Theorien der Nachrichtenauswahl als Theorien der Realität
Hans Mathias Kepplinger
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Zusammenfassung
Die Auswahl von Nachrichten kann man durch zwei Theorie-Typen erklären, die die Selektion auf den Einfluß von Akteuren (Journalisten, Verleger, Pressure-Gruppen usw.) oder auf den Einfluß von Variablen (Einstellungen, Nachrichtenfaktoren, Intentionen usw.) zurückführen. Beide Ansätze beruhen implizit auf Annahmen über das Verhältnis von Ereignis, Bericht und Darstellungsfolgen, wobei man drei Modelle unterscheiden kann. Danach sind die Ereignisse entweder vorgegeben, sie werden für die Berichterstattung inszeniert oder die Berichterstattung instrumentalisiert Ereignisse. Alle drei Modelle beruhen auf der Annahme, daß man die Berichterstattung mit den Ereignissen sinnvoll vergleichen kann. Dagegen können erkenntnistheoretische, methodische und praktische Argumente angeführt werden.
I. Traditionen
Warum berichten die Massenmedien über dieses und nicht überjenes Ereignis? Diese einfache Frage stand am Beginn der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Nachrichtenauswahl. So einfach die Frage klingt, so schwierig ist jedoch nach mehr als vierzig Jahren intensiver Forschungsarbeit ihre Beantwortung. Dies hat mehrere Gründe. Ein wichtiger Grund besteht darin, daß die Untersuchungen in unterschiedlichen Traditionen stehen und deshalb unter verschiedenen Stichworten zusammengefaßt werden. Das erste Stichwort vereint die so-genannten „Gatekeeper-Studien“, das zweite die Nachrichtenwert-Studien und das dritte die Untersuchungen zum News-Bias.
Abbildung 5
Schaubild 5: Integriertes Modell
Schaubild 5: Integriertes Modell
Am Beginn der Gatekeeper-Forschungstradition steht bekanntlich eine Untersuchung, die David Manning White 1950 unter dem Titel „The . Gatekeeper A Case Study in the Selection of News“ veröffentlichte 1). White bat den „wire editor“ einer kleinen Tageszeitung — ihre Auflage betrug etwa 30 000 Exemplare — innerhalb einer Woche nach Redaktionsschluß auf allen Meldungen, die er nicht veröffentlicht hatte, die Entscheidungsgründe zu notieren. Die Begründungen faßte er zu zwei großen Klassen von Aussagen zusammen. Die erste Klasse enthielt in verschiedenen Formulierungen die Behauptung, das Ereignis sei an sich nicht berichtenswert. Hierbei handelte es sich meist um subjektive Wertungen, wie z. B. die Behauptung, das Ereignis sei uninteressant, die Nachricht schlecht geschrieben, ihre Tendenz propagandistisch gewesen. Die zweite Klasse enthielt Aussagen, in denen — ebenfalls in verschiedenen Formulierungen — festgestellt wurde, die Nachricht sei dem Zwang zur Auswahl zum Opfer gefallen. Hierbei handelte es sich meist um objektive Sachverhalte, wie z. B. die Länge der Nachricht, der Zeitpunkt ihrer Übermittlung oder die Distanz zwischen Publikations-und Ereignisort. Parallel zur Analyse der bewußten Entscheidungsgründe verglich White in einer sogenannten Input-Output-Analyse die Themenstruktur der eingehenden Meldungen mit der Themenstruktur der Berichterstat-tung. Auf diese Weise konnte er zeigen, daß Mr. Gates u. a. politische Themen bevorzugte und „human interest“ -Meldungen vernachlässigte. Zur Ergänzung seiner Daten erfragte er das Selbstverständnis von Mr. Gates, wodurch er zusätzliche Hinweise für die Erklärung seiner Ergebnisse erhielt. Die Untersuchung von White wurde in den Jahren nach ihrer Veröffentlichung vielfach kritisiert, vor allem wurde bemängelt, daß er Mr. Gates als isolierten Akteur betrachtete, der keinen äußeren Einflüssen unterlag
Am Beginn der Nachrichtenwert-Forschung steht vermutlich Walter Lippmanns Essay über „Public Opinion". Darin stellt er eine ganze Liste von Nachrichtenfaktoren zusammen, die den Nachrichten-faktoren von Johan Galtung und Marie Holmboe Ruge sehr ähnlich sind. Auch den Begriff „Nachrichtenwert“ (news value) benutzte Lippmann schon Nur drei Jahre nach Lippmanns theoretischem Buch über „Public Opinion“ veröffentlichte Charles Merz in der Zeitschrift „New Republic“ eine Inhaltsanalyse der zehn größten Titelgeschichten in der New York Times, wobei er einige gemeinsame Merkmale, wie z. B. Konflikthaltigkeit, Personalisierung und Prominenz, fand, die später als Nachrichtenfaktoren bezeichnet wurden Auch wenn es sich hierbei nur um rudimentäre Ansätze handelt, bleibt festzuhalten, daß die Nachrichten-wert-Theorie wesentlich älter ist, als die viel zitier-ten Studien von Einar Östgaard sowie von Galtung und Ruge nahelegen. Weitere Belege hierfür finden sich in den Lehrbüchern für die journalistische Praxis, die schon seit den dreißiger Jahren auf die Bedeutung von Nachrichtenfaktoren wie Nähe (proximity oder neamess), Prominenz (big names), Überraschung (oddity) oder Konflikt (conflict oder controversy) hinweisen — so etwa Carl Warren in seinem 1934 erschienenen Leitfaden für „Modem News Reporting“ Allerdings wurden diese Ansätze erst in jüngerer Zeit angemessen empirisch überprüft
Der Beginn der Forschungstradition, die unter dem Stichwort „News Bias“ bekannt ist. läßt sich noch schwerer lokalisieren als der Beginn der Nachrichtenwert-Forschung. Charakteristisch für die Vorgehensweise ist jedoch eine relativ frühe Studie von Malcolm W. Klein und Nathan Maccobby. die in ihrer 1954 veröffentlichten Untersuchung „Newspaper Objectivity in the 1952 Campaign“ Einseitigkeit als überzufällige Abweichung von Ausgewogenheit im Sinne der Gleichbehandlung definierten: Einseitig ist nach ihrer Definition eine Wahl-berichterstattung dann, wenn sie einen Kandidaten mehr beachtet oder positiver darstellt als einen anderen. Klein und Maccobby verglichen die Partei-neigung der Verleger oder Herausgeber von Tageszeitungen, die aus einer Umfrage bekannt war, mit der Anzahl der Artikel, der Plazierung der Artikel und der Anzahl der Meinungsäußerungen in den Artikeln über die Kandidaten der republikanischen und der demokratischen Partei, Eisenhower und Stevenson. Klein und Maccobby konnten zeigen, daß Zeitungen, deren Verleger oder Herausgeber sich zur republikanischen Partei bekannten, mehr Artikel über Eisenhower veröffentlichten als Zeitungen, deren Verleger oder Herausgeber sich zur demokratischen Partei bekannten. Die Artikel waren darüber hinaus besser plaziert und enthielten mehr Meinungsäußerungen, deren Tendenz allerdings nicht festgehalten wurde
Klein und Maccobby hatten — wie zuvor schon White — eine Frage aufgeworfen, die das Selbstverständnis von Verlegern und Journalisten herausforderte, weil sie Zweifel an der Unabhängigkeit und Objektivität der Berichterstattung weckte. In den folgenden Jahren entwickelten sich drei Forschungsansätze, in denen der Zusammenhang zwischen Einstellung und Berichterstattung näher untersucht wurde. Bei dem ersten Forschungsansatz handelte es sich um experimentelle Untersuchungen, in denen der Vorgang simuliert wurde. Charakteristisch hierfür sind drei Studien von Jean S. Kerrick, Thomas E. Anderson und Luita B. Swales, die die Autoren 1964 unter dem Titel „Balance and the Writer’s Attitüde in News Stories and Editorials“ veröffentlichtenl
Die Autoren stellten fest, daß progressive Journalismus-Studenten. die Nachrichten und Kommentare für eine konservative Zeitung schreiben sollten, überdurchschnittlich viele konservative Argumente benutzten. Das gleiche galt analog für konservative Journalismus-Studenten, die Nachrichten und Kommentare für eine progressive Zeitung schreiben sollten. Falls keine redaktionelle Linie vorgegeben, die vorgelegten Fakten aber in sich werthaltig waren, wählten die Probanden jene Fakten für die Publikation aus, die ihren persönlichen Einstellungen entsprachen.
Bei dem zweiten Forschungsansatz handelt es sich um die Kombination von Umfragedaten und In-haltsanalysen. Charakteristisch hierfür ist eine Untersuchung von Ruth C. Flegel und Steven H. Chaffee, die die Ansichten von 17 Journalisten zweier Zeitungen zu 13 kontroversen Themen mit der Tendenz der Berichterstattung ihrer Zeitungen über diese Themen verglichen. Flegel und Chaffee stellten dabei einen starken Zusammenhang von . 60 und . 67 zwischen den Journalisten-Meinungen und den Medien-Inhalten fest. Einen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Verleger-Meinung und dem Medieninhalt fanden sie dagegen nur bei derZeitung, deren Verleger — wie die Journalisten selbst -eine eher progressive Position vertrat
Bei dem dritten Forschungsansatz handelt es kontroversen Themen mit der Tendenz der Berichterstattung ihrer Zeitungen über diese Themen verglichen. Flegel und Chaffee stellten dabei einen starken Zusammenhang von . 60 und . 67 zwischen den Journalisten-Meinungen und den Medien-Inhalten fest. Einen Zusammenhang zwischen der wahrgenommenen Verleger-Meinung und dem Medieninhalt fanden sie dagegen nur bei derZeitung, deren Verleger — wie die Journalisten selbst -eine eher progressive Position vertrat 11).
Bei dem dritten Forschungsansatz handelt es sich um Kombinationen von Inhaltsanalysen und externen Realitäts-Indikatoren (Beobachtungen, offizielten Statistiken usw.), wobei zwei Ansätze unterschieden werden können: Einzelfallanalysen und Zeitreihenanalysen. Charakteristisch für die Einzelfallanalysen ist die Studie von Kurt Lang und Gladys Engel Lang zur Rückkehr von General MacArthur aus Korea, in der sie die Eindrücke von geschulten Beobachtern mit der Fernsehdarstellung verglichen und starke Divergenzen ermittelten. Charakteristisch für die Zeitreihen-Analysen ist eine Untersuchung von G. Ray Funkhouser zu den wichtigsten Themen der sechziger Jahre, in der er gravierende Unterschiede zwischen der realen Entwicklung verschiedener Probleme — soweit sie aus den vorhandenen Indikatoren erkennbar ist — und ihrer Gewichtung in der Berichterstattung feststelite 12).
Der zweite Grund für die verwirrende Forschungslage ist die Vermischung von zwei Ansätzen, die man als akteurs-und variablenorientiert bezeichnen kann. Beim akteursorientierten Ansatz wird die Nachrichtengebung auf das Handeln verschiedener Personen, Organisationen und Institutionen zurückgeführt. Beim variablenorientierten Ansatz wird sie dagegen durch Faktoren erklärt, die den Charakter theoretischer Konstrukte besitzen. Im Rahmen des akteursorientierten Ansatzes lassen sich mindestens sechs Einflußquellen erkennen:
1. Journalisten, die die Nachrichten auswählen, bearbeiten und unter Umständen kommentieren. * Hierbei können die Journalisten als Individuen oder als Gruppenmitglieder betrachtet werden 13).
2. Eigentümer und Manager von Kommunikations-Unternehmen, die selbst keine Journalisten sind oder zumindest keine genuin journalistischen Aufgaben wahmehmen
3. Anzeigenkunden, die einen Einfluß auf den redaktionellen Teil der Berichterstattung nehmen bzw.deren Interessen im Vorgriff berücksichtigt werden
4. Politische Machtgruppen, die ihren Einfluß über Eigentümer und Manager oder direkt geltend ma-chen. Dies kann auch durch das Zuspielen oder Verweigern von Informationen geschehen
5. Wirtschaftliche Machtgruppen, die nicht durch die Vergabe oder Verweigerung von Anzeigenaufträgen einwirken, sondern andere ökonomische oderjuristische Mittel einsetzen Hierzu gehören u. a. Schadenersatzklagen.
6. Die Öffentlichkeit im Verbreitungsgebiet, deren Wertvorstellungen die Themen und Tendenzen der Berichterstattung beeinflussen können
Im Rahmen des variabienorientierten Ansatzes lassen sich mindestens neun Einflußquellen unterscheiden:
1. Eigenschaften von Ereignissen, über die Nachrichten informieren, bzw. objektive Relationen zwischen Ereignissen und Publikationsorganen. Beispiele hierfür sind die Distanz zwischen Ereignis-und Berichtsort, die Anzahl der beteiligten Personen und die Dauer des Geschehens. Eine genauere Beschäftigung mit der Problematik zeigt, daß es nur relativ wenige solcher Eigenschaften gibt und daß sie praktisch oft nur schwer feststellbar sind 2. Zuschreibungen zu Ereignissen, über die Nachrichten informieren. Beispiele hierfür sind die kulturelle Nähe zwischen Ereignis-und Berichtsregion.
die Prominenz der beteiligten Personen und der Schaden einer Handlung. Hierzu gehören auch journalistische Entscheidungen darüber, was überhaupt als ein Ereignis zu betrachten ist. Selbst wenn zwischen den Individuen hohe Übereinstimmung besteht, ist ihre Grundlage Konsens und nicht Erkenntnis
3. Eigenschaften von Nachrichten. Beispiele hierfür sind die sachliche Richtigkeit der Informationen, die Länge der Meldung, der Zeitpunkt ihrer Verfügbarkeit.
Auch hier zeigt sich, daß es nur relativ wenige solcher Eigenschaften gibt, die — wie die Richtigkeit der Informationen — häufig nur schwer feststellbar sind
4. Zuschreibungen von Eigenschaften zu Nachrichten.
Beispiele sind die Verständlichkeit einer Meldung und die Prägnanz ihrer Formulierungen. Die Wahrnehmung dieser Eigenschaften hängt von subjektiven Dispositionen ab, Übereinstimmungen beruhen zumindest teilweise auf Konsens und nicht auf Erkenntnis
5. Werte und Ziele von Journalisten. Beispiele hierfür sind politische Einstellungen und individuelle Karrieremotive. Hierbei handelt es sich offensichtlich um individuell unterschiedliche Eigenschaften, die sich zudem erheblich ändern können 6. Formelle Verhaltenserwartungen an Journalisten. Beispiele hierfür sind die Bestimmungen des Presserechtes und die Forderungen des Pressekodex sowie die Programmgrundsätze der Rundfunk-anstalten 7. Informelle Verhaltenserwartungen an Journalisten. Beispiele hierfür sind informelle Erwartungen von Kollegen, Vorgesetzten, Freunden und Gegnern usw., wobei es sich auch um virtuelle Erwartungen handeln kann, die nur in der Vorstellung der Handelnden bestehen
8. Formelle Weisungen an Journalisten. Beispiele hierfür ergeben sich aus der Richtlinienkompetenz von Verleger und Chefredakteur, in anderen politischen Systemen auch aus der Zuständigkeit von z. B. Informationsministerien 9. Organisatorische Zwänge. Beispiele hierfür sind der Zeit-und Platzmangel, die Verfügbarkeit von Agenturmaterial oder umbruchtechnische Beschränkungen
Die ersten vier Einflußgrößen gehören zusammen. Sie bilden verschiedene Aspekte journalistischer Berufsnormen: Weil es bestimmte journalistische Berufsnormen gibt, besitzen die genannten Faktoren einen Einfluß auf die Berichterstattung. Man kann diese Klasse von Einflußfaktoren in Anlehnung an einen Vorschlag von Flegel und Chaffee als „intrinsische“ Faktoren oder Variablen bezeichnen und die Berichterstattung zumindest teilweise als Ergebnis professioneller Routine betrachten Die Wirkung anderer Faktoren läßt die Nachrichtenauswahl dagegen als einen Willkürakt, als die Folge subjektiver Motive erscheinen. Hierzu gehören vor allem die subjektiven Werte und Ziele von Journalisten, die informellen Verhaltenserwartungen an Journalisten sowie mit gewissen Einschränkungen die formellen Weisungen an Journalisten. Man kann diese Klasse von Einflußfaktoren, erneut in Anlehnung an Flegel und Chaffee, als „extrinsische" Faktoren oder Variablen bezeichnen
Der Vergleich beider Klassen von Einflußgrößen macht deutlich, daß es sich im ersten Fall um mehr oder weniger legitime, im zweiten Fall dagegen um mehr oder weniger illegitime Faktoren handelt. Dies kann man als eine wesentliche Ursache dafür betrachten, daß Journalisten — wie Flegel und Chaffee gezeigt haben — auch dann Zusammenhänge zwischen extrinsischen Faktoren, hier ihren eigenen Werthaltungen und der Tendenz der Be-richterstattung, bestreiten, wenn sie empirisch eindeutig nachweisbar sind. Der erwähnte Sachverhalt besitzt erhebliche Konsequenzen für die öffentliche Reaktion auf Ergebnisse der Kommunikatorforschung.
Die theoretischen und empirischen Studien zur Nachrichtenauswahl enthalten in der Regel keine expliziten Aussagen über das Verhältnis von Ereignis. Selektionsentscheidung und Berichterstattung. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet nur Winfried Schulz’ „Konstruktion von Realität in den Nachrichtenmedien“, in der das Problem jedoch ausschließlich unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten diskutiert wird -Vergegenwärtigt man sich die sozusagen „klassischen“ Gatekeeper-Studien von Walter Gieber.der nach White eine dominierende Rolle einnahm, so kann man die Nachrichtenauswahl als Wirkungsprozeß verstehen, in dem die Ereignisse als Ursachen, die Selektionsentscheidungen als intervenierende Variablen und die Beiträge als Wirkungen betrachtet werden. Die Journalisten erscheinen in diesem Modell als mehr oder weniger passive Vermittler, die — vorausgesetzt es wirken keine extrinsischen Faktoren — die Realität so darstellen, wie sie ist. Ihre Berichterstattung orientiert sich unter dieser Voraussetzung ausschließlich an der Ereignisqualität, und sie ist folglich realitätsgerecht. Das Hauptziel der traditionellen Gatekeeper-Forschung, wie sie vor allem von Gieber und seinen Mitarbeitern vertreten wurde, bestand deshalb darin, Störfaktoren aufzudecken, um Realitätsverzerrungen auszuschalten. Die Untersuchungen besaßen insofern einen, von erkenntnistheoretischem Optimismus getragenen, emanzipatorischen Charakter.
Betrachtet man die Nachrichtenwert-Studien, so erscheint die Berichterstattung als Folge einer Wechselbeziehung (Interaktion) zwischen objektiven Eigenschaften von Ereignissen und Nachrichten einerseits und journalistischen Berufsnormen andererseits, aufgrund derer die Ereignisse berichtenswert oder die Nachrichten publikationswürdig sind. Dabei kann man Nachrichtenfaktoren, die vermutlich unabhängig von Raum und Zeit gelten, von Nachrichtenfaktoren unterscheiden, die entweder nur für bestimmte politische Systeme gelten oder einem historischen Wandel unterworfen sind In allen Fällen wird jedoch zumindest implizit unterstellt, daß die berichteten Sachverhalte unabhängig von der vorangegangenen oder folgenden Berichterstattung existieren. Die Journalisten reagieren damit auch hier — gesteuert durch spezifische Normen — auf eine vorgegebene Realität, die sie mehr oder weniger angemessen spiegeln. Damit besitzen sie die Rolle von Mediatoren zwischen Ereignis und Rezipienten, deren Aufgabe in einer sachgerechten Selektion besteht. Sowohl die Gatekeeper-Studien als auch die Nachrichtenwert-Studien beruhen damit im Kern auf einem reinen Selektions-Modell (Schaubild 2).
Das Selektions-Modell, das in seinem Aufbau den Stimulus-Response-Theorien entsprach, die zur gleichen Zeit der Wirkungs-Forschung etwa der Hovland-Schule zugrunde lagen, mag auf den ersten Blick überzeugend erscheinen. Es ist jedoch aus mehreren Gründen nicht realitätsgerecht. Der erste Einwand betrifft die implizite Annahme einiger Autoren daß die Relevanz der Ereignisse objektiv erkennbar ist. Dies ist jedoch, wie bereits die Studie von White nahelegt, nicht der Fall. Vielmehr handelt es sich bei der Relevanz um eine Eigenschaft, die den Ereignissen aufgrund von professionellen Werten und subjektiven Vorstellungen zugeschrieben wird. Journalisten würden deshalb die Realität selbst dann nicht einfach so darstellen, „wie sie ist“, wenn sie keinerlei anderen Einflüssen ausgesetzt wären. Sie würden sie auch dann noch so darstellen, wie sie sie u. a. aufgrund ihrer Tätigkeit sehen. Daraus folgt nicht, daß Realität jenseits journalistischer Darstellungen prinzipiell nicht erkennbar wäre oder daß es keine Möglichkeit gäbe, exaktere von weniger exakten Darstellungen zu unterscheiden. Das Erkenntnisproblem muß mit anderen Worten von der Selektionsproblematik un-terschieden werden, weil in die Nachrichtenselektion unvermeidlich Konventionen eingehen, die mit einer rein auf Erkenntnis gerichteten Betrachtungsweise kaum vereinbar sind. Als Beispiele seien der rein konventionelle Charakter von Faktoren wie Prominenz, Schaden oder kulturelle Nähe genannt.
Da die Nachrichtenauswahl in erheblichem Maße konventionellen Charakter besitzt, kann die Berichterstattung über ein bestimmtes Ereignis in der Regel nicht mit dem Hinweis auf die Existenz des Ereignisses, sondern nur durch den Hinweis auf die Geltung entscheidungsrelevanter Konventionen gerechtfertigt werden. Die Behauptung, das Ereignis sei so wichtig gewesen, daß man darüber habe berichten müssen, ist eine Scheinerklärung, die nur die Frage verdeckt, weshalb man es für so wichtig gehalten hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Hinweis auf die Chronistenpflicht, denn kein Chronist verzeichnet alles, und die Frage lautet immer, was und warum. Es gibt mit anderen Worten keine sozusagen „natürliche“, sondern immer nur eine soziale Rechtfertigung von Nachrichtenauswahl.
Der zweite Grund betrifft die implizite Annahme, daß die Ereignisse, über die Journalisten berichten, unabhängig von der Berichterstattung vorgegeben sind. Dies ist jedoch, wie Kurt Lang, Gladys Engel Lang und Daniel Boorstin gezeigt haben, falsch. Die Präsenz der Medien, speziell des Fernsehens, verändert das Verhalten der Akteure. Zumal das Fernsehen auch das darstellt, was es selbst an Verhaltensveränderungen vor allem im nonverbalen Bereich bewirkt. Lang und Lang haben dies als reziproken Effekt bezeichnet. Die Akteure inszenieren darüber hinaus Ereignisse eigens zum Zweck der Berichterstattung, wobei sie letztlich mit genau jenen Regeln spielen, die eine unabhängige Berichterstattung sichern sollen. Man kann deshalb von einer instrumenteilen Inszenierung von Ereignissen sprechen. Boorstin hat solche Ereignisse als „Pseudo-Ereignisse“ bezeichnet. Markante Beispiele hierfür sind Wahlparteitage, die mehr für die berichtenden Journalisten als die anwesenden Anhänger veranstaltet werden. Nach Leon V. Sigal stammen fast 80 Prozent der Nachrichten in der New York Times und in der Washington Post aus offiziellen Quellen Selbst wenn man davon ausgeht, daß nur ein geringer Teil dieser Nachrichten Pseudo-Ereignisse zum Gegenstand haben, muß man angesichts dieser Befunde, die in ähnlicher Weise auch auf andere Medien zutreffen dürften, damit rechnen, daß die Pseudo-Ereignisse einen wesentlichen Teil der aktuellen Berichterstattung ausmachen.
Die Ereignisse, im Selektions-Modell Ursachen der Berichterstattung, werden in den Analysen von Lang und Lang sowie von Boorstin Mittel zum Zweck der Berichterstattung. Die Kausalbeziehung Ereignis — Berichterstattung wird mit anderen Worten durch die Finalbeziehung erwartete Berichterstattung — Pseudo-Ereignis überlagert. Damit bietet es sich an, den Sachverhalt in Anlehnung an Nicolai Hartmanns Analyse des Finalnexus als „überformte Kausalität“ darzustellen Dabei steht am Anfang der Wirkungskette eine Zweckset-zung — die Publikation oder die erwarteten Publikationsfolgen. Es folgt die Wahl eines geeigneten Mittels, das die Publikation stimulieren soll — das Pseudo-Ereignis. Erst jetzt beginnt der zuvor gezeigte Ursache-Wirkungsprozeß, der erneut durch die Selektionsentscheidung als intervenierender Variablen unterbrochen wird. Die Schaffung von Pseudo-Ereignissen kann man als instrumentelle Inszenierung von Ereignissen bezeichnen. Schaubild 3 illustriert das Verhältnis von Ereignis und Berichterstattung unter Berücksichtigung der instrumenteilen Inszenierung von Ereignissen.
Das Modell des Ereignis-Managements erweitert zwar das Gatekeeper-Modell um eine gerade für die politische Kommunikation wichtige Dimension — die Intentionalität des politischen Handelns, die auf die öffentliche Resonanz zielt. Es klammert jedoch noch immer einen wesentlichen Faktor aus. die Intentionalität der journalistischen Selektionsentscheidung. Hierbei kann man zwei Arten von Intentionen unterscheiden: Intentionen, die auf den Zweck der Berichterstattung selbst und Intentionen, die auf Zwecke jenseits der Berichterstattung zielen. Beide Intentionen beeinflussen — oder vorsichtiger — können die Nachrichtenauswahl beeinflussen. Man kann deshalb von einer instrumentellen Aktualisierung sprechen. Während bei der instrumentellen Inszenierung die Ereignisse zweckgerichtet geschaffen werden, werden bei der instrumentellen Aktualisierung bereits geschehene Ereignisse zweckgerichtet genutzt.
Intentionen, die völlig oder vorrangig auf die Berichterstattung selbst zielen, liegen z. B. dann vor, wenn eine Nachrichtensendung ein vorgegebenes Verhältnis von innen-und außenpolitischen Meldungen enthalten soll Um dieses Verhältnis herzustellen oder nicht zu stören, werden bei bestimm-ten Nachrichtenlagen zusätzliche Meldungen aus dem Bereich der Innenpolitik aufgenommen oder aber ausgeschlossen. Entscheidend ist hier nicht der Nachrichtenwert, sondern die Strukturvorgabe. Ein anderes Beispiel ist die Einladung von Diskussionspartnern aus verschiedenen politischen Lagern, die eine ausgewogene Präsentation aller Standpunkte ermöglichen soll Auch hier ist der Zweck, die Ausgewogenheit der Sendung, vorgegeben, die Intentionen richten sich darauf — soweit sie vorhanden sind, den Zweck zu erfüllen.
Intentionen, die völlig oder vorrangig auf Zwecke jenseits der Berichterstattung zielen, liegen vor allem dann vor, wenn Journalisten in Konfliktfällen durch ihre Berichterstattung zielgerichtet einen der Gegner und damit eine von mehreren möglichen Entwicklungen behindern bzw. fördern, indem sie negativ bzw. positiv bewertete Ereignisse, Themen oder Aussagen hochspielen. In diesem Fall nehmen Journalisten durch ihre Berichterstattung eine mehr oder weniger aktive Rolle in den Konflikten ein. In der Bundesrepublik Deutschland billigen 14 Prozent der Journalisten von Presse, Hörfunk und Fernsehen das bewußte Herunterspielen von Informationen. die der eigenen Konfliktsicht widersprechen, 45 Prozent billigen das bewußte Hochspielen von Informationen, die die eigene Konfliktsicht stützen. Zugleich zeigen sich zwischen den Ansichten der Journalisten zu drei Konflikten und der Auswahl von Meldungen, die diese Konfliktsicht unterstützen, statistisch signifikante Zusammenhänge -Diese Zusammenhänge dürften in der Bundesrepublik Deutschland stärker ausgeprägt sein als in Großbritannien, wo sich Journalisten wesentlich häufiger einer völlig neutralen Berichterstattung verpflichtet fühlen
Die Neigung zur instrumenteilen Aktualisierung läßt sich auch durch quantitative Inhaltsanalysen der Berichterstattung nachweisen. So publizierten in der Bundesrepublik Deutschland Tageszeitungen, deren Journalisten sich überwiegend für die Kernenergie aussprachen, vor allem positive Expertenurteile über die Kernenergie, während Tageszeitungen, deren Journalisten sich überwiegend gegen die Kernenergie wandten, genau umgekehrt verfuhren Ähnliche Ergebnisse liegen aus den USA vor, wobei zudem deutlich wird, daß die Selektion der Expertenansichten unabhängig von ihrem Rang war bzw. zum Teil im Kontrast zu ihrer relativ geringen fachlichen Qualifikation stand In beiden Fällen wird man annehmen können, daß die Journalisten bewußt oder unbewußt bestimmte Ansichten hoch-und entgegengesetzte Ansichten herunterspielten, um Entscheidungen und Entwicklungen entsprechend ihrer eigenen Problem-sicht zu fördern. Schaubild 4 illustriert das Verhältnis von Ereignis und Berichterstattung unter Berücksichtigung der instrumenteilen Aktualisierung von Ereignissen. Keines der drei vorangegangenen Modelle charakterisiert für sich allein betrachtet das Verhältnis von Berichterstattung und Realität angemessen. Für eine angemessene Modelldarstellung wird man vielmehr drei Typen von Ereignissen unterscheiden müssen, die man als genuine, inszenierte und mediatisierte Ereignisse bezeichnen kann. Genuine Ereignisse werden hier Vorfälle genannt, die unabhängig von der Berichterstattung der Massenmedien geschehen. Beispiele hierfür sind Erdbeben, Unfälle und natürliche Todesfälle. Inszenierte Ereignisse werden Vorfälle genannt, die eigens zum Zwecke der Berichterstattung herbeigeführt werden (Pseudo-Ereignisse). Beispiele hierfür sind vor allem die verschiedenen Formen von Pressekonferenzen. Mediatisierte Ereignisse werden Vorfälle genannt, die zwar (vermutlich) auch ohne die zu erwartende Berichterstattung geschehen wären, aufgrund der erwarteten Berichterstattung aber einen spezifischen, mediengerechten Charakter erhalten. Beispiele hierfür sind Parteitage, Produkt-vorstellungen, Olympiaden und Dichterlesungen. Eine besondere Bedeutung besitzen in diesem Zusammenhang mediatisierte Konflikte, d. h. Kontroversen zwischen mindestens zwei Gegnern über einen Sachverhalt, die via Massenmedien vor einem Publikum ausgetragen werden und deshalb spezifischen Gesetzmäßigkeiten folgen
In jeder Gesellschaft geschehen permanent genuine. mediatisierte und inszenierte Ereignisse, wobei der Anteil der jeweiligen Ereignistypen bzw. ihre relative Bedeutung für die Umweltorientierung vermutlich von historischen und politischen Faktoren abhängt. Die Journalisten berichten aufgrund von vielfältigen Ursachen und Zwecken über einige dieser Ereignisse umfangreicher als über andere, während sie wieder andere völlig übergehen. Dabei hängt der Einfluß zweckgerichteter Selektionsentscheidungen im Sinne einer instrumenteilen Aktualisierung von Ereignissen ebenfalls von historischen und politischen Faktoren ab.
So wird man politische Systeme mit einem hohen Anteil zweckorientierter Selektionsentscheidungen von politischen Systemen mit einem geringen Anteil zweckorientierter Selektionsentscheidungen unterscheiden können. Dies dürfte in ähnlicher Weise auch auf die Entscheidung für oder gegen die Publikation einzelner Aspekte von Ereignissen bzw.der Bewertung von Ereignissen durch die Akteure und durch Beobachter gelten.
Da die Realität, über die die Massenmedien berichten, zum Teil eine Folge der zu erwartenden Berichterstattung ist. stellt sich die Frage, ob das grundlegende Paradigma der Medienwirkungs-Forschung sachlich angemessen ist. Nach diesem Paradigma können Wirkungen der Berichterstattung nur nach der Berichterstattung auftreten. Damit werden jedoch möglicherweise bedeutende Wirkungen per definitionem aus der Wirkungsforschung ausgeklammert. Dies betrifft die oben skizzierten Wirkungen der erwarteten Berichterstat-, tung z. B. auf die Inszenierung von Ereignissen; bedeutsamer dürften jedoch die Wirkungen sein, die die Existenz der Massenmedien als Institutionen auf die Struktur öffentlicher Kommunikation im weitesten Sinne ausübt — etwa die zunehmende Bedeutung von PR-Maßnahmen für die Selbstdarstellung von Unternehmen, Parteien, Verbänden und Regierungen Auch wenn man diese Aspekte des Verhältnisses von Realität und Berichterstattung berücksichtigt, bleibt jedoch ein ebenso bedeutender Aspekt noch immer ausgeklammert, der Einfluß der vorangegangenen Berichterstattung auf die Entstehung der berichteten Ereignisse.
Die Realität, über die die Massenmedien berichten, ist zum Teil auch eine Folge der vorangegangenen Berichterstattung. Nach dem Jom Kippur-Krieg im Jahr 1973 erweckten z. B. die deutschen Massenmedien den falschen Eindruck, es käme kurzfristig zu einer Versorgungslücke auf dem Rohölmarkt. Als Folge dieser Vorstellung nahm die Nachfrage nach Ölprodukten sprunghaft zu. Dadurch entstanden aufgrund der beschränkten Kapazität der Raffinerien Versorgungslücken. Die Massenmedien berichteten intensiv über diese Versorgungslücken und forderten erfolgreich, das Autofahren an vier Wochenenden zu verbieten Ähnliche Wechselwirkungen dürften auch bei langfristigen Meinungstrends bestehen. So dürften die Sorgen der Bevölkerung über die Kernenergie und die Umweltbelastung, über die die Massenmedien in den letzten Jahren intensiv berichteten, u. a. eine Folge ihrer vorangegangenen Darstellung beider Themen sein In allen genannten Fällen wurden die Publi-
a. cnca -kationsfolgen selbst zum Gegenstand von Publikationen. was ein zirkuläres Modell des Verhältnisses von Realität und Berichterstattung nahelegt. Schaubild 5 zeigt ein solches Modell, in das auch die vorangegangenen Modelle integriert sind.
Alle bisherigen Modelle beruhen aufder Annahme, daß die Berichterstattung der Massenmedien mehr oder weniger exakt die Realität abbildet. Diese Annahme setzt voraus, daß eine solche Realität existiert. daß sie erkennbar ist und daß sie mit der Berichterstattung verglichen werden kann. Hierbei handelt es sich zum Teil um erkenntnistheoretische und zum Teil um methodische Fragen. Geht man davon aus, daß Realität existiert, erkennbar ist und mit der Berichterstattung verglichen werden kann, dann kann man u. a. die (Veränderung der) Berichterstattung durch die (Veränderung der) Realität erklären, die Angemessenheit der Berichterstattung über die Realität ermitteln und die Information über die Realität als eine Funktion der Massenmedien betrachten. Geht man jedoch davon aus, daß Realität nicht existiert, nicht erkennbar ist oder nicht mit der Berichterstattung verglichen werden kann, sind die genannten Ansätze wissenschaftlich sinnlos. In diesem Fall muß in den Modellen zwei bis fünf jeweils die linke Seite gestrichen werden.
Die Annahme, daß die Berichterstattung der Massenmedien die Realität abbildet, wurde in den vergangenen zwanzig Jahren grundlegend in Frage gestellt. Dabei kann man mehrere Positionen unterscheiden. Die erste Position lautet: Es gibt keine objektive Realität, über die die Massenmedien berichten könnten. Daraus folgt, daß man diese Realität weder erkennen, noch mit der Berichterstattung vergleichen kann. Die Berichterstattung spiegelt die Realität weder angemessen noch unangemessen. Sie stellt vielmehr ein Konstrukt dar, das nichts anderes reflektiert als die Arbeitsbedingungen von Journalisten. Da dieses Konstrukt nicht durch medienexteme Kriterien in Frage gestellt werden kann, besitzen die Journalisten zugleich ein Monopol für die Definition von Realität: Real und relevant ist, was sie als real und relevant darstellen, was sie nicht als real und relevant darstellen, ist nicht real und relevant
Die entscheidende Frage lautet hier, was Begriffe wie „Realität“, „objektive Welt“ und „world out there“ bedeuten sollen. Hierbei müssen zwei Bedeutungen unterschieden werden. Die Begriffe können zum einen das Wesen (essence) der Realität — z. B. von Politik, Wirtschaft oder Kultur — bedeuten oder bestimmte Aspekte von Realität — z. B. Wahlabsichten, Währungskurse und Buch-publikationen — bezeichnen. Legt man die erste Definition zugrunde, ist Realität tatsächlich nicht erkennbar, zugleich bewegt man sich jedoch außerhalb des Realitätsverständnisses, das die Grundlage der empirischen Wissenschaft bildet — so beschäftigt sich die Chemie nicht mit „der“ Materie, sondern mit spezifischen Aspekten der Materie, die eigens zum Zwecke der Analyse explizit definiert wurden (Elementen). Zugleich bestreitet man damit implizit die Möglichkeit jeder empirischen Wissenschaft, also auch einer intersubjektiven Analyse des Verhaltens von Journalisten bei der Produktion von Nachrichten, denn auch dies ist, von einem anderen Blickpunkt aus betrachtet, eine „world out there“. Legt man die zweite Definition zugrunde, dann ist die Realität bzw.der für die Analyse relevante Aspekt von Realität durchaus erkennbar und kann mit seiner Darstellung in den Massenmedien verglichen werden.
Die zweite Position lautet: Es gibt durchaus eine objektive Realität, über die die Massenmedien berichten, auch kann man diese Realität erkennen und mit der Berichterstattung der Massenmedien vergleichen. Allerdings sagen derartige Vergleiche nichts über die Qualität der Berichterstattung aus, denn es ist nicht Aufgabe der Massenmedien, jene Realität zu spiegeln, die durch andere Indikatoren -etwa Statistiken über Verkehrstote, Ölimporte, Arbeitslose usw. — erfaßt wird. Die Statistiken verzeichnen vielmehr Tatsachen, die selbst keine soziale Bedeutung besitzen, und es ist die Aufgabe der Massenmedien, diese Tatsachen zu interpretieren und ihnen dadurch eine allgemeine Bedeutung zu geben. Sie berichten folglich nicht vorrangig über die Welt der Tatsachen, sondern sie konstituieren die soziale Bedeutung von Realität, indem sie diese Tatsachen wertend interpretieren. Der Umfang der Berichterstattung über einen Reaktorunfall spiegelt deshalb z. B. nicht die Schwere der tatsächlichen oder möglichen Schäden. Er konstituiert vielmehr die soziale Bedeutung, die diesem Geschehen zukommt, wobei die Journalisten eine Schlüsselstellung einnehmen, die nicht durch Hinweise aufdie reinen Fakten in Frage gestellt werden kann
Die entscheidende Frage lautet hier, was die Journalisten charakterisieren wollen, ihre eigenen Bewertungsmaßstäbe oder die dargestellte Realität bzw. wie die Rezipienten die Darstellung verstehen, als Spiegelung journalistischer Sichtweisen oderals Charakterisierung objektiver Sachverhalte. Die weitaus meisten Journalisten werden ihre Realitätsdarstellungen keineswegs vorrangig als Ausdruck ihrer spezifischen Realitätssichten betrachten, sondern als ein möglichst getreues Abbild der dargestellten Realität ansehen. Hierauf deutet u. a. das allgemeine Bekenntnis zur Objektivität der Berichterstattung durch Journalisten in allen westlichen Ländern, für die entsprechende Daten vorlie-gen Die weitaus meisten Leser, Hörer und Zuschauer werden zudem die Realitätsdarstellungen ebenfalls so verstehen, wie die Journalisten sie gemeint haben. Hierauf deutet u. a. die allgemein hohe Glaubwürdigkeit der Massenmedien, wobei jedoch durchaus auch medienspezifische Unterschiede bestehen Folgt man dieser Überlegung, stellen sich zwei Fragen, die nur empirisch beantwortet werden können. Die erste Frage lautet, ob die Realitätsindikatoren, die mit der Berichterstattung verglichen werden, jene Realitätsaspekte erfassen, die die Journalisten darstellen wollen, und die die Rezipienten dargestellt glauben. Die zweite Frage lautet, ob zwischen der Realität und der Realitätsdarstellung eine Kluft besteht und welche Konsequenzen sie unter Umständen für die Individuen, Gruppen und die Gesellschaft als Ganzes besitzt.
Die dritte Position lautet: Es gibt eine Realität, über die die Massenmedien berichten. Diese Realität kann man objektiv erkennen und mit der Berichterstattung der Massenmedien vergleichen. Dabei kann man auch feststellen, ob die Massenmedien diese Realität verzerrt oder unverzerrt wiedergeben Diese Vergleiche sind zwar nicht bei allen Themen der Massenmedien möglich, weil keine entsprechenden externen Daten vorliegen, allerdings gibt es hinreichend viele Vergleichsmöglichkeiten, um sinnvolle Aussagen über die Berichterstattung der Massenmedien zu ermöglichen. Die entscheidende Frage lautet hier, ob die Qualität der externen Indikatoren gut genug ist, um sie als Standard zu benutzen, an dem die Medienberichterstattung gemessen wird. Diese Frage kann nur im Einzelfall entschieden werden. Darüber hinaus ergeben sich zum Teil gravierende Methodenprobleme beim Vergleich von verschiedenen Realitätsindikatoren, die ebenfalls nur im konkreten Einzelfall gelöst werden können. Hierzu gehört vor allem die Gegenüberstellung von kumulierten Aussagen oder Beiträgen in den Massenmedien und von Intensitätsmaßen z. B. aus Statistiken zur Umweltbelastung, die beide als Indikatoren für die Bedeutung von z. B. Umweltschäden in der Berichterstattung und in der Realität betrachtet werden Ferner gehört hierzu die Kombination von Aussagen in den Massenmedien und von externen Messungen, die unter Um-ständen eine unterschiedliche zeitliche und räumliche Geltung besitzen, in einem Fall möglicherweise einen ganz bestimmten Ort an einem ganz bestimmten Tag betreffen, sich im anderen Fall aber auf allgemeine Zustände innerhalb einer Region beziehen.
Jede Theorie der Nachrichtenauswahl beruht letztlich zumindest implizit auf einer Theorie über das Verhältnis von Realität und Berichterstattung, die ihrerseits Annahmen über den Einfluß der Massenmedien als Institution und die Wirkung ihrer Berichterstattung enthält. Hierbei handelt es sich zumindest teilweise um ein rückgekoppeltes System. Daher können zumindest die langfristigen Einflüsse der Massenmedien und Wirkungen ihrer Berichterstattung mit linearen Kausalanalysen nicht angemessen beschrieben werden. Darüber hinaus werden solche Darstellungen auch der Rolle der Journalisten in der öffentlichen Kommunikation nicht gerecht. Aus beiden Gründen erscheint es erforderlich, die Massenmedien bzw. die Journalisten nicht als externe Faktoren zu betrachten, die Aspekte von Realitätsdarstellungen und dadurch unter Umständen Realität verändern. Vielmehr sind sie als Teile dieser Realität zu verstehen, die ohne sie nicht so existieren würde, wie sie existiert Bestreitet man die Existenz einer solchen Realität, was durch die Verwendung eines spezifisch philosophischen Realitätsbegriffs geschehen kann, bestreitet man zugleich die Möglichkeit, die Tätigkeit von Journalisten selbst als eine empirisch analysierbare Realität zu betrachten. Zudem wird den Journalisten bzw.den Massenmedien ein Monopol für die Definition sozialer Realität zugesprochen, das ihre Tätigkeit gegen jede Kritik von außen immunisiert. Bestreitet man generell den Sinn eines Vergleichs zwischen externen Realitätsdarstellungen in den Massenmedien und externen Realitätsindikatoren, immunisiert man ebenfalls die Journalisten gegen eine faktenorientierte Kritik. Dabei schließt diese Immunisierung genau jene Fakten aus der Kritik aus, über die die Mehrheit der Journalisten nach eigenem Selbstverständnis berichten und die die Mehrheit der Leser, Hörer und Zuschauer von ihrer Berichterstattung erwarten.
Hans Mathias Kepplinger, Dr. phil., geb. 1943; Studium der Politikwissenschaft, Publizistik und Geschichte in Mainz, München und Berlin; 1977 Habilitation für Publizistik; seit 1982 o. Professor für Publizistik in Mainz. Veröffentlichungen u. a.: Massenkommunikation. Rechtsgrundlagen, Medienstrukturen, Kommunikationspolitik, Stuttgart 1982; Darstellungseffekte. Experimentelle Untersuchungen zur Wirkung von Pressefotos und Fernsehfilmen, Freiburg 1987; zahlreiche Beiträge zu kommunikationspolitischen Fragen in in-und ausländischen Fachzeitschriften.
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