit: 1. Januar 1984 bis 31. Dezember 1986), München (1. April 1984 bis 31. Dezember 1985), Dortmund (1. Juni 1985 bis 31. Mai 1988) und Berlin (Beginn: 28. August 1985, vorgesehene Laufzeit: 5 Jahre) gezogen werden. Zwar liegen die Schlußberichte der wissenschaftlichen Begleitkommissionen von Ludwigshafen (1987) und München (1987) vor. Der ursprünglich für Ende 1988 angekündigte Schlußbericht der Dortmunder Projekt-kommission steht noch aus. Von der Forschungsgruppe der Universität Mannheim (Leitung: Professor Max Kaase), die zunächst im Auftrag der Ländermedienkommission und später von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) weiter-finanziert parallel zur offiziellen wissenschaftlichen Begleitkommission im Raum Ludwigshafen Wirkungsuntersuchungen durchführte, sind lediglich erste Teilbefunde zugänglich. Dies trifft auch auf die verschiedenen Forschergruppen im noch nicht abgeschlossenen Berliner Kabelpilotversuch zu.
Hier soll nicht nochmals ein Gesamtüberblick über die jeweiligen organisatorischen, inhaltlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die spezifischen Zielsetzungen der verschiedenen Pilotprojekte und die dort durchgeführten bzw. noch geplanten Untersuchungen und Auswertungen gegeben werden. Synoptische Darstellungen dazu wurden mit umfangreichen Literaturhinweisen in letzter Zeit unter anderem von Uwe Hasebrink und Will Teichert publiziert. Vielmehr sollen hier aus derFülle der bisher vorliegenden Untersuchungsergebnisse aus den verschiedenen Programmanbieterbefragungen und Programmanalysen sowie der Rezipientenforschung (u. a. Akzeptanzuntersuchungen, Nutzungs-und Wirkungsstudien) lediglich jene Erkenntnisse herausgegriffen werden, die eine empirische Überprüfung — Bestätigung oder Widerlegung — dreier zentraler Thesen der Kabel-gegner ermöglichen.
Erstens: Kommt es bei den Kabelfernsehteilnehmem nach dem Anschluß an das (in der Regel von früher etwa vier bis fünf ortsüblichen aufjetzt rund 20 empfangbare Programme) wesentlich erweiterte Femsehprogrammangebot öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten im Wettbewerb mit den Angeboten privater Programmveranstalter zur Verführung zu exzessivem Femsehkonsums mit einer Reizüberflutung insbesondere durch Unterhaltungsangebote? Zweitens: Verdrängt die passive Fernsehrezeption aktive Beschäftigungen innerhalb des nicht unbegrenzten Freizeitbudgets der Zuschauer (zunehmende Passivität)?
Drittens: Beeinträchtigt erweiterter Femsehkonsum die zwischenmenschlichen Beziehungen, insbesondere die personale Kommunikation innerhalb und außerhalb der Familie bis hin zur Vereinsamung? Als erste signalisierte Elisabeth Noelle-Neumann schon im Sommer 1985 gleichsam „Entwarnung“. Die Ergebnisse der ersten Wiederholungsbefragung, die das Allensbacher Institut an der Jahres-wende 1984/85 im Auftrag der wissenschaftlichen Begleitkommission unter Personen durchführte, die schon ein Jahr vorher (vor Aufnahme des Sendebetriebs in der Region Ludwigshafen/Vorderpfalz) von Allensbacher Interviewern befragt worden waren, „sind geeignet, bestimmte dramatische Befürchtungen, die seit Jahren wiederholt werden, zu besänftigen“ Nach Anschluß an das Kabelfemsehen hatten die Kabelpioniere ihren Fernsehkonsum werktags nur um rund neun Minuten ausgeweitet und „in bezug auf Freizeitbeschäftigungen, wie Sport treiben, sich um Nachbarn kümmern, Theater und Konzerte besuchen, lassen sich bisher Verdrängungseffekte nicht erkennen“ Besonders überraschte der Befund, daß sich das Familienklima zwischenzeitlich nicht nur nicht verschlechtert hatte, sondern eher Besserungen anzeigte. „Öfter ist die Stimmung bei uns wegen Kleinigkeiten gereizt“, sagten die Kabelteilnehmer vor dem Anschluß zu 31 Prozent, ein Jahr später zu Prozent (Kontrollgruppe: 22 Prozent, ein Jahr später 23 Prozent). „Es könnte also so sein“, schrieb Elisabeth Noelle-Neumann, „daß der Einfluß auf das Familienleben genau umgekehrt ist, als jahrelang angenommen wurde“ 17). Einschränkend fügte sie hinzu „Eine zurückhaltende Berichterstat-tung ist schon darum erforderlich, weil wir bisher nur Kurzzeitwirkungen bis höchstens 12 Monate erfaßt haben. Der weitere Verlauf muß abgewartet werden.“ Wie zu erwarten war, stießen diese ersten Befunde auf Erstaunen und massive Kritik. Ingrid Scheithauer nannte sie schlichtweg Artefakte
Wie ist diese „frühe Entwarnung“ heute zu bewerten, nachdem die Ludwigshafener Begleitforschung weitere zwei Jahre fortgeführt wurde und dazu inzwischen Forschungsergebnisse auch aus den drei anderen Pilotgebieten vorliegen? Wurden die frühen Ludwigshafener Befunde inzwischen ganz oder teilweise bestätigt oder aber widerlegt?
IV. Forschungsdesigns der Wirkungsforschung
Abbildung 9
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Schon an dieser Stelle sei davor gewarnt, von der empirischen Kommunikationsforschung gleichsam . endgültige A* ntworten , nicht mehr anzweifelbare Ursache-Wirkungs-Aussagen zu erwarten. Vor allem wenn es, wie hier, um Aussagen über langfristige Auswirkungen neuer Medienangebote unter natürlichen Feld-(nicht unter künstlichen Laboratoriums) -bedingungen geht, sind eindeutige Kausalaussagen aufgrund der Vielzahl möglicher, nicht voll kontrollierbarer Einflußfaktoren unzulässig. In den Anforderungen an die Wirkungsforschung wird man sich zumindest vorläufig darauf beschränken müssen, „anstelle von unbezweifelbaren Beweisen der Wirkung die systematische Kumulation von Evidenzen zu setzen“ Zur Erzielung von Erkenntnisfortschritten im Sinne gesteigerter Evidenz hat die Senatskommission für Medienwirkungsforschung der DFG unter anderem empfohlen, vermutete Zusammenhänge in „Wiederholungsuntersuchungen als Replikationen und Variationen von Fragestellungen und Designs“ zu überprüfen Würden die verschiedenen Forschergruppen in den vier Kabelpilotprojekten mit ähnlichen oder voneinander abweichenden Forschungsdesigns und Fragemodellen zu gleichen Erkenntnissen gelangen, würde dies höhere Bestätigungsgrade und damit gesteigerte Evidenz bedeuten.
Der hier vorgesehene Ergebnisvergleich setzt zunächst eine kurze Methodendarstellung und kritische Würdigung der verschiedenen Forschungsansätze voraus. Nur so läßt sich die Aussagekraft der Befunde beurteilen. Als ideales Untersuchungsdesign für Wirkungsnachweise gilt die experimentelle Pretest-Posttest Untersuchungsanordnung mit einer Testgruppe auf die ein experimenteller Faktor (Nutzung des erweiterten Programmangebots im Kabelfernsehen) einwirkt und einer merkmaisgleichen Kontrollgruppe ohne Einwirkung des experimentellen Faktors (ohne Kabelanschluß) Nach der Logik des sozialwissenschaftlichen Experiments wären Veränderungen, die sich in der Testgruppe mit Kabelanschluß beim Vergleich von Vorher-und Nachher-Messung zeigen, dann als Wirkungen des experimentellen Faktors anzusehen, wenn sich in einer merkmaisgleichen Kontrollgruppe ohne Kabelanschluß keine entsprechenden Veränderungen ergeben. Würden sich in Test-und Kontrollgruppe gleichlaufende Veränderungen zeigen, wäre dies als normale Veränderung im Zeitablauf zu interpretieren, z. B. aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher, kultureller, wirtschaftlicher oder politischer Trends oder entwicklungspsychologischer Reifungsprozesse. Da im Laufe des Diffusionsprozesses mit zunehmender Kabelanschlußdichte direkte oder indirekte Wirkungen des Kabelfemsehens auch auf die Nichtteilnehmer im Versuchsgebiet (interne Kontrollgruppe) unvermeidlich sind (z. B. durch das Ansehen der neuen Kabelprogramme bei bereits angeschlossenen Nachbarn, Freunden oder Bekannten oder durch Gespräche oder die Berichterstattung in der Zeitung) ist die zusätzliche Beobachtung einer merkmaisgleichen Kontrollgruppe außerhalb des Versuchsgebietes zu empfehlen (externe Kontrollgruppe).
Für die Vorher-Nachher-Messungen zur Ermittlung von Verhaltens-und Einstellungsänderungen bieten sich Panelbefragungen als angemessenste Methode an. personenidentische Wiederholungsbefragungen in Zeitabständen mit in weiten Teilen identischem Frageprogramm In Kombination dazu sollten zur möglichst präzisen, personen-und sendungsbezogenen Erfassung des Wirkungsfaktors . Art und Intensität der Nutzung der herkömmlichen sowie der neuen P*rogrammangebote in Test-und Kontrollgruppe telemetrische Meßgeräte installiert werden, zur von der schwankenden Qualität menschlicher Gedächtnisleistungen unabhängigen technischen Registrierung der Femsehnutzung mittels Druck auf Personentasten (Push-bottomVerfahren). Solche Meßgeräte gehören seit Jahren zum internationalen Standard der Fernsehzuschauerforschung Sie werden in Deutschland kontinuierlich von teleskopie und der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) eingesetzt.
Ein solches experimentelles Untersuchungsdesign mit Testgruppe sowie interner und externer Kontrollgruppe mit einer Vorher-Messung vor Einwirkung des experimentellen Faktors *(. Nullerhebung zur Beschreibung der Ausgangssituation) und mehreren Nachher-Messungen über einen mehrjährigen Zeitraum hinweg mittels Panelbefragungen in Methodenkombination mit personenidentischen telemetrischen Messungen der tatsächlichen Femsehnutzung sowie Inhaltsanalysen der gesehenen Programmangebote wäre das nach heutigem Stand geeignetste Forschungsdesign zur Ermittlung gesellschaftlicher Auswirkungen der Einführung des Kabelfernsehens. In keinem der vier Pilotgebiete konnte dieses Design für Wirkungsforschung, das vom Institut für Demoskopie Allensbach im Sommer 1983 für die wissenschaftliche Begleitforschung vorgeschlagen worden war, voll verwirklicht werden. Statt dessen wurden Ersatzlösungen realisiert, die sich dem Design in sehr unterschiedlichem Maße annähern und deshalb auch unterschiedlich aussagekräftige Ergebnisse liefern.
Abstriche vom Design ergeben sich schon zwangsläufig aus der Aufgabe, gesellschaftliche Auswirkungen des Kabelfernsehens unter natürlichen Bedingungen zu ermitteln. Die Bildung von strikt merkmalsgleichen Test-und Kontrollgruppen würde eine zufallsgesteuerte, randomisierte Zuordnung zur Test-bzw. Kontrollgruppe voraussetzen. Dies könnte z. B. so geschehen, daß aus einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe jeder Haushalt mit einer geraden Zufallsziffer dazu bestimmt wird, sich an das Kabelfernsehen anzuschließen, während jedem Haushalt mit ungerader Zufallsziffer der Kabelanschluß untersagt wird. Eine derartige Zuteilung ignoriert die persönlichen Einstellungen der Versuchspersonen, ihre Präferenzen für bzw. Aversionen gegen das Kabelfernsehen. Damit aber wäre ein wesentlicher Faktor im natürlichen Diffusionsprozeß ausgeschaltet, der maßgeblich auch das Wirkungspotential des erweiterten Fernsehprogramms bestimmt. Unter natürlichen Feld-bedingungen wird die Zugehörigkeit zur Test-bzw. Kontrollgruppe durch Selbstselektion gesteuert, durch persönliche Anschlußbereitschaft bzw. Ablehnung des Kabelanschlusses. Da Anschlußbereite und Nichtanschlußwillige nicht in allen soziodemographischen. sowie Einstellungs-und Verhaltensmerkmalen übereinstimmen, wird aus dem experimentellen Design unter natürlichen Feldbedingungen ein quasi-experimenteller Untersuchungsansatz mit nicht voll egalisierter Test-und Kontrollgruppe. Neben diesen zur Erfüllung der Untersuchungsaufgabe unvermeidlichen Abstrichen vom Design ergaben sich in allen Pilotprojekten weitere Einschränkungen, insbesondere aufgrund finanzieller und zeitlicher Restriktionen.
Den im Abschlußbericht über das Pilotprojekt München enthaltenen Wirkungsaussagen liegen, wie es dort heißt, „unter anderem wegen des Datenschutzes“ keine Panelerhebungen zugrunde. Es werden dort überwiegend Daten aus zwei unabhängig voneinander befragten Stichproben verglichen: Einer sogenannten Voruntersuchung vor Aufnahme des Sendebetriebs, die im ursprünglich vorgesehenen Pilotgebiet I schon im September/Oktober 1982, im erweiterten Pilotgebiet II im Januar/Februar 1984 durchgeführt worden war, sowie einer Hauptuntersuchung kurz vor Versuchsende (Infratest, November 1985), bei der 625 Versuchsteilnehmer ab 14 Jahre und 395 Nichtteilnehmer im Projektgebiet sowie in einer Kontrollerhebung 420 Personen im Restgebiet Münchens befragt wurden. Da von den Interviewpartnern der Hauptuntersuchung keine Vorher-Messungen vorliegen, sind keine hinreichend fundierten Wirkungsnachweise möglich. Aussagen aufgrund von Selbstbeobachtungen. wie sie in der Münchner Hauptuntersuchung hilfsweise ermittelt wurden, z. B. was man seit Anschluß an das vermehrte Programmangebot häufiger oder seltener tut, gelten, da von sozialer Erwünschtheit gefiltert, als wenig valide. Insofern weisen die Münchner Erhebungen allenfalls Veränderungstendenzen auf, ermöglichen jedoch keine hinreichend genauen Aussagen über das Ausmaß von Veränderungen.
Im Kabelpilotprojekt Dortmund wurde, „um wissenschaftliche Erkenntnisse über die Nutzung und die Wirkung von zusätzlichen Programmangeboten zu gewinnen“ (mögliche Veränderungen während des Pilotprojektes im Bereich kommunikativer, so-zialer, kultureller, bildender und wirtschaftlicher Aktivitäten ein verkürztes Paneldesign ohne experimentelle Untersuchungsanordnung realisiert, das heißt ohne personenidentische Vorher-Messung vor dem Anschluß an das Kabelfernsehen sowie ohne Kontrollgruppe. Die bisher publizierten Wirkungsaussagen können sich lediglich auf einen Vergleich der Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage im Raum Dortmund („Null-Erhebung“ im Frühjahr 1985 durchgeführt von der GfK, n = 1035) und der Ergebnisse einer davon unabhängig befragten Teilnehmerstichprobe stützen (1. Panelwelle. Mitte Februar bis Mitte April 1987, durchgeführt von infas, n = 3090 Personen ab 14 Jahre sowie 396 Kinder unter 14 Jahre). Saisonal vergleichbar wurde im ersten Quartal 1988 eine Wiederholungsbefragung in der Teilnehmerstichprobe durchgeführt (2. Panelwelle), deren Ergebnisse noch nicht veröffentlicht sind. Zur Ermittlung der Mediennutzung wurde in die Dortmunder Begleitforschung eine schriftliche Tagesablauferhebung zum Stichtag „gestern“ einbezogen. Ergänzend wurden in einer Teilstichprobe eine Woche lang Medientagebücher geführt. Dortmund war das einzige Pilotprojekt, in dem die Femsehnutzung auch technisch registriert wurde. Die Bundespost setzte dazu in allen Teilnehmerhaushalten das soge-nannte FAT-Gerät ein, einen fernsteuerbaren, adressierbaren Teilnehmer-Konverter, der allerdings nur die Haushaltseinschaltquote festhält, nicht aber die individuelle Sehbeteiligung einzelner Personen
Da die Panelerhebungen erst starteten, als bereits rund 10 000 Haushalte an das Kabelnetz angeschlossen waren, können im Dortmunder Pilotprojekt nur Veränderungen zwischen zwei Meßzeitpunkten in späteren Phasen des Diffusionsprozesses ausgewiesen werden, nicht aber Veränderungen gegenüber der Zeit vor dem Kabelanschluß.
Aus der Fülle der weiteren Dortmunder Begleitprojekte sei hier noch besonders auf das Projekt „Familie und erweitertes Medienangebot“ (Arbeitsgruppe Professor Hurrelmann) hingewiesen
Hier wurde eine Kombination von Survey-Methode (zwei Panelbefragungen, allerdings ohne Null-Erhebung, in zunächst 200 Familien mit Kindern nach im Durchschnitt 9, 5 Monaten Kabelanschluß in der Erstbefragung und rund 20 Monaten Kabelerfahrung bei der Zweitbefragung sowie 200 Familien ohne Kabelanschluß als Vergleichsgruppe) und Fallstudien in 20 Familien mit besonderer Problem-lage (arbeitsloser Vater, alleinerziehende Mutter, junge Eltern, beide Eltern voll berufstätig) verwirklicht. Ziel dieser Untersuchungsanordnung ist nicht ein Wirkungsnachweis. Vielmehr sollen langfristige Rückwirkungen bedeutsamer Veränderungen des Mediengebrauchs auf die Familienstrukturen „plausibel gemacht“ werden, in dem man Verknüpfungen aufzeigt, die „zwischen Familieneigenschaften und den Formen des Mediengebrauchs bestehen. Im strikten Sinne als Veränderungen nachweisen können wir sie unter den gegebenen Untersuchungsbedingungen nicht.“
Im Kabelpilotprojekt Berlin wurde von der Forschungsgruppe Professor Hans-Dieter Klingemann ein Projekt zur „Akzeptanz und Wirkung des Kabelfernsehens" durchgeführt, um die Wirkungen auf die Bereiche Familie, Freizeit und Politik zu untersuchen. Zunächst war das Projekt von der gemeinsamen Medienkommission der Länder gefördert worden. Nach deren Auflösung drohte die Einstellung des Projekts, doch gelang es schließlich, die Arbeiten mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) fortzuführen. Die Untersuchung ist als quasi-experimentelle Wirkungsanalyse mit einer Testgruppe von Kabelteilnehmern und einer Kontrollgruppe ohne Kabelanschluß angelegt. Eine echte Null-Erhebung vor Anschluß an das Kabelfemsehen fehlt. Die erste Befragung fand, unter anderem durch Schwierigkeiten bei der Stichprobenbildung verzögert, im Frühjahr 1986 statt, also rund sechs Monate nach dem Start des Kabelfernsehens in Berlin. Die beiden Wiederholungsbefragungen (2. und 3. Panelwelle) fanden jeweils im Frühjahr 1987 und 1988 statt. Erste Veröffentlichungen sind in den nächsten Monaten zu erwarten.
Im Rahmen der Berliner Begleituntersuchung der Evangelischen Kirche wurde ein Projekt „Kommunikationsverhalten und Neue Medientechniken“ durchgeführt (Projektleiterin: Claudia Schmidt), in dem eine Verbindung von qualitativer Wirkungsforschung und Medienpädagogik versucht wird. Dabei wurde ein Mehrmethodenansatz erprobt. Zunächst füllten 600 Personen, davon etwa jeder zweite mit Kabelanschluß, einen schriftlichen Fragebogen unter anderem zur Mediennutzung und zum Freizeitverhalten aus. Der Schwerpunkt lag jedoch auf qualitativen Untersuchungsmethoden. In 40 Gruppendiskussionen wurden 300 der zunächst schon schriftlich Befragten „im Diskussionsprozeß mit anderen Meinungen konfrontiert“. Dadurch „könnten auch individuelle Begründungszusammenhänge herausgearbeitet werden, die durch die Selbstverständlichkeit der täglichen Mediennutzung von einzelnen Menschen sonst gar nicht mehr wahrgenommen werden.“ In späteren Einzelinterviews wurde diesen Zusammenhängen noch weiter nachgegangen. Darüber hinaus soll im Rahmen dieses Projekts „mit medienpädagogischen Maßnahmen erprobt werden, wie Kinder und Jugendliche zu einem bewußten und sinnvollen Umgang mit den Medienangeboten befähigt werden können“
Im Pilotgebiet Ludwigshafen/Vorderpfalz, in dem das Kabelfernsehen in Deutschland am '1. Januar 1984 seine Premiere erlebte, konnten gleich zwei quasi-experimentelle Untersuchungsdesigns in Kombination mit Panelbefragungen von zwei parallel arbeitenden Forschungsteams verwirklicht werden. Im Auftrag der wissenschaftlichen Begleitkommission (Vorsitz: Professor Reinhard Ricker) baute das Institut für Demoskopie Allensbach (Projektleitung: Professor Elisabeth Noelle-Neumann) aus den bei einer Null-Erhebung an der Jahres-wende 1983/84 teils in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage, teils in einer Antragstellerstichprobe Befragten ein erstes Panel (Panel I) auf, mit drei personenidentischen Wiederholungsbefragungen in etwa jährlichem Abstand. Die abschließende dritte Wiederholungsbefragung fand im Herbst 1986, wenige Wochen vor Ende des auf drei Jahre befristeten Versuchsbetriebes statt. Der Test-gruppe aus Kabelversuchsteilnehmern wurde eine Kontrollgruppe aus Nichtteilnehmem gegenübergestellt (interne Kontrollgruppe). Die Zugehörigkeit zu Test-und Kontrollgruppe blieb nicht bis zum Versuchsende eindeutig fixiert, sondern wurde dynamisch Entwicklungen in der sozialen Wirklichkeit angepaßt. Wenn sich Nichtteilnehmer aus der Kontrollgruppe im Laufe des dreijährigen Beobachtungszeitraums zum Anschluß an das Kabelfernsehen entschlossen, wurden sie ex definitione vom Zeitpunkt ihres Kabelanschlusses Mitglied der Testgruppe. Die Zugehörigkeit zur Test-und Kontrollgruppe war insofern selbstselektiv und Veränderungen unterworfen Deshalb wird hier von einer Quasi-Testgruppe und Quasi-Kontrollgruppe gesprochen, um zum Ausdruck zu bringen, daß durch die notwendige Anpassung an Veränderungen in der sozialen Wirklichkeit Test-und Kontrollgruppe weitgehend, aber nicht in allen relevanten Merkmalen, strikt vergleichbar sind
Dieses Ludwigshafener Feldexperiment ist die einzige Paneluntersuchung, in der es gelang, eine echte Vorher-Erhebung (Null-Erhebung) durchzuführen. Nur hier ist ein Vergleich der Panelergebnisse mit Einstellungen und Verhaltensweisen möglich, die diese Personen in der Null-Erhebung berichteten, bevor das Kabelfemsehen eine nennenswerte Ausbreitung erreichte. Die Hälfte der Interviews wurde vor Aufnahme des Sendebetriebs abgeschlossen. die andere Hälfte vor Ende Februar 1984. Nur vier Prozent der Befragten waren zum Zeitpunkt der Null-Erhebung bereits angeschlossen. Aufgrund der zunächst schleppenden Verkabelung waren bis Ende Februar 1984 erst rund 2 000 von den rund 170 000 Haushalten des Versuchsgebietes an das Kabelnetz angeschlossen. Kabelfemsehen fand in dieser frühen Phase noch weitgehend ohne Publikum statt. Man kann deshalb davon ausgehen, daß die große Mehrheit der in der Null-Erhebung an der Jahreswende 1983/84 Befragten noch keine eigenen Erfahrungen mit dem Kabelfernsehen hatte. Das zu Beginn des Diffusionsprozesses aufgebaute Panel I, dessen Testgruppe in der Terminologie von Everett Rogers überwiegend aus „Kabelpionieren“ und „frühen Übernehmern“ bestand, wurde nach knapp zweijähriger Laufzeit auf Beschluß der wissenschaftlichen Begleitkommission durch ein Panel II ergänzt, aus Personen, die zur „frühen Mehrheit“ im Diffusionsverlauf zählen. Panel II wurde ein Jahr nach der Erstbefragung kurz vor Versuchsende ein zweites Mal befragt. Der Vorschlag, zusätzlich zur internen Kontrollgruppe. eine zweite externe Kontrollgruppe außerhalb des Versuchsgebietes zu beobachten, konnte mangels Finanzierung nicht verwirklicht werden. Besonders bedauerlich ist, daß die vorgeschlagenen telemetrischen Messungen, die eine präzise, perso-nenbezogene Ermittlung der tatsächlichen Programmnutzung ermöglicht hätten, an der Uneinigkeit der Medienkommission der Länder über die Finanzierung scheiterten. Da die zu den verschiedenen Befragungsterminen ausgestrahlten Sendungen von Professor Erwin Faul und seinen Mitarbeitern mit sehr differenzierten Kategorien inhaltsanalytisch ausgewertet wurden, hätte hier eine einmalige Chance für die Wirkungsforschung bestanden, die tatsächliche Nutzung präzise beschreibbarer Medieninhalte mit über längerer Zeit unter natürlichen Feldbedingungen beobachteten Einstellungs-und Verhaltensdaten zusammenzuführen.
Etwa zeitgleich zum Panel II wurde von der Mannheimer Forschungsgruppe „Kabelfernsehen und Freizeit“ (Projektleiter: Professor Max Kaase) im Auftrag der Medienkommission der Länder und später von der DFG weiterfinanziert ein eigenes Panel aufgebaut mit je einer Test-und Kontrollgruppe innerhalb des Ludwigshafener Versuchsgebietes (Teilnehmer am Kabelversuch bzw. Nicht-teilnehmer) sowie außerhalb davon im nahegelegenen Raum Mannheim ohne Kabelfemsehangebot (Testgruppe dort: „würde Antrag stellen“, Kontrollgruppe: „würde keinen Antrag stellen“). Zusätzlich wurde jeweils nach Stadt-bzw. Landbewohnern unterschieden. Die Erstbefragung („Null-Erhebung“) fand im Oktober/November 1985, also fast zwei Jahre nach Versuchsbeginn statt. Zu diesem Zeitpunkt waren im Versuchsgebiet Ludwigshafen/Vorderpfalz bereits etwa 30 000 Haushalte an das Kabelnetz angeschlossen, und auch die noch nicht angeschlossenen Bewohner des Versuchsgebietes hatten schon zu 40 Prozent bei Freunden oder Bekannten Sendungen des Kabelfernsehens gesehen, zwölf Prozent sagten sogar , 3a, öfter“ Die in einer Null-Erhebung zu diesem Zeitpunkt erfaßten Einstellungen sind vielfach schon durch eigene Kabelfemseherfahrungen beeinflußt. Die Mannheimer Forschungsgruppe führte zwei Wiederholungsbefragungen im April/Mai 1986 sowie im Oktober/November 1986 durch. Der maximale Beobachtungszeitraum beträgt demnach ein Jahr. Jeweils eine erwachsene Person im Haushalt wurde zur Haushaltsausstattung mündlich, alle Personen ab 14 Jahre im Haushalt wurden schriftlich über ihre Mediennutzung, ihr Freizeitverhalten sowie ihre Einstellungen zu Freizeit, Medien und Politik befragt. Zudem mußten alle über zehn Jahre alten Haushaltsmitglieder acht Tage lang ein Tagebuch über ihre Medien-und Freizeitaktivitäten führen. Bei einer ersten telefonischen Kontaktaufnahme über diese vielfältigen, mit erheblichem Zeitauf-wand verbundenen Anforderungen an die Befragungsteilnehmer informiert, sagten nur 34 Prozent der Haushalte aus der bereinigten Brutto-Stichprobe zu, bei den Befragungen mitzuwirken Es ist zu vermuten, daß eher überdurchschnittlich am Befragungsthema interessierte Personen bereit waren, diese Anforderungen mehrmals auf sich zu nehmen.
Während in der vom Allensbacher Institut realisierten Begleitforschung der stark wachsenden Verkabelungsbereitschaft im Ludwigshafener Versuchs-gebiet durch eine dynamische Definition von Test-und Kontrollgruppe Rechnung getragen wurde — Nichtteilnehmerhaushalte aus der Kontrollgruppe wurden, wenn sie sich im Laufe des dreijährigen Beobachtungszeitraums für einen Kabelanschluß entschieden, sobald sie angeschlossen waren, der Testgruppe zugeschlagen — wurde die Zugehörigkeit zur Test-bzw. Kontrollgruppe in der Begleitforschung des Mannheimer Projektteams statisch fixiert. Hier zählte zur Kontrollgruppe, wer bei der ersten Kontaktaufnahme sagte, daß er „keinen Antrag stellen wollte“ und auch bei der dritten Befragung ein Jahr später „immer noch nicht die Absicht“ hatte, „sich an das Kabelfemsehen anschließen zu lassen“ Aufgrund dieser restriktiven Definition mußten schon hach einem Jahr 30 Prozent der ursprünglichen Nichtantragstellerhaushalte aus der Stichprobe genommen werden. Während in der vom Allensbacher Institut im Auftrag der wissenschaftlichen Begleitkommission durchgeführten Panelstudie die Kontrollgruppe aus „Nichtteilnehmern" gebildet wurde, sei es, daß sich diese gegen das Kabelfernsehen aussprachen, es ihnen ganz einfach egal war oder sie sich noch nicht entschieden hatten, bestand die Kontrollgruppe im Mannheimer Forschungsdesign aus „auf Dauer Nichtanschlußwilligen“.
Schon aus dieser kursorischen Beschreibung der zur Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen wichtigsten Forschungsprojekte geht hervor, unter welchen Zeitzwängen sowie schwierigen finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen die mit den Kommissionen im Detail abzustimmende Begleitforschung in den Pilotgebieten verwirklicht werden mußte und mit welch großen methodischen Herausforderungen sie verbunden war. Wichtig für die Beurteilung der im folgenden vorgetragenen Untersuchungsergebnisse ist, darauf zu achten, daß die gewählten Forschungsstrategien, Erhebungsinstrumente und Indikatorfragen unterschiedlich „harte“ bzw. „weiche“ Daten liefern und die Ergebnisse sich vielfach auf unterschiedliche Phasen im Diffusionsprozeß des Kabelfernsehens beziehen, damit nicht „Äpfel und Birnen“ miteinander verglichen werden.
V. Empirische Befunde
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1. In der Regel keine exzessive Ausweitung des Fernsehkonsums Wenn der Femsehmarkt in der Bundesrepublik für ausschließlich durch Werbeeinnahmen finanzierte private Programmanbieter geöffnet wird, werden diese neuen Programmveranstalter vor allem durch massenattraktive Unterhaltungsangebote versuchen, das Femsehpublikum für sich zu gewinnen. Viele Menschen werden diesen Verlockungen nicht widerstehen können, so war die Erwartung, was zu einer exzessiven Ausweitung des Fernsehkonsums und zu einer Reizüberflutung durch „billige Unterhaltung“ führen wird. In welchem Umfang hat sich diese Prognose erfüllt? Wurde diese These von der Reizüberflutung des Fernsehpublikums bestätigt? Im Femsehangebot kam es in der Tat zu den erwarteten Veränderungen. Erwin Faul und seine Mitarbeiter haben das von allen Pilotprojekten am stärksten. von vorher fünf ortsüblichen auf jetzt 22 Programme erweiterte Ludwigshafener Programmangebot sehr sorgfältig inhaltsanalytisch untersucht. Sie kamen zu dem Ergebnis, daß sich der zeitliche Umfang des Fernsehangebots (ohne die drei französisch-sprachigen Programme TF 1, FR 3 und Antenne 2, die zwar in das Kabelnetz eingespeist, aber kaum genutzt wurden) insgesamt fast verdreifachte (plus 173 Prozent). Die Unterhaltungsangebote vermehrten sich überdurchschnittlich (plus 218 Prozent), aber „auch (in besonders starkem Maße) die Angebote in dem relativ kleinen Funktionsbereich . Service/Ratgeber/Lebenshilfe“ * (plus 303 Prozent) Unterdurchschnittlich wuchsen die Informationsangebote (plus 81 Prozent), wobei insbesondere Informationssendungen mit unterhaltenden Elementen (infotainment) zunahmen. Der Anteil an unterhaltenden Sendungen lag bei den deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten deutlich unter dem Unterhaltungsanteil an den Programmen deutscher privat-kommerzieller Anbieter 2 Prozent; ZDF: 63. 5 Prozent; (ARD:
SAT 1: 81, 2 Prozent; RTLplus: 74, 5 Prozent)
Der relative Anteil fiktionaler Darbietungen betrug bei ARD und ZDF rund ein Drittel, bei RTLplus 45 Prozent, bei SAT 1 wesentlich mehr als die Hälfte
Auf die von Pilotversuch zu Pilotversuch sowohl quantitativ als auch qualitativ unterschiedliche Ausweitung des Programmangebots bis hin zum dreifachen des vorher ortsüblich empfangbaren Programms haben die erwachsenen Fernsehzuschauer mit einer insgesamt eher moderaten Ausweitung ihres Fernsehkonsums reagiert. Wie die in den Tabellen 1 a und 1 b dargestellte Über-sicht über die bisherigen Befunde aus allen vier Pilotgebieten zeigt, dürfte die durchschnittliche Zunahme des Femsehkonsums Erwachsener nach dem Kabelanschluß in der Größenordnung von etwa fünf bis zehn Prozent liegen. Genauere Angaben sind nicht möglich, da präzise personenidentische telemetrische Messungen vor und nach dem Kabelanschluß nirgendwo erhoben wurden. Aus allen Pilotgebieten wird übereinstimmend berichtet, daß Personen, die sich zum Kabelanschluß entschließen, von vornherein stärker fernsehorientiert sind Dies wird in der Ludwigshafener Begleitforschung von beiden Forscherteams belegt. Die in der Allensbacher Quasi-Testgruppe von Kabelpionieren und frühen Übernehmern erfaßten Kabelfemsehteilnehmer sahen schon vor dem Kabelanschluß nach eigener Schätzung im Durchschnitt werktags etwa fünf Minuten länger fern (133 Min.) als die Teilnehmer in der Kontrollgruppe (128 Min.). Dieser Unterschied zeigt sich in den vom Mannheimer Forschungsteam aufgrund von Tagebucheintragungen ermittelten Werten noch ausgeprägter. Während die Sehdauer der Kabelteilnehmer vor dem Kabelanschluß (November 1985) sehr gut mit den Allensbacher Befunden übereinstimmt (135 Min.), sah die hier restriktiver definierte Vergleichsgruppe von Nichtanschlußwilligen zu diesem Zeitpunkt nur 113 Minuten fern. Nach dem Kabelanschluß erhöhte sich im Versuchsgebiet Ludwigshafen/Vorderpfalz beim Allensbacher Drei-Jahresvergleich der Femsehkonsum um neun Minuten von 133 auf 142 Minuten, beim Ein-Jahresvergleich des Mannheimer Projektteams um vier Minuten von 135 auf 139 Minuten, während der Femsehkonsum in der Allensbacher Quasi-Kontrollgruppe von Nichtteilnehmern praktisch unverändert blieb bzw. in der vom Mannheimer Forschungsteam gewählten Kontrollgruppe von Nichtanschlußwilligen sogar leicht rückläufig war.
Aus München und Dortmund liegen keine personenidentischen Vorher-Messungen vor. Die dort angeführten Vergleiche mit Durchschnittswerten aus repräsentativen Umfragen unter der Gesamtbevölkerung vor Beginn des Kabelfernsehens zeigen grobe Veränderungstendenzen an, aber keine hinreichend gesicherten Erkenntnisse über das genaue Ausmaß dieser Veränderungen. Dies gilt auch für den Vergleich der bundesweit von teleskopie in Haushalten mit Wenig-Kanal-Versorgung technisch ermittelten Haushaltseinschaltquoten mit den FAT-Messungen in Dortmunder Haushalten mit Viel-Kanal-Versorgung. Hier werden mit an sich geeigneten sensitiven Meßinstrumenten viel zu grobschlächtige Vergleiche gezogen, ohne die nur eingeschränkt vergleichbaren Teilnehmerstrukturen und Angebotsstrukturen angemessen zu berücksichtigen. Ähnliche methodische Vorbehalte gelten gegenüber den von den öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten vorgelegten Vergleichen zwischen den mit GfK-Metergeräten im normalen Fernsehzuschauerpanel bzw. in einem speziellen Kabel-und Satellitenpanel ermittelten Sehbeteiligungswerten, die zeigen, daß der Femsehkonsum der erwachsenen Kabelfernsehzuschauer „nur um etwa 4 Prozent über dem Normalniveau“ liegt Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten führten, obwohl sie über geeignete technische Meßgeräte und sicher auch ausreichende Finanzmittel verfügten, keine personenidentischen Vorher-Messungen durch; deshalb ist auch dieser Befund lediglich ein weiterer Beleg für die hier bewußt sehr allgemein formulierte Aussage, daß Erwachsene auf die wesentlich erweiterten Programmwahlmöglichkeiten im Kabelfernsehen mit einer im Durchschnitt eher moderaten Ausweitung ihres Fernsehkonsums reagierten. Es ist aber kein hinreichend gesicherter Nachweis für das genaue Ausmaß der Veränderungen möglich.
Wichtige zusätzliche Hinweise liefern Dortmunder Auswertungen der haushaltsbezogenen FAT-Registrierungen. Demnach wird das Fernsehgerät nach Anschluß an das Kabelfernsehen „von vielen offensichtlich früher eingeschaltet, als das bisher der Fall war. Das Fernsehen dehnt sich in die Tagesstunden aus“, und zwar insbesondere „wenn die zusätzlichen Programme von SAT 1 und RTLplus am Nachmittag ihre Sendungen beginnen“ Nachmittags können jedoch eher zu dieser Zeit nichtberufstätige Teilnehmer fernsehen. Dies erklärt die im Ludwigshafener Versuchsgebiet gefundene starke Abhängigkeit der Ausweitung des Fernsehkonsums vom vorhandenen Freizeitbudget. Kabelfemsehteilnehmer mit bis zu drei Stunden Freizeit pro Tag, das sind vor allem Berufstätige, weiteten ihren Femsehkonsum nach dem Kabelanschluß werktags praktisch gar nicht aus. Kabelfernsehteilnehmer mit mehr als fünf Stunden Freizeit pro Tag. das sind vor allem Rentner, dagegen um etwa 30 Minuten
Der im Gesamtergebnis nur moderaten Ausweitung des Fernsehkonsums liegen demnach durchaus unterschiedliche Reaktionen zugrunde. Die Mehrheit der Kabelfernsehteilnehmer, insbesondere der Berufstätigen, hat ihren Femsehkonsum innerhalb ihres begrenzten Freizeitbudgets praktisch nicht ausgedehnt. Ein kleinerer, aber durchaus beachtlicher Teil mit größerem Freizeitbudget wie z. B. Hausfrauen und vor allem Rentner, weitete seinen Fernsehkonsum dagegen deutlich aus, wenn auch in der Regel nicht exzessiv. 2, Stärkere, aber keine einseitige Unterhaltungsorientierung
Im Vorfeld der Einführung des Kabelfernsehens und der Zulassung privater Programmanbieter wurde erwartet, daß die neuen Programmangebote die Fernsehzuschauer zu einem allabendlichen Slalom (entertainment zig-zag) durch die vielfältigen Unterhaltungsangebote der verschiedenen Kanäle verfuhren wird, auf Kosten insbesondere der Informations- und Bildungsprogramme. Ganz in diesem Sinne zogen Bernward Frank und Walter Klingler aufgrund von Tagebucherhebungen in Kabelpilothaushalten eine erste Bilanz: „Die Nutzungsverschiebungen zwischen den Programmen ist zum Teil identisch mit einer Zuschauerbewegung von öffentlich-rechtlichen Bildungsangeboten hin zu privaten Unterhaltungsserien und Spielfilmen mit dem Effekt einer starken Veränderung in der Nutzung einzelner Programmsparten.“
Bei einem großen Teil des deutschen Fernsehpublikums bestand schon seit langem eine Aversion gegen das belehrende Erziehungsfernsehen der öffentlich-rechtlichen Femsehanstalten. Diese Aversion hat die Ausbreitung des Kabelfernsehens in der Bundesrepublik zweifellos begünstigt. Vor und nach dem Kabelanschluß stimmten jeweils rund 60 Prozent der Kabelfemsehteilnehmer der Aussage zu: „Ich finde es gut, wenn sich private Fernsehprogramme danach richten, was die Leute wirklich sehen wollen und nicht ständig versuchen, die Leute zu erziehen und zu informieren.“ Die großen privaten Programmanbieter wie SAT 1 und RTLplus trugen diesen Zuschauerwünschen durch eine stärkere Unterhaltungsorientierung in ihren Programmangeboten Rechnung. Offensichtlich mit Erfolg. Denn während sich das Volumen des täglichen Femsehkonsums in den Kabelhaushalten in der Regel nur wenig veränderte, hat sich die Nutzungsstruktur — gemessen an den Marktanteilen der öffentlich-rechtlichen und der privaten Fernsehanbieter — nach dem Anschluß an das Kabelfemsehen drastisch verändert, wenn auch keineswegs proportional zur veränderten Angebotsstruktur. Die Nutzung der öffentlich-rechtlichen Kanäle ARD und ZDF dominiert weiterhin auch in den Kabelfernsehhaushalten, wenn auch auf sehr viel geringerem Reichweitenniveau. Nach dem Markt-eintritt privater Programmanbieter hat sich der Marktanteil der öffentlich-rechtlichen Femsehpro-gramme von früher 95 Prozent auf jetzt nur noch 58 Prozent in Kabelhaushalten verringert. Nach den Messungen im nationalen GfK-Kabel-Panel hat SAT 1 mit 22 Prozent Anteil an der gesamten Fernsehnutzung in Kabelhaushalten inzwischen mit ARD (23 Prozent) und ZDF (22 Prozent) gleichgezogen, RTLplus folgt mit 11 Prozent Marktanteil noch vor den Dritten Programmen der ARD (10 Prozent)
Auch die FAT-Registrierungen im Dortmunder Pilotgebiet weisen deutliche Verluste von ARD und ZDF aus (Tabelle 1 b). Mit jeweils 29 Minuten Haushaltseinschaltdauer pro Tag folgen dort SAT 1 und RTLplus gleichrangig auf Platz drei, dicht gefolgt vom Kabelfunk Dortmund, der in der Programmverantwortung des WDR vor allem mit lokalen Informationsangeboten Erfolg hatte. Trotz des vielfältigeren Unterhaltungsangebots ermittelte Ulrich Pätzold „in der wichtigen Femsehzeit zwischen 19. 00 und 20. 15 Uhr ... ein erfreulich hohes Akzeptanzpotential für die öffentlich-rechtlichen Informationsangebote in einem vielkanaligen dualen Fernsehsystem"
Ebenso konnte im Ludwigshafener Pilotgebiet das stark regional orientierte EPF (Erstes Privates Fernsehen) -Programm, das von der dominierenden Ludwigshafener Lokalzeitung, der Rheinpfalz, in einer Mischung aus lokaler, teils mundartgefärbter Unterhaltung, lokalen Sportereignissen und lokalen Informationen geführt wurde, überraschend hohe Reichweiten erzielen
Die Ludwigshafener Panelbefragungen zeigen, daß Spielfilme für die Kabelfernsehteilnehmer unbestritten besonders attraktiv sind. Andererseits weichen die intensiven Nutzer des Privatfernsehens als Vielseher den Informationssendungen auch der öffentlich-rechtlichen Femsehanstalten keineswegs aus. Sie nutzen die Hauptnachrichtensendungen, aber z. B. auch Wirtschaftsmagazine sehr häufig. Von einer reinen Unterhaltungsorientierung der intensiven Nutzer des Privatfernsehens kann deshalb keine Rede sein. Vielmehr spricht nach den vorliegenden Ergebnissen vieles dafür, daß der von Winfried Schulz in seiner Vielseher-Analyse identifizierte Typ des „Ailesseher mit Vorliebe für Informationen“, für den Femsehen ein gleichsam „ritueller Konsum“ ist, der „von allen Programmangeboten viel sieht, besonders ausgiebig aber Fernsehnachrichten und andere Informationssendungen“ gegenüber dem „selektiven Unterhaltungsseher“ zahlenmäßig dominiert 3, In den ersten Jahren nach dem Kabelanschluß ist keine Verdrängung aktiver Freizeitbeschäftigungen erkennbar Massive Ausweitung des Fernsehkonsums, so war die Erwartung der Gegner des Kabelfemsehens, wird angesichts des nicht beliebig vermehrbaren Freizeitbudgets zu einer Verdrängung anderer Freizeitbeschäftigungen führen, insbesondere solcher, die ein hohes Maß an Aktivität erfordern. Stundenlange passive Unterhaltungsrezeption führe zu einer allgemein passiveren Lebensgestaltung.
Da es bisher in aller Regel nicht zu der befürchteten exzessiven Ausweitung des Femsehkonsums kam, wird man zumindest kurz-und mittelfristig kaum dramatische Veränderungen in der Freizeitgestaltung erwarten können. Dies wird durch Forschungsergebnisse aus allen vier Pilotprojekten, wenn auch mit unterschiedlicher Aussagekraft, bestätigt. In Tabelle 2 sind zunächst Ergebnisse aus der Münchner Hauptuntersuchung dargestellt. Sie deuten an, daß Kabelfemsehteilnehmer eher unterdurchschnittliche Kinogänger sind und am ehesten Kinobesuche nach dem Kabelanschluß eingeschränkt werden. Kabelfernsehteilnehmer gehen dagegen überdurchschnittlich zu kulturellen Veranstaltungen oder auch sonst am Abend aus und schränken diese Aktivitäten nach Selbstbeobachtungen ganz überwiegend auch nicht ein.
Auch die bisher zu diesem Thema publizierte Dortmunder Begleitforschung (erste Panelwelle) muß sich mangels personenidentischer Vorher-Befragungen mit Selbstaussagen der Befragten begnügen, was sie seit dem Anschluß an das Kabelfernsehen seltener oder häufiger machen. „Als erstes Ergebnis zeichnet sich ab: Es gibt keine Freizeittätigkeit, die in dem Maße abnimmt, wie das Fernsehen zunimmt. Es wird einfach an mehreren Tätigkeiten ein wenig gespart, um die nötige Fernsehzeit . zus. *ammenzubekommen “ Eingespart wurde nach Selbstbeobachtungen vor allem beim . Bücher l*esen (10 Prozent), „ins Kino *gehen (9 Prozent) und . Kassetten *hören (9 Prozent), seltener dagegen Z B. beim , Ausgehen (Kneipe, *Disco) (5 Prozent), . Sport treiben, sich trimmen (4 Prozent) oder . Besuche machen, bekommen (4 Prozent).
In der Allensbacher Begleitforschung für die wissenschaftliche Begleitkommission Ludwigshafen/Vorderpfalz wurde sowohl in der Null-Erhebung vor dem Kabelanschluß als auch in den personen-identischen Wiederholungsbefragungen anhand einer Liste gleichlautend erfragt: „Könnten Sie mir sagen, was davon Sie öfter tun?“ Tabelle 3 zeigt die Ergebnisse im Drei-Jahresvergleich für die Quasi-Testgruppe und die Quasi-Kontrollgruppe, und zwar für 28 ausgewählte Freizeitaktivitäten. Da die Quasi-Testgruppe und die Quasi-Kontrollgruppe unter natürlichen Feldbedingungen nicht voll egalisiert werden konnten, stehen dabei im Mittelpunkt der Analyse nicht Unterschiede in den Prozentverteilungen bei Test-und Kontrollgruppe, vielmehr Richtung und Ausmaß von Veränderungen innerhalb der experimentellen und der Kontrollgruppe zwischen Vorher-und Nachher-Messung. Mit wenigen Ausnahmen, wie insbesondere einer stärkeren Fernseh-und Videoorientierung und geringerer Buchlektüre unterscheiden sich die Freizeitaktivitäten der Testgruppe vor dem Kabelanschluß kaum von den Freizeitaktivitäten der Kontrollgruppe. Drei Jahre später, nach im Durchschnitt etwa zwei Jahren Teilnahme am Kabelfernsehen, haben sich die Freizeitaktivitäten in Test-und Kontrollgruppe nur wenig verändert. Dies gilt auch für besondere Aktivität erfordernde Beschäftigungen, wie z. B. , Sport t*reiben oder . Theater, Konzerte b*, esuchen die nicht eingeschränkt wurden. Seltener wurden dagegen . Kartenspiele, *Gesellschaftsspiele sowie . Musizieren, Singen genannt, und zwar in Test-und Kontrollgruppe in etwa gleichermaßen. Dies deutet darauf hin, daß es sich hierbei weniger um Auswirkungen des Kabelfernsehens handelt, als vielmehr um allgemeine Zeittrends oder saisonale Einflüsse. Wichtig ist, daß die personale Kommunikation, z. B. in der Familie, mit den Kindern, der gegenseitige Besuch von Freunden und Verwandten, nach dem Anschluß an das Kabelfernsehen nicht eingeschränkt wurde. Kabelteilnehmer weisen hier kein Defizit gegenüber den Nichtteilnehmern auf, allenfalls ein geringes bei der Zuwendung für Nachbarn sowie andere Mitmenschen. Daß dies keine Abwendung von der örtlichen Gemeinschaft bedeutet, zeigt Tabelle 4. Auch drei Jahre später hat die soziale Partizipation der Kabelfemsehteilnehmer, z. B. Vereinsmitgliedschaft oder aktive Mitwirkungin Vereinen, Parteien, bei Bürgerinitiativen offensichtlich nicht gelitten. Dies gilt in städtischen und ländlichen Gebieten gleichermaßen.
Die Panelbefragungen des Mannheimer Forscher-teams weisen nach einem Jahr Kabelerfahrung ebenfalls keine Einschränkungen der aktiven Freizeitbeschäftigungen aus (Tabelle 5). Diese Ergebnisse zusammenfassend schreibt Barbara Pfetsch: „Damit kann für das Kabelpilotgebiet Ludwigshafen nicht von Verschiebungen oder Veränderungen des Freizeitverhaltens infolge der Programmvermehrung gesprochen werden.“
Auch die Berliner Begleitforschungsgruppe von Professor Klingemann kommt zu sehr ähnlichen Befunden. So resümieren Heike Heeger und Friedrich Tiemann erste noch unveröffentlichte Ergebnisse der Panelbefragungen zum Freizeitverhalten: „Zumindest in der bislang noch recht kurzen Zeitspanne seiner Existenz und mit den in dieser Untersuchung vorhandenen erhebungstechnischen Möglichkeiten haben sich keine gravierenden Veränderungen in der Freizeitgestaltung und in bezug auf den sozialen Kontext feststellen lassen, die auf das Kabelfernsehen zurückzuführen wären.“ Und Hans-Dieter Klingemann und Katrin Voltmer kommen in einem zur Veröffentlichung in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft . *Massenkommunikation (1989) vorgesehenen Beitrag zum Thema . Massenmedien als Brücke zur Welt der Politik. Nachrichtennutzung und politische *Beteiligungsbereitschaft aufgrund ihrer Panelauswertungen zu dem Schluß: „Insgesamt lassen sich jedoch keine Hinweise dafür finden, daß durch die Vermehrung des Programmangebots eine passive Konsumentenhaltung gegenüber dem politischen Geschehen zugenommen hat.“
Gefahren für aktive Freizeitbeschäftigungen zeigen sich bisher allenfalls dort, wo ohnehin schon eine geringe Bindung besteht. Ein solches . Abbröckeln an den R* ändern geht exemplarisch aus der in Tabelle 6 dargestellten Allensbacher Panel-Fluktuationsanalyse zum Bücherlesen hervor. Demnach war von den Personen, die schon vor dem Kabelanschluß nur . *seltener Bücher lasen, fast jeder zweite, der die Programmangebote von SAT 1, RTLplus und EPF intensiv nutzte, nach drei Jahren zum . Nichtleser in den letzten 12 *Monaten geworden dagegen nur jeder zehnte „seltenere Buch-l, eser wenn er sich nicht den neuen Programmangeboten zuwandte 4. Bisher keine Nachweise für eine Beeinträchtigung der personalen Kommunikation innerhalb und außerhalb der Familie Auch im längerfristigen Vergleich nach im Durchschnitt mehr als zwei Jahren Kabelfernseherfahrung bleibt der schon früh berichtete Allensbacher Befund erhalten, daß die gemeinsamen Beschäftigungen in der Familie durch den Anschluß an das Kabelfernsehen nicht beeinträchtigt werden (Tabelle 7). „Wir unterhalten uns viel“ und „Wir unternehmen viel gemeinsam“ sagen die Angehörigen von Quasi-Test-und Quasi-Kontrollgruppe vor dem Kabelanschluß und danach in etwa gleich häufig. Auch die Ergebnisse des zur Replikation eingerichteten Panel II aus Kabelteilnehmern der .frühen M* ehrheit bestätigen im kurzfristigen Ein-Jahresvergleich, daß es nach dem Kabelanschluß nicht zu Einschränkungen der gemeinsamen Familienaktivitäten kommt. Nur bei der Aussage „Wir reden über alles, bei uns hält keiner mit seinen Problemen und Ansichten zurück“ findet sich in den beiden Quasi-Testgruppen ein hochsignifikanter Rückgang, der sich allerdings auch in der Kontrollgruppe zeigt, so daß er nicht als spezifische Auswirkung des Kabelfernsehens interpretiert werden kann. Auch das Familienklima erscheint mittelfristig (Panel I) bzw. kurzfristig (Panel II) nach dem Anschluß an das Kabelfemsehen nicht beeinträchtigt, und auch der überraschende Befund, daß die Stimmung in der Familie jetzt seltener „wegen Kleinigkeiten gereizt“ ist. bleibt in der Quasi-Testgruppe von Panel I auch nach drei Jahren noch hochsignifikant. Elisabeth Noelle-Neumann ist der daraus ableitbaren Frage . Verbesserung des Familienlebens durch K* abelfemsehen? inzwischen weiter nachgegangen. Unter anderem konnten, da in den Allensbacher Panelerhebungen in jedem Haushalt jeweils alle erreichbaren Personen ab 14 Jahre befragt wurden, auch sogenannte Zellenanalysen durchgeführt werden, wobei die Aussagen beider Ehepartner auf ihre Übereinstimmung bzw. Divergenz hin überprüft werden. Auch bei diesen Zellenanalysen zeigt sich eine hochsignifikante Abnahme der Gereiztheit in Familien mit Kabelanschluß, und zwar nach übereinstimmender Aussage beider Partner
Da gemeinsames Fernsehen mit der Familie weiterhin beliebt bleibt und deshalb isoliertes Fernsehen am Zweit-oder Drittgerät als möglicher Erklärungsgrund für abnehmende Gereiztheit in der Familie unwahrscheinlich wird, vermutet Elisabeth Noelle-Neumann „politische Meinungsverschiedenheiten in der Familie könnten durch Privatfernsehen, das sich nach Inhaltsanalysen sehr stark politischer Wertung enthält, reduziert werden“ In der Berliner Begleitforschung des Projektteams von Hans-Dieter Klingemann wurde versucht, die Ludwigshafener Befunde durch Einschaltung einiger in der Ludwigshafener Begleitforschung verwendeten Aussagen über das Familienleben zu replizieren. Beim Vergleich der Veränderungen zwischen den beiden Panelwellen von 1986 und 1987 -ohne eine echte Null-Erhebung vor dem Kabelanschluß — zeigten sich in Berlin keine signifikanten Veränderungen, woraus geschlossen wird, daß die Verkabelung „keinen direkten positiven oder negativen Effekt auf Äußerungen zum Familien-klima" hat Ursula Lehr und Elisabeth Minnemann. die das Untersuchungsmaterial im Schlußbericht der wissenschaftlichen Begleitkommission Ludwigshafen/Vorderpfalz interpretierten, resümieren: „Das Vorhandensein eines Kabelanschlusses scheint also nicht in Zusammenhang mit dem Ausmaß erlebter gemeinsamer Aktivitäten in der Familie zu stehen.“ Sie warnen beim gegenwärtigen Erkenntnisstand davor, daraus „weitreichende Schlußfolgerungen zu ziehen“
Auch im Berliner Forschungsprojekt der Evangelischen Kirche fand sich zumindest in der quantitativen Befragung „kein besonderer Einfluß des Fernsehens auf die Familie“. Insgesamt wurde deutlich, daß sich durch die Programmvermehrung die Nutzungsmuster nicht grundsätzlich verändern, sondern es wurden vielmehr die bereits vorhandenen individuellen Nutzungsmuster verstärkt Und auch die Arbeiten der Dortmunder Projektgruppe Hurrelmann verfolgen keinen Nachweis — sondern in erster Linie Suchstrategien, um besondere Probleme z. B. älterer Alleinstehender oder von Familien der unteren Bildungsschichten bei der Bewältigung des drastisch erweiterten Fernsehprogramm-angebots aufzuspüren. Allerdings besteht hierbei die Gefahr, in den vertiefenden Gesprächen mit den Probanden ein unnatürlich geschärftes Problembewußtsein zu wecken, das in der natürlichen Umwelt nie reflektiert und deshalb auch nicht verhaltensrelevant würde
Das wahre Ausmaß der bestehenden Probleme würde damit überzeichnet. Abschließend wird deshalb in Tabelle 8 aufgezeigt, daß nach den Ludwigshafener Untersuchungsbefunden unter jenen Kabelteilnehmern, die ihren Femsehkonsum nach dem Kabelanschluß deutlich ausweiteten, in gewisser Weise exzessiver Femsehkonsum (, ich sehe mir meist das Programm des ganzen Abends an, so wie die Sendungen hintereinander kommen') zunahm, und zwar von drei auf 14 Prozent. , Das Fernsehprogramm interessiert mich oft mehr als eine Unterhaltung mit *Bekannten sagten zwei Jahre nach dem Kabelanschluß nur zwei Prozent der neuen Vielseher mehr (19 Prozent). Diese kurz-und mittelfristig minimalen Veränderungen wird man kaum als eine Verkümmerung sozialer Kontakte bis hin zur Vereinsamung als Auswirkung des Kabelfernsehens interpretieren können.
VI. Ausblick
Abbildung 11
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Die bisher vorliegenden Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung in den vier Pilotprojekten über erste kurz-und mittelfristige Auswirkungen des Kabelfernsehens auf Erwachsene sind überwiegend geeignet, die ursprünglichen Befürchtungen der Kabelgegner zu widerlegen. Dazu gibt esjetzt höhere empirische Bestätigungsgrade als bei der frühen , *. Entwarnung die Elisabeth Noelle-Neumann im Sommer 1985 signalisierte. Offensichtlich ist das Wirkungspotential des Stimulus . erweitertes *Fernsehprogrammangebot bei einer durchschnittlichen Ausweitung des Femsehkon-sums von nur etwa fünf bis zehn Prozent zu gering, um weitreichendere Veränderungen auszulösen. Insofern ist Eberhard Witte zuzustimmen, wenn er resümiert, daß sich bisher „kein Anhaltspunkt ergeben“ hat, „der eine Rücknahme“ des Kabelfernsehens „nahegelegt hätte“ Wohl gibt es jetzt . gesteigerte empirische E, videnz aber keine ausreichend, vor allem aber keine ausreichend langfristigen Wirkungsnachweise, insbesondere bei Kindern. Eine Fortführung der Begleitforschung weit über das Ende der Kabelpilotversuche hinaus ist deshalb unerläßlich. Dies gilt um so mehr, als das Kabelfemsehen im Laufe seines weiteren Diffusionsprozesses mehr und mehr auch die unteren sozialen Schichten erreicht, für die eine angemessene Bewältigung des erweiterten Femsehangebots mit größeren Schwierigkeiten verbunden sein könnte, als dies bei den bisher in erster Linie untersuchten Kabelpionieren, frühen Übernehmern und bei der „frühen *Mehrheit der Fall war.
Rüdiger Schulz, Dr. rer. pol., geb. 1941; leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Demoskopie Allensbach, zeitweilig Lehrbeauftragter an den Universitäten Mainz, Konstanz und FU Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Einer gegen alle?, in: Hans Mathias Kepplinger (Hrsg.), Angepaßte Außenseiter. Was Journalisten denken und wie sie arbeiten, Freiburg 1979, S. 166— 188; Mediaforschung, in: Elisabeth Noelle-Neumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hrsg.), Fischer Lexikon für Publizistik und Kommunikation, Frankfurt 1989.
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