I. Einführende Betrachtungen
Die Begriffe „Glasnost“ und „Perestroika“ haben mittlerweile in den Sprachgebrauch vieler Länder — von den USA bis Japan — Eingang gefunden. Sie charakterisieren etikettenhaft den Reformprozeß in der UdSSR. Zumeist ist auch bekannt, daß die Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit. Glasnost, dem Plan einer Umgestaltung des politischen Systems, der Perestroika, vorausging. Es stellt sich daher die Frage nach dem wechselseitigen Verhältnis von Glasnost und Perestroika, zumal nach der Hebelfunktion der neuen öffentlichen Meinung für die Entstehung alternativer ordnungspolitischer Vorstellungen. In gleicher Weise interessiert der institutionelle Rahmen, in dem die Reformdebatte verläuft: Hat die vielzitierte Kultur des Dialogs und der Polemik zu neuen Artikulationsformen öffentlicher Kritik wie gesellschaftlicher Kommunikation geführt, ja. kann von einem Strukturwandel der Öffentlichkeit gesprochen werden? Zu erwägen ist weiter, ob sich aus solchen Änderungen Rückschlüsse auf die allgemeine Entwicklungstendenz des Sowjetsystems gewinnen lassen.
Damit verbindet sich die Frage nach der gestaltenden Kraft von Glasnost für die Inhalte eines „sozialistischen Rechtsstaats“ und eines „Pluralismus der Meinungen“.
Um Veränderungen ermessen zu können, empfiehlt sich zunächst ein kurzer Überblick über die traditionellen Formen und Wirkungsweisen von öffentlicher Kritik im Sowjetsystem. In einem zweiten Schritt sollen die konkreten Auswirkungen der Glasnost-Parole und der Preisgabe des kommunistischen Wahrheitsmonopols auf den Prozeß gesellschaftlicher Meinungsbildung wie auf die sowjetische Medienlandschaft erörtert werden. Höhepunkte in diesem Prozeß stellten bisher die Diskussionen vor und auf der 19. Gesamtsowjetischen Parteikonferenz im Sommer sowie die Volksaussprache über die Verfassungsänderungen im Spätherbst 1988 dar. Die hier gehandelten Ordnungsmodelle und die konkreten Verlaufsformen der Debatte können erste Anhaltspunkte dafür abgeben, die Richtung des Systemwandels in der UdSSR zu bestimmen.
II. Formen und Wirkungsweisen einer kritischen öffentlichen Meinung vor der Glasnost-Ära
Auch in den Jahren der „Stagnation“ gab es Formen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Regime und seiner Arbeitsweise. Die Kritik blieb nicht auf die Werke der Dissidenten beschränkt. auch wenn von ihnen die Einrichtungen des Sowjetsystems besonders scharf angegriffen wurden. Nach dem Scheitern ihrer heroischen Versuche. in offenen Briefen und Petitionen an die politische Führung eine Demokratisierung und vor allem mehr Öffentlichkeit (Glasnost) einzuklagen, wurden die „Andersdenkenden“ in den Untergrund (Samisdat) und auf Veröffentlichungen im Ausland (Tamisdat) abgedrängt. Die Grenzen zwischen der Regimekritik dieser „nichtoffiziellen“ Literatur und der Gesellschaftskritik so mancher im Lande gedruckter „offizieller Literatur“ waren fließend. Auch hier brach sich in Romanen und Theaterstücken ein nonkonformes Denken und Kritik an den Schwachstellen des Systems wie an gesellschaftlichen Verfallserscheinungen Bahn. So hat der heute in vorderster Perestroika-Front kämpfende Schriftsteller Alexander Gelman den Zusammenhang von hierarchischem Kommandosystem und Verantwortungslosigkeit schon früh auf die Bühne gebracht
Neben den Schriftstellern und Literaten verstanden es Sozialwissenschaftler und Juristen auf ihre Weise, systemkritische Gesellschaftsanalysen vorzulegen und Reformen einzufordern. Sie verlangten mehr Rechtssicherheit, mehr Formen sozialer Rückkopplung und den Ausbau demokratischer Einrichtungen. Zum Teil trug die Unionsverfassung von 1977 diesen Wünschen Rechnung. So bestimmte Art. 9. daß zur weiteren Entfaltung der Demokratie eine stärkere Partizipation sowie „die zunehmende Öffentlichkeit (Glasnost) und die ständige Berücksichtigung der öffentlichen Meinung“ gehören. Dieses „Demokratie-Gebot“ blieb jedoch nur ein Programm. Ähnliches galt für rechtsstaatliche Bestimmungen, etwa im Hinblick auf die Absicherung eines Bürgerrechts auf Kritik und auf Beschwerdeführung vor den Gerichten. Entsprechende Ausführungsgesetze wurden erst in jüngerer Zeit verabschiedet
Andererseits verlor sich die Dynamik sozialwissenschaftlicher Kritik auch am Ende der Breschnew-Jahre nicht. Es entwickelten sich unterschiedliche Denkschulen über die Natur der öffentlichen Meinung im Sozialismus. Während die einen von einer grundsätzlichen Interessenharmonie in der Gesellschaft und zwischen dieser und dem Staat ausgingen. erkannten andere zunehmende Widersprüche und eine Vielfalt gesellschaftlicher Interessen. Diese Art von Wissenschaftsdiskurs gehörte im übrigen zu den herkömmlichen Mustern öffentlicher Kritik und diente immer auch der Suche von Problemlösungen.
Vor dem Hintergrund der polnischen Krise von 1980/81 verdichtete sich in sozialwissenschaftlichen Kreisen die Auffassung, daß auch die Sowjetgesellschaft nicht vor „antagonistischen Widersprüchen“ und das Regime nicht vor Legitimationseinbußen gefeit sei. Tatsächlich zeichneten sich Symptome einer Krise schon deutlich ab. Davon kündeten vielfältige Entfremdungserscheinungen in der Gesellschaft, Innovationsverluste, technologische Rückständigkeit und die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums. Heutige Perestroika-Protagonisten wie Boris Kuraschwili und Tatjana Saslawskaja machten schon 1983 klar, daß gesellschaftliche Dynamik und Innovation nur unter Berücksichtigung der tatsächlich heterogenen sozialen Strukturen und Interessen und kraft politischer Partizipationsmöglichkeiten erreichbar wären
Neben Spielräumen und Nischen für Regime-und Strukturkritik in Wissenschaft, Literatur und Kunst gab es noch weitere Einrichtungen, die Kritik von unten nach oben transportierten. Dazu gehörten Bürgerzuschriften an Partei-, Staats-und vor allem Presseorgane sowie Volksaussprachen zu wichtigen Gesetzesprojekten. Letztere trugen vornehmlich dazu bei, die Gesellschaft zu mobilisieren. Tatsächlich brachten Volksaussprachen einen beträchtlichen und kontroversen Meinungsfluß in Gang. Dem Aufwand wurde allerdings in den verabschiedeten Gesetzen viel zu wenig Rechnung getragen. Volksaussprachen erfüllten in der politischen Willensbildung eine vorwiegend informierende, beratende und korrigierende Funktion. Ähnliches gilt für die große Zahl von Zuschriften und Leserbriefen, die seit jeher als Ausdruck einer unverfälschten Bürgermeinung und als „Band mit den Massen“ von der Parteiführung geschätzt und gefördert wurden Über die so artikulierte kritische Meinung der Gesellschaft gab die Sowjetpresse ausführlich Kunde. Umfangreiche Leserbriefspalten, Stellungnahmen dazu und ausführliche Reporterberichte brachten viele Beschwerden zutage. Während in Leserbriefen vorwiegend die alltäglichen Versorgungsprobleme. vielfache Formen des Amtsmißbrauchs.der Korruption und Ineffizienz in Verwaltung und Justiz angeprangert wurden, ging es in den Volksaussprachen auch um Wertfragen und politische Optionen.
In gleicher Weise wie in den Leserbriefen wurde das Regime seitens der Zeitungsreporter nur vordergründig hinsichtlich der Arbeitsweise seiner Träger in Partei und Staat kritisiert. Trotzdem vermittelte die regelmäßige Presselektüre ein anschauliches Bild von den typischen Strukturen eines autoritären. einer wirksamen Gesellschaftskontrolle und Rechtsaufsicht entbehrenden politischen Systems. Die über Jahrzehnte hin praktizierten Muster einer „Kritik und Selbstkritik“ waren eingefahren. Sie wurden abgespult, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, je nach Reporter und nach Zeitungsorgan. Die höheren Parteiinstanzen übten immer wieder daran Kritik, daß untere Parteiorgane die Lektionen der von „oben und unten untermauerten Kritik und Selbstkritik“ nicht konsequent und nicht „schöpferisch“ genug befolgt hätten.
Während der kurzen Amtsperioden der beiden kranken Generalsekretäre Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko weitete sich der Raum für öffentliche Kritik aus. doch blieb sie auf die herkömmlichen Muster beschränkt. Inhaltlich dominierte der Kampf für mehr Arbeitsdisziplin und gegen den Alkoholismus. Nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow im Frühjahr 1985 verstärkte sich dieser Trend. Der Ruf nach mehr Glasnost in der Presse war jedoch neu. Bald verdeutlichte sich auch die Stoßrichtung von Glasnost: mehr Transparenz in der Partei-und Verwaltungstätigkeit und die Loslösung von der „langweiligen. ständig wiederholten propagandistischen . Gehirnwäsche " Noch mehr Meinungsvielfalt in Leserbriefen, brisante Korruptionsfälle und Ansätze zur Analyse typischer Strukturmerkmale des Sowjetsystems markierten die öffentliche Kritik auf dem Weg in die Glasnost-Ära.
III. Das Ende des kommunistischen „Unfehlbarkeitsanspruchs“ und ein neues gesellschaftliches „Denken in Varianten“
Auf dem 27. Parteitag der KPdSU Ende Februar/Anfang März 1986 wurden die Weichen für eine eigenständigere kritische Öffentlichkeit gestellt. Die Partei leistete einen Offenbarungseid über die gravierenden „Deformationen“ im Lande, zunächst definiert als das Erbe „einer nicht weit zurückliegenden Periode“. Sie löste sich von dem lange gehüteten „Unfehlbarkeitskomplex“ und setzte nun auf die Phantasie und Dynamik einer neuen kritischen Öffentlichkeit. In Glasnost wurden vielfache Erwartungen gesetzt, vor allem die auf eine Demokratisierung, „denn ohne Publizität gibt es keine Demokratie, kein politisches Schöpfertum der Massen und der Leitungstätigkeit, und es kann sie auch gar nicht geben“. Glasnost sollte die Gesellschaft mobilisieren, die Kader kontrollieren und Konzepte der Erneuerung zutage fördern.
Glasnost sei kein „Mechanismus zum Ein-und Ausschalten“, hieß es, sondern eine Einrichtung von grundsätzlichem Wert, die sich „störungsfrei“ entwickeln müsse. Andererseits wurde vor einer übertriebenen Kritik an der Partei gewarnt. Man könne diese schließlich nicht für alle ökonomischen und sozialen Schwächen im Lande verantwortlich machen, bis hin etwa zu dem Mangel an Nägeln. Immerhin hatte schon vor dem 27. Parteitag ein Leserbrief in der Prawda die „sich träge dahinwälzende parteiadministrative Schicht“ und deren privilegierte Lebensweise angegriffen. Daraufhin meinten konservative Vertreter der Führung, vor Pannen mit Glasnost und einer „selbstzerstörerischen“ Kritik und Selbstkritik warnen zu müssen. Solchem Kleinmut begegnete man seitens der Reformer mit der Autorität von Marx und Lenin. Deren Aussagen über die selbstreinigende und stabilisierende Kraft von Selbstkritik für revolutionäre Bewegungen wurden nun vorzugsweise zitiert
In seinem Buch „Perestroika“ trat Gorbatschow dafür ein. Glasnost gesetzlich abzusichem, so daß die Bürger „ohne Angst“ ihre Meinung kundtun könnten. Öffentliche Kritik sollte also vor denjenigen geschützt werden, die sich angewöhnt hatten, ihre Kritiker zu verfolgen und zu diskriminieren. Weiter sollte in den Massenmedien eine Kultur des „Dialogs“ entwickelt werden. Entsprechende Errungenschaften sah Gorbatschow darin, daß „an die Stelle trockener Berichte“ bereits „Interviews, Gespräche, Diskussionsrunden und Debatten über Leserbriefe“ getreten seien. Diese Diskussionen könnten noch ausgeweitet werden, „damit alle Sowjetbürger zu Wort kommen und der sozialistische Pluralismus, so wie er ist, in jeder Publikation in seiner ganzen Breite repräsentiert würde“
Tatsächlich kam zumal nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl immer mehr Bewegung in die sowjetische Medienlandschaft, in die Formen wie in die Inhalte. Nachdem eine gewisse Funkstille über die Vorgänge in dem Atomkraftwerk verstrichen war, wurde der Fall im neuen Verständnis von „Kritik und Selbstkritik“ paradigmatisch erörtert. Dabei wurden die typischen Probleme der Verantwortungslosigkeit und Vertuschung analysiert und selbst zu einem Drama verarbeitet. Generell weiteten sich die Spielräume für eine kritische Öffentlichkeit nach Tschernobyl noch deutlich aus. Nach und nach wurden neue, politisch sensible Bereiche zum Gegenstand öffentlicher Erörterung, fielen sorgfältig gehütete Tabus. Institutionen wie der KGB und die Rote Armee wurden in der Unionspresse kritisiert. Schwerwiegende soziale Probleme Wie Prostitution, Drogensucht, die Misere von Landstreichern und die Orientierungslosigkeit von Jugendlichen fanden erstmals eine offene und kontroverse Behandlung. Im Disput zwischen einzelnen Zeitungsorganen polarisierten sich auch grundsätzliche Standpunkte. Zu den Neuheiten gehörte, daß ganze Politikbereiche wie die Bildungs-und die Gesundheitspolitik an den Pranger gerieten. War über den Krieg in Afghanistan ursprünglich gar nicht und dann nur über den heroischen internationalistischen Einsatz der sowjetischen Kombattanten berichtet worden, so wurden zuletzt die Greuel an der Front und der achtlose Umgang mit versehrten Heimkehrern beschrieben. Zahlen über die Verluste wurden vorgelegt; zur Sprache kamen auch Vorfälle des „Loskaufs“ mancher Soldaten vom Kriegsdienst.
Schließlich wurden die großen sozialen Ungerechtigkeiten im Lande thematisiert, die ganze Schichten betreffen, so die Benachteiligung der Landbe-wohner gegenüber den Städtern und die faktische Ungleichstellung der Frau. Hinzu kam eine" th sendeKritik an den Vergünstigungen für eine Minderheit, die Angehörigen der Nomenklatura. Auffällig war auch der Wandel in der Auslandsberichterstattung; allmählich wurden die kapitalistischen Gesellschaften realitätsgetreuer dargestellt. Interviews mit westlichen Politikern oder Journalisten in der Presse oder im sowjetischen Fernsehen wurden zu einer ständigen Einrichtung
Der auffälligste Unterschied zu den herkömmlichen Mustern einer kritischen Öffentlichkeit lag darin, daß die auch früher vielfach beschriebenen Mißstände. etwa in der Funktionsweise von Justiz und Verwaltung, nun als typische Erscheinungsweisen des Regierungssystems verallgemeinert und auf ihre strukturelle Verursachung hin analysiert wurden. An dieser erstmaligen grundlegenden Auseinandersetzung mit den Institutionen des Sowjetstaats und seiner politischen Kultur beteiligten sich in gleicher Weise Wissenschaftler, Publizisten. Schriftsteller und Künstler. Damit ging eine Suche nach verlorengegangenen oder neuen Werten einher. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte begann, vor allem mit der Stalin-Zeit, in deren „Regime des Personenkults“ der Ursprung des nun gegebenen „befehlsadministrativen Systems“ gesehen wurde. Hinzu kam, daß sich eine öffentliche Meinung gegen konkrete Verwaltungsplanungen wie die Umleitung der nordsibirischen Flüsse oder den Bau neuer Kernkraftwerke formierte und daß nunmehr ganze Gruppen selbstbewußt ihr Veto zum Ausdruck brachten
Von besonderer Brisanz erwies sich die Darstellung von „Justizirrtümern“ und Korruptionsaffären, in die hohe und höchste staatliche Würdenträger verwickelt waren. Dabei wurden typische Formen des Amtsmißbrauchs wie die richterliche „Telefonjustiz“ oder die „gegenseitige Rückversicherung“ aller an der Vertuschung gravierender Mißstände oder Vergehen interessierter Funktionäre, einschließlich der Vertreter der „rechtswahrenden Instanzen“, analysiert. Mehrere Autoren forderten daraufhin mehr Unabhängigkeit für die Justiz, eine autonomere Stellung der Rechtsanwälte und sorgfältigere Voruntersuchungen. Der Schriftsteller Alexander Gelman war einer der ersten, der den Gedanken der Gewaltenteilung im Sinne von „gegenseitig unabhängigen souveränen Strukturen“ in die Diskussion einbrachte
Im Juni 1987 wurden Gesetze verabschiedet, die erste Schritte in Richtung der angestrebten Verbesserung der Rechtssicherheit der Bürger und ihrer Partizipationsmöglichkeiten darstellten. Zumeinen wurde ein gerichtlicher Verwaltungsrechtsschutz festgelegt und damit das bereits in der Verfassung von 1977 sanktionierte Prinzip der Verwaltungsgerichtsbarkeit materialisiert. Des weiteren wurde ein Gesetz über Volksaussprachen beschlossen; bei dieser Gelegenheit wurden die Unzulänglichkeiten des bisherigen Verfahrens kritisiert -Maßnahmen zu einer grundlegenden Umgestaltung des Systems. zumal seiner „führenden und lenkenden Kraft“, der kommunistischen Partei selbst, waren auf dem ZK-Plenum im Januar 1987 zunächst noch zögernd ins Auge gefaßt worden. Die hier von Gorbatschow verkündeten Demokratisierungsabsichten stießen offenkundig auf beträchtlichen Widerstand in den Apparaten und in konservativen Parteikreisen. Erst auf weiteren ZK-Plenen im Juni 1987 und Februar 1988 wurde der Weg zu einer grundlegenden Reform des politischen Systems freigemacht. Nachdem ursprünglich nur die „Beschleunigung des sozial-ökonomischen Fortschritts“ als oberstes Reformziel firmiert hatte, wurde jetzt die Perestroika des politischen Systems selbst auf die Tagesordnung gesetzt. Dies wurde in erster Linie damit begründet, daß alle Reformansätze seit dem Zweiten Weltkrieg gerade an den „befehlsadministrativen“ Institutionen des Landes gescheitert seien. So erzwinge die „innere Logik“ des aktuellen Reformprozesses eine politische Perestroika
Tatsächlich läßt sich ein Zusammenhang zwischen der Ausweitung von Glasnost, den Ansätzen zur Parteierneuerung, den bereits vollzogenen . halben*, wenig wirksamen Wirtschaftsreformen und der plötzlich eintretenden Aktualität des Umbaus der Herrschaftsstrukturen ausmachen. Vergleicht man den seit 1987 geführten öffentlichen Diskurs mit den Reformthesen, die vom ZK der KPdSU der 19. Gesamtsowjetischen Parteikonferenz im Juni/Juli 1988 zugrundegelegt wurden, so wird deutlich, daß Glasnost bzw.der neue „sozialistische Pluralismus der Meinungen“ dabei der Partei Pate gestanden hatte. Im Vorfeld der Parteikonferenz vermischten sich die herkömmlichen Typen kritischer Öffentlichkeit zu einem neuen, gesamtgesellschaftlichen Diskussionsforum. Aus der alten „Experten-diskussion“ wurden Gespräche am runden Tisch, in denen man für so lange verpönte Modelle und Strukturprinzipien wie Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Inkompatibilität von Ämtern, Opposition und Pluralismus eintrat. Dabei zeigte sich eine deutliche Verwandtschaft zwischen diesen Vorstellungen und dem westlichen Rechtsstaatsmodell. Der Pluralismusbegriff orientierte sich hingegen nicht an dem Typus einer Konkurrenz von politischen Parteien und Gruppen, sondern nur an einer Vielfalt von Meinungen und Interessen, an einer Kultur des Dialogs und der Artikulation unterschiedlicher Standpunkte. Diese entwickelte sich jedoch rasch. Vor allem in Leserbriefen fragmentierte sich die öffentliche Meinung immer mehr; sie transportierten sogar den politischen Richtungsstreit. Bald wurde hier Lenins De-, mokratieverständnis kritisiert und in Erwägung gestellt, ob das „Personenkult-Regime“ nicht schon in dessen Denken begründet sei In der Stalinismus-Debatte wandte sich die Leserbriefschreiberin Nina Andrejewa, die offenkundig auch als Sprachrohr des konservativen Parteiflügels diente, gegen den „linksliberalen Intelligenzlersozialismus“ mit seiner Tendenz „zur Verleumdung der Geschichte des Sozialismus“. Eine Prawda-Replik hielt der Autorin wiederum vor, die konservative Position der hausgemachten „Sozialismus-Klageweiber“ zu vertreten, die mit den Hauptrichtungen der Perestroika gänzlich unvereinbar sei
Unterdessen hatte sich die Debatte über die Geschichte auf ihre Art verselbständigt. Zunächst waren Schriftsteller, Regisseure und Publizisten in der Suche der geschichtlichen Wahrheit vorangegangen. Dazu gesellten sich bald einige engagierte Historiker, während manche Vertreter der Zunft eine abwartende Haltung einnahmen oder an den neuen Ansätzen Kritik übten. In Leserbriefen beteiligten sich viele Sowjetbürger an der kollektiven Wieder-gewinnung der Geschichte. Es stieg die Auflagenzahl der Presseorgane beträchtlich, die für eine schonunglose Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte eintraten Von der politischen Führung wurden Dokumentarfilme freigegeben und Rehabilitierungen ausgesprochen, etwa der alten Bolschewiki Aleksej Rykow und Nikolaj Bucharin. Darüber hinaus wurden Bucharins politische und ökonomische Vorstellungen neu diskutiert und als eine Alternative zu Stalins Politik gewürdigt. Daran zeigt sich, daß von der „kollektiven Rückkehr zur Wahrheit“ auch Orientierungshilfen für die Ausrichtung der Perestroika erwartet wurden. Andererseits führte die Wahrheitssuche dazu, daß nur noch relativ kurze Perioden in der sowjetischen Geschichte — wie etwa die Neue Ökonomische Politik in den zwanziger Jahren — für positive Identifikationen verfügbar waren. So konnte es nicht ausbleiben, daß man sich bei den ideologischen und institutioneilen Grundrissen der politischen Perestroika an den „Erfahrungen des welthistorischen Prozesses“ zu orientieren begann Den Rahmen für diese epochale Verfassungsdebatte boten die sowjetischen Medien und vor allem die Presse mit ihren neuartigen Dialogformen.
IV. Glasnost als nachgeholtes liberales Ideal von Öffentlichkeit und Hebel „optimaler“ Problemlösungen
Die 19. Gesamtsowjetische Parteikonferenz beschäftigte sich in erster Linie mit der neuen kritischen Öffentlichkeit, ihrem grundsätzlichen und funktionellen Wert. Die Beratungen der knapp 5 000 Kommunisten verliefen kontrovers und mitunter stürmisch Schon die Preisgabe des erstarrten Versammlungsrituals war als solche Ausdruck eines Strukturwandels der Öffentlichkeit. Eine recht klare Frontlinie trennte die Befürworter von Glasnost als demokratischem Wert an sich, den es gesetzlich zu schützen und fortzuentwickeln gelte, von deren Kritikern, die für möglichst wenig öffentliche Kritik und ihre Ausrichtung an praktischen Zielen plädierten. Zu letzteren zählten in der Regel die Ersten Republik-und Gebietsparteisekretäre, die offenkundig traditionelle Verhaltens-und Denkweisen für ihre provinzialen Domänen zu retten suchten. Zu den Vorkämpfern von Glasnost als einem unverzichtbaren Attribut von Demokratie und Rechtsstaat gehörten in erster Linie Chefredakteure, Künstler, Wissenschaftler und natürlich die Vertreter der radikalen Reformen in der Parteiführung wie Gorbatschow und Boris Jelzin.
Gorbatschow verband die wünschenswerte Entstehung eines ständigen politischen Dialogs mit der Notwendigkeit, ein neues Verständnis der Menschenrechte zu entwickeln und die Gewissensfreiheit zu garantieren. Die neue Rolle der öffentlichen Meinung habe vor allem darin zu bestehen, „die beste Lösung unter Berücksichtigung aller verschiedenartiger Meinungen und realer Möglichkeiten zu finden“. Ein derartiges Verständnis von Öffentlichkeit erinnert stark an traditionelle Denkmuster des politischen Liberalismus. In seiner bekannten Studie über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ hat Jürgen Habermas für die Epoche des Liberalismus ähnliche Tendenzen nachgewiesen. Damals sollte ein „räsonierendes politisches Publikum“ eine Palette politischer Lösungsmöglichkeiten anbieten. über welche die Führung dann auf der Grundlage der „realen Möglichkeiten“ im Lande eine „rationale Übereinkunft“ erzielen könne. Offenkundig besteht in der UdSSR heute ein Nachholbedarf an jenen demokratischen Vorformen wie an den Werten der Aufklärung überhaupt.
Es war bemerkenswert, wie einige Publizisten die grundsätzliche Rolle der Presse im Einparteienstaat hervorhoben, ja damit begründeten, daß der Presse in einem solchen System die Funktion der „politischen Opposition“ zufallen müsse. Viktor Afanassew, Chefredakteur der Prawda, meinte, die Presse müsse während der Perestroika eine Vorkämpferin sein und bei der Suche nach „konstruktiven Lösungen“ mitwirken. Hier verdeutlicht sich wiederum die Erwartung, daß die Öffentlichkeit einen Meinungsmarkt fördere, auf dem sich die „optimale Variante“ ermitteln lasse. Auf den Zusammenhang von kritischer Öffentlichkeit und Parteiemeuerung verwies auch Gorbatschow. Glasnost sei eine Voraussetzung für die Lebensfähigkeit der Partei. M. Uljanow vom Theaterverband der RSFSR betonte die weltweite kritische Funktion einer unabhängigen Presse und meinte, daß lediglich in der Sowjetunion „einige Genossen sie am liebsten mit einem Maulkorb an der Leine spazieren führen“ wollten. Da gerade auf örtlicher Ebene die Beeinflussungsversuche auf die Presse am stärksten seien, müsse sie so autonom sein, daß sie „als Gegengewicht imstande ist, die Rolle des Kontrahenten zu übernehmen“. Demgegenüber meinten andere Delegierte, daß in der Sowjetpresse mittlerweile schon .. Nihilismus“ zu finden sei und Demagogen wie .. inoffizielle Führer“ die Meinungsfreiheit mißbrauchten. Ein Teil der Presse benutze „die Perestroika als Destabilisator alles Bestehenden, als Revision von Überzeugung und Moral“. Tatsächlich wollten glasnostscheue Parteisekretäre eine kritische Öffentlichkeit nicht „unabhängig von praktischen Dingen“ wie der Lösung von wirtschaftlichen und sozialen Problemen zugestehen. Ligatschow verwahrte sich insbesondere gegen den Verlauf der Geschichtsdebatte uncj dagegen, daß „häufig“ sogar »völlig tendenziöse“ Bürgerzuschriften gedruckt würden.
Ungeachtet des umstrittenen Werts von Glasnost entschlossen sich die Delegierten der Parteikonferenz dazu, darüber einstimmig eine Resolution zu verabschieden. Glasnost wurde hier als „schlagkräftige Waffe der Perestroika“ bezeichnet. Es sollten gesetzliche Garantien bzw. ein Recht „der Staatsbürger der UdSSR auf Information“ vorgesehen werden. Gewiß trug diese Entschließung ebenso wie diejenigen über Demokratisierung, Bekämpfung des Bürokratismus, über die Rechtsreform und über die Beziehungen zwischen den Nationalitäten noch einen programmatischen Charakter. Vergleichsweise war Glasnost jedoch schon eine breit entwickelte, reale Errungenschaft des Reformprozesses. Um die mit den Konferenzresolutionen nun förmlich eingeläutete Perestroika des politischen Systems voranzutreiben und zu verhindern, daß die Beschlüsse wie nach dem Januar-Plenum 1987 „in der Luft hängen“ blieben, wurde in einer eigenen Resolution der Zeitplan für das weitere Vorgehen festgelegt. '
Obschon die rechtlichen Garantien für Glasnost noch auf sich warten ließen, verlor die kritische Öffentlichkeit keineswegs an Dynamik: Mal schlug Glasnost weitere Breschen in die letzten arcana imperii, mal öffnete sie Rußlands Fenster noch weiter nach draußen. So wurde im Oktober der Verkauf mehrerer westlicher Zeitungen angekündigt, darunter die International Herald Tribune, die Times. die Wiener Presse, das Wochenblatt Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung. Sie sind seit Anfang 1989 erhältlich; aufgrund einer Vereinbarung mit dem deutschen Burda-Verlag gibt es erstmals Anzeigen in der Iswestija Im Fernsehen werden westliche Serien ausgestrahlt und Werbespots von American Express gezeigt. In einer Fernsehunterhaltung tauchte die Frage nach der Möglichkeit auf, den Staatssicherheitsdienst (KGB) zu kontrollieren Unter dem Titel „Mehr Demokratie — Weniger Geheimnisse“ wurde in der Iswestija der Leiter der staatlichen Zensurbehörde Glawlit examiniert. Dieser schlug in dem Interview vor, die Tätigkeit von Glawlit in dem in Vorbereitung befindlichen Gesetz über die Presse zu regeln
Erstmals wurden im Obersten Sowjet die sowjetischen Staatsfinanzen offengelegt. Anfang des Jahres 1989 ging man mit Presseberichten über die kritische Lage des Budgets hier noch einen Schritt weiter. Eine Studie, die in der Socialistischeskaja Industrija veröffentlicht wurde, gibt Einblick in die strukturelle Armut im Lande. Jeder fünfte Sowjet-bürger lebe bei einem Monatseinkommen von etwa 70 Rubeln an der Schwelle der „Minderbemittelt-heit“. In der Komsomolskaja Prawda wurde das Tagebuch eines 1983 wegen vorgeblich illegaler Geschäfte zu zehn Jahren Haft verurteilten Strafgefangenen, der jedoch im Sommer 1987 amnestiert worden war, publiziert. Daraus ging hervor, daß Schikanen aus den Lagern noch nicht verschwunden seien. Im Dezember 1988 wurde nach Gorbatschows Rede vor der UNO US-Reportern die Besichtigung eines Straflagers im Ural gestattet
Wenn es auch schon früher möglich war, in Ansätzen bestimmte „weltanschauliche“ Tendenzen mancher Presseorgane zu erkennen, so läßt die neue Kultur des Dialogs und der Polemik solche Trends deutlicher hervortreten. Vor allem literarische Zeitschriften geben dies dadurch kund, daß sie vorzugsweise Autoren einer bestimmten Denkrichtung drucken; ein weiteres Indiz kann ein Schlagabtausch unter Presseorganen über solche Vorlieben sein. Charakteristisch für die konservativen, an der russischen „Bodenständigkeit“ orientierten Zeitschriften „Na Sovremennik“ (Unser Zeitgenosse) und „Molodaja Gvardija“ (Junge Garde) ist ihr Mißfallen an der Linie der Zeitschrift Ogonjok (Feuerchen), die einen radikalen Perestroika-Kurs verficht. Auf einem der jüngsten unter den fast regelmäßigen Treffen Gorbatschows mit Journalisten und Publizisten protestierte der Chefredakteur der „Molodaja Gvardija“ gegen die Veröffentlichung des satirischen Romans von Wladimir Wojnowitsch über „Das Leben und die ungewöhnlichen Abenteuer des Soldaten Iwan Tschonkin“. Er hielt das Werk des in München lebenden Exil-russen für eine „Verleumdung“ der Sowjetarmee. Glasnost trieb aber auch seltsame Blüten der folgenden Art: Ein Reporter der Iswestija entdeckte in der spanischen Zeitung ABC ein Interview des nationalkonservativen sowjetischen Malers Ilja Glasunow, in dem dieser die Künstler der russischen Avantgarde abwertend als „kommunistisch“ und als „Kommissare“ bezeichnet und kein Hehl aus seinen Sympathien für den zaristischen Minister Stolypin sowie aus seiner Abneigung für den „Weltfreimaurer“ L. N. Tolstoi gemacht hatte. Glasunow gab sich zwar als ein Anhänger der Perestroika aus, doch müsse man, so meinte er, „den Marxismus/Leninismus etc. wegnehmen“, um das alte Fundament zu verändern. Über Glasunows Interview berichtete die Iswestija mit einem ironischen Kommentar: So sei eben Glasnost; allerdings müsse Besorgnis erregen, daß der Künstler offenkundig zwischen Interviews für „zuhause“ und für den „Exportgebrauch“ unterscheide
V. Glasnost als Quelle neuer Verfassungskonzepte
Wirklich bahnbrechende Entwicklungen zeitigte Glasnost im Rahmen der Volksaussprache über die Verfassungsänderungen und -ergänzungen, die im Spätherbst 1988 abgehalten wurde. Die Dialektik von Glasnost und Perestroika trat hier offen zutage. Denn die gerade vorgelegten Reformkonzepte wurden in der öffentlichen Diskussion durch neue „Varianten“ und „optimale Lösungen“ schon wieder eingeholt und überholt. Zugleich wurde fühlbar, daß es noch eines weiteren Strukturwandels der Öffentlichkeit bedarf, um die Meinungen zu bündeln und zu kanalisieren. Formell handelte es sich nur um eine Teilreform der Verfassung von 1977, vorwiegend um die neue Stellung der höchsten Organe der Macht und um ein neues Wahlrecht. Die Vorlagen orientierten sich weitgehend an den Resolutionen der 19. Parteikonferenz. Doch schon wurden grundlegende Einwände dagegen laut; die Kriterien für den Einspruch bezog man mehr oder weniger explizit aus den Demokratietheorien und Erfahrungswerten westlicher parlamentarisch-rechtsstaatlicher Gemeinwesen.
Verschiedentlich wurde an dem eigentümlichen parlamentarischen Dualismus und an dem Wahl-modusder Deputierten Kritik geübt. Von namhaften Juristen wie von Leserbriefschreibern wurde eingewandt, daß das neue Wahlrecht gegen die Prinzipien einer gleichen und direkten Wahl verstoße Die Einrichtung eines Kongresses von 2 250 Volksdeputierten, der aus seiner Mitte die 422 Mitglieder des neuen, ständigen Obersten Sowjets wählen soll, wurde schlicht für überflüssig erklärt. Dem wurde vorgezogen, den Obersten Sowjet als einziges parlamentarisches Gremium in direkter Wahl zu bestellen. Während sich dieser als die „ständig“ wirkende und mit der Gesetzgebung betraute Volksvertretung schon dem Typ eines westlichen Parlaments annähert, erscheint der neue Kongreß der Volksdeputierten eher dem früheren Obersten Sowjet nachempfunden. Laut Boris Kuraschwili erinnert der Kongreß gar an den alten zaristischen Semskij Sobor (Ständevertretung). In der eigentümlichen Kombination von Kongreß und Oberstem Sowjet könne man nicht ein normales Parlament erkennen, sondern einerseits ein „Über“ -, andererseits ein „Unterparlament'(„Nadparlament" und „Podparlament“)
Viele Debattenteilnehmer beschäftigten sich mit der Rolle und der Qualität der Abgeordneten sowie mit dem Vertretungsprinzip überhaupt. Dieses sieht vor, daß ein Drittel der 2 250 Delegierten aus territorialen Einheiten, weitere 750 von den Nationalitäten und der dritte Anteil von 750 Abgeordneten aus „gesellschaftlichen Organisationen“ ermittelt werden. Dabei schlüsselt sich das letzte Drittel so auf, daß 100 Abgeordnete von der KPdSU delegiert werden, je weitere hundert von den Gewerkschaften und den genossenschaftlichen Organisationen (Kooperativen), je weitere 75 vom Komsomol.denFrauenverbänden, Verbänden der Kriegs-und Arbeitsveteranen sowie Wissenschaftsorganisationen und Künstlerverbänden. Die verbleibenden 75 Abgeordneten werden von anderen gesellschaftlichen Organisationen nominiert. Doch auch diese Organisationen müssen „in Übereinstimmung mit den gesetzlichen Vorschriften gebildet werden und über Allunionsorgane verfügen“, so daß der Spielraum für den Einzug beispielsweise der neuen „informellen Gruppen“ äußerst gering ist. In der Volksaussprache wurde dies und die Art der Quotierung kritisiert, ja, man sprach sogar von einem „ständischen“ Vertretungsprinzip. Außerdem wurde die gegebene Möglichkeit der Mehrfachwahl als Verstoß gegen das Prinzip der „gleichen“ Wahl kritisiert. Eine solche Möglichkeit habe es, so hieß es, nicht einmal für englische Lords gegeben. Als Kriterium für die Wahl der Abgeordneten müsse in erster Linie deren „eigenständiges gesellschaftlich-politisches Programm“ gelten
Trotz aller Schwächen der Vorlage wurde jedoch auch die Hoffnung auf einen wirklichen Parlamentarisierungsprozeß ausgesprochen, worunter man die Herausbildung „opponierender Strukturen. Gruppen. Personen“ versteht Häufig wurde die Meinung geäußert, daß Abgeordnete sich vorzugsweise unter Juristen. Ökonomen und führenden Persönlichkeiten aus der Politik rekrutieren sollten. Dabei wurde auf entsprechende Gegebenheiten in westlichen Parlamenten verwiesen.
Im Hinblick auf die prinzipiell angestrebte Trennung von Partei-und Staatsfunktionen wurde mehrfach ein „Parteiengesetz“ gefordert. Denn nur eine gesetzliche Regelung könne hier eine klare Abgrenzung erwirken „und dem Übel der doppelten Arbeit (dublirowanie) ein Ende bereiten“ Im Zusammenhang mit dem zentralen Strukturproblem der Vermischung von Partei und Staat wurde auch die Stellung des Präsidenten, der neuen „höchsten Amtsperson“ im Lande, kritisiert. Der für die Dauer von maximal zweimal fünf Jahren vom Kongreß der Volksdeputierten zu wählende Präsident s 01 grundsätzlich jenem nur wenige Tage im Jahre zusammentretenden „Superparlament“ verant-wörtlich sein. Der bekannte Ökonom Nikolaj Popow beschäftigte sich mit der Frage, ob der Präsident eigentlich an der Spitze der gesetzgebenden oder der ausführenden Macht stehe; wenn beides zutreffe und sich das Amt des Generalsekretärs der KPdSU noch damit verbinde — „von welcher Gewaltenteilung ist dann die Rede?“ Kuraschwili machte klar, daß die Einführung eines Präsidial-systems nur im Zusammenhang mit der Existenz eines Mehrparteiensystems und einer parlamentarischen Opposition Sinn gebe
Die Gewaltenteilung als neues und für einen Rechtsstaat unabdingbares Strukturprinzip spielte in der Verfassungsdebatte eine große Rolle. Noch auf der 19. Parteikonferenz war man über diesen Begriff „hinweggeglitten“, obwohl das Eintreten Gorbatschows und anderer Redner für die Unabhängigkeit der gewählten Sowjets gegenüber deren Exekutivkomitees faktisch die Einführung dieses Prinzips zur Voraussetzung hat. Zahlreiche Staatsrechtler scheuten sich indessen nicht, den Begriff der Gewaltenteilung im ursprünglichen Montesquieuschen Sinne zu verwenden. Die im angelsächsischen Staatsdenken gebräuchliche Formel der „checks and balances" wurde bald ins Russische übertragen; nur gelegentlich wurde ihr das Adjektiv „sozialistisch“ vorangestellt. Der Leiter des Instituts für Staat und Recht, der kürzlich zum „Mitglied“ (Akademik) der hochangesehenen Akademie der Wissenschaften ernannte Wladimir Kudrjawzew, brachte fast beiläufig das seit 1917 hochgehaltene Prinzip der Gewaltenkonzentration zu Fall. Er meinte, daß sich dieses von den „Klassikern“ der Pariser Kommune entliehene und idealisierte Modell als unbrauchbar erwiesen habe. Denn „ein großer moderner Staat ist nicht die Pariser Kommune, die im Grund eine städtische Selbstverwaltung war“ So löste man sich geradezu mit Nonchalance von überkommenen Strukturprinzipien, nicht selten mit gleichzeitigen Lippenbekenntnissen zu Lenins Vermächtnis.
Im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung wurde dem Grundsatz der Inkompatibilität — etwa zwischen Abgeordnetenmandat und Ministeramt — sowie der neuen Stellung der Gerichte besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Helle Empörung löste der Umstand aus. daß im Verfassungsentwurf, abweichend von den Beschlüssen der Parteikonferenz. eine Wahl der Richter durch den gewählten Sowjet der gleichen territorialen Einheit vorgesehen war. Die Einsprüche müssen jedenfalls so überwältigend gewesen sein, daß die zuständige Gesetzgebungskommission sogleich nachgab. Um eine größere Autonomie der Richter gegenüber den bekannten „örtlichen Einflüssen“ zu gewährleisten, sollen jene nun von den Sowjets der nächsthöheren Territorialeinheit gewählt werden. Immer wieder wurde auch die Einführung von Geschworenengerichten als erstrebenswert gesehen. Dabei entdeckte man, daß auch Lenin „die demokratischen Züge“ der schon im Zarismus bestehenden Einrichtung geschätzt habe
Generell wurde bemängelt, daß nicht gleich eine neue Verfassung in Angriff genommen wurde. Viele störten sich an der Beibehaltung der Präambel, da sie so überholte Begriffe wie den „entwikkelten Sozialismus“ festlege. Man wünschte sich eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung. Überhaupt wurde der Ruf nach der Abhaltung von Referenden immer lauter. Boris Jelzin sah hierin die Chance, das sowjetische Volk endlich aktiv an der politischen Willensbildung zu beteiligen. Manche zogen Referenden klar den vielfach praktizierten Volksaussprachen vor. „Was haben sie schon gebracht?“, fragte der Rechtsgelehrte W. Kasimirtschuk, „einen Anstieg der gesellschaftlichen Aktivität? Nun, das ist wenig.“ Bei allem Stolz über die große Zahl der Zuschriften dürfe man nicht übersehen, daß diese keine ernsthafte Berücksichtigung fänden
Ein wichtiges Ergebnis der Volksaussprachen im Frühjahr und im Herbst 1988 war, daß der neue „Pluralismus der Meinungen“ machtvoll aus dem Prokrustesbett der herkömmlichen Kommunikations-und Partizipationsformen herausdrängte. Die ständige Ausweitung der kritischen Öffentlichkeit ging mit neuen Möglichkeiten des Dialogs zwischen Bürger und Staat und der Bildung gesellschaftlicher Gruppen einher und führte zum Meinungsstreit zwischen Presseorganen, den wichtigsten Agenturen der Öffentlichkeit. In ihnen wurden auch neue Rubriken und Spalten für die Aussprache zur Verfügung gestellt: immer wieder Leserbriefe, zur Gänze oder „Teile“ aus diesen, weiter „Leserbriefe im Streit untereinander“ und „Dialoge der Leser“; Gespräche von Zeitungsreportern mit Verfassungsjuristen über die in der Leserpost aufgeworfenen Fragen; Streitgespräche unter Experten oder die gleichzeitig abgedruckten Kommentare von Wissenschaftlern mit jeweils unterschiedlichen Einschätzungen der Stellung des Präsidenten, des neuen Repräsentationsprinzips und des Wahlrechts.
Die Prawda meldete, daß sie während eines Monats „Volksaussprache“ 5 666 Leserbriefe erhalten habe; 114 einschlägige Artikel, ferner Korrespondenzen und Anmerkungen seien veröffentlicht worden. In einem Leserbrief an die Prawda wurde die Volksaussprache als ein „bisher einzigartiges Phänomen des scharfsinnigen Ansturms eines ganzen Volkes auf die dringlichsten Fragen der Entwicklung des Landes und der Gesellschaft“ bezeichnet. In dem gleichen Schreiben wurde jedoch bedauert, daß es „keinen genügend mächtigen und ständig wirkenden Mechanismus der Auseinandersetzung, der Prüfung, der Vereinheitlichung der Meinung und der Analyse der kritischen Mitteilungen und Vorschläge der Werktätigen“ gebe. Die Prawda setzte dem die Hoffnung entgegen, daß fürs erste die Soziologen schon dazu beitragen würden, „eine vollständigere Vorstellung von der öffentlichen Meinung zu erhalten“ Über das Problem einer effektiveren und demokratischeren Umsetzung der Bürgermeinung dozierte auch die Staatsrechtlerin F. A. Jerschanowa. Zur besseren Erhebung der öffentlichen Meinung sollten die Bürger an den parlamentarischen Beratungen beteiligt werden, etwa mittels der Gründung „eines Netzes von Konsultativorganen, welche die Funktion von Zentren der Prüfung und der Koordination unterschiedlicher Meinungen sowie die Berücksichtigung der Vorschläge von Wissenschaftlern und Spezialisten übernehmen könnten“. Eine weitere Möglichkeit bestünde in der Bildung von „Konsultativsowjets“ in jedem Glied der Selbstverwaltung Schon vor der 19. Parteikonferenz war erörtert worden, wie im Einparteienstaat politische Meinungsvielfalt institutionell vermittelt werden könnte. Nach Kuraschwili käme die Bildung einer „demokratischen Union aller sozialen Kräfte“ als Forum für Parteilose in Frage. Ein solcher Verband sollte das Recht auf Gesetzesinitiative haben und Referenden Vorschlägen können. Andere hatten zu erwägen gegeben, die schon vorhandenen „informellen Gruppen“ als Träger bestimmter sozialer und politischer Interessen zu fördern
In all diesen Überlegungen offenbart sich das Dilemma, plurale oder „opponierende Strukturen“ mit dem Einparteienstaat zu kombinieren. Daß der „Pluralismus der Meinungen“ der gruppenförmigen Artikulation und Aggregation bedarf und dahin drängt, manifestiert sich schon in der laufenden Wahlkampagne zum ersten Volkskongreß. Trotz der verfassungsmäßigen „Regulierung“ gesellschaftlicher Interessen durch die Nominationsweise der Deputierten zeichnen sich dazu querlaufende Tendenzen der Bildung von Lobbies und unterschiedlicher politischer Strömungen ab. So erklären sich auch die von Demonstrationen begleiteten Vorgänge um die Kandidatur des Bürgerrechtlers Andrej Sacharow.
VI. Zur Dialektik von Glasnost und Perestroika
Wenn es sich bei den Volksaussprachen auch um ein seit längerem etabliertes Verfahren handelt, den Ratschlag der Bürger einzuholen, so zeichnete sich die Verfassungsdebatte 1988 doch durch mehrere Besonderheiten aus: Sie bot das vergleichsweise breiteste Spektrum alternativer Meinungen, und sie brachte „Vorläuferideen“ für den weiteren Umbau zum Ausdruck. Schließlich war die erzielte Mobilisierung beachtlich. Gorbatschow konnte auf der außerordentlichen Tagung des Obersten Sowjets am 29. November 1988 auf den Eingang von über 300 000 Stellungnahmen verweisen. Sie gaben Anlaß dazu, daß 32 der 62 Artikeln des Wahlrechtsentwurfs und 26 von 55 zu ändernden Verfassungsartikeln „verbessert und geklärt“ wurden Das Engagement der Bevölkerung in der Verfas-sungsdebatte signalisiert auch, daß die Idee der Perestroika des politischen Systems auf breite Resonanz stößt.
Noch ist nicht absehbar, aus welchen Einzelteilen sich der sowjetische Um-bzw. Neubau letztlich zusammensetzen und welchem Typus er zuzuordnen sein wird. Sicher ist aber, daß den maßgeblichen Architekten der Perestroika das Gebäude, welches zum Abbruch ansteht, in allen Einzelheiten bekannt ist. Der bisherige Umgestaltungsprozeß zeigt, daß man sich dabei freimütig an den „Erfahrungen des welthistorischen Prozesses“ orientiert, zumal an liberalen und rechtsstaatlichen Vorlagen. In den jüngsten Verfassungsänderungen wurden erste Schritte zur konkreten Aneignung solcher Werte vollzogen. Angesichts der imperativen Kraft der neuen öffentlichen Meinung ist zu erwarten, daß sie auch weiterem Wandel Dynamik verleiht.