Das Verhältnis von Recht und Politik ist, solange man diese Unterscheidung macht, stets von Spannungen geprägt. Wie könnte es auch anders sein, wenn die unter dem jeweiligen Signum Agierenden nicht müde werden, ihre Unabhängigkeit zu betonen und gleichzeitig denen, die sehen können und sehen wollen, klar ist. daß beide Bereiche untrennbar miteinander verbunden sind. Welcher Richter, gleich auf welcher Ebene, würde unumwunden zugeben. daß sein Tun auch politische Qualität besitzt und er keineswegs nur „la bouche de la loi“ (Montesquieu). das Medium des Gesetzes ist? Welches Parlament oder welche Politiker nehmen es gerne hin. daß das Recht der politischen Gestaltungsfreiheit Grenzen auferlegt?
Eine Theorie des Verhältnisses von Recht und Politik kann nicht losgelöst von der Frage des Zweckes der Rechtsetzung in der Demokratie entwickelt werden • Betrachtet man das Wesen des Staatswillens, der sich am eindrucksvollsten in der Gesetzgebung manifestiert als „eine zum Zwecke der Zurechnung vollzogene normative Konstruktion“ (Kelsen) dann sind die Voraussetzungen, die man an das Zustandekommen dieser „Konstruktion“ stellen muß, wesentlich andere, als wenn man den Zweck der Rechtsetzung mit dem großen Aufklärungsphilosophen Christian Wolff darin sieht, „die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechtes“ zu erreichen
Folgt man Kelsen, dann ist die Frage der Entstehung von Recht und mithin auch die Sphäre des Politischen ohnehin für die Juristen uninteressant. Konsequenterweise hätten sie sich aus der Diskussion um eine demokratiegemäße Rechtsetzungsverfahrensweise herauszuhalten Dieser Ansatz kann nicht Grundlage der Entwicklung einer Theorie des Verhältnisses von Recht und Politik im demokratischen Staat sein, da er sich weigert, das die gegenseitige Abhängigkeit beider Bereiche unter demokratischen Verhältnissen zur Kenntnis zu nehmen: Die Politik nutzt das Recht, die sozialen Verhältnisse der Gesellschaft zu gestalten, das Recht setzt gleichzeitig dieser Gestaltung ihre Grenzen. Letztere können nur im permanenten transparenten Diskurs ausgelotet werden. Keine der beiden Seiten kann erwarten, daß jeweils die andere sklavisch die Entscheidungen und Entscheidungsverfahren der Gegenseite akzeptiert. Dies macht den Unterschied zu absolutistischen Regimen aus, in denen das Recht ebenfalls von der Politik als Steuerungsinstrument gebraucht wird, jedoch die Kontrollmechanismen des Rechts gegenüber der Politik weitgehend außer Kraft gesetzt sind.
Recht ist Politik, weil letztere erstere zur Gestaltung der Gesellschaft benutzt. Auch die Jurisdiktion besitzt politischen Charakter, indem auch sie gestaltet. Der wesentliche Unterschied zwischen Jurisdiktion und Politik liegt darin, daß diese sich sehr viel enger an vorgegebene Gestaltungsregeln (Rechtsvorschriften) zu halten hat als jene (Verfassungsvorschriften).
II. Rechtlose Politik und Recht ohne Gerechtigkeit
Die beschriebenen Schranken zwischen Recht und Politik, die letztlich auch erhebliche Bedeutung für die Gewaltenteilung besitzen, können keine Garantie dafür sein, daß es rechtlose Politik und Recht ohne politische Gerechtigkeit gibt. Keine Gesellschaft sollte für diese Problematik sensibler sein als unsere, die beides als sehr nahe geschichtliche Erfahrung hat erleben müssen.
Da Politik mit Machterlangung und Machtausübung verbunden ist, wird sie zu allen Zeiten immanent die Möglichkeit, ja die Versuchung beinhalten, sich über einengende Regeln des Rechts hinwegzusetzen. Das mag ganz offen geschehen, wie etwa als Franz Gürtner der Reichsjustizminister Hitlers, höhnte, daß man auf Einhaltung der rechtlichen demokratischen Regeln nur solange Wert legen müsse, wie sie dem Zwecke der Machtergreifung dienten. Es gibt keinerlei Patentrezept, wie rechtlose Politik verhindert werden kann. Sie mag unter dem Banner verblendeter Ideologie oder unter dem Herrschaftsanspruch religiösen Glaubens daherkommen. Politik, auch zu verstehen als Interessendurchsetzung einzelner und von Gruppen, kann auch schon in sehr kleinem Maßstab rechtlos werden oder in die Grauzone zwischen Recht und Unrecht gelangen. Dies hat die überraschend schnell aus dem öffentlichen Bewußtsein verdrängte Parteispendenaffäre deutlich gemacht.
Die einzige Möglichkeit, rechtlose Politik im Kleinen wie im Großen nicht überborden zu lassen, ist die ständige wachsame Bereitschaft der aufgeklärten Bürgeröffentlichkeit und die Zivilcourage der einzelnen, auch den Anfängen zu wehren. Dies wird auf Dauer jedoch nur erfolgreich sein, wenn auch die politischen Akteure, gleich auf welcher Ebene, begreifen, daß Politik sehr wohl rechtlichen Fesseln unterliegt — Fesseln, die in demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrensschranken bestehen und deren Fesselungscharakter darin liegt, willkürliche, rechtlose Politikgestaltung zu verhindern.
Recht allerdings ist genau so wenig wie Politik vor Pervertierung gefeit. Weder die Berufung auf das Naturrecht noch auf göttliche Gerechtigkeit und schon gar nicht der Verweis auf bestehendes positives Recht kann Rechtsmißbrauch derer, die die Macht dazu besitzen, verhindern. So schwer die Erkenntnis auch fallen mag — der einzige relative Schutz besteht in nimmermüder Wachsamkeit gegenüber denjenigen, die, wann und wie auch immer, sich anschicken mögen, den offenen Prozeß der gesellschaftlichen Auseinandersetzung über das Zustandekommen und die Interpretation von Recht zu beschränken. Nur mit Empörung kann gerade der Jurist die Dokumente der Rechtsprechung und wichtiger Teile der Rechtswissenschaft des Dritten Reiches in die Hand nehmen. Die damals gemachten Erfahrungen mit dem Recht und seinen „Hütern“ können für den demokratischen Staat nur die Konsequenz haben, daß jede, sei es auch mit noch so großer Überzeugungskraft als einzig richtige Rechtsauslegung dargestellte Interpretation nicht unkritisch akzeptiert werden kann, sondern sich genau wie die Politik dem kritischen Diskurs über das „Warum“ stellen muß. Hier gilt es noch einen langen Prozeß hin nicht nur zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, sondern zur offenen Gesellschaft der Rechtsinterpreten zu vollziehen.
Daß dies noch ein weiter und wohl auch nicht enden wollender Weg ist. zeigt nicht zuletzt die Aufarbeitung der Rechtsprechung und Rechtsinterpretation der NS-Zeit durch die Justiz unserer demokratischen Gesellschaft.'Diese Gesellschaft hätte es durch den öffentlich geführten Rechtsdiskurs nicht zulassen dürfen, daß diejenigen, die das Recht dazu benutzten, große Teile der Bevölkerung rechtlos zu machen, unbehelligt blieben und in den meisten Fällen ihre Richterkarriere oder Hochschullehrer-laufbahn fortsetzen konnten. Es ist deprimierend, feststellen zu müssen, daß weder die Rechtswissenschaft, die unmittelbar in die Legitimation des Unrechts verwickelt war, noch die Politikwissenschaft nach dem Ende des Dritten Reichs sich bereit gefunden haben, die zentralen Fragen des „Warum“ ausreichend in ihre Untersuchungen und Lehre einzubeziehen und erst jetzt die Forschung verstärkt vorangetrieben wird. Daran schließt sich die generelle Frage nach dem Sinn der beiden der Politik und dem Recht verbundenen Wissenschaften an.
DI. Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft als konstituierende Elemente demokratisch-rechtsstaatlicher Gesellschaften
Wenn die politische Gestaltung durch rechtliche Regeln irgendeinen über bloße Geschäftigkeit hinausgehenden Sinn hat, dann ist es auch unabdingbar, die Voraussetzungen der beiden an der gesell-schaftlichen Gestaltung beteiligten Elemente der Politik und des Rechts in ihren Definitionen, Eigenschaften und Wirkungsweisen wissenschaftlich zu untersuchen und wenn möglich auch ihre Interdependenz in diese Untersuchungen mit einzubeziehen. Dieser Aufgabe sollten sich die beiden genannten Wissenschaften unterziehen. Ob sie dies in ausreichender Weise tun, ist bis heute strittig. Für die Rechtswissenschaft, die sich fälschlicherweise als die ältere und wohl auch als die wichtigere dünkt und auf die Politikwissenschaft wie auf eine unliebsame angeheiratete Verwandte herabsieht, sollte die Definition angesichts eines relativ begrenzten Forschungsfeldes ohne große Schwierigkeiten möglich sein. Dennoch liegen die Dinge nur dann etwas einfacher, wenn man auch schon den Streit darum, was Recht ist, mit in den Forschungsgegenstand einbezieht.
Versteht man unter Wissenschaft „die problembezogene, rational nachprüfbare fachliche Auseinandersetzung mit einer Frage“, die von einer „von Weisungen und sonstigen gesellschaftlichen Zwängen unabhängigen Person oder Institution nach sachadäquater Methode unter Zugrundelegung eines selbstbestimmten Wertsystems“ und „unter Heranziehung des gesamten Wissensgebietes mit Einschluß der sachverwandten Wissensgebiete“ geleistet wird dann kommen sicherlich nur mehr Teilbereiche der Rechtswissenschaft diesem Wissenschaftsbegriff nahe. Auszuscheiden sind die großen Teile, die sich lediglich auf die unkritische Katalogisierung und Anwendung vorhandener positiver Rechtsnormen konzentrieren. Desgleichen ist es dann auch falsch, vom Studium oder der Lehre der Rechtswissenschaft zu sprechen, da hier im vorherrschenden Lehr-und Lernbetrieb, von Ausnahmen abgesehen, nichts kritisch erforscht wird, sondern das Handwerkszeug der Interpretationskunst vermittelt wird.
Dennoch bleibt auch für den Juristen noch genügend „Rechtsstoff“, der einer wissenschaftlichen Durchdringung bedarf, vorausgesetzt, daß man von der „reinen Rechtslehre“ Kelsens und deren Ausgrenzung des Politischen Abschied genommen hat. Dann sollte es den Rechtswissenschaftler schon interessieren, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Recht entsteht und welche Wirkungen Recht und Rechtsprechung entfalten. Es sollte kein Hehl daraus gemacht werden, daß dann die wahre Wissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft eher im Bereich der Rechtssoziologie, der Rechtsphilosophie und Rechtspolitologie liegt als in der Auslegung von Normen. So gibt es gerade auch im Bereich der Rechtsphilosophie weite Felder, auf denen die Suche nach „veritas" nicht von der vorgegebenen, nicht abänderbaren Norm ausgeht und damit nicht von vornherein die Wissenschaftlichkeit im Keim erstickt.
Gleichviel, welchen wissenschaftlichen Stellenwert man der Rechtswissenschaft einräumen mag, steht fest, daß das Verständis, das der mit ihr befaßten Wissenschaftler von der Rolle des Rechts in einer Gesellschaft haben, eines der konstituierenden Merkmale einer Gesellschaftsordnung darstellt. Die Rechtswissenschaftler, insbesondere die Staatsrechtler, würden selbst noch in einer offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten kraft ihrer funktionalen Stellung erhebliche Beeinflussungsmöglichkeiten besitzen, die sie entsprechend ihrer politischen Grundüberzeugungen einsetzen können. Die Auseinandersetzungen etwa um den Begriff „Volk“ im Zusammenhang mit dem kommunalen Wahlrecht für Ausländer dokumentiert dies auf deutliche Weise.
Wenn wir davon ausgehen, daß Recht als politisches Phänomen zu werten ist dann ist es selbstverständlich, daß es Untersuchungsgegenstand auch der Politikwissenschaft sein muß. Der Unterschied der Annäherung beider Disziplinen an das Recht liegt darin, daß die Rechtswissenschaft sich aufden verrechtlichtenTeil der Politik beschränken muß, während die Politikwissenschaft „das Politische in all seinen Erscheinungsformen, nicht nur der rechtlichen, untersucht“ So stellte derjetzige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm vor einigen Jahren zu Recht fest, „daß die Politikwissenschaft einen weiteren Gegenstand als die Jurisprudenz hat, aber keinen anderen“
Trotz oder gerade wegen des gleichen Forschungsgegenstandes herrscht weitgehendes Unverständnis zwischen den beiden Disziplinen, welches in der Bundesrepublik sehr viel ausgeprägter ist als etwa in Frankreich oder den USA. Den Ursachen dafür kann an dieser Stelle nicht weiter nachgespürt werden. Beide Disziplinen sollten sich jedoch darüber im klaren sein, daß keine von ihnen allein optimal Wirkung als konstituierender Faktor einer demokratischen politischen Kultur entfalten kann. Die eine ist dabei auf die Hilfe der anderen angewiesen, und die Gesellschaft hat ein Recht darauf, daß dies nicht nur erkannt, sondern in Form von Zusammenarbeit auch praktiziert wird. Eine solche Zusammenarbeit müßte auch Konsequenzen für die Lehre des jeweiligen Faches zeitigen. Die juristische Lehre müßte geöffnet werden für die politisch-soziologische Dimension des Rechts, was nicht gleichbedeutend mit Vernachlässigung der Vermittlung des handwerklichen juristischen Rüstzeuges ist. Hinsichtlich der Konsequenzen, die die politikwissenschaftliche Lehre zu ziehen hätte, ist der Feststellung Carl Joachim Friedrichs, daß „besonders in neuerer Zeit sich so viel Politik in Gesetzgebung niedergeschlagen (hat), daß Wissenschaft von der Politik ohne Kenntnis der Rechtswissenschaft ein Phantom ist“ nichts hinzuzufügen.
Eine solche Kooperation würde einen unschätzbaren Beitrag leisten zu dem schwierigen Unterfangen des ständigen rationalen Diskurses über das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Recht und über die Bewahrung der gegenseitigen Begrenzungen Diese freiheitssichernden Begrenzungen spielen insbesondere bei der Definition der jeweili-gen Bereiche der drei klassischen Gewalten im Staat — der Legislative, der Exekutive und der Jurisdiktion — eine entscheidende Rolle.
IV. Gewaltenteilung im Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik
Während geklärt ist, wie die Rechtsvorschriften, die der Gestaltung durch die Jurisdiktion zugrunde liegen, Zustandekommen, nämlich durch Entscheidungen der jeweils dazu berufenen institutionellen Gremien (Gesetzgeber, Verordnungsgeber etc.), ist es sehr viel schwieriger, die Grenzen der Gestaltungsfreiheit des politischen Bereichs (Exekutive, Legislative) aufzuzeigen. Bei dem Teil des Politischen, der unter den Begriff der Exekutive gefaßt wird, ist dies ähnlich wie bei der Jurisdiktion zu lösen: Auch die Exekutive hat nur Gestaltungskompetenz im bestehenden Netz rechtlicher Vorschriften, sie kann aber in ungleich größerem Maße als die Jurisdiktion initiativ werden, um Rechtsvorschriften zu ändern. So betonen die jeweils Regierenden oft genug den weiten Bereich der Regierung, den sie möglichst als nicht einsehbar und deshalb auch als rechtlich nicht kontrollierbar verstanden wissen wollen.
Hingegen kann die Legislative nicht nur initiativ werden, sondern sie hat es auch in der Hand, Recht zu ändern und neues Recht zu schaffen. Ihre Möglichkeiten, Recht einzusetzen, um zu gestalten, sind im Vergleich zu den anderen beiden Gewalten sehr viel größer und dennoch nicht schrankenlos: Die Gestaltungsmöglichkeit durch Recht stößt an Grenzen, die wiederum rechtlichen Charakter besitzen und deren Einhaltung von der Jurisdiktion garantiert werden. Diese Grenzen zu definieren und das Bewußtsein der Jurisdiktion dafür zu schärfen, daß sie hier ein Wächteramt ausübt, dessen Wahrnehmung nicht in die Beliebigkeit des einzelnen Richters gestellt, sondern Grundelement demokratischer Ordnung ist, ist Aufgabe des Diskurses über das Spannungsverhältnis zwischen Recht und Politik.
Im folgenden sollen Legislative, Exekutive und Jurisdiktion unter dem Gesichtspunkt ihrer Rolle, die sie in einer Theorie des Spannungsverhältnisses zwischen Recht und Politik einnehmen oder einnehmen sollten, behandelt werden.
V. Der autonome Gesetzgeber und seine rechtlichen Schranken
Zunächst soll der Schnittpunkt des Verhältnisses von Recht und Politik — der politisch gestaltende und gleichzeitig rechtsschöpfende Akt der Gesetzgebung — einer näheren Untersuchung unterzogen werden. Wie erwähnt, genießt der Gesetzgeber, konstitutionell gesehen, den weitesten Spielraum bei der politischen Gestaltung. Als einzige der genannten klassischen Gewalten hat er die Möglichkeit. die vorhandenen rechtlichen Grenzen mit einfacher Mehrheit zu verrücken, indem er seine Rechtsetzungsfunktion wahrnimmt. Selbst konstitutionelle Grenzen kann er mit qualifizierter Mehrheit überwinden, wenn er die Verfassung ändert.
Seine absolute Grenze liegt lediglich da, wo die Verfassung selbst Schranken aufrichtet. Angesichts dieses großen Spielraums erhält die Frage, ob bei der gestalterischen Wahrnehmung dieses Raumes Recht überhaupt eine Rolle spielt oder ob hier dem Politischen ein Freiraum eingeräumt wird, erhöhte Bedeutung.
Die Verfassungsordnung zieht dem Bereich des poitisch gestaltenden Gesetzgebers zwei rechtliche o enzen. Einmal darf auch der autonome Gesetzgeber nicht materielle Verfassungsinhalte, etwa die qrundrechte, verletzen und ist hier durch Art. 79 w sogar derart gebunden, daß einzelne Vorschrif-
en auch mit verfassungsändernder Mehrheit nicht geändert werden dürfen.
Die andere Grenze wird dort gezogen, wo gewisse zwingende Verfahrensvorschriften vorgeschrieben sind. Während die Rechtsprechung und die rechts-wissenschaftliche Lehre in nahezu allen vergleichbaren Verfassungsordnungen demokratischer Prägung den materiellrechtlichen Schranken, die dem Politischen auferlegt werden, große Aufmerksamkeit gewidmet haben, scheut man in der Bundesrepublik in diesen Bereichen zumeist davor zurück, dem Gesetzgeber detailliert die Verfahrensschranken zuzuweisen, in denen er sich bewegen kann. Diese Zurückhaltung ist Folge der sehr spartanischen Regeln, mit denen der Verfassungsgeber das Procedere der Gesetzgebung regelte. Es wird im Folgenden zu untersuchen sein, ob aufgrund dessen zumindest im Verfahrensbereich der Gesetzgebung das absolute Primat der Politik herrscht oder ob auch hier Politik und Recht miteinander untrennbar in einem Spannungsverhältnis verwoben sind, dessen Ausbalancierung eine fortwährende Aufgabe aller Beteiligten ist.
Das Grundgesetz regelt das Gesetzgebungsverfahren in drei seiner insgesamt 164 Artikel und erfaßt dabei „nur ein Endstadium des Prozesses politischer Willensbildung, dem in aller Regel schon ein Vorformung des politischen Willens vorausgegangen ist“ Hinzu kommen allerdings noch Art. 7912 GG, der die Besonderheiten von Gesetzen mit grundgesetzänderndem Charakter regelt, und Art. 81 GG, der den Gesetzgebungsnotstand behandelt. Auch die Landesverfassungen bzw. Landessatzungen behandeln den gesetzgeberischen Verfahrensbereich nicht ausführlicher. Ist schon diese knappe Behandlung des wichtigsten Entscheidungsverfahrens in einer Demokratie überraschend, so wird die Vernachlässigung des gesetzgeberischen Procedere durch den Verfassungsgeber noch bedenklicher, wenn man feststellen muß, daß selbst dieser rechtliche Rahmen dem Gesetzgebungspersonal offenbar auf allen Ebenen als zu drückend erschien und sich in der Verfassungswirklichkeit eine teilweise erhebliche Abweichung vom ursprünglichen Verfahren herausgebildet hat.
Das gilt einmal für das gestörte Gleichgewicht bei der Einbringung von Gesetzesvorlagen im Bundestag. Als initiativberechtigt werden im Grundgesetz Bundesregierung, Abgeordnete und Bundesrat genannt. Selbst wenn man der Bundesregierung einen gewissen Vorrang als Initiator von gesetzgeberischen Maßnahmen einräumen wollte — da sie an erster Stelle dieser Aufzählung steht —, so erscheint es doch unzulässig, davon auszugehen, daß das Grundgesetz ein derartiges Übergewicht der Regierung bei der Gesetzeseinbringung beabsichtigt. Nicht nur, daß die erdrückende Mehrheit aller Gesetzesvorlagen von der Regierung eingebracht wird. Vielmehr führt sie auch im beachtenswerten Ausmaß Regie bei der Einbringung von Entwürfen „aus der Mitte des Bundestages“; sie läßt nicht nur eigene Entwürfe aus verfahrenstechnischen oder optischen Gründen von der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit einbringen, sondern kontrolliert auch weitgehend schon im Vorfeld Aktivitäten der Mehrheitsfraktion/en, bevor diese in gesetzgeberische Aktivitäten einmünden.
Auch Art. 77 Abs. 1 GG mit der imperativen Forderung „Die Bundesgesetze werden vom Bundestag beschlossen“ hat in der Verfassungswirklichkeit weitgehend seinen Gehalt verloren. Wenn man unter Beschließen das Entscheiden in voller Kenntnis der relevanten Tatsachen. Vorgänge und Folgen, die mit dem Beschluß Zusammenhängen, versteht und nicht nur die formale „Absegnung“ eines anderenorts getroffenen Beschlusses, wird die Verfassungspraxis des Gesetzgebungsprozesses diesem Wortlaut nicht mehr voll gerecht. Der eigentliche Beschluß gerade über wichtige Gesetze fällt in Koalitionsgremien, die überhaupt nicht im Grundgesetz erwähnt werden, oder auf Ebenen, die durch ihr politisches Gewicht der Zuweisung des Gesetzgebungsbeschlusses an das Parlament, wie sie das Grundgesetz bestimmt, eine völlig andere Qualität geben. Nicht zuletzt fallen wichtigste Entscheidungen auf der Ministerialebene.
Es bleibt festzuhalten, daß erstens die gesetzliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens außerordentlich knapp gehalten ist und sich im wesentlichen auf formale Kompetenzzuweisungen beschränkt, und daß zweitens nicht einmal diese wenigen Bestimmungen in der Verfassungspraxis in einer dem Wortlaut entsprechenden Weise angewendet werden. Mit der letzten Feststellung wird auch das Argument zweifelhaft, daß der Verfassungsgeber generell gut daran täte, das gesetzgeberische Verfahren nicht in ein zu enges Korsett von Vorschriften zu zwingen und damit den Beteiligten die gestalterische Freiheit zu nehmen oder unmäßig einzuschränken. Dies beeinträchtige — so wird argumentiert — nicht nur deren Autonomie, sondern auch die Dynamik des politischen Prozesses.
Nichts davon ist richtig! Die weitgehende Zurücknahme des formalisierten Rechts als Verfahrensordnung für das Gesetzgebungsverfahren hat dazu geführt, daß möglicherweise fundamentale Prinzipien demokratisch-rechtsstaatlicher Verfahrensweisen nicht im gebotenen Maße beachtet werden und vor allem, daß das Gesetzgebungspersonal in der Praxis die Zurückhaltung des Rechts nicht honoriert und die wenigen Vorschriften des Grundgesetzes, die sich mit dem Gesetzgebungsprocedere befassen, materiell zum Teil ausgehöhlt worden sind oder ihre Bedeutung verloren haben. Mit anderen Worten: Der gesetzgeberische Verfahrens-bereich weist eine unbefriedigende Lösung des Spannungsverhältnisses von Recht und Politik auf; die Schranken der Autonomie des Gesetz-gebers sind ungenügend.
VI. Der politische Bereich der Exekutive und die Sphäre des Rechts
Ähnlich wie die Akteure im legislativ-politischen Bereich lassen sich jene im exekutiv-politischen nur ungern vom Recht Grenzen ihrer Gestaltungs-und Handlungsfreiheit aufzeigen. Sowohl Legislative als auch Exekutive haben die Tendenz, ihren unantastbaren Eigenbereich weit auszudehnen und ihn als politischen Gestaltungsraum zu erklären, der frei von den Fesseln rechtlicher Beschränkung bleiben müsse. Solche Grenzziehung, die insbesondere die jeweilige Exekutive vornimmt, ist von den Akteuren des Rechtsbereiches nicht unbedingt als verbindlich hinzunehmen Allerdings handelt es sich bei dem sich daraus ergebenden permanenten Diskurs zur Lösung des Spannungsverhältnisses von Recht und Politik nicht allein um eine theore-tische Auseinandersetzung. Es geht dabei auch um die Verteilung gesellschaftlicher Macht.
Insofern ist es nur zu verständlich, daß auch die Akteure des rechtlichen Bereichs ihrerseits die Tendenz haben, das Wirkungsfeld des Rechts weit in den Exekutivbereich hinein auszudehnen. Hier fällt einmal mehr der Wissenschaft die Aufgabe zu, Maßstäbe der verfassungsrechtlichen und verfassungspolitischen Interpretation der grundgesetzlichen Kompetenzzuweisungen zu entwickeln. Dabei geht es nicht mehr allein um das formale, sondern auch um das funktionale Gewaltenteilungsprinzip, das die Grenzen zwischen den Gewalten dort zieht, wo die jeweilige originäre Aufgabenerfüllung einer Gewalt durch eine andere durch Einmischung, Kontrolle oder gar Übernahme der Ausführung behindert wird Zu beachten ist dabei, daß die Tendenzen der Abschottung und des Zugriffs des Politischen gegenüber dem Recht und der Jurisdiktion und vice versa unterschiedliche Intensität aufweisen und entsprechend auch die Folgen im Geflecht der „checks and balances" differenzierter Natur sein müssen.
Der Exekutive als Aktionszentrale des Politischen gelingt es mehr und mehr, ihren Spielraum auszubauen. Besonders erfolgreich ist sie hier gegenüber dem Parlament. Weniger erfolgreich ist sie gegenüber der Jurisdiktion, wobei diese nicht selten Kontrollfunktionen im Namen des Rechts wahrnimmt, dieeigentlich als Funktion der politischen Kontrolle vom Parlament wahrgenommen werden müßten.
Eswäre falsch, das Bedürfnis des Politischen, rechtliche Kontrolle vom Exekutivbereich fernzuhalten, dahingehend zu interpretieren, daß dort dunkle Mächte das Licht der Öffentlichkeit und den Maßstab des Rechts scheuten. Die Gründe sind sehr viel komplexer und können hier nicht dargestellt werden. Sie sind teils völlig legitim — etwa, wenn die Regierung darauf Anspruch erhebt, sich zunächst einmal intern über Problemlösungen klar zu werden. bevor sie mit Vorschlägen in die Öffentlichkeit tritt —; teils entspringen sie aber auch einem vor-demokratischen Verständnis des Politischen, hier des Verhältnisses zwischen Regierung und Öffentlichkeit, das die öffentliche Beteiligung am Willensbildungsprozeß lediglich als lästig und nicht als demokratieimmanent ansieht. Gleich aus welchen Gründen ist die Versuchung der politisch Entscheidenden in der Exekutive groß, die Grenzen für ihren Bereich sehr weit zu ziehen und zu versuchen, ihn sowohl vor der Öffentlichkeit abzuschirmen als auch einer Überprüfung durch richterliche Kontrolle zu entziehen.
Wenn das so ist, dann gewinnt die Frage, wer letztendlich über die Grenzziehung zwischen Politik und Recht im konkreten Fall der Regierungstätigkeit entscheiden soll, ein erhebliches Gewicht. Es überrascht nicht, daß hier keine Einigkeit besteht. Wäh-rend z. B. Georg Kassimatis die Umgrenzung der Justiziabilität, soweit der Verfassungsgeber sich nicht klar geäußert hat, dem „Organisationsermessen“ des Gesetzgebers überlassen will steht Hans Schneider auf dem gegenteiligen Standpunkt: „Es wird Sache der deutschen Gerichte sein müssen. die Grenzen ihrer richterlichen Gewalt gegenüber der politischen Staatsführung im einzelnen zu bestimmen und sich angemessene Selbstbeschränkung aufzuerlegen.“ In der Tat hat sich der Verfassungsgeber mit der Entscheidung für den Rechtsstaat dazu bekannt, daß eine gerichtliche Kontrollbefugnis für alle Rechtsbindungen der Staatsgewalt abzuleiten ist.
Diese Bindungen sind naturgemäß unterschiedlichster Art und lassen den ihnen Unterworfenen mehr oder minder großen Spielraum. Die Entscheidung für den Rechtsstaat bedeutet aber, daß es grundsätzlich auch im internen Handeln der politischen Exekutive keinen rechtsfreien Raum gibt. Die Entscheidung darüber, wie weit das Recht hier die Akteure einschränkt oder zumindest den Rahmen ihres Procedere liefert, wird letztendlich im kritischen wechselseitigen Diskurs, an dem auch die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (Peter Häberle) beteiligt ist. von der Jurisdiktion festgelegt. Daß gerade diese Diskussion außerordentlich komplex ist und weder bei uns noch in anderen vergleichbaren Verfassungssystemen, wie etwa den Vereinigten Staaten von Amerika oder Frankreich abgeschlossen ist, verwundert kaum.
Die Bedenken gegen eine großzügige Unterstellung der Regierungsaktivitäten unter die Kontrolle der Jurisdiktion ergeben sich insbesondere daraus, daß damit der Bereich des Politischen der Richterkontrolle, dem Bereich des Rechts, unterstellt werde und diese sich mit ihrer Entscheidungsfindung an die Stelle der Politiker setze. Die Gefahr bei der Kontrolle der politischen Exekutive sei besonders groß, weil gerade in diesem Bereich „Rechtsprechung eben nur zum Teil rein rationale Schlußfolgerung ist und zu einem erheblichen Teile irrational bewertende, auf die Subjektivität des Richters zurückweisende Tätigkeit“ Deshalb müsse sich die richterliche Kompetenz für den politischen Bereich Selbstbeschränkungen auferlegen, um zu verhindern, daß eine „Gerontokratie (Herrschaft des Rates der Alten) einer wenn auch noch so respektablen Elite des Berufsrichtertums" entstehe Diese skeptische Ansicht wird von der überwältigenden Mehrheit der dazu erschienenen verfassungsrechtlichen Literatur geteilt.
Dementsprechend bemüht man sich auch, Maßstäbe für die Grenzen des richterlichen Eingriffs in den Bereich des Politischen zu ziehen. Dabei ist es allerdings wenig hilfreich, zwischen Rechts-und Ermessensfragen differenzieren zu wollen. Gibt es schon Probleme zu klären, wann im politischen Entscheidungsbereich Fragen rechtlichen oder politischen Charakter haben, wird diese Differenzierung noch untauglicher, wenn man eine richterliche Nachprüfung der Frage unternehmen will, ob die praktischen Entscheidungsträger ihr Ermessen richtig, d. h. im Rahmen des Rechts ausgeführt haben. Mit diesen Maßstäben bleibt alles in der Hand des jeweiligen Richters
Die Befürchtung einer Juridifizierung des Politischen wird gestützt durch die noch an anderer Stelle zu beschreibende Praxis des Bundesverfassungsgerichts. Allerdings wird in der Diskussion viel zu wenig auf den Unterschied zwischen dem Inhalt exekutiver oder legislativer Entscheidungen und den Verfahren, die zu dieser Entscheidungsfindung führen, eingegangen. Erstere liegen im Verlaufe der Entscheidungsfindung völlig in der Hand von Exekutive und Legislative. Dabei hat die Jurisdiktion nicht schon an einer bestimmten Weggabelung, die zu verschiedenen Entscheidungsinhalten führt, zu entscheiden, ob dieser oder jener Weg inhaltlich der richtige war, sondern sie hat lediglich am Ende das vorgefundene Gesetz daraufhin zu überprüfen, ob es die Verfassung durch seinen Inhalt oder durch formale Verfahrensfehler verletzt. Hier die Prüfung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit vorzuverlegen, führt in der Tat zu einer Juridifizierung der Politik.
Hinsichtlich der Kontrolle des Verfahrens innerhalb des politischen Exekutivbereichs unter dem Gesichtspunkt der Einhaltung rechtsstaatlicher und demokratischer Grundsätze — aus denen sich dann auch konkrete Kontrollmaßstäbe entwickeln lassen — muß der Jurisdiktion allerdings die Möglichkeit eingeräumt werden, im Einzelfall auch in die inneren Bereiche der politischen Exekutive überprüfend vorzudringen. Festzuhalten ist jedoch, daß auch eine solche Kontrolle zurückhaltend und nur bei begründetem Verdacht von Regelverletzungen erfolgen soll, da auch im Verfahrensbereich den politischen Entscheidungsträgem grundsätzlich ein weiter Spielraum zusteht. Die bislang vernachlässigte bzw. nicht gesehene Differenzierungsmöglichkeit zwischen Verfahrenskontrolle und Entscheidungsinhaltskontrolle verringert die Gefahr, daß die Jurisdiktion die Politikgestaltung verrechtlicht; sie schließt zugleich aus, daß im Entscheidungsprozeß der Regierenden willkürlich rechtsstaatliche und demokratische Elemente mißachtet werden.
Der Satz Fritz Fleiners „In der Demokratie ist das letzte Bollwerk für Verfassung und Recht der Richter. Auf das Vertrauen zu ihm gründet sich das Gefühl der Rechtssicherheit“ gilt auch für den inneren Bereich der politischen Exekutive. Nichts erschüttert das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat mehr als das Gefühl, daß die Entscheidungsfindung — gleich auf welcher Ebene — nicht rechtsstaatlichen Grundsätzen gerecht wird. Der Bürger ist sehr viel eher bereit, in seinen Augen falsche Entscheidungen hinzunehmen, wenn diese auf die dem Rechtsstaat und der Demokratie angemessene Weise zustandegekommen sind, als Entscheidungen, die in einem willkürlichen, dem Rechtsstaat widersprechenden Verfahren entstanden sind, selbst wenn diese inhaltlich vertretbar und akzeptabel sein mögen.
Als Ergebnis der Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Recht und dem Bereich der politischen Exekutive muß festgehalten werden, daß letztere bei ihren politischen Aktivitäten, die oft auch damit verbunden sind, bestehendes Recht gestaltend zu ändern, sowohl im Procedere der Entscheidungsfindung als auch in der inhaltlichen Ausgestaltung an die Schranken des Rechts stößt. Dabei steht der Inhalt bestehenden Rechts sehr viel offener zur Disposition als unabdingbare Verfahrensvoraussetzungen, die sich aus der Demokratie und Rechtsstaatsentscheidung des Grundgesetzes ergeben.
So steht es selbstverständlich dem autonomen Gestaltungsspielraum der politischen Exekutive frei, z. B. die rechtlichen Voraussetzungen des Gesundheitswesen zu überdenken und Änderungsinitiativen in den Gesetzgebungsprozeß einzubringen. Dagegen liegt es nicht in ihrer Autonomie, das Verfahren, nach dem etwa die verschiedenen Interessengruppen schon in einem frühen Stadium der Entscheidungsfindung beteiligt werden sollen, willkürlich zu bestimmen. Auch hier sollten die aus dem Demokratie-und Rechtsstaatsprinzip ableitbaren unabdingbaren Grundvoraussetzungen demokratischer Entscheidungsprozesse wie Chancen-gleichheit der Einflußnahme und Transparenz verpflichtend sein und ihre Einhaltung auch rechtlich überprüfbar gemacht werden.
VII. Verfassungsrechtsprechung und Politik
Die bisherigen Überlegungen führten uns zu der Feststellung, daß weder politische Exekutive noch die Legislative in ihren weitgehend dem Politischen zuzurechnenden Funktionen unbeschränkte Autonomie gegenüber dem Recht besitzen. Das Recht setzt ihrem politischen Ringen um die Gestaltung der Gesellschaft sowohl in der verfahrensmäßigen Ausgestaltung als auch bei den angestrebten Entscheidungsinhalten mehr oder minder starke Grenzen. Die Einhaltung dieser Grenzen zu überwachen obliegt der Jurisdiktion und hier insbesondere dem Bundesverfassungsgericht.
Da die Grenzen zwischen Recht und Politik in vielen Fällen weder in der Verfassung selbst noch sonst irgendwo eindeutig und verbindlich niedergelegt sind, muß auch diese Grenzziehung Gegenstand des ständigen Diskurses zwischen den beteiligten Staatsorganen, aber auch des Diskurses der Öffentlichkeit sein. In der Verfassungsgerichtspraxis werden die Grenzen der Autonomie des Politischen jedoch eher autoritär gezogen, mit dem Anspruch, daß diese Grenzen als Rechtsgrenzen allein vom Verfassungsjuristen, mehr noch allein vom Verfassungsrichter zu erschließen sind. Dies führt dann zu einer schwer verständlichen breiten inhaltlichen Überprüfung des aus Politik geronnenen Rechts auf der einen Seite und einem weitgehenden laissez faire im politischen Prozeß der Rechtsschöpfung auf der anderen Seite. Dementsprechend wird die Legitimation des Bundesverfassungsgerichts dort in Frage gestellt, wo es zumindest den Anschein hat, daß es sich in seinen inhaltlichen Entscheidungen an die Stelle der politisch legitimierten Instanzen setzt.
Um der Verfassungsrechtsprechung, die, rein formal gesehen, die erwähnten Grenzen auch ohne einen breiten gesellschaftlichen Diskurs letztendlich selbst bestimmen kann, das Odium mangelnder politischer Selbstzurückhaltung zu nehmen, muß eine grundlegende Neustrukturierung des verfassungsrechtlichen Überprüfungsprozesses erwogen werden, die auf eine Neubesinnung des Verhältnisses von Recht und Politik im Bereich der Verfassungsrechtsprechung hinausläuft.
VIII. Neustrukturierung der verfassungsrechtlichen Überprüfung zur Stärkung politischer Autonomie
Hauptkritikpunkt an der Verfassungsrechtsprechung ist, daß sie sich allzuoft mittels inhaltlicher Prüfung der von den politisch und rechtlich dazu legitimierten Institutionen geschaffenen Regelungen in nicht legitimierter Weise an deren Stelle setzt und unter Berufung auf rein rechtliche Interpretationsmaximen ihre Entscheidungen als allein der Verfassung gemäß erklärt. Jüngstes Beispiel sind die Urteile, die sich mit dem Mieterschutz bei Eigenbedarf des Vermieters befassen. Es liegt auf der Hand, daß der im Grundgesetz verankerte Schutz des Eigentums und die dort gleichfalls festgelegte Sozialbindung des Eigentums in ein vernünftiges Verhältnis gebracht werden müssen. Dies allein als rechtliches Problem zu betrachten Md damit die politischen Entscheidungsträger, die bewußt den Mieterschutz als Ausdruck der Sozialbindung weit gefaßt haben, außen vor zu lassen, zeugt von der Arroganz des Rechts gegenüber der Politik. Jedoch nützt es wenig, darüber zu klagen und apodiktisch zu fordern, daß das Gericht sich zurückhalten möge. Es gilt vielmehr den Ursachen für diese mangelnde Zurückhaltung nachzuspüren und über die Ursachenbeseitigung das Verhalten des Bundesverfassungsgerichts zu beeinflussen.
Analysiert man die Rechtsprechung des Bundes-
Verfassungsgerichts, dann fällt das Mißtrauen auf, mit dem geprüft wird, ob die am Gesetzgebungsprozeß Beteiligten wirklich eine Lösung gefunden haben, die sachgerecht ist. Dieses Mißtrauen gründet sich auch unausgesprochen auf Bedenken, die das Procedere der politischen Akteure im Gesetzgebungsverfahren betreffen. Es spricht einiges dafür, daß das Gericht mehr Vertrauen in die verfassungsgemäße Qualität der Gesetzgebung haben könnte, wenn es sich entschließen könnte, nachzuprüfen, ob innerhalb des Gesetzgebungsverfahrens die verschiedenen Alternativen — auch diejenigen, die einen minderschweren Eingriff in Grundrechte des Bürgers darstellen — in den Entscheidungsprozeß eingeflossen sind und ob das Für und Wider vom Gesetzgeber ausreichend abgewogen wurde.
Eine Neustrukturierung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hätte sich demnach bei der Prüfung der Regelungsinhalte weitgehend zurückzuhalten und sich verstärkt der Prüfung des Verfahrens zu widmen. Wenn man etwa als verfahrensmäßige Grundvoraussetzungen rechtsstaatlich demokratischer Rechtsschöpfung die Legitimität der Entscheidungen, die Transparenz, die Entscheidungsfreiheit der Entscheidenden und die formale Chancengleichheit der Einflußnahme akzeptieren kann dann wird es überflüssig, daß sich die Jurisdiktion im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung Gedanken über die Notwendigkeit eines Gesetzes, über die Motive, die Qualität, die Stringenz und ähnliches macht. Dieser Vorschlag hätte zur Folge, daß die gesetzliche Regelung, wenn sie im fehlerfreien Verfahren zustandegekommen ist, nur in Extremfällen einer inhaltlichen Prüfung nach bisherigen Maßstäben zugänglich ist. Allerdings muß auch die inhaltliche Kontrolle im Kern erhalten bleiben, da nicht ausgeschlossen werden kann, daß selbst bei Einhaltung eines optimalen demokratischen Procedere durch den Gesetzgeber innerhalb seines weiten Gestaltungsspielraumes inhaltlich verfassungswidrige Gesetze geschaffen werden.
Durch ein solches modifiziertes Prüfungsverfahren würden verschobene Gewichte zwischen verfassungsrechtlicher Jurisdiktion und Gesetzgeber wieder in ein der Demokratie mit ihren unabdingbaren Legitimationserfordernissen angemessenes Verhältnis gebracht, ohne daß dabei der grundrechtliche Schutz des Bürgers unangemessen Schaden nehmen müßte. Dieser Schutz ist nicht hoch genug zu bewerten. Die Sätze Karl Loewensteins, daß der Schutz der Freiheitsrechte gegen die Einwirkungen des modernen Leviathans nirgends besser aufgehoben sei als bei einem unabhängigen Gerichtshof und daß „je mehr in unserer Zeit der einzelne von der Konformität des Kollektiven und der Staatsmacht bedroht ist“, es desto mehr „zur Wahrung seines heiligsten Gutes, der menschlichen Persönlichkeit, eines Hüters“ bedürfe haben auch heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Nur muß die Hüter-pflicht sich in das vom Verfassungsgeber gewählte politische System einordnen.
Sicherlich würde es dann auch dazu kommen, daß bei weniger Gesetzen grundrechtsverletzende Regelungen vom Bundesverfassungsgericht festgestellt würden. Dieses läge jedoch nicht daran, daß der Grundrechtsschutz vermindert wurde, sondern daran, daß durch dies vom Gesetzgeber einzuhal. tende Procedere vorausschauender Grundrechtsschutz betrieben würde, der um so effektiver wäre je mehr sich der Gesetzgeber gerade im Verfahren gesetzgeberischer Entscheidungsfindung die prüfenden Blicke der Richter vergegenwärtigen müßte. Allerdings würde der hier entwickelte Vorschlag auch dazu führen, daß der Bürger unter Umständen die Gestaltungskraft oder Schwäche des Gesetzgebers mehr als bisher erfahren würde, wenn die Gestaltungskraft des Bundesverfassungsgerichts hinter seine vorgegebenen Schranken zurücktreten und damit ihre Pufferwirkung zwischen inkompetenter Gesetzgebung und dem darunter leidenden Bürger verlieren würde.
Nur für diejenigen mag das beklagenswert sein, die dem Gericht mehr Sachverstand, Augenmaß und Rationalität zutrauen als dem Gesetzgeber. Wenn aber Demokratie ernst genommen werden soll, dann muß das Vertrauen der Bürger in die kompetente Gestaltungskraft gesetzgeberischer Entscheidungsfindung sich auf den Gesetzgeber konzentrieren und nicht auf zwar in der Regel hochqualifizierte, integere, aber für die Aufgabe der politischen Gestaltung nicht legitimierte Richter. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist eine weitere Kontrolle gesetzgeberischer Aktivitäten in das System der Demokratie eingebunden. Der Bürger hat es in der Hand, die Richtung der Gesetzgebung in gewissen Abständen neu zu definieren oder zumindest in einigen Bundesländern durch Volksbegehren direkt einzugreifen. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Möglichkeiten, durch aktive Teilnahme am politischen Willensbildungs