Die Politik der Sowjetunion gegenüber der Volksrepublik China sieht 1989, im fünften Amtsjahr von Generalsekretär Gorbatschow, einem beachtlichen Erfolg entgegen. Im Mai dieses Jahres wird es zu einem Treffen zwischen Gorbatschow und Deng Xiaoping kommen und damit zur ersten sowjetisch-chi-nesischen Begegnung auf höchster Ebene seit dreißig Jahren. Im Herbst 1959 war Chruschtschow nach Peking geflogen, um mit Mao Zedong zu sprechen. Mit dem geplanten Gipfel strebt der 1982 in Gang gekommene Prozeß der Entspannung zwischen Moskau und Peking seinem bisherigen Höhepunkt zu.
I. Rückblick
Als Gorbatschow nach seinem Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU im März 1985 die bisherige sowjetische Politik gegenüber der Volksrepublik China überprüfte, blickte er auf eine fast vierzigjährige Entwicklung zurück, die durch deutliche Umbrüche gekennzeichnet war. Zehn Jahre Kooperation im Rahmen einer Allianz wurden von einem zwanzigjährigen Konflikt abgelöst, der schließlich in eine allmähliche Wiederannäherung überging.
Daß die Volksrepublik China nach ihrer Gründung im Oktober 1949 ein Bündnis mit der Sowjetunion schloß, war nicht selbstverständlich. Die chinesischen Kommunisten hatten seit den zwanziger Jahren immer wieder schlechte Erfahrungen mit der sowjetischen Bruderpartei gemacht, die sich über die Komintern massiv einmischte und dabei in Fragen der revolutionären Taktik oft untaugliche Ratschläge erteilte. Mao Zedong ergriff 1935 die Macht in der Partei gegen den Widerstand einer moskauhörigen „Stalin-Fraktion“. Kurz darauf erklärte er selbstbe-
wußt, die chinesischen Kommunisten kämpften nicht für ein emanzipiertes China, um dieses dann der Sowjetunion zu übergeben Stalin wiederum betrachtete kommunistische Machtergreifungen, die sich außerhalb der Reichweite sowjetischer Geschütze vollzogen, mit Mißtrauen und argwöhnte, Mao werde sich zu einem „chinesischen Tito“ entwickeln. In der Tat: Führende chinesische Kommunisten wie Mao Zedong und Zhou Enlai sprachen sich nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt für eine enge wirtschaftliche Kooperation mit den Vereinigten Staaten für einen „middle-of-the-road“ -Kurs des künftigen kommunistischen China zwischen der UdSSR und den USA aus. Es war vor allem die Zurückhaltung Washingtons, die im Sommer 1949 die Würfel zugunsten einer einseitigen Bindung Chinas an die Sowjetunion fallen ließ.
Die chinesischerseits also mehr nolens als volens eingeleiteten engen Beziehungen zu Moskau wurden 1950 durch einen Bündnisvertrag formalisiert und funktionierten in den ersten Jahren ziemlich reibungslos. Die Sowjetunion leistete Entwicklungshilfe, die chinesische Gesellschaft und Wirtschaft wurden nach sowjetischem Vorbild umgestaltet. Zu ersten Irritationen kam es, als Chruschtschow 1956 die Entstalinisierung einleitete und Mao Zedong zwei Jahre darauf die radikalen Wirtschaftsexperimente des Großen Sprungs und der Volkskommunen im Sinne eines eigenen „chinesischen Weges“ durchsetzte. Beides geschah, ohne den jeweils anderen Bündnispartner zu konsultieren. Chruschtschows Pressionsversuche mit dem Ziel, China zu einer militärischen Kooperation zu veranlassen (1958), und die sowjetische Weigerung, China trotz einer vertraglichen Zusage das Muster einer Atombombe zu liefern (1959), belasteten die Beziehungen um ein Weiteres. Moskaus Parteinahme zugunsten Neu-Delhis im indisch-chinesischen Konflikt von 1959 brachte das Faß zum Überlaufen. Der von Peking provozierte Abzug der sowjetischen Entwicklungshelfer aus China im Sommer 1960 symbolisierte den Umschlag vom Bündnis in den Konflikt und damit auch den Beginn der Emanzipation der Regionalmacht China von der Supermacht Sowjetunion.
In der Konfliktphase (1960 bis 1979) bildete sich zwischen den Führungen, aber auch zwischen den Bevölkerungen beider Staaten eine feindselige Atmosphäre heraus, die durch die wechselseitige, bisweilen sogar rassistisch argumentierende Propaganda kräftig angeheizt wurde. Das Niveau der Beziehungen sank bis auf fast Null ab und reduzierte sich auf die Aufrechterhaltung der diplomatischen Kontakte und eines marginalen Handels. Mitte der sechziger Jahre begann die Sowjetunion mit einem massiven militärischen Aufmarsch an der Grenze zu China und in der Mongolischen Volksrepublik. Der Tiefpunkt wurde im Jahre 1969 erreicht, als eine Reihe von blutigen Grenzgefechten („Ussuri-Konflikt“) zum ersten und bisher einzigen Mal die Gefahr eines großen Krieges heraufbeschwor. Mos- kauer Planspiele über einen präventiven Atom-schlag gegen Chinas Nuklearanlagen spitzten die Lage im Sommer 1969 weiter zu. Erst ein Treffen zwischen den Ministerpräsidenten Kossygin und Zhou Enlai im Herbst des Jahres führte zu einer gewissen Entspannung. Es war offenbar vor allem das Gefühl, von der Sowjetunion bedroht zu sein, das die Führung in Peking Anfang der siebziger Jahre dazu veranlaßte, den für China so ungünstigen Simultankonflikt mit beiden Supermächten zu beenden und sich gegenüber den Vereinigten Staaten und dem Westen politisch zu öffnen.
Die Sowjetunion sah sich durch die amerikanisch-chinesische Annäherung im strategischen Dreieck Moskau-Peking-Washington in eine ungünstige Lage versetzt Die sowjetische Führung bemühte sich daher seit Anfang der siebziger Jahre durch Vertragsangebote auffällig darum, das Verhältnis zu China zu verbessern. Da die Avancen von keinen substantiellen Angeboten begleitet waren, auch nicht mit einer Reduzierung der inzwischen gewaltig angewachsenen sowjetischen Militärmacht an Chinas Grenze einhergingen, verhielt sich Peking lange Jahre unnachgiebig. Die chinesische Propaganda gegen die Sowjetunion intensivierte sich sogar und steigerte sich bis hin zu der zwischen 1977 und Anfang 1979 erhobenen Forderung, alle Länder sollten sich zu einer Art „antisowjetischer Einheitsfront“ zusammenschließen.
II. Die Ausgangssituation
Erst im Frühjahr 1979 ließ die chinesische Führung erkennen, daß sie bereit wäre, dem sowjetischen Werben nachzugeben. Die Frage nach dem Grund für den Sinneswandel läßt sich nicht monokausal beantworten. Eine wesentliche Ursache bestand sicher darin, daß die neue Parteispitze mit Deng Xiaoping als treibender Kraft im Dezember 1978 die Grundsatzentscheidung getroffen hatte, den maoistischen Mobilisierungssozialismus zu verwerfen und der Modernisierung des Landes, dem wirtschaftlich-technischen Fortschritt bei der gesamtpolitischen Zukunftsplanung die erste Priorität einzuräumen. Der Außenpolitik wurde als Hauptaufgabe zugewiesen, diesen Prozeß zu flankieren. Das hieß vor allem, die westlichen Industriestaaten und Japan verstärkt für Wirtschaftskooperation und Technologietransfer zu gewinnen. Es bedeutete aber auch, ein friedliches internationales Umfeld zu schaffen, um die Modernisierung ungestört vorantreiben zu können. Hierzu gehörte nicht zuletzt ein entspanntes Verhältnis zum mächtigen sowjetischen Nachbarn im Norden. Diesem konnte man sich nunmehr unbeschwerter zuwenden, nachdem der Prozeß der Annäherung an die Vereinigten Staaten durch die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Washington zum 1. Januar 1979 gekrönt worden war.
Von einer Kündigung des 1980 auslaufenden, vor allem gegen Japan gerichteten sino-sowjetischen Bündnisvertrages von 1950 konnte die chinesische Führung im April 1979 zwar nicht absehen, denn sie war gegenüber Tokio im Wort. Doch im Kündigungsschreiben schlug sie erstmals ohne Vorbedingungen die Aufnahme von Verhandlungen zur Verbesserung der Beziehungen vor. Dies führte zu einer ersten Verhandlungsrunde, die im Herbst 1979 stattfand. Man erzielte in der Sache keine Annäherung der Standpunkte und vereinbarte die Fortsetzung der Gespräche. Wegen des sowjetischen Einmarschs in Afghanistan wurden die Kontakte allerdings von Peking unterbrochen und erst drei Jahre später in der Form von „Konsultationen“ wiederaufgenommen. Auf diese Weise kam ein Entspannungsprozeß in Gang, der bis heute andauert.
Was hatte die Wiederannäherung zwischen Moskau und Peking erbracht, als Michail Gorbatschow im März 1985 das Amt des Generalsekretärs der KPdSU übernahm? Die im Herbst 1982 begonnenen Konsultationen auf der Ebene Stellvertretender Außenminister wurden in regelmäßigen Halbjahresabständen weitergeführt. Die Anfang der sechziger Jahre fast völlig eingestellte zwischenstaatliche Zusammenarbeit wurde zunächst auf sportlichem und wissenschaftlichem Gebiet wiederaufgenommen und allmählich auf zahlreiche andere Bereiche wie Wirtschaft. Technik, Kultur und Verkehrswesen ausgedehnt. Im Vergleich zu 1981 verfünffachte sich der Warenaustausch. 1983 wurde der Grenzhandel wiederaufgenommen. Beide Seiten reduzierten die öffentliche Polemik auf ein Minimum.
So gut wie keine Fortschritte konnten hingegen im Bereich der von Moskau gewünschten engeren politischen Zusammenarbeit erzielt werden, die auch die Wiederaufnahme der 1966 unterbrochenen Parteibeziehungen einschließen sollte. Hier stellte Peking seit 1979 Vorbedingungen, nämlich die Beseitigung der „drei großen Hindernisse“, deren Errichtung die Sowjetunion zu verantworten habe. Gemeint waren erstens der Aufbau der massiven sowjetischen Militärpräsenz an der gemeinsamen Grenze und in der Mongolischen Volksrepublik, zweitens die sowjetische Unterstützung des vietnamesischen Expansionismus in Indochina, besonders der Besetzung Kambodschas, und drittens die sowjetische Intervention in Afghanistan — sämtlich Sachverhalte, durch die China seine Sicherheit bedroht sah oder die seinen Ordnungsvorstellungen zuwiderliefen. Bis zum Amtsantritt Gorbatschows zeigte sich die sowjetische Seite hier unnachgiebig. Sie verweigerte Gespräche mit dem Hinweis, die Sowjetunion könne die Beziehungen zu China nicht auf Kosten dritter, befreundeter Länder verbessern (Drittstaatenklausel). womit die Mongolische VR, Afghani-stan und die indochinesischen Staaten gemeint waren. Auch im Grenzkonflikt, über den seit 1978 nicht mehr verhandelt worden war. gab es keine Fortschritte, denn Moskau war nach wie vor nicht bereit, die Existenz „umstrittener Gebiete“ anzuerkennen.
III. Verdichtung der nichtpolitischen Kooperation
Die neue sowjetische Führung unter Gorbatschow sah sieh im März 1985 vor eine ähnliche Situation gestellt wie diejenige, auf die die chinesische Führung mit den Reformbeschlüssen vom Dezember 1978 reagiert hatte. Wie jene beschloß die Kremlführung — alarmiert durch dramatisch sinkende Wachstumsraten -, als gesamtpolitisches Hauptziel die Modernisierung des Landes zu verfolgen. Und wie jene brauchte sie hierfür die wirtschaftlich-technische Kooperation des entwickelten Auslands und ein friedliches internationales Umfeld Hierzu gehörten nicht zuletzt entspanntere Beziehungen zum chinesischen Nachbarn, die u. a. einen Abbau des gegen diesen gerichteten kostspieligen massiven militärischen Aufmarschs ermöglichen würden. Die sowjetische Führung brauchte allerdings mehr als ein Jahr, bis sie zu begreifen begann, daß eine politische Entspannung mit China ohne substantielle Zugeständnisse -besonders solche im Bereich der „drei Hindernisse“ — nicht zu erreichen war.
Unberührt von der Stagnation auf politischem Gebiet blieb — wie bisher — die praktische Zusammenarbeit im zwischenstaatlichen Bereich, deren Ausbau sich nach Gorbatschows Amtsantritt erkennbar beschleunigte.
Die Entwicklung des Handels, der nach sowjetischer Einschätzung „stabilsten Form der Beziehungen“ zwischen beiden Ländern spiegelt den Aufschwung der Kooperation deutlich wider: 1959 hatte der Handel mit der Sowjetunion noch 48 Prozent des chinesischen Gesamthandels ausgemacht. Wenn man von den kulturrevolutionären Jahren 1967 bis 1971 absieht, war er 1981 mit einem Umfang von rund 250 Mio. US-Dollar auf den tiefsten Stand seit 1949 gesunken und betrug nur noch 0. 6 Prozent des chinesischen und 0. 16 Prozent des sowjetischen Gesamthandels Seither war er ständig wieder angestiegen und hatte sich bis 1984 nominal verfünffacht. Im ersten Gorbatschow-Jahr. also 1985, erreichte er mit 1, 9 Mrd. US-Dollar (1. 6 Mrd. Rubel) das Achtfache, nach sowjetischen Berechnungen sogar mehr als das Neunfache Dies bedeutete gegenüber 1984 eine Steigerung von 61 Prozent — die höchste Zuwachsrate im Rahmen des damals um 19 Prozent angestiegenen chinesischen Gesamthandels Der Warenaustausch machte nun mehr als 3. 2 Prozent des chinesischen und 1. 1 Prozent des sowjetischen Gesamthandels aus.
Vier Monate nach Gorbatschows Amtsantritt, im Juli 1985. wurde erstmals ein langfristiges Handelsabkommen für den Zeitraum von 1986 bis 1990 unterzeichnet, das eine Steigerung des Warenaustauschs in der Gesamtperiode auf 14 Mrd. US-Dollar (12 Mrd. Rubel) vorsah. wobei für das Jahr 1990 ein Volumen von 3. 5 Mrd. US-Dollar (3 Mrd. Rubel) angezielt wurde 1986 stieg der Handel auf 2, 6 Mrd. US-Dollar, 1987 sank er um etwa 20 Prozent, um 1988 erneut auf etwa 2. 6 Mrd. US-Dollar anzusteigen Damit hat er sich im Vergleich zu 1981 nominal mehr als verzehnfacht und macht nunmehr 3. 25 Prozent des chinesischen Gesamt-handels aus Die Sowjetunion dürfte gegenwärtig in der chinesischen Außenhandelsstatistik, wenn man einmal von den atypischen Beziehungen zu Hongkong und Macao absieht, nach Japan, den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik den vierten Rang unter Jen Einzelstaaten einnehmen.
Der Warenaustausch wird überwiegend als Kompensationsgeschäft abgewickelt. Die Sowjetunion liefert vor allem Industrieausrüstungen, Maschinen, Geräte, Flugzeuge, Schienen-und Straßen-fahrzeuge, Walzstahl, Buntmetalle, Bauholz und chemische Düngemittel. Sie bezieht aus China landwirtschaftliche Erzeugnisse wie Sojabohnen, Mais, Erdnüsse. Fleisch und Obst, aber auch Chemikalien wie Wolframkonzentrat und Flußspat sowie Produkte der Leichtindustrie wie Baumwollstoffe. Fer-tigtextilien, Haushaltsartikel und kunsthandwerkliehe Erzeugnisse. In vielen Fällen lohnt sich der Austausch allein schon deswegen, weil in beide Richtungen Waren geliefert werden, die wegen ihrer geringen Qualität auf dem Weltmarkt wenig Absatzchancen haben.
Der 1983 zunächst zwischen der Mandschurei und Sowjet-Fernost wiederaufgenommene Grenzhandel wurde ab 1986 auf den zentralasiatischen Bereich ausgedehnt. Sein Anteil stieg 1988 auf 20 Prozent (1986: rund 1, 5 Prozent) des bilateralen Gesamthandels. Im Laufe des Jahres 1988 wurde der Grenzhandel durch wirtschaftlich-technische Kooperation ergänzt. Hierzu gehört auch, daß 1988 und 1989 rund 10 000 chinesische Gastarbeiter aus der mandschurischen Provinz Heilongjiang (AmurProvinz) in Sowjet-Femost eingesetzt werden
Beeindruckend war auch die Konsequenz, mit der die Kooperation auf wirtschaftlich-technischem Gebiet vorangetrieben wurde. Die formalen Grundlagen hierfür waren im Dezember 1984, also noch unter Tschernenko, gelegt worden. Damals hatten die beiden Seiten drei Abkommen unterzeichnet, und zwar über — wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit,
— wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und — die Bildung einer Gemeinsamen Kommission für die Zusammenarbeit in Wirtschaft, Handel sowie Wissenschaft und Technik
Kurz nach Gorbatschows Amtsantritt im Juli 1985 einigte man sich auf ein Abkommen über die wirtschaftliche und technische Zusa Prozent (1986: rund 1, 5 Prozent) des bilateralen Gesamthandels. Im Laufe des Jahres 1988 wurde der Grenzhandel durch wirtschaftlich-technische Kooperation ergänzt. Hierzu gehört auch, daß 1988 und 1989 rund 10 000 chinesische Gastarbeiter aus der mandschurischen Provinz Heilongjiang (AmurProvinz) in Sowjet-Femost eingesetzt werden 11).
Beeindruckend war auch die Konsequenz, mit der die Kooperation auf wirtschaftlich-technischem Gebiet vorangetrieben wurde. Die formalen Grundlagen hierfür waren im Dezember 1984, also noch unter Tschernenko, gelegt worden. Damals hatten die beiden Seiten drei Abkommen unterzeichnet, und zwar über — wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit,
— wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit und — die Bildung einer Gemeinsamen Kommission für die Zusammenarbeit in Wirtschaft, Handel sowie Wissenschaft und Technik 12).
Kurz nach Gorbatschows Amtsantritt im Juli 1985 einigte man sich auf ein Abkommen über die wirtschaftliche und technische Zusammenarbeit, das für die kommenden sechs bis sieben Jahre sowjetische Hilfe beim Bau und der Modernisierung von 24 chinesischen Industrieanlagen vorsah 13).
Die Gemeinsame Kommission einigte sich auf die Bildung ständiger Arbeitsgruppen für die Zusammenarbeit im E chinesischen Industrieanlagen vorsah 13).
Die Gemeinsame Kommission einigte sich auf die Bildung ständiger Arbeitsgruppen für die Zusammenarbeit im Energiebereich und für die Kooperation der beiden Staatlichen Plankomitees. Sie beschloß u. a., den Warentransport zu verbessern und in der Zivilluftfahrt und im Bildungswesen enger zusammenzuarbeiten. Auf Tagungen von Unterorganisationen wurde Kooperation in Bereichen wie Landwirtschaft, Fischerei, Meteorologie, Petrochemie, Maschinenbau, Buntmetallurgie, Erdöl-und Erdgaswirtschaft sowie Eisenbahnwesen vereinbart. Im Juni 1988 kam es zum Abschluß einer Rahmenvereinbarung über Joint Ventures. Erstmals seit dreißig Jahren reiste im Oktober 1988 eine hochrangige Delegation der Bank of China nach Moskau 14).
Als Folge einer Vereinbarung vom Juni 1985 wurde ein Konsularabkommen unterzeichnet, das dasjenige aus dem Jahr 1959 ersetzte 15). Es führte im Dezember 1986 zur Wiedereröffnung der in den sechziger Jahren geschlossenen Konsulate in Leningrad und Schanghai. Im August 1988 wurde wechselseitig die Visumspflicht für Dienstreisende abgeschafft 16).
Seit 1986 traten auch bei der Zusammenarbeit auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet und im Bereich der Massenorganisationen deutliche Fortschritte ein. Nach mehr als zwanzig Jahren kam erstmals wieder ein Einjahres-Kulturabkommen zustande, das eine intensivere Zusammenarbeit im Erziehungs-, Film-und Verlagswesen sowie bei Rundfunk und Fernsehen für 1986/87 vorsah, gefolgt von einem Dreijahres-Abkommen für die Periode 1988 bis 1990 17). Erstmals seit den sechziger Jahren reiste im Mai 1988 ein sowjetischer Kulturminister nach Peking 18). Die beiden Akademien der Wissenschaften schlossen ein Jahres-und ein Fünfjahresabkommen über die Zusammenarbeit auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet ab 19). In den 1983 begonnenen Studentenaustausch waren allerdings 1988 insgesamt nur 450 Personen einbezogen 20). Erstmals seit den sechziger Jahren besuchte eine chinesische Gewerkschaftsdelegation die UdSSR 21). Die Schriftsteller-und Journalisten-Organisationen der beiden Länder nahmen wieder Kontakte auf, desgleichen die beiden „Freundschaftsgesellschaften“ 22). 1988 reisten 400 Delegationen in beide Richtungen 23). Ende 1988 wurde eine Städtepartnerschaft zwischen Schanghai und Leningrad geschlossen 24).
Die Berichterstattung in den Medien über Vorgänge im jeweils anderen Land enthielt sich kritischer Töne, wurde zunehmend objektiver und ließ wachsende Sympathie erkennen. Zur atmosphärischen Verbesserung trug bei, daß die Sowjetunion eine russischsprachige Aufsatzsammlung von Deng Xiaoping herausbrachte, Parteichef Zhao Ziyangs Rechenschaftsbericht vor dem XIII. Parteitag der KP Chinas im theoretischen Organ der KPdSU. Kommunist“, abgedruckt wurde und Gorba-" Ehows Perestroika-Buch in Peking auf Chinesisch erschien
IV. Erste politische Zugeständnisse der Sowjetunion
Die beschriebene Intensivierung der Kooperation konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß auf politischem, besonders sicherheitspolitischem Gebiet zunächst keine Fortschritte erzielt werden konnten. Hier forderte China nach wie vor die Beseitigung der „drei Hindernisse“. Die neue sowjetische Führung unter Gorbatschow schien — wie ihre Vorgänger -am Anfang geglaubt zu haben, auch ohne Konzessionen in diesem Bereich eine politische Annäherung erreichen zu können. Auf dem XXVII. Parteitag der KPdSU vom Frühjahr 1986 war jedenfalls noch kein verändertes Konzept gegenüber Peking zu erkennen. Gorbatschow wählte bei der Beschreibung des Verhältnisses zu China zwar auffällig freundliche Worte, gebrauchte aber erneut die „Drittstaatenklausel“ und „umging die drei großen Hindernisse“, wie es die chinesische Kritik formulierte
Erst in seiner großen asienpolitischen Rede in Wladiwostok vom 28. Juli 1986 ließ Gorbatschow erkennen, daß die Sowjetführung der politischen Annäherung an China größeres Gewicht beimaß als bisher und auch dazu bereit war, hierfür einen politischen Preis zu zahlen Die Rede brachte ein stärkeres Interesse der Sowjetunion am asiatisch-pazifischen Raum zum Ausdruck. Hierin spiegelt sich zum einen der Wunsch, im Rahmen der Perestroika das gewaltige ökonomische Potential dieser Region mit ihren dynamischen Wachstumsraten für den Aufbau der katastrophal unterentwickelten Wirtschaftsstruktur von Sowjet-Fernost zu nutzen. Zum anderen erfordert die Perestroika größtmögliche sicherheitspolitische Entlastung auch in diesem Raum. Gleichzeitig wurde die Einsicht spürbar, daß eine Verbesserung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und der militärischen Sicherheit nicht gegen, sondern nur mit der einflußreichen Regionalmacht China zu erreichen sein würde.
Dies hatte Gorbatschow bereits kurz nach seinem Amtsantritt erkennen lassen, als er im Mai 1985 das Konzept eines „Gesamtasiatischen Forums“ vorstellte Anders als Breschnews „Kollektives Sicherheitssystem in Asien“ aus dem Jahre 1979, das die Eindämmung und Isolierung Chinas bezweckte, schloß das neue Konzept China ausdrücklich ein. Noch deutlicher umwarb Gorbatschow Peking aber in seiner Rede in Wladiwostok. Hier wurde China im Vergleich zu den anderen asiatischen Staaten mit Abstand am stärksten gewürdigt und war Adressat eines ganzen Bündels von Angeboten, die erstmals auch politische Zugeständnisse enthielten. Gorbatschow erklärte, die Sowjetunion — sei jederzeit bereit, mit China „aufjeder beliebigen Ebene“ über die Verbesserung der Beziehungen zu sprechen;
— sei mit einer Grenzziehung auf dem Amur entlang der Hauptschiffahrtsrinne einverstanden und an einer gemeinsamen wasserwirtschaftlichen Nutzung des Stroms interessiert;
— sei bereit, beim Bau einer Eisenbahnverbindung zwischen Kasachstan und Sinkiang zu helfen;
— sei zur Zusammenarbeit im Kosmos und zu verstärktem Austausch in den Bereichen Kultur und Bildung bereit;
— werde sechs sowjetische Regimenter bis zum Jahresende aus Afghanistan abziehen;
— berate zur Zeit mit der Führung der Mongolischen Volksrepublik über den Abzug eines „bedeutenden Teils“ der sowjetischen Truppen aus der Mongolei und — sei bereit, mit China konkrete Schritte zu einer proportionalen Senkung des Niveaus der Landstreitkräfte zu erörtern
Die meisten der Angebote waren politischer Natur, einige davon enthielten deutliche Zugeständnisse. Letzteres betraf besonders den Teilrückzug aus Afghanistan und der Mongolei sowie die Bekundung der Abrüstungsbereitschaft, wovon zwei „Hindernisse“ berührt wurden, aber auch die seit eh und je von China geforderte und sowjetischerseits verweigerte Anerkennung der Hauptschiffahrtsrinne als Grenze (Talweg-Prinzip). Die Offerte, beim Bau des zentralasiatischen Schienenstrangs mitzuhelfen, hatte ebenfalls politische Implikationen.
China reagierte auf die Angebote von Wladiwostok zurückhaltend. Deng Xiaoping erklärte, Gorbatschow habe in Richtung auf eine Verbesserung der Beziehungen „keinen großen Schritt getan“; das Neue und Positive habe man „vorsichtig begrüßt“ Den Teilabzug von Truppen aus der Mongolei beurteilte man in Peking als militärisch unbeachtlich, denjenigen aus Afghanistan sogar als unehrlich Kritisiert wurde, der sowjetische Parteichef habe das „Haupthindernis“ Kambodscha übergangen.
Am positivsten wirkte sich die von Gorbatschow zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft aus, die Grenzziehung entlang der Hauptschiffahrtsrinne des Amur zu akzeptieren. Sie führte Ende September 1986 dazu, daß sich die Außenminister beider Länder auf die Wiederaufnahme der 1964 begonnenen und zuletzt 1978 ergebnislos abgehaltenen Grenzgespräche einigten. Während der ersten Verhandlungsrunde im Februar 1987 kam man überein, über den „gesamten Verlauf der Grenzlinie zwischen beiden Ländern“ zu sprechen und hierbei mit dem Ostsektor zu beginnen, der mit etwa 4 200 km den längsten Teil der Gesamtgrenze bildet. Im Verlaufder bisher abgehaltenen drei Verhandlungsrunden einigte man sich über „die meisten Grenzabschnitte“ dieses Sektors. Während der dritten Runde vom Oktober 1988 wurde auch mit der Überprüfung des Westsektors begonnen, der mehr als 3 000 km ausmacht
Auch auf dem von Gorbatschow in Wladiwostok erwähnten Kooperationsfeld der wasserwirtschaftlichen Nutzung des Amur kam es zu konkreter Zusammenarbeit. Unter der Leitung einer im Oktober 1986 eingesetzten gemeinsamen Kommission wurden topographische und hydrographische Forschungen durchgeführt, aber auch praktische Maßnahmen in Bereichen wie Hydroenergie, kommunale Wasserversorgung, Hochwasserschutz und Ökologie, besonders Fischbestanderhaltung, in den Grenzgebieten des Amur und seines Quellflusses Argun eingeleitet. Im Sommer 1987 fand eine erste gemeinsame Expedition entlang des Amur statt; etwa gleichzeitig wurde der Frachtverkehr auf dem Ussuri, dem Amur und dem Sungari wiederaufgenommen
Wenn man sich vor Augen hält, daß 1969 wegen des Grenzkonflikts beinahe ein großer Krieg ausgebrochen wäre, daß es auch in den Folgejahren — zuletzt im Sommer 1986 — immer wieder zu blutigen Grenzzwischenfällen gekommen war und daß beide Seiten nahezu ein Vierteljahrhundert lang ihre unterschiedlichen Rechtsstandpunkte mit äußerster Härte vertreten hatten, dann ist der in den letzten zwei, drei Jahren eingetretene Wandel erstaunlich. Er hat praktische Aspekte, aber er ist auch ein Politikum ersten Ranges. Denn der Grenzkonflikt gehört zu denjenigen Bereichen des Gesamtkonflikts, an denen sich auf beiden Seiten die Emotionen am heftigsten entzündet hatten. Statt Schüsse und Haßtiraden werden heute Waren ausgetauscht. Zwi sehen gegenüberliegenden Siedlungen am Amur gibt es wieder wirtschaftliche, kulturelle und sportliche Kontakte Auch Kasachstan und Sinkiang haben angefangen, wirtschaftlich zu kooperieren. An der Grenze ist es wieder friedlich geworden -fast so friedlich wie in den fünfziger Jahren.
Mit dem Bau der letzten chinesischen Teilstrecke einer zentralasiatischen Eisenbahnlinie, die -neben der transmongolischen und der transmandschurischen — die Sowjetunion und China verbinden soll, wurde im Frühjahr 1988 begonnen. Der Bau des damals noch fehlenden Verbindungsstücks zwischen Lanzhou (Provinz Gansu) und Alma Ata (Kasachstan) war 1952 vereinbart worden. Moskau hatte seinen Teil der Strecke bis zur Grenze fertig-gestellt und die kasachische Grenzstation symbol-trächtig „Drushba“ (Freundschaft) genannt. Auf der chinesischen Seite hingegen waren die Bauarbeiten nur bis Wulumuqi (Urumtschi) vorangetrieben, angesichts des heraufdämmernden Konflikts mit der Sowjetunion Ende der fünfziger Jahre unterbrochen und erst 1985 wiederaufgenommen worden
Die von Gorbatschow in Wladiwostok angekündigte sowjetische Hilfe beim Bau des letzten Teil-stücks zwischen Wusu und der chinesischen Grenzstation Alashankou, das etwa 210 km ausmacht, wurde im Juni 1988 fest zugesagt und im Dezember vertraglich vereinbart. China wird von der Sowjetunion Schienen. Bauholz. Dieselöl und Baumaschinen kaufen und hierfür einen sowjetischen Kredit in Höhe von 82 Mio. US-Dollar zu einem „Freundschaftszinssatz“ von unter vier Prozent aufnehmen, rückzahlbar bis zum Jahre 2000. Es handelt sich um den bisher umfangreichsten sowjetischen Kredit seit dem Ausbruch des Konflikts Anfang der sechziger Jahre. Die neue Linie soll 1991 in Betrieb genommen werden. Sie wird die Eisenbahnstrecke zwischen Europa und Peking um 2 000 km verkürzen und soll eine Verbilligung der Frachtraten im sino-sowjetischen Handel um 23 bis 33 Prozent bewirken. Angesichts der Umstände, unter denen die chinesischen Bauarbeiten in den fünfziger Jahren eingestellt worden waren, darf der Neubeginn des gemeinschaftlichen Unternehmens indes nicht nur unter ökonomischen Aspekten, sondern muß auch als ein Politikum betrachtet werden
V. Abbau der sicherheitspolitischen Hindernisse
Ungeachtet dieser politischen Fortschritte hatten die Rede Gorbatschows in Wladiwostok und das nachfolgende sowjetische Verhalten in demjenigen Bereich keinerlei Annäherung bewirkt, der von der chinesischen Führung als Kernstück der bilateralen Differenzen betrachtet wird: dem der „drei großen Hindernisse“.
Das afghanische „Hindernis“ kann nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen zum 15. Februar 1989 im wesentlichen als abgebaut gelten. Den von Gorbatschow in Wladiwostok angekündigten Teil-abzug hatte Peking — unisono mit dem Pentagon -als ein „Täuschungsmanöver“ bezeichnet; in Wahrheit habe die UdSSR ihre dortige Truppen-präsenz verstärkt Diese Einschätzung trifft insoweit zu. als der Teilabzug sowjetischerseits allenfalls als eine beschwichtigende Geste gedacht gewesen sein kann. Auch als Gorbatschow im Februar 1988 ankündigte, der vollständige Rückzug werde am 15. Mai beginnen und binnen zehn Monaten abgeschlossen sein, blieb man in Peking noch skeptisch Erst nach dem Abschluß des Genfer Afghanistan-Abkommens vom 14. April 1988 würdigte die chinesische Führung Moskaus Verhalten als Ausdruck eines „neuen Denkens“ in der sowjetischen Außenpolitik
Im Bereich der sowjetischen Truppenpräsenz an der Grenze zu China, einem weiteren „Hindernis“, wurden unter Gorbatschow entscheidende Fortschritte erzielt. Seit der Mitte der sechziger Jahre hatte die Sowjetunion ihren militärischen Aufmarsch an der sino-sowjetischen Grenze und in der Mongolei schrittweise von 20 auf 57 Divisionen verstärkt 1978 hatte sie mit der Stationierung von Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 in Asien begonnen und das Potential bis 1987 auf 162 Systeme ausgebaut Die erste Truppenreduzierung wurde von Gorbatschow in Wladiwostok angekündigt und im ersten Halbjahr 1987 durchgeführt. Sie betraf eine Mot-Schützendivision und „mehrere selbständige Truppenteile“ der in der Mongolei dislozierten Einheiten Peking zeigte sich unbeeindruckt und argumentierte, die Truppen könnten schnell wieder ben verlegt werden, da die Basenja erhalten blie-Der erste substantielle Abrüstungsschritt gegenRCr
China erfolgte im Rahmen des Abkommens über die Beseitigung der Mittelstreckenwaffen längerer und kürzerer Reichweite (INF), das am 8. Dezember 1987 von Reagan und Gorbatschow unterzeichnet wurde Das Abkommen erfaßt auch die in Asien stationierten bzw. auf Asien gerichteten Systeme der Sowjetunion und wurde von Peking begrüßt
Angeblich hat Moskau nach eigenem Bekunden seine Truppenpräsenz an der sino-sowjetischen Grenze unter Gorbatschow bereits vor 1988 verringert. wobei der Umfang nicht angegeben wird Einschneidende Reduzierungen im konventionellen Bereich, die sich gegenüber China auswirken, wurden am 7. Dezember 1988 von Gorbatschow selbst angekündigt Demnach will die Sowjetunion ihre Armee bis Ende 1990 u. a. um eine halbe Million Mann abbauen, wobei auch die Streitkräfte im asiatischen Teil des Landes „bedeutend“ verringert und „ein wesentlicher Teil“ der in der Mongolei dislozierten Truppen abgezogen werden sollen Die chinesische Führung war von diesen Schritten bereits im Dezember 1988 von Außenminister Schewardnadse während des Treffens mit seinem Amtskollegen Qian Qichen in Moskau informiert worden. Demnach soll die Truppenpräsenz an der Grenze zu China auf ein Niveau reduziert werden, „das der von den beiden Ländern angestrebten Normalisierung der Beziehungen entspricht“ Bei seinem Gegenbesuch in Peking vom Februar 1989 präzisierte Schewardnadse, die Streitkräfte „im östlichen und südlichen Teil“ des Landes würden um 200 000 bzw. 60 000 Mann vermindert und die noch in der Mongolei verbliebenen Verbände zu 75 Prozent abgezogen Die Begriffe „östlich“ und „südlich“ beziehen sich offensichtlich auf die Strategischen Operationsbereiche (russ: GTVD) „Fernost“ und „Süd“, wobei die im Bereich von „Fernost" stationierten Einheiten primär gegen China ausgerichtet sind Die Reduzierung der an der sino-sowjetischen und sino-mongolischen Grenze vorhandenen, auf 500 000 Soldaten geschätzten Militärpräsenz der Sowjetunion um etwa 240 000 Mann würde eine Verringerung um fast die Hälfte bedeuten. Hieraus ergibt sich auch, daß die gegen China gerichteten Streitkräfte im Vergleich zu den in den Strategischen Operationsbereichen „West“ und „Süd“ stationierten weit überproportional abgebaut werden sollen. Dies macht deutlich, wie gering die sowjetische Führung heute die von China ausgehende Bedrohung einschätzt. Da eine nüchterne Bedrohungsanalyse auch schon Anfang der achtziger Jahre oder noch früher zu demselben Ergebnis geführt hätte, muß man sich allerdings fragen, warum ein solcher Abrüstungsschritt nicht bereits vor Gorbatschows Amtsantritt getan wurde.
Schewardnadse gab bei seinem Pekingaufenthalt im Februar 1989 bekannt, daß die im Grenzbereich zu China verbleibenden Truppeneinheiten defensiv strukturiert werden sollen. Er unterbreitete außerdem der chinesischen Seite eine Reihe von Vorschlägen zur weiteren Entspannung und Vertrauensbildung an der Grenze. Demnach sollen u. a. die offensiven Komponenten der Streitkräfte und die Anzahl der Manöver reduziert, die Truppenverminderungen und die Aktivitäten der verbleibenden Einheiten wechselseitig verifiziert und die Manöver und Truppenbewegungen in Grenzgebieten notifiziert werden. Zur Prüfung dieser Frage sei eine gemischte Kommission einzusetzen, die als erstes einen Entwurf zu einem Abkommen über die Grundsätze der Truppenreduzierung auf beiden Seiten der Grenze ausarbeiten solle
Aber auch im Bereich des „Hindernisses“ Kambodscha, das von Peking seit mehreren Jahren als das „Haupthindernis“ bezeichnet wird, führte eine neue Beweglichkeit der Sowjetunion unter Gorbatschow zu beachtlichen Erfolgen. Hier geht es der chinesischen Führung offenbar nicht so sehr um Bedrohungsvorstellungen, die angesichts der sowjetischen Militärstützpunkte in Vietnam ohne Zweifel vorhanden sind. Viel stärker ist man in Peking durch Vietnams Streben nach einem von ihm dominierten indochinesischen Hegemonialverband irritiert, denn China betrachtet sich selbst als die historisch legitimierte Ordnungsmacht in Südostasien und ist an einem balkanisierten Indochina interessiert Davon ausgehend, daß Vietnam ohne sowjetische Hilfe die Okkupation Kambo-dschas nicht aufrechterhalten könnte, fordert Peking von Moskau, diese Hilfe einzustellen und Vietnam zum Rückzug aus Kambodscha zu drängen.
Jahrelang weigerte sich die Sowjetunion, mit China über Kambodscha zu sprechen, und zwar mit dem Argument, die sino-sowjetische Annäherung könne nicht auf Kosten befreundeter Staaten betrieben werden (Drittstaatenklausel) Erst seit der sinosowjetischen Konsultationsrunde vom Oktober 1986 fand sich Moskau bereit, auf die Klausel zu verzichten und Kambodscha auf die Tagesordnung zu setzen Möglicherweise waren es vor allem zwei von Deng Xiaoping ausgelegte Köder, die die sowjetische Führung zu diesem Wandel bewegten. Zum einen hatte Deng im April 1985 festgestellt, Moskau könne seine guten Beziehungen zu Vietnam und die dortigen Militärstützpunkte beibehalten, wenn es nur Hanoi zum Rückzug aus Kambodscha veranlasse Zum anderen hatte er im September 1986 angeboten, für diesen Fall mit Gorbatschow zu einem — von der Sowjetunion seit den siebziger Jahren dringend gewünschten — Gipfeltreffen zusammenzukommen Deng wiederholte seine konditionierte Offerte mehrfach, während Gorbatschow Vorbedingungen für einen Gipfel ablehnte Bis zum Sommer 1988 schien es, als ob sich die beiden Parteien in der Kambodscha-Frage nicht nähergekommen seien.
Der Durchbruch erfolgte auf einer sino-sowjetischen Arbeitstagung von Ende August 1988 in Peking. die ausschließlich der kambodschanischen Thematik gewidmet war. Offenbar konnte der sowjetische Verhandlungsführer, der Stellvertretende Außenminister Rogatschow, seinen chinesischen Kollegen Tian Zengpei davon überzeugen, daß es die sowjetische Führung mit dem Wunsch nach einer möglichst raschen Beendigung der vietnamesischen Intervention in Kambodscha ernst meine und alle ihr vertretbar erscheinenden Mittel einsetzen würde, um Hanoi zu einem schnellen Abzug zu bewegen Es gibt sogar Hinweise, wonach die sowjetische Seite auf der Arbeitstagung für einen vietnamesischen Exodus spätestens im ersten Vierteljahr 1990 garantiert haben soll Aber auch China bewegte sich in der Kambodscha-Frage. Auffällig war seit Juli 1988 eine gewisse Distanzierung von seinem kambodschanischen Hauptklienten, den Khmer Rouge Mitte August erklärte der chinesische Parteivorsitzende öffentlich, diese dürften die Macht nicht allein übernehmen Spätestens seit der Pekinger Arbeitstagung war China offenbar bereit, im Hinblick auf Kambodscha zusammen mit der Sowjetunion an einem Krisenmanagement mitzuwirken.
Auf dem sino-sowjetischen Außenministertreffen vom Dezember 1988 stellte man bei der Behandlung der Kambodscha-Frage in einer Reihe von Punkten Einigkeit fest Hierzu gehörte der Abzug der vietnamesischen Truppen, die Verhinderung eines Bürgerkrieges, die Bildung einer Viererkoalition und Wahlen unter internationaler Aufsicht. China sagte zu.seine Unterstützung für die Roten Khmer parallel zum vietnamesischen Truppenabzug zu reduzieren. Differenzen blieben u. a. in der Frage des künftigen Status der Heng-Samrin-Regierung bestehen. Die chinesische Seite bestand aufder Vorlage eines Zeitplans für den vietnamesischen Rückzug und forderte die Einstellung von Waffenhilfe an alle vier kambodschanischen Parteien nach dem Abschluß des Rückzugs
Im Januar 1989 kam erkennbar Bewegung in die Kambodscha-Frage, die sich in der Region unter anderem durch eine hektische Reisediplomatie äußerte. Ausgelöst wurde die überraschende Entwicklung durch Hanoi und Phnom Penh, die Anfang des Monats für den Fall einer politischen Lösung den Endtermin für den vollständigen Truppenrückzug auf September 1989 vorverlegten, sich erstmals mit dessen internationaler Kontrolle einverstanden erklärten und dafür sowjetischen und chinesischen Beifall erhielten Mitte des Monats reiste erstmals seit 1976 ein thailändischer Außenminister nach Vietnam. Zwei Tage darauf flog der Erste vietnamesische Vizeaußenminister Dinh Nho Lien nach Peking, um die ersten sino-vietnamesisehen Gespräche auf hoher Ebene seit acht Jahren zu führen. Die Chinesen entsprachen damit einem immer wieder — zuletzt auf der sino-sowjetischen Außenministerkonferenz vom Dezember 1988 — vorgetragenen sowjetischen Wunsch, direkt mit Vietnam zu verhandeln. Hanoi meldete anschließend den Abschluß „einiger Vereinbarungen“ und kündigte ein Treffen der beiden Außenminister noch im Jahre 1989 an
Das sowjetisch-chinesische Außenministertreffen vom Februar 1989 erbrachte in der Kambodscha-Frage eine deutliche Annäherung der Standpunkte. In einer gemeinsamen 9-Punkte-Erklärung einigte man sich darauf, daß nach dem Abzug der vietnamesischen Truppen bis Ende September die ausländische Militärhilfe an die vier Khmer-Parteien eingestellt werden müsse, daß ein Bürgerkrieg und die Wiederholung der Grausamkeiten der Roten Khmer zu verhindern seien, daß der Abzug der Vietnamesen und die anschließenden freien Wahlen international überwacht werden sollten und daß beide Staaten sich an einer internationalen Garantie für ein „unabhängiges, friedliches, neutrales und blockfreies“ Kambodscha beteiligen würden. Die einzigen in der Erklärung erkennbaren Differenzen beziehen sich auf das Verfahren für die Bildung einer künftigen kambodschanischen Regierung vor den geplanten Wahlen. Hier tritt Peking für die Bildung einer „provisorischen Koalitionsregierung“ unter der Führung von Sihanouk mit vierseitiger Beteiligung ein, während Moskau an der Weiterexistenz der Regierung in Phnom Penh festhalten möchte und die Schaffung eines vierseitigen „provisorischen Organs“ unter Sihanouk befürwortet. Über diese Meinungsverschiedenheit soll weiterverhandelt werden
VI. Ausblick auf den sowjetisch-chinesischen Gipfel
Im Frühjahr 1989 können die „drei großen Hindernisse“ als im wesentlichen abgebaut gelten. Die chinesische Führung perzipiert die Sowjetunion nicht mehr als eine militärische Bedrohung und sieht sich von Moskau auch in ihren Ordnungsvorstellungen im Hinblick auf Südostasien ernstgenommen. Insoweit hat sich also die chinesische Hartnäckigkeit bewährt. Andererseits wird man in Peking einräu-men müssen, daß sich die Sowjetunion nicht nur mit Rücksicht auf die erwünschte Entspannung mit China bewegt hat. Unter Gorbatschow gehören angesichts des katastrophalen Zustands der sowjetischen Wirtschaft das Abwerfen von außenpolitischem Ballast und das Werben um internationale Kooperation weltweit zum festen Repertoire des „neuen Denkens“.
Der Durchbruch im Bereich des „Hindernisses“ Kambodscha nach der sino-sowjetischen Arbeitskonferenz vom August 1988 machte nunmehr den Weg für den von Moskau seit langem angestrebten Gipfel frei. Schon einen Monat nach der Tagung wurde bekanntgegeben, der chinesische Außenmi-nister werde Ende des Jahres nach Moskau fliegen und sein sowjetischer Kollege den Besuch Anfang 1989 erwidern — die ersten derartigen Reisen, seit Zhou Enlai 1957 nach Moskau und Gromyko 1959 nach Peking gefahren war. Mitte Oktober verkündete Deng Xiaoping, im Falle eines günstigen Verlaufs der Außenministertreffen könne die Gipfelbegegnung zwischen ihm und Gorbatschow im Laufe des Jahres 1989 stattfinden
Auf dem Moskauer Außenministertreffen von Anfang Dezember 1988 wurde eine weitere Verdichtung der bilateralen nichtpolitischen Zusammenarbeit vereinbart; in der Kambodscha-Problematik blieb noch manches kontrovers. Nachdem auf dem Pekinger Treffen von Anfang Februar 1989 sowohl in diesem Bereich als auch auf dem Gebiet der militärischen Entspannung an der Grenze weitgehend Einigung erzielt werden konnte, stand dem Gipfel nichts mehr im Weg: Staatspräsident Yang Shangkun lud Gorbatschow für die Zeit vom 15. bis 18. Mai nach Peking ein Deng Xiaoping sagte zu Schewardnadse, die Begegnung solle „die Vergangenheit beschließen und die Zukunft eröffnen“
Was aber kann das Gipfeltreffen wirklich erbringen? Eine Rückkehr zu den Bündnisbeziehungen der fünfziger Jahre keinesfalls — und zwar nicht nur deswegen, weil Deng Xiaoping dies erst unlängst wieder ausgeschlossen hat Die postmaoistische Führung hat in ihrer Außenpolitik seit Anfang unseres Jahrzehnts ideologischen Dogmen den Rükken gekehrt, strebt ein Höchstmaß an Unabhängigkeit an und läßt sich von nationalen Interessen im herkömmlichen Sinne leiten. Diese aber gebieten — solange Peking die Modernisierung des Landes als gesamtpolitisches Hauptziel verfolgt — vor allem die Fortsetzung der engen wirtschaftlich-technologischen Zusammenarbeit mit den USA, Japan und Westeuropa. Die sich verstärkende Kooperation mit der Sowjetunion mit ihren spezifischen Vorteilen — z. B. kurze Transportwege, Kompensationsgeschäfte — erscheint dabei als ein komplementäres Element sehr willkommen. Hinzu kommt ein vitales Interesse, von den Reformen im jeweils anderen Land zu lernen. Im Rahmen einer diversifizierenden Außenpolitik wird China es auch weiterhin zu vermeiden suchen, in eine allzu starke Abhängigkeit von einem einzelnen Staat oder einer Staatengemeinschaft zu geraten.
Die von beiden Seiten immer wieder zitierte „Normalisierung“ der Beziehungen kann der Gipfel schon aus semantischen Gründen nicht leisten. Weder Moskau noch Peking waren bisher in der Lage, diesen Begriff einigermaßen plausibel zu definieren. Zuzustimmen ist daher Oleg Trojanowskij, dem sowjetischen Botschafter in Peking, der ihn unlängst mit der Begründung ablehnte, die sinosowjetischen Beziehungen seien bereits normal und es könne daher nur um ihre Verbesserung gehen Zutreffend erscheint auch eine chinesische Einschätzung, wonach Pekings künftige Beziehungen zu Moskau sich von denjenigen zum Beispiel zu Paris nicht unterscheiden werden Angesichts der Entideologisierung der Außenpolitik beider kommunistischer Staaten ist selbst die geplante Wiederaufnahme der 1966 unterbrochenen, aber nie formell abgebrochenen Parteibeziehungen kein sonderlich aufregender Vorgang mehr. In diese Richtung weist Schewardnadses lapidare Bemerkung, Gorbatschows geplantes Zusammentreffen mit Parteichef Zhao Ziyang im Mai werde die Wiederaufnahme der Beziehungen zwischen den beiden Parteien bedeuten Auf einen feierlichen Akt will man anscheinend — wie schon im Fall der kleineren osteuropäischen Parteien — verzichten.
Was als Substanz für den Gipfel bleibt, ist die protokollarische Krönung der bisher erreichten Wiederannäherung, verbunden mit einem intensiven Arbeitsprogramm im Stil der sowjetisch-amerikanischen Spitzenbegegnungen in der Ära Reagan-Gorbatschow. Hierbei sollen vor allem die restlichen Differenzen in der Kambodscha-Frage ausgeräumt werden. Für den 84jährigen Deng Xiaoping bedeutet der Gipfel den letzten Höhepunkt seiner außen-politischen Karriere vor seinem für Ende des Jahres geplanten Abschied von der Politik. Für Deng und Gorbatschow wird das Treffen einen beachtlichen Prestigegewinn im eigenen Lande erbringen, den besonders der von politischen Widersachern bedrängte sowjetische Generalsekretär gut gebrauchen kann.