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Der sowjetisch-afghanische Krieg: Innenpolitische Voraussetzungen, Verlauf und Endphase | APuZ 9/1989 | bpb.de

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APuZ 9/1989 Artikel 1 Der sowjetisch-afghanische Krieg: Innenpolitische Voraussetzungen, Verlauf und Endphase Zur politischen Lage in Pakistan nach Zia Außen-und innenpolitische Rahmenbedingungen der wirtschaftspolitischen Liberalisierung in Indien

Der sowjetisch-afghanische Krieg: Innenpolitische Voraussetzungen, Verlauf und Endphase

Citha D. Maaß

/ 32 Minuten zu lesen

Zusammenfassung

Voneinander abweichende, ja konträre Berichte und Interpretationen über den Kriegsverlauf sowie die unklaren innenpolitischen Machtverhältnisse erschweren die Analyse des neunjährigen Kriegs in Afghanistan. Die sich überstürzenden Ereignisse seit dem Beginn des sowjetischen Truppenrückzugs lassen erkennen, daß kein Kriegsende abzusehen ist, sondern nach dem sowjetischen Abzug am 15. Februar 1989 ein blutiger Bürgerkrieg bevorsteht. Vor diesem Hintergrund konzentriert sich der Artikel auf die innerafghanischen Aspekte des Krieges: Langfristige gesellschaftliche Strukturmerkmale werden im Hinblick auf ihre potentielle Relevanz nach dem sowjetischen Abzug dargestellt. Die Periodisierung der acht Kriegsjahre bis zu den Genfer Abkommen soll die Einordnung von Einzelinformationen erleichtern. Die Hintergründe der Genfer Verhandlungen vom März/Aprii 1988. sofern sie schon bekannt sind, werden erläutert. Schließlich werden die internen Aufspaltungen des „Widerstandskonglomerats“ dargestellt und ursächlich auf die sozio-politische Heterogenität der afghanischen Gesellschaft zurückgeführt.

Normalerweise ist es das Anliegen eines wissenschaftlichen Beitrags, die „politische Wahrheit“ aus kontroversen Berichten herauszufiltern und eine überzeugte und überzeugende Hintergrundanalyse zu leisten. Im Falle des Afghanistan-Kriegs führt wissenschaftliche Sorgfalt eher zum entgegengesetzten Ergebnis. Die politische Wahrheit ist vorerst nicht erkennbar, vielmehr läßt sich ein breites Spektrum voneinander abweichender, ja konträrer Interpretationen nachweisen.

Charles Dunbar, Mitte der achtziger Jahre in einer besonders entscheidenden Umbruchphase des Kriegsverlaufs Afghanistan-Koordinator im US-State Department — also ein Mann unmittelbar an der Informationsquelle —, hat ein bezeichnendes Bild gebraucht: Ein halbes Dutzend Augenzeugen desselben Verbrechens schildern völlig entgegengesetzte Versionen. „Die vorgefaßten Meinungen und Vorurteile eines jeden Beobachters prägen die Interpretationen der beobachteten Ereignisse.“ Abgesehen von den ideologischen Implikationen dieses Kriegs, ist mit Günter Knabe noch auf einen anderen wesentlichen Aspekt hinzuweisen: „Es fehlen ganz einfach gesicherte Daten.“ Das gilt insbesondere für den Zeitraum ab 1985. In jüngster Zeit werden zwar mehr Einzelheiten und Hinter-grundinformationen bekannt, doch sind noch viele Informationslücken zu schließen. Da kaum ein westlicher Beobachter bis zum Februar 1988 tatsächlich mit einem Abzug der sowjetischen Truppen gerechnet hat, sind alle vorherigen Analysen von der Annahme geprägt, die Kreml-Führung strebe eine langfristige „Sowjetisierung“ Afghanistans an.

Dieser Beitrag schließt an einen 1987 in der „Beilage“ veröffentlichten Artikel von Jürgen Bellers und Ghulam D. Totakhyl an, konzentriert sich allerdings auf die innerafghanischen Aspekte des sowjetisch-afghanischen Kriegs. Langfristige gesellschaftliche Strukturmerkmale werden im Hinblick auf ihre potentielle Relevanz nach dem sowjetischen Abzug dargestellt. Die Periodisierung der acht Kriegsjahre bis zu den Genfer Abkommen betont den Prozeßcharakter des Kriegsgeschehens und soll die Einordnung von Einzelinformationen, aufdie hier verzichtet werden muß, erleichtern. Die Hintergründe der Genfer Verhandlungen, sofern sie schon bekannt sind, werden erläutert. Da sich die neuesten Entwicklungen im neunten, hoffentlich letzten Jahr dieses Kriegs überstürzen, werden statt der aktuellen Ereignisse die internen Probleme des Widerstands unter einem längerfristigen Aspekt untersucht.

I. Die afghanische Gesellschaft: langfristige Strukturmerkmale und kriegsbedingte Umwälzung

Eine Kurzcharakteristik der „dornigen“ Eigenschaften der Afghanen gibt Anthony Arnold: Die Afghanen seien individualistisch, unabhängig, autark, pflegten enge Familienbindungen, wehrten sich gegen Wandel und hätten eine stark ausgeprägte Tradition von Fehdekämpfen Daraus folgten, wie zwei Seiten einer Medaille, Stärken und Schwächen des afghanischen Widerstands. Felix Ermacora betont in einem historischen Rückblick die für den afghanischen Widerstand positiven Aspekte der „dornigen“ Eigenschaften: „Doch wer die Geschichte des Landes kennt, mußte ahnen, daß eine auf Unabhängigkeit und Freiheit von fremdem Zwang eingestimmte Bevölkerung, die noch dazu von einem tiefen religiösen Bewußtsein getragen ist, sich mit der Anwesenheit einer fremden Militärmacht nicht ohne weiteres abfinden würde.“ Ihre Kehrseite besteht in der internen Zerstrittenheit der in Peshawar ansässigen Widerstandsparteien. Die afghanischen Widerstandsführer schieben die Schuld dafür dem früheren pakistanischen Staatschef Zia ul-Haq zu.der in der Tat massiven Einfluß auf die internen Machtverhältnisse im Widerstand genommen hat. Anthony Hyman sieht indes einen anderen Grund: „Daß sich die verschiedenen Allianzen, die bisher gebildet wurden, als kurzlebig, unvollständig und sogar kontraproduktiv erwiesen, konnte kaum Pakistan angelastet werden. Die Schuld ist wahrscheinlich eher in der Natur der afghanischen Gesellschaft zu suchen mit ihrem mannigfaltigen ethnischen, tribalen und religiösen Hintergrund — Unterschiede, die sich übrigens exakt in der Zusammensetzung der (Widerstands-) Parteien widerspiegelten. Persönlichkeitskonflikte verbunden mit grundlegenden tribalen und ethnischen Trennlinien bildeten die gravierendsten Hindernisse für die Einheit der Opposition, und die Hindernisse bestehen, bezeichnenderweise, auch zwischen den Gefolgsleuten der DVPA (Demokratische Volkspartei Afghanistans).“

Wie aktuell diese langfristigen Strukturmerkmale auch in der augenblicklichen Situation sind, zeigt sich daran, daß Hymans skeptische Beurteilung der bisherigen Einigungsbestrebungen durchaus zu einer prognostischen Aussage über die zukünftigen politischen Machtkämpfe um die Regierungsverantwortung nach dem Abzug der sowjetischen Truppen werden kann. Die augenblicklichen Anzeichen sprechen dafür, daß sich der jetzige Widerstandskampf gegen die fremden Truppen anschließend in einem Bürgerkrieg und einem ideologischen Ordnungskampf zwischen verschiedenen einheimischen Machtgruppierungen fortsetzen wird — und zwar nicht nur gegen das DVPA-Regime, sondern auch zwischen verschiedenen Widerstands-parteien.

Die genannten Charakteristika lassen sich auf die drei wichtigsten Strukturmerkmale der afghanischen Gesellschaft zurückführen: 1. ethnische Heterogenität, 2. tribales Autonomiestreben, 3. divergierende Interpretationen des islamischen Normenkodex, Die ethnische Heterogenität manifestiert sich in einer multi-rassischen und multi-linguistischen Struktur. Das dominierende Identitätskriterium ist die Zugehörigkeit zum Familienclan, der die unterste Einheit in der tribalen Ordnung von Unter-und Oberstämmen innerhalb einer Gesamtethnie darstellt. Die Zugehörigkeit zu Clan und Stamm wird religiös legitimiert mit der (realen oder fiktiven) Abstammung von einem gemeinsamen Ahnherren (möglichst einem Abkömmling der Familie des Propheten Mohammed). Trotz der gemeinsamen islamischen Religion besteht kein Konsensus über die „richtige“ Interpretation der islamischen Normen. Das hat in der afghanischen Geschichte wiederholt zu politischen Kontroversen ge-In der ethnischen Heterogenität ist die erste Ursache für die Fragmentierung der Gesellschaft zu sehen, Afghanistans Geschichte ist durch eine lange Abfolge von Eroberungszügen aus Westen, Norden und Osten geprägt. Jeder der Eroberungszüge brachte eine neue Rasse mit einer eigenen Sprache in das Gebiet des heutigen Afghanistan, so daß sich allmählich eine Vielzahl von nebeneinander lebenden, sich aber deutlich gegeneinander abgrenzenden Ethnien herausbildete. „Staatsvolk“ ist die paschtunische Ethnie, die von den nicht-paschtunischen Ethnien auch als „afghanisch“ bezeichnet wird. Aus politischen Gründen wird der paschtunische Bevölkerungsanteil zu hoch angegeben (mit 50 bis 60 Prozent), tatsächlich dürfte er nur bei 40 Prozent liegen. Die Sprache vieler Paschtunen, „Paschtu“, ist eine der beiden Staatssprachen. Die andere offizielle Sprache. „Dari“ (auch „Farsi" genannt), ist ein neupersischer Dialekt und wird von den Tajiken, der zweitwichtigsten Ethnie, aber auch von städtischen Paschtunen gesprochen. Die übrigen Ethnien haben ihre jeweils eigene Sprache, so daß das 15-Millionen-Volk in eine Unzahl von Sprach-und Dialektgruppen aufgesplittert ist Traditionelle Identitätsabgrenzung und machtpolitische Spannungen zwischen den verschiedenen Ethnien blieben auch während des Widerstandskampfes bestehen und trugen wesentlich dazu bei. daß weder eine geschlossene Widerstandsfront noch eine einheitliche Exilregierung gebildet wurden. Stärker noch als das „ethnische Grobraster“ ist jedoch die Spaltung durch die „tribale Feingliederung“. Das tribale Autonomiestreben ist das wichtigste Charakteristikum der afghanischen Gesellschaft, denn die politische Macht liegt nach wie vor weitgehend in den Händen der zahlreichen Führer von Ober-und Unterstämmen. Die Stammesführer trachten danach, innerhalb ihres Stammes größtmögliche Autonomie zu wahren und den Einfluß „von oben“ (bis 1973 seitens des Königs, dann seitens des Staatspräsidenten) bzw. „von außen“ (seitens der sowjetischen Berater) gering zu halten. Die konfliktträchtige Distanzierung von einer zentralistischen Staatsgewalt und die Selbstversorgung der Stämme werden begünstigt durch die geographischen Eigenheiten Afghanistans, das überwiegend aus gebirgigem Terrain mit unzähligen, teilweise schwer zugänglichen Tälern besteht. Doch wieder muß auf beide Seiten der Medaille verwiesen werden. Für die Guerillakriegsführung sind die Tradition dezentralisierter Sozialstruktur und Machtver teilung sowie das System der Selbstversorgung innerhalb einzelner Täler oder Gebirgsgegenden äußerst günstig gewesen. Für die Bildung einer straff organisierten und geschlossen auftretenden Exilregierung stellten sie dagegen die größten Hindernisse dar.

Angesichts der dezentralisierten Machtverteilung ist es kaum überraschend, daß die afghanische Gesellschaft seit Entstehen eines „modernen“ Staates (1747) noch nicht zu einer Nation mit einer nationalen Loyalität zusammengewachsen ist. Um die traditionelle — und sicher auch zukünftige — Tragweite dieses Strukturmerkmals richtig einschätzen zu können, muß man allerdings den Blick von der Ebene der Stammesautonomie weiter nach unten richten. So wie jeder Stammesführer um seine Unabhängigkeit von einer übergeordneten Machtinstanz kämpft, so wiederholt sich das gleiche Verhalten auf der Ebene der Clan-Oberhäupter und letztlich bei jedem (männlichen) Afghanen — daher der eingangs konstatierte Individualismus. Das männliche Persönlichkeitsideal, speziell der paschtunischen Stämme, ist der „Krieger-Dichter“, ein Ideal, das nun von den Mudjaheddin verwirklicht werden kann. Louis Dupree sieht darin sogar einen der Gründe für die Hartnäckigkeit und Langlebigkeit des Widerstands

Die strukturelle Bedeutung des tribalen Autonomiestrebens wäre unvollständig beschrieben, ginge man nicht auch auf dessen widersprüchliche Natur ein. Der paschtunische Begriff der (Mannes-) Ehre (namus) schließt sowohl Autonomie als auch Gleichheit ein, wobei die Gleichheit einerseits ein anerkannter Status ist, andererseits aber immer erneut bestätigt werden muß. Der daraus erwachsende soziale Zwang bildet eine permanente Quelle für Machtkonflikte, sogar zwischen den (männlichen) Familienmitgliedern. Um die Gleichheit zu wahren, müssen Ehre und Autonomie entweder durch Kooperation mit anderen Familien-bzw.

Stammesmitgliedern (Solidarität) oder durch Wettkampf und Dominanzstreben (Rivalität) aufrechterhalten werden. Aufgrund dessen werden der Stammes-, der Dorf-und selbst der Familienverband in rivalisierende Fraktionen gespalten Jederder Fraktionsführer sucht seine Ehre und Autonomie durch eine möglichst große Anhängerschaft oder durch Zweckallianzen mit äußeren, übergeordneten Autoritäten abzusichern.

Darin dürfte ein psychologischer Grund für das Verhalten lokaler Fraktionsführer zu sehen sein, wechselnde Allianzen mit den vor Ort kämpfenden Kommandanten, mit den in Peshawar ansässigen politischen Führern, aber auch mit den sowjetischen Machthabern einzugehen. Dabei wird durchaus auf die Taktik gegenüber der früheren britisch-indischen Kolonialregierung zurückgegriffen. Wie früher von den britischen so lassen sich heute manche lokalen Fraktionsführer von den sowjetischen Machthabern ihr politisches Wohlverhalten oder zumindest das Ruhenlassen der Waffen mit Geld erkaufen. Aber auch die Kooperation mit den politischen Führern in Peshawar gleicht mitunter eher einer Zweckallianz als einem ideologischen Überzeugungsbündnis, die Peshawar-Parteien werden schlicht als „Läden“ (für die Waffenversorgung) bezeichnet.

Das dritte Strukturmerkmal, die religiös-politische Heterogenität innerhalb des Islam, ist an sich kein afghanisches Spezifikum. Charakteristisch für die afghanische Gesellschaft ist allerdings, daß die Rivalität zwischen verschiedenen islamischen Sekten und Schulen um die „richtige“ Interpretation des Normenkodex die Fragmentierung der Gesellschaft weiter vertieft hat. Die religiöse Heterogenität verband sich mit der ethnischen und tribalen Heterogenität, so daß sich alle drei Merkmale gegenseitig verstärkten.

Die besondere Brisanz dieses dritten Merkmals besteht darin, daß soziale und politische Meinungsverschiedenheiten mit religiösen Argumenten ausgetragen werden und daß machtpolitische Mobilisierungskampagnen religiös legitimiert werden können. Die Geschichte Afghanistans, aber auch die Rivalitätskämpfe zwischen den Widerstandsführern bestätigen dies.

Die afghanische Bevölkerung ist zu ca. 85 Prozent sunnitisch, nur 15 Prozent gehören der shiitischen Richtung des Islam an. Beide Sekten sind wiederum in sich gespalten. Innerhalb der sunnitischen Mehrheit haben sich verschiedene Sufi-Bruderschaften (tariqa) herausgebildet, die sich sowohl untereinander als auch gegenüber der Hauptrichtung des Hanafi Islam abgrenzten. Die shiitische Minderheit zerfällt in zwei „Schulen“, die Imamiten (Zwölferschiiten) und die Ismailiten.

Die militärischen und politischen Auswirkungen dieser religiösen Divergenzen auf den Widerstands-kampf sind erwartungsgemäß ambivalent. Gehören Kampfgruppen vor Ort derselben religiösen „Schule“ an, zeichnen sie sich durch besondere Homogenität, Solidarität und folglich durch hohe Schlagkraft aus Andererseits leidet der Zusammenhalt der politischen Führer unter den religiösen Rivalitäten. Da nicht nur die geographische Nähe zur pakistanischen bzw. iranischen Grenze die Richtung der Flüchtlingsströme bestimmt hat, sondern gleichermaßen auch die religiöse Affinität zu dem jeweiligen Zufluchtsland, sind sunnitische Familien, Dörfer und Stämme nach Pakistan geflüch-tet, während die shiitischen Anhänger Zuflucht im Iran gesucht haben. Im Iran haben sich acht verschiedene shiitische Gruppen etabliert, die aber im Vergleich zu den sieben sunnitischen Parteien in Pakistan wenig politisches Gewicht innerhalb der Widerstandsführung besitzen. Doch auch die sieben Peshawar-Parteien sind religiös gespalten, denn drei der Parteien werden von Sufi-Führern geleitet.

Die genannten drei Merkmale bestimmen seit Jahrhunderten den afghanischen Gesellschaftsaufbau. Da die Loyalitäten nicht durch die geographische Bindung an ein bestimmtes Siedlungsgebiet, sondern durch die religiös-familiäre Zugehörigkeit zu Clan, Stamm und Ethnie bestimmt sind, kann man davon ausgehen, daß diese Strukturmerkmale auch die durch den Krieg ausgelöste demographische Umwälzung überdauern und die zukünftige Reorganisation der Gesellschaft mitprägen werden.

Die ethnische, tribale und religiöse Vielfalt Afghanistans ist umso erstaunlicher angesichts der relativ kleinen Gesamtbevölkerung des Landes. Wie über so vieles in Afghanistan liegen allerdings auch über die Bevölkerungsgröße und -Verteilung keine gesicherten Daten vor. Ein zuverlässiger Zensus wurde bis zur sowjetischen Intervention niemals durchgeführt, man war und ist auf Schätzungen angewiesen. Die 1979 kurz vor der Intervention durchgeführte „demographische Erhebung“ wurde als „Zensus“ deklariert. Erhard Franz spricht dem „Zensus“ jedoch — berechtigterweise — einen zuverlässigen Charakter ab. da sich das Land zum damaligen Zeitpunkt bereits in Aufruhr gegen die Revolutionsregierung von Taraki und Amin befunden habe.

Die Erhebung vermittelt immerhin eine annähernde Vorstellung von der Bevölkerungsgröße vor der sowjetischen Intervention. Die Gesamtbevölkerung betrug danach 1979 15, 54 Millionen, davon lebten 11, 32 Millionen (84 Prozent) auf dem Land, Von der Landbevölkerung wiederum wurden 2, 5 Millionen als Nomaden eingestuft, das entsprach 16, 09 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Nomaden lebten größtenteils im afghanisch/pakistanischen Grenzgebiet. Sie gehören der paschtunischen Ethnie an, die auf pakistanischer Seite als „Pathanen“ bezeichnet wird. Es liegt auf der Hand, daß dank der „nomadischen Grenzgänger“ die Widerstandsgruppen über ideale Voraussetzungen für Infiltrationen verfügten.

Der Erhebung von 1979 folgte indessen eine demographische Umwälzung. Bereits 1978/79 setzte der Flüchtlingsstrom (insbesondere nach Pakistan) ein und schwoll seit 1980 zu weltweit einzigartigen Dimensionen an. Mitte der achtziger Jahre wurde die Gesamtzahl der Flüchtlinge auf über fünf Millionen geschätzt, also auf ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Ca. drei Millionen Afghanen flüchteten in das überwiegend sunnitische Pakistan, ca. zwei Millionen in den shiitischen Iran, ca. 0, 1 Million in das historisch verwandte Indien und eine unbekannte Zahl in andere Länder. Im Jahre 1984 war schätzungsweise jeder vierte Flüchtling der Welt ein Afghane!

Hinzu kamen die „internen“ Flüchtlinge, also solche, die innerhalb Afghanistans in die — relativ -sicheren Städte flohen. Genaue Zahlen wurden verständlicherweise nicht bekannt, doch dürfte es sich um eine Größenordnung von einigen hunderttausenden handeln. Als ein Indiz gibt Ermacora das sprunghafte Anwachsen der Kabuler Bevölkerung an Die Hauptstadt Kabul hatte 1979 etwa 850 000 Einwohner, 1986 dagegen fast zwei Millionen. Schließlich wurden 1985 von der UNO noch die Verluste der Zivilbevölkerung ermittelt und mit insgesamt etwa 37 000 getöteten Zivilisten angegeben, nach einer neuen Publikation von 1988 sogar mit inzwischen über einer Million

II. Periodisierung des Kriegs

Was Dupree in Anspielung auf die drei Anglo-Afghanischen Kriege den „Ersten Russisch-Afghanischen Krieg“ genannt hat, begann militärisch am 24. Dezember 1979 mit der sowjetischen Besetzung des Militärflughafens Bagram (bei Kabul) und der Einsetzung Babrak Karmals als sowjetischen Vasallen am 27. Dezember, nahm seine entscheidende politische Wende am 14. April 1988 mit der Unterzeichnung der vier Genfer Abkommen und soll militärisch am 15. Februar 1989 mit dem Abzug der letzten sowjetischen Truppen beendet sein.

Den Stellenwert der Genfer Abkommen und der nachfolgenden Ereignisse hat Olivier Roy in aller Deutlichkeit bestimmt: Die Genfer Abkommen seien „kein Friedensvertrag“ gewesen, sondern hätten allein dazu gedient, der Sowjetunion den Truppenabzug unter Wahrung ihres Gesichtes zu ermöglichen. „Jedermann bereitet sich auf die zweite Runde vor, die eine Rückkehr zur Lage vom Jahr 1979 vor der sowjetischen Invasion ist: zu einem Bürgerkrieg zwischen den Mudjaheddin und den Kommunisten, den die Mudjaheddin zweifellos gewinnen werden. Doch es wird wieder ein lokaler Konflikt sein, nicht mehr eine Ost-West-Auseinandersetzung, selbst wenn es der Sowjetunion 8 lingt. einige Positionen in Afghanistan zu erhalten.“

Wurde der Widerstandskampf in den vergangenen Jahren mitunter schon als „vergessener Krieg“ bezeichnet, weil nicht genügend aktuelles und authentisches Bild-und Informationsmaterial für die westlichen Medien zu beschaffen war. so muß man ein allgemeines Vergessen erst recht in der zweiten Runde befürchten. Daß der Krieg weitergehen wird -und aus der Sicht der untereinander rivalisierenden Widerstandsparteien in Peshawar auch weitergehen soll —, beweisen die militärischen Offensiven der Mudjaheddin seit dem Beginn des sowjetischen Truppenrückzugs am 15. Mai 1988 und die in diesem Winter gescheiterten Verhandlungen über die Bildung einer wie auch immer gearteten Übergangsregierung. Da die Weichen für die zweite Kriegsrunde unmittelbar nach dem Abschluß der Genfer Abkommen gestellt wurden, soll im Folgenden nur die erste Runde, also der Krieg gegen die sowjetische Super-macht bis zum Beginn des Abzugs der ersten sowjetischen Kontingente periodisiert werden.

Erste Phase: 24. Dezember 1979 bis Ende 1981 Über die Motive für die sowjetische Intervention wird reichlich spekuliert, ohne daß bislang eine endgültige Analyse veröffentlicht wurde. Sicher ist allerdings — und das ist das Charakteristikum der ersten Phase —, daß sich das afghanische Unterfangen für die Sowjetunion bereits nach zwei Jahren als völlige Fehlkalkulation herausstellte.

Die militärische Organisation des sowjetischen Einmarschs war eine bemerkenswerte logistische Leistung. Eröffnet wurde die Operation am 24. Dezember durch Teile der 105. Luftlandedivision, eine Eliteeinheit, die zuerst den schon vorher sowjetisch genutzten Militärflughafen Bagram (50 km nördlich von Kabul) und dann den Kabuler Flughafen besetzte. Binnen weniger Tage wurden in Form einer Luftbrücke der Rest der 105. sowie zwei weitere Divisionen nach Kabul eingeflogen. Gleichzeitig setzten sich vier Schützenpanzerdivisionen auf dem Landweg in Bewegung. Nach nur vier Tagen kontrollierten die Sowjets die größten Städte, stürmten Kabul und ersetzten den unter ungeklärten Umständen getöteten Staatspräsidenten und Chefder DVPA Amin durch Karmal. Mitte Januar 1980 marschierten zwei weitere Schützenpanzerdivisionen ein, so daß das sowjetische Truppenkontingent die bis 1983 gültige Stärke von ca. 90 000 Mann erreicht hatte

Das politische Ziel des Einmarsches läßt sich vorerst nur retrospektiv erschließen. Obwohl das Truppenkontingent einen beachtlichen Umfang besaß, reichten weder die Truppenstärke noch die Art der Bewaffnung aus, um eine großflächige Unterwerfung der ländlichen Gebiete und der ausgedehnten Gebirgsregionen in Angriff zu nehmen. Auch die Konzentration auf die Städte wies eher auf eine defensive Kontrollfunktion hin. Mit anderen Worten: Die Operation war offensichtlich als ergänzende militärische Stütze für den politischen Hauptakteur Karmal konzipiert. Die Truppen sollten eine doppelte Funktion erfüllen: zunächst Karmal militärisch den Rücken freihalten, um ihn dann baldmöglichst — zusammen mit zahlreichen sowjetischen Beratern — in der sozialistischen Reform-und Erziehungspolitik zu unterstützen.

Die Strategie beruhte auf zwei Prämissen. Zum einen sollte Karmal in einem überschaubaren Zeitraum eine funktions-und reformfähige Regierung installieren. Zum anderen war zwar mit Widerstand gerechnet worden — Unruhen und Aufstände auf dem Land hielten bereits seit Herbst 1978 an —, doch ging man davon aus, daß die blitzartige Verlegung eines so großen Truppenkontingents anfänglichen Widerstand im Keim ersticken würde.

Daß sich die Strategie als Fehlkalkulation erwies, ist auf drei Ursachen zurückzuführen: 1. Karmal war nicht in der Lage, die alte Krankheit der DVPA — die Kämpfe zwischen seinem Parcham-Flügel und dem Khalq-Flügel der Amin-Anhänger — zu überwinden. 2. Ohnehin geschwächt durch die parteiinternen Flügelkämpfe, konnte Karmal seine sozialistischen Reformvorhaben nicht wirkungsvoll in der Bevölkerung vertreten und mußte sogar — aufgrund des zunehmenden Widerstands — erhebliche Abstriche an den Reformprogrammen (z. B. an der Landreform) vornehmen. Dadurch entbehrte sein sozialistisches Regime der notwendigen Legitimation. 3. Völlig unterschätzt wurden die psychische Struktur der Bevölkerung (Freiheitsliebe), die religiöse Werteskala (Karmals Regime wurde von kafirs, von „Gottlosen“ gestützt) und die sozio-politische Bewußtseinslage der traditionalistisch gesinnten Landbevölkerung, die eine „sozialistische Revolution“ strikt ablehnte.

Andererseits war der islamische Widerstand militärisch zu schwach, um die vereinten Regime-und Sowjettruppen zu besiegen. So war nach zwei Jahren eine Patt-Situation eingetreten. Karmals gescheiterter Versuch, eine effektive Verwaltung aufzubauen, und seine wirkungslosen Regierungsumbildungen bewiesen, daß sich sein Regime nicht durchsetzen konnte. Trotzdem bestand man im Kreml auf der Anerkennung Karmals als Vorbedingung für Verhandlungen mit den Mudjaheddin — für diese eine unannehmbare Kondition. Ende 1981 waren die involvierten Parteien weder in der Lage, zu verhandeln, noch in der Lage, einen vollständigen militärischen Sieg zu erringen

Zweite Phase: 1982 bis 1983

Die zweite Phase stand im Schatten dieser Patt-Situation. Daß Karmal gescheitert war, wurde angesichts der mangelnden Kontrolle seines Regimes über die Partei, über die städtische Bevölkerung und über die Dörfer entlang der Hauptverbindungsstraßen immer offensichtlicher. Der Einfluß seiner Regierung reichte faktisch kaum über die Hauptstadt Kabul hinaus. Im Frühsommer 1982 kursierten sogar — allerdings unzutreffende — Gerüchte, daß Karmal von den Sowjets fallen gelassen werden solle.

Dennoch besaß Karmal eine begrenzte Machtbasis. Am 19. Oktober 1982 demonstrierten mehrere hundert staatliche Fabrikarbeiter in Kabul und forderten: „Nieder mit den Russen!“, „Babrak Karmal ja, Russen nein!“ Wenige Tage später gelang es dem Regime, eine Gegendemonstration zu organisieren, bei der 3 000 Studenten, Lehrer und Parteimitglieder Slogans gegen den amerikanischen Imperialismus riefen. Aus welchen Kreisen rekrutierten sich Karmals Anhänger?

Dupree beziffert die Anhänger von Karmals Par cham-Flügel in dieser Phase auf ca. 3 000 Intellektuelle und Angehörige der städtischen Jugend, die keine Stammes-oder Regionalbindungen besaßen und vorwiegend Dari sprachen Zum Parcham-Flügel gehörte auch der im September 1981 nach dem Vorbild des KGB gegründete Geheimdienst KHAD (dessen Chef Dr. Mohammad Najibullah 1986 ablösen sollte). Die KHAD-Mitarbeiter wurden 1983 auf 15 000 bis 20 000 (zuzüglich tausender von Informanten) geschätzt. Die Anhängerschaft des Khalq-Flügels betrug ca. 8 000 Mitglieder, die sich vorwiegend aus Armeeangehörigen und Beamten rekrutierten und aus der paschtunischen und usbekischen Ethnie stammten.

Vergleicht man den beruflichen Hintergrund dieser beiden Gruppen, so wird das Scheitern von Karmals Verwaltungsaufbau verständlich. Die Khalq-Mitglieder waren ständigen Repressalien des KHAD ausgesetzt, so daß die Beamten unter ihnen ihr Fachwissen kaum in den Dienst der Parcham-Reformprogramme stellten. Die Offiziere unter ihnen standen ständig im Verdacht, einen Aufruhr anzustiften. Karmals Parcham-Anhänger verfügten zwar über reichlich sozialistischen Reformeifer, aber es fehlten ihnen die fachliche Kompetenz und die Verwaltungserfahrung. Hinzu kam die kriegs-bedingte Verschlechterung der Wirtschaftslage, so daß die staatlichen Geldmittel knapp waren. Die Inflationsrate von 1982 lag z. B. um das Dreifache über der des Vorjahres.

Einer der folgenschwersten innenpolitischen Konflikte war die Zwangsrekrutierung junger Männer für die Armee. Vor der April-Revolution 1978 hatte allgemeine Wehrpflicht bestanden, und die jährliche Rekrutierungsstärke hatte bei 110 000 Mann gelegen. Nun bereitete es dem Regime große Mühe, wenigstens eine Armeestärke von 30 000 Mann aufrechtzuerhalten, da vor allem einfache Soldaten ständig zu den Mudjaheddin überliefen. Im September 1981 wurde eine Wehrpflicht für alle Männer zwischen 18 und 35 Jahren erlassen.

Die Verordnung hatte verheerende Folgen. Tausende junger Männer tauchten unter, flohen nach Pakistan oder schlossen sich dem Widerstand an. Trotz des unaufhaltsamen Anschwellens der Kabuler Bevölkerung waren immer weniger junge Männer (d. h. Arbeitskräfte) in Kabul anzutreffen, da Zwangsrekrutierungen hauptsächlich nur noch dort durchgeführt werden konnten. Die Zwangsrekru-tierten hatten eine niedrige Kampfmoral und waren potentielle Deserteure. Da die Armee nicht nur im Kampf, sondern auch für zivile Arbeiten eingesetzt wurde, fehlten dem Regime überall dringend benötigte Arbeitskräfte. Desertierende junge Männer und eine offensivere Kampftaktik der sowjetischen Truppen ließen besonders im Jahre 1982 die Flüchtingsströme nach Pakistan norm anschwellen.

In dieser Phase verfolgten die Sowjets folgende Taktik: Einem langfristigen Konzept der „Sowjeti-sierung" folgend, wurden 10 000 bis 20 000 afghanische Studenten zur Ausbildung in die Sowjetunion und nach Osteuropa geschickt. Hinzu kamen Kurzaufenthalte von 20 000 „Jungen Pionieren“ in der Sowjetunion (seit 1980). Zugleich wurden auf militärischem Gebiet die seit 1981 angewandten „Such-und Zerstörmissionen“ fortgesetzt, in deren Verlauf ganze Dörfer einem Flächenbombardement unterzogen wurden.

Dupree nennt drei „Aktionsradien“ der Kampfhandlungen Die Kernzone I umfaßte die Dörfer, die unmittelbar an den Hauptverbindungsstraßen lagen. Die Dörfer bis hin zur ersten und zweiten Hügelkette wurden total ausradiert und in freie Schußzonen verwandelt. Die Zone II war das Hauptobjekt der „Such-und Zerstörmissionen“ und erstreckte sich auf die Entfernung eines Tages-marsches beidseitig der Hauptstraßen in die Berge hinein. In dieser Zone fanden regelmäßige Flächenbombardierungen statt. In der vorderen Bergregion hatten sich die Mudjaheddin in den unzähligen Berghöhlen eingegraben. Lokale Wehrgruppen verteidigten die restlichen Siedlungen, und mobile Kommandos führten Sabotageakte auf den Haupttransportstraßen durch. In der Zone II hielten sich fast nur Männer auf. Die Zone diente als Puffer zwischen den Zonen I und III.

Die Zone III lag noch tiefer in den Bergen bzw. in den Wüsten in Zentralafghanistan. Dort hatten sich noch Bauern mit ihren Familien gehalten, so daß die Mudjaheddin mit Nahrung versorgt werden konnten. In Zonenabschnitten nahe der pakistanischen Grenze wurden die Felder von Grenzgängern bestellt.

Das Eingestehen der Patt-Situation ermöglichte 1982 den Beginn der UN-Vermittlungsgespräche in Genf. Ein militärischer Sieg war nach wie vor für keine Seite möglich, doch eine politische Lösung war gleichermaßen schwierig. Anfang Juni 1983 schien eine politische Kompromißformel zwischen den beiden „Supermachtstellvertretern", dem Kabuler Regime und der pakistanischen Regierung, greifbar nahe. Doch offenbar auf Einspruch der Reagan-Administration zog sich der pakistanische Unterhändler von den Verhandlungen zurück.

Dritte Phase: 1984 bis 1985

Die Patt-Situation hatten die Mudjaheddin zu ihrem Vorteil genutzt und ihren militärischen Druck effektiver gestaltet und insgesamt erhöht. Das provozierte die Sowjets, ihr Truppenkontingent auf mindestens 115 000 Mann zu erhöhen und ab Anfang 1984 ihre eigenen Truppen aktiver und sichtbarer einzusetzen, wobei sich die Kämpfe im Jahre 1984 auf das Gebiet um Kabul konzentrierten. Die stärkere Teilnahme sowjetischer Verbände an den Kampfhandlungen war „vermutlich weniger ein Wechsel in der Taktik als vielmehr die Antwort auf die erhöhten Widerstandsaktivitäten und auf die anhaltende Verschlechterung der Regimetruppen“

Im folgenden Jahr, 1985, zeichneten politische Beobachter ein eher widersprüchliches Bild. Coldren, der 1982— 1984 an der US-Botschaft in Kabul tätig war, sah die militärische Lage sich zugunsten der Mudjaheddin neigen: „ 1985, in größerem Maße als zuvor, diktierte der Widerstand das Tempo und den Ort der größeren sowjetischen Operationen, die durchgeführt wurden ohne den Vorwand, daß die Sowjets das Militär von Babrak Karmals Regime lediglich . unterstützen'würden.“

Angesichts der anschließenden Entwicklung dürfte aber eher zutreffen, daß ab Anfang 1985 eine Wende zugunsten der Sowjets eintrat. Der erhöhte sowjetische Druck wurde nun fühlbar, denn die weitgehende Entvölkerung des Landes raubte den Mudjaheddin ihre Informationsquelle und Nahrungsversorgung vor Ort. Dadurch wurden die Nachschubwege länger und anfälliger für sowjetische Attacken, der mitzutragende Vorrat vergrößerte sich, außerdem reagierten die sowjetischen Kommandos inzwischen flexibler und vernichteten häufiger Transporttrupps der Mudjaheddin. Zutreffend waren in jedem Fall die Hinweise auf die niedrige Kampfmoral und die Ineffizienz der Regimetruppen, zumal Karmal Ende 1985 selbstkritisch feststellte: Man müsse nun zum „bitteren Schluß“ kommen, „daß unsere Streitkräfte trotz ihrer verglichen mit dem Gegner überlegenen Zahl, Bewaffnung und Ausrüstung noch keine grundlegende Veränderung im Kampf gegen die bewaffnete Konterrevolution erreicht haben“

Die abweichenden Lagebeurteilungen waren darauf zurückzuführen, daß immer weniger und immer schwieriger überprüfbare Informationen über das tatsächliche Kräfteverhältnis und über die Situation außerhalb Kabuls zu erhalten waren. Vor diesem Problem stand auch die neue Kreml-Führung unter Gorbatschow, der direkt nach Tschernenkos Tod am 10. März 1985 zum Generalsekretär gewählt wurde. Bereits im April 1985 gab Gorbatschow eine geheime Überprüfung der Lage in Afghanistan in Auftrag. Kürzlich beschrieb er diese Überprüfung als „eine harte und unparteiische Analyse, (in der wir) bereits zum damaligen Zeitpunkt einen Ausweg aus der Situation suchten“ Die von militärischen Falken geforderte massive Erhöhung des sowjetischen Einsatzes, um die Grenze nach Pakistan abzuriegeln, lehnte er ab.

Seit Mitte 1985 verfolgte Gorbatschow eine Doppelstrategie, von der vorerst nur der militärische Teil vor den Kulissen sichtbar war. Um die Möglichkeiten für eine erfolgreiche militärische Entscheidung auszuloten, wurde der bekannte General Mikhail Zaitsev nach Afghanistan entsandt. Das hatte zur Folge, daß „die sowjetische Taktik aggressiver wurde und sich Luftübergriffe nach Pakistan hinein häuften. Aber zur gleichen Zeit ging Moskau allmählich zu einer flexibleren Haltung gegenüber den UN-Vermittlungsbemühungen über“ Schließlich kam am 16. Mai 1985 ein weiterer neuer Faktor für die zukünftige politische Weichenstellung hinzu. Nach zahlreichen Fehlschlägen konnten sich endlich die sieben sunnitischen Widerstands-parteien in Peshawar auf die Bildung einer losen Allianz „Islamische Vereinigung der afghanischen Mudjaheddin“ mit einem gemeinsamen per Rotation bestimmten Sprecher einigen.

Obwohl diese Entwicklungen zunächst eine militärische Eskalation und eine vordergründige Verhärtung der Fronten auslösten, leiteten sie dennoch die Wende zu einem längerfristigen politischen Kompromiß ein: Gorbatschows Doppelstrategie bildete die Voraussetzung für die Beendigung des afghanisch-sowjetischen Kriegs. Da allerdings die Allianz der Mudjaheddin nicht in die Rolle einer Exilregierung hineinwuchs, wird infolge ihrer andauernden ideologischen Heterogenität der innerafghanische Bürgerkrieg fortgesetzt werden.

Vierte Phase: 1986 bis 14. April 1988 (15. Mai 1988/15. Februar 1989)

Den ersten öffentlichen Hinweis darauf, daß sich ein Umdenken im Kreml anbahnte, gab Gorbatschow im Februar 1986 auf dem 27. Parteitag der KPdSU, als er Afghanistan eine „blutende Wunde“ nannte. Doch erst zwei Jahre später, mit seiner Rede vom 8. Februar 1988, konnte Gorbatschow die „ungläubigen Thomase“ im Westen von der Endgültigkeit seiner Rückzugsentscheidung überzeugen. In dieser Rede erklärte Gorbatschow nicht nur, daß „eine prinzipielle politische Entscheidung über den Abzug . . . schon vor einiger Zeit getroffen“ worden sei. sondern machte auch konkrete Kompromißangebote L Die unmittelbarbevorstehende neunte Genfer Verhandlungsrunde könne die Entscheidung bringen. 2. Als Abzugsbeginn wurde ein festes Datum (15. Mai) genannt, desgleichen eine politisch akzeptable Rückzugsfrist von 10 Monaten (im Vertragstext auf 9 Monate verkürzt). Zudem machte Gorbatschow die Zusage, innerhalb der ersten Etappe ein relativ großes Truppenkontingent abzuziehen. 3. Schließlich verzichtete er auf die umstrittene Koppelung des Rückzugsbeginns an die vorherige Bildung einer Koalitionsregierung. Die Regierungsbildung sei vielmehr eine „rein innerafghanische Frage“.

Gorbatschow eröffnete damit ein riskantes taktisches Pokerspiel. Seine Karten hatte er offen auf den Tisch gelegt. Nun hing es von der amerikanischen Regierung ab, ob sie — anders als im Juni 1983 — angesichts der seitdem eingetretenen globalen Entspannung ihrerseits ihren Beitrag zur Beendigung des sowjetisch-afghanischen Kriegs leisten und entsprechenden Druck auf den pakistanischen Präsidenten Zia ul-Haq ausüben würde.

Das Ergebnis ist bekannt: Am 14. April wurden die vier Vertragsinstrumente unterzeichnet. Sie traten am 15. Mai mit dem Beginn des sowjetischen Rückzugs in Kraft. Am 15. August meldete Moskau den termingerechten Abzug der ersten Hälfte seiner Truppen. Zwei Tage später, am 17. August 1988, starb Zia ul-Haq bei einer wahrscheinlich durch Sabotage verursachten Flugzeugexplosion Doch schon vor dem Tod Zias, des wichtigsten Verbündeten der radikalsten Peshawar-Gruppe, war der Weg für die Schaffung der politischen Rahmenbedingungen geebnet worden, die der Sowjetunion einen Rückzug ohne Gesichtsverlust erlaubten.

Da die Grundprämisse der bisherigen Analysen, nämlich Moskaus Strategie der „Sowjetisierung“ der afghanischen Gesellschaft, seit dem Beginn von Gorbatschows Doppelstrategie nicht mehr gültig ist, müssen auch die „Wendemarken“ des sowjetisch-afghanischen Krieges neu interpretiert werden. Als „Wendejahr“ kann 1986 gelten, wobei die Ablösung Karmals durch Najibullah (stufenweise seit dem 4. Mai 1986) und die amerikanische Freigabe von Stinger-Flugabwehrraketen für den afghanischen Widerstand als „Wendemarken“ bezeichnet werden können. Während die erste Wende-marke retrospektiv eindeutig als Beleg für Gorbatschows langfristige Rückzugsabsichten interpretiert werden kann, ist zwar die Auswirkung der zweiten Wendemarke auf den militärischen Kriegs-verlauf erkennbar (deutliche Effizienzsteigerung des Widerstands) Ihre Wirkung auf den politischen Entscheidungsprozeß im Kreml kann aber noch nicht genau bestimmt werden.

Nicht nur die Interpretation der zweiten Wende-marke, sondern auch die notwendige Revision der Gesamtanalyse von Gorbatschows Doppelstrategie gestalten sich schwierig: Erstens darf Gorbatschows Afghanistan-Politik nicht isoliert gesehen, sondern muß im Kontext seiner regionalen und globalen Reformpolitik analysiert werden Zweitens sind Hintergrundinformationen über den Entschei-dungsprozeß im Kreml noch zu wenig bekannt. Drittens dürfte die Doppelstrategie Gorbatschows kaum gradlinig verfolgt worden sein. Vielmehr sind eine Vielzahl von Faktoren im Verlauf des Implementierungsprozesses zu berücksichtigen.

Da eine derart komplexe Analyse hier nicht geleistet werden kann, soll statt dessen die politische und gesellschaftliche Basis dargestellt werden, die Najibullah seit seiner Regierungsübernahme aufgebaut hat. Das geschieht im Hinblick auf den zu erwartenden Bürgerkrieg nach dem sowjetischen Abzug, ohne daß allerdings prognostiziert werden kann, ob und wie lange sich die sozialistischen Gruppierungen halten werden.

1987 gab Najibullah zu, nur knapp ein Drittel des Landes zu kontrollieren Dazu gehörten in erster Linie Kabul, die an die Sowjetunion anstoßende nördliche Grenzregion, die Umgebung wichtiger Einrichtungen wie z. B. Erdgaslager im Norden und — mit Einschränkung — die städtischen Zentren.

Die wichtigste politische Machtbasis Najibullahs ist natürlich die DVPA. Die Auswirkungen der Flügel-kämpfe in der Partei werden unterschiedlich interpretiert. Einerseits spaltete Najibullah die DVPA — abgesehen von der alten Parcham/Khalq-Rivalität — noch ein weiteres Mal, nämlich innerhalb des Parcham-Flügels zwischen seiner Fraktion und der Fraktion des entmachteten Amin. Andererseits konnte er die Mitgliederzahl der Partei um 30 000 auf 180 000 Personen erhöhen, davon 13 000 Frauen (7, 5 Prozent). Loyalitäten zu Flügeln und Cliquen haben sich im Laufe der Jahre geändert, so daß Najibullah tendenziell den parteiinternen Zusammenhalt festigen konnte. Über 50 Prozent der Mitglieder der DVPA sind übrigens jünger als 30 Jahre.

Der Partei-, aber auch der Armeenachwuchs wurden aus der 1980 gegründeten „Demokratischen Jugendorganisation Afghanistans“ (DJOA) herangezogen, die inzwischen auf 4 000 Grundeinheiten mit ca. 200 000 Mitgliedern angewachsen ist. Die zwei wichtigsten Aufgaben der DJOA sind die ideologische Schulung und die vormilitärische Ausbildung. Die DJOA rekrutiert sich ihrerseits aus den „Jungen Pionieren“, die 150 000 Jungen und Mädchen umfassen.

Außer durch diese vertikale Kaderausbildung erhielt die DVPA zudem Zufluß aus horizontalen Querverbindungen zu anderen Organisationen. Nachdem offenbar die anfänglichen Parcham/Khalq-Rivalitäten in der Armee entschärft, die Armee insgesamt reorganisiert und jüngere Militärs nachgerückt waren, konnte sich Najibullah auf ein loyales Offizierskorps stützen. Insbesondere zwischen den höheren Offiziersrängen und der DVPA besteht „eine Art symbiotisches Verhältnis“, da führende Parteimitglieder zugleich hohe Militärpo-sten bekleiden. Insgesamt gelang es Najibullah, Armee und Milizen auf ca. 70 000 Mann zu erhöhen, wobei allerdings die quantitative Zunahme nichts über die Kampfmoral und Effizienz aussagt.

Ebenfalls zum sozialistischen Kern zählt das Innenministerium mit seinen Sarandoy-Verbänden (mindestens 8 000 Mann), die, zunächst unter Khalq-Einfluß stehend, von Najibullah auf seine Seite gezogen worden sind. Hinzu kommen die Grenztruppen (ca. 7 000 Mann) und der Geheimdienst KHAD (mindestens 7 000 Mann). Die Frauenorganisation reorganisierte Najibullah und baute sie zu einer Massenorganisation mit ca. 85 000 Mitgliedern aus. Zudem sind noch die Gewerkschaften zu nennen, denen Ende 1985 214 000 Mitglieder angehörten. Schließlich rundet ein Teil der Lehrer Najibullahs sozialistische Gefolgschaft ab. Etwa ein Drittel der Lehrer, ca. 6 700, sind Parteimitglieder. Diese Übersicht spiegelt die sozialistische Durchdringung der afghanischen Gesellschaft wider, bis ins Jahr 1987 hinein. Einerseits belegen die Zahlen die Tatsache, daß eine erhebliche sozialistische Anhängerschaft herangezogen worden ist. Andererseits ist völlig offen, wie groß der „harte ideologische Kem“ nach dem sowjetischen Abzug sein wird. Da die sozialistischen Kader mit der Rache der Mudjaheddin rechnen müssen, steht ein blutiger Bürgerkrieg bevor.

III. Die Genfer Vermittlungsrunde von März/April 1988

Vorgeschichte und Verlauf der früheren Gesprächsrunden können hier nicht dargestellt werden Lediglich einige Grundzüge sollen festgehalten werden: Die Genfer Verhandlungen, über deren Verlauf Stillschweigen bewahrt wurde, wurden zwischen den Vertretern des Kabuler Regimes und der pakistanischen Regierung mit Hilfe des UN-Vermittlers Diego Cördovez geführt. Während der einzelnen Gesprächsrunden pendelte Cördovez zwischen den separaten Räumen der beiden Verhandlungsparteien hin und her.

Die pakistanische Regierung hatte diese indirekte Vermittlungsführung als politischen Kompromiß akzeptiert, da sie dadurch eine formelle Anerkennung des Kabuler Regimes vermied. Zwischen den Gesprächsrunden hielt Cördovez den zwischenzeitlich fast aussichtslos scheinenden Dialog aufrecht, indem er eine rege „Reisediplomatie“ zwischen den betroffenen Regierungen betrieb: Sowjetunion, Afghanistan, USA, Pakistan und Iran. Die Teheraner Regierung nahm nicht an den Verhandlungen teil, ließ sich aber über deren Verlauf informieren.

Ausgeschlossen von den Verhandlungen waren die politischen Führer sämtlicher Widerstandsparteien. Deshalb erkannten die Widerstandsführer auch die Genfer Abkommen nicht als bindend an. Der Grund für den Ausschluß bestand darin, daß das Kabuler Regime den Anspruch erhob, die alleinige politische Vertretung der afghanischen Bevölkerung zu sein. So wurden im Endeffekt in Genf Verhandlungen zwischen zwei Stellvertretern geführt. Nach unbestätigten Berichten sollen sich sowjetische Berater sogar während der Gespräche im Raum der afghanischen Delegation aufgehalten haben. Die pakistanische Delegation wiederum verhandelte stellvertretend für die Widerstandsführer (regionale Stellvertreterfunktion), aber auch als Vorposten der USA (global-ideologische Stellvertreterfunktion im Ost-West-Konflikt).

Das Vertragswerk bestand aus vier Abkommen 1. In einem zweiseitigen Abkommen zwischen Afghanistan und Pakistan bekannten sich beide Staaten zu den Prinzipien der Nichteinmischung und Nichtintervention in die inneren Angelegenheiten des Nachbarn. 2. Dieser Grundsatz wurde in einet Erklärung über internationale Garantien von den beiden Garantiemächten Sowjetunion und USA bestätigt. 3. In einem zweiseitigen Abkommen über die freiwillige Rückkehr der Flüchtlinge verpflichtete sich Afghanistan, rückkehrwillige Flüchtlinge aufzunehmen, während Pakistan das Repatriierungsverfahren fördern wollte. 4. In einem von allen vier Regierungen unterzeichneten „Abkommen über die Wechselbeziehungen“ wurde der innere Zusammenhang aller vier Abkommen betont, die Frist des sowjetischen Abzugs spezifiziert und in einem Anhang ein kleines UN-Kontingent von ca. 50 Beobachtern mit der Überwachung der getroffenen Vereinbarungen beauftragt.

Die Bewertung des Vertragswerks läßt sich in drei Punkten zusammenfassen: 1. Sinn und Zweck der Abkommen war es, den Sowjets ohne Gesichtsverlust den Abzug ihrer Truppen zu ermöglichen. 2. Die detaillierten Bestimmungen über Nichteinmischung etc. hatten keine praktische Relevanz, da die Widerstandskämpfer die Abkommen ignorierten und — mit Duldung Präsident Zias — sofort mit militärischen Offensiven auf afghanischem Territorium begannen. 3. Nicht im Vertragswerk aufgeführt, sondern in einer separaten Erklärung der amerikanischen Regierung konstatiert, fand sich eine wichtige von beiden Garantiemächten stillschweigend akzeptierte Klausel, die von amerikanischer Seite auf den Begriff „positive Symmetrie“ gebracht wurde. Die USA behielten sich das Recht vor. weiterhin „militärische Unterstützung zu gewähren“: „Sollte die Sowjetunion bei der Bereitstellung von Militärhilfe in Afghanistan Zurückhai-tungüben. werden sich die Vereinigten Staaten entsprechend zurückhalten.“ Mit anderen Worten: Prinzipiell konnten beide Supermächte ihre jeweiligen Verbündeten weiterhin mit Waffen versorgen, nur durfte es nicht zu auffällig geschehen! Während der zwischenstaatliche Krieg seinem Ende zuging, blieb genügend Spielraum, um die beiden innerafghanischen Kontrahenten für den anschließenden Bürgerkrieg zu rüsten.

Den Hintergrund dieses gewagten Pokerspiels zwischen dem 8. Februar und dem 14. April 1988 hat Selig S. Harrison geschildert In Vorbereitung für die am 2. März beginnenden Genfer Gespräche hatte Cordovez zwischen dem 18. Januar und 9. Februar erneut seine „Reisediplomatie“ aufgenommen. Dabei drängte er auch die sowjetische Führung zu einer „dramatischen Geste“, die dann in Form von Gorbatschows sensationeller Rede vom 8. Februar erfolgte und selbst Cordovez’ Erwartungen übertraf.

Gorbatschow war davon ausgegangen, daß das UN-Abkommen fertig sei und lediglich die Modalitäten des Rückzugsprozesses geklärt werden müßten. Deshalb hatte er in seiner Rede in allen wesentlichen Punkten Zugeständnisse gemacht — ohne einenverdeckten Trumpf in der Hinterhand zu behalten. Doch trotz dieser unerwarteten Zugeständnisse glaubte die US-Regierung, noch höher reizen zu können, und machte das „Symmetrieproblem“ zum Streitpunkt: Moskau solle seine Truppen zurückziehen, obwohl sich die USA das Recht vorbehielten, den Widerstand weiter zu unterstützen. Gorbatschow fühlte sich von den Amerikanern hintergangen. Ein amerikanischer Experte kommentierte nach einem Gespräch mit Gorbatschow am 11. März: „Sie (die Sowjets) sind bestürzt und wütend, daß die Vereinigten Staaten nun weitere Konzessionen verlangen.“

Als die „Symmetriekontroverse“ am 24. März in einem Gespräch zwischen den beiden Außenministern Shultz und Shewardnadse wieder nicht geklärt wurde, drohten die Verhandlungen zusammenzubrechen. Erneut griff Cordovez ein und erreichte in einer zweiwöchigen Geheimdiplomatie die spätere Kompromißformel von der „positiven Symmetrie“.

Außerdem mußten die beiden „Stellvertreter-Regierungen“ auf Kompromißkurs gezwungen werden. Gorbatschow ließ Najibullah am 7. April bei einem Gespräch in Taschkent keine andere Alternative, als die Abkommen zu unterzeichnen. Problematischer war es dagegen für die Reagan-Administration, Präsident Zias Zustimmung zu erzwingen. Dies gelang schließlich mit Hilfe des Premierministers Pakistans. Junejo.der Zia im letzten Verhandlungsmonat im Entscheidungsprozeß faktisch umging. Junejo bezahlte dafür allerdings nur wenig später mit der überraschenden Entlassung aus seinem Amt.

IV. Der Widerstand

Die jüngsten Meldungen über den afghanischen Widerstand unmittelbar vor Abschluß des sowjetischen Rückzugs dokumentieren, daß der Krieg in voller Brutalität weitergeht und nunmehr ausschließlich von den Mudjaheddin diktiert wird. Im November 1988 hat die Peshawar-Allianz den Versuch Moskaus zunichte gemacht, auf dem Verhandlungsweg eine Übergangsregierung zu bilden. Im Dezember ist der sowjetische Vorschlag ignoriert worden, ab 1. Januar 1989 einen Waffenstillstand einzuhalten, um den sowjetischen Truppenrückzug termingerecht abzuschließen. Die Ungewißheit über den sowjetischen Rückzugsplan klärt sich nun dahin, daß die sowjetische Führung den Abzug so rasch als möglich bewerkstelligen will. Gleichzeitig zeichnet sich der Entscheidungskampf um Kabul Die Kabuler Bevölkerung ist von einer Hungersnot bedroht, weil die Widerstandskämpfer fast alle Zufahrtsstraßen kontrollieren und Lebensrnittel beschlagnahmen.

Nachdem sich die anfängliche Erleichterung über den sowjetischen Rückzug gelegt hat (die teilweise mit Euphorie über die „kommunistische Niederlage“ gemischt war) und nachdem der Bürgerkrieg bereits erste (interne) Flüchtlingsströme ausgelöst und erneut viele Opfer in der Zivilbevölkerung gefordert hat, stellt sich die Frage, ob nicht auch die bisherige Bewertung des Widerstands zu ideologisch geprägt war und nun einer neuen — kritischen — Analyse bedarf.

Aus westlicher Sicht fungierten die Mudjaheddin als Freiheitskämpfer, die ihr Land von der sowjetischen Invasion befreien wollten. Die Uneinigkeit ihrer politischen Führung wurde zwar regelmäßig beklagt, doch der Blick konzentrierte sich nicht auf die Gründe für die interne Zerstrittenheit der Peshawar-Allianz, sondern vorrangig auf deren Funktion im Kampf gegen den sowjetischen Aggressor. Insbesondere die Reagan-Administration ignorierte die politisch-ideologische Bandbreite innerhalb des Widerstands. Infolge der islamisch-fundamentalistischen Gesinnung der Regierung Zia ulHaq profitierte die radikalste der islamischen Gruppen unter Hekmatyar am meisten von den Waffenlieferungen, obwohl sie einen relativ geringen Rückhalt in der Bevölkerung und unter den Mudjaheddin besaß — und obwohl sie erklärtermaßen anti-amerikanisch eingestellt war. Das, was unter dem Begriff „Widerstand“ zusammengefaßt wird, war — und ist immer noch — ein Konglomerat heterogener ideologischer, politischer und militärischer Gruppierungen — ein Spiegelbild der Heterogenität der afghanischen Gesellschaft. Die Religion einte und entzweite zugleich die Widerstandsgruppen. Alle Gruppierungen berufen sich auf den Islam — und leiten daraus höchst konträre politische Ordnungsmodelle ab Dies zeigte sich insbesondere bei dem Versuch der Widerstandsgruppen, eine Übergangs-bzw. Koalitionsregierung zu bilden Die Peshawar-Allianz bestand aus drei „Blöcken“: den Royalisten mit ihren Führern Gailani. Modjaddidi und Nabi, den gemäßigten Fundamentalisten mit ihren Führern Rabbani, Khales und neuerdings auch Sayyaf sowie den Extremisten, vertreten durch Hekmatyar. Die Royalisten orientierten sich an der bis 1973 bestehenden Monarchie, sie vertraten am vehementesten die Rückkehr des im italienischen Exil lebenden Ex-Königs Zahir Shah. Die gemäßigten Fundamentalisten hätten wohl den König als vorübergehende Integrationsfigur akzeptiert, forderten jedoch eine politische Neuordnung des afghanischen Staates. Zu keinem Kompromiß bereit war Hekmatyar, dessen Ordnungsvorstellungen von dem Modell einer islamischen Sozialrevolution bestimmt sind.

Es wäre der Frage nachzugehen, welchen Anteil das Eingreifen Zias zugunsten Hekmatyars am Scheitern der Verhandlungen über eine Exilregierung hatte und inwieweit Zia tatsächlich die Bildung eines gegen Hekmatyar gerichteten Blocks aus Royalisten und gemäßigten Fundamentalisten verhinderte. Angesichts der ethnischen Heterogenität und des tribalen Autonomiestrebens innerhalb des afghanischen Widerstandes scheiterte die Bildung einer Koalitionsregierung indessen wohl in erster Linie an innerafghanischen Differenzen. Während z. B. die Royalisten die autonome paschtunische Stammestradition repräsentierten, vertrat Rabbani, einer der Führer der gemäßigten Fundamentalisten. die Ansprüche der ethnischen Minderheiten, die in Zukunft mehr politische Mitsprache fordern werden.

Auch hinsichtlich der künftigen Entwicklung innerhalb des afghanischen Widerstandes überwiegen die ungeklärten Fragen. So ist berichtet worden, daß insbesondere die Partei Rabbanis immer mehr Anhänger aus verschiedenen Ethnien rekrutiert habe, sie also tendenziell interethnisch integrierend wirke. Auch sollen vor allem in den letzten Kriegsjahren mit dem Erstarken einer neuen, jüngeren Kommandantengeneration Ansätze zu einem nationalen afghanischen Staatsverständnis gewachsen sein. Allerdings ist fraglich, ob hier nicht aus dem ideologischen Bedürfnis heraus, die national integrative Wirkung des antikommunistischen Widerstandes zu überhöhen, vereinzelten Entwicklungen zu große Bedeutung beigemessen wurde.

Auch die Berichte über eine zunehmende Kooperation auf lokaler Ebene, also über eine Überwindung der Fraktionsrivalitäten sind widersprüchlich. Einerseits soll es koordinierte Offensiven verschiedener Mudjaheddineinheiten gegeben haben, andererseits sind die Meldungen nicht verstummt, daß nach dem gemeinsamen Zurückschlagen des sowjetischen Angreifers die Waffen erneut gegen die Anhänger rivalisierender Fraktionsführer gerichtet wurden.

Schließlich ist völlig offen, wie die Machtverteilung zwischen der neuen Kommandantengeneration und den politischen Führern geregelt werden wird. Einigen Kommandanten — am berühmtesten wurde inzwischen Ahmad Shah Massud im Panjsher-Tal nahe dem strategisch wichtigen Salang-Paß — ist es gelungen, provinzübergreifende Regionen zu kontrollieren. Werden sie in Zukunft bereit sein, die Einsetzung einer Zentralregierung zu dulden oder gar zu unterstützen?

Die drohende Gefahr einer „Libanisierung" Afghanistans ist bereits heraufbeschworen worden. Wird der zweiten Kriegsrunde — dem Bürgerkrieg zwischen dem Widerstand und dem DVPA-Regime -eine dritte Kriegsrunde folgen, diesmal zwischen den einzelnen Elementen des „Widerstandskonglomerats“?

Fussnoten

Fußnoten

  1. Charles Dunbar. Afghanistan in 1986. The balance endures in: Asian Survey. 27 (1987) 2, S. 127.

  2. Günter Knabe, Krieg und Widerstand, in: Der Afghanisan-Konflikt. Regionale und internationale Dimensionen.

  3. Vgl. Jürgen Bellers/Ghulam D. Totakhyl. Der Afghanian-Konflikt und das internationale System, in: Aus Politik MCI Zeitgeschichte. B 4/87, S. 3-21.

  4. Anthony Arnold, The stony path to Afghan socialism: Problems of Sovictization in an alpine Muslim Society, in: Orbis. 29 (1985) 1, S. 40.

  5. Felix Ermacora. Afghanistan und das Weltgewissen, in: Europa-Archiv, 41 (1986) 17, S. 503.

  6. Anthony Hyman. The Afghan politics of exile, in: Third World Quarterly, 9 (1987) 1, S. 75.

  7. Ethnische Verteilung nach: Erhard Franz, Die Bevölka rung. in: Dokumentations-Leitstelle Moderner Ona 1 (Hamburg). Afghanistan seit dem Sturz der Monarchie^Do kumentation zur Politik, Wirtschaft und Bevölkerung. Hamr bürg 1981, S. 106: 1. Pashtunen (48 Prozent), 2. Tajiken (23, 7 Prozent), 3. Uzbeken (8, 9 Prozent), 4. Hazan (6, 7 Prozent), 5. Aimaq (3, 7 Prozent), 6-Farsiwdn (3, 7 Prozent), 7. Turkmenen (drei Prozent), 8. Sonstigen 1'weniger als ein Prozent: Baluchen, Nuristani, Pamir, O. bash, Pashai. Sikhs und Hindus, Brahui, Kirghizen, Qarak pakhen, Jat und Gujrat.

  8. Vgl. Louis Dupree, Cultural Changes among the mujahe“ ln and muhajerin, in: Bo Huldt/Erhard Jansson (eds.), The tragedy of Afghanistan — The social, cultural and political Impactof the Soviet invasion, London et al. 1988. S. 31. Der perühmteste Krieger-Dichter war Khushal Khan Khattak (1613-1690), dessen Ruhm in der Volksdichtung tradiert wird.

  9. Vgl. Asger Christensen, When Muslim identity has diffe-rent meanings: religion and politics in Contemporary Afgha-" istan, in: B. Huldt/E. Jansson (Anm. 8), S. 8-9.

  10. Vgl. Olivier Roy, Sufism in the Afghan Resistance, in: Central Asian Survey, 2 (1983) 4, S. 61— 79.

  11. Erhard Franz (Anm. 7), Anm. 1, S. 105; vgl. dort auch Franz’ eigene Berechnungen.

  12. F. Ermacora (Anm. 5). S. 506.

  13. Uwe Halbach, Afghanistan, in: Peter J. Opitz (Hrsg.), Das Weltflüchtlingsproblem. Ursachen und Folgen, München 1988, S. 142.

  14. Louis Dupree. Afghanistan: 1980. The world tumed up-side down, American Universities Field Staff Reports, Asia. (1980) 37, S. 2.

  15. Olivier Roy, Afghanistan vor einer ungewissen Zukunft, m: Europa-Archiv, 43 (1988) 9, S. 233.

  16. Vgl. Pierre Metgc. Die Sowjetunion in Afghanistan. Von er Zusammenarbeit zur Besetzung: 1947 bis 1986, in: Mili-tärpolitik Dokumentation, 9 (1985) 45/46, S. 50f.

  17. Vgl. K. Wafadar, Afghanistan in 1981: The struggle intensifies, in: Asian Survey, 22 (1982) 2, S. 153

  18. 1 Louis Dupree, Afghanistan in 1982. Still no solution, in: Asian Survey, 23 (1983) 2, S. 133-142; ders.. Afghanistan in «m. And süll no solution, in: ebd., 24 (1984) 2, S. 229-

  19. L. Dupree. Afghanistan in 1983 (Anm. 18), S. 235 f.

  20. Lee O. Coldren. Afghanistan in 1984. The fifth year of sheßusso-Afghan War. in: Asian Survey. 25 (1985) 2.

  21. L. O. Coldren. Afghanistan in 1985. The sixth yearofthe Russo-Afghan War, in: Asian Survey. 26 (1986) 2. S. 235.

  22. Karmal, zit. nach Dieter Braun/Karlernst Ziem. Afghanistan: Sowjetische Machtpolitik -Islamische Selbstbestimmung, Baden-Baden 1988. S. 52 f.

  23. Gorbatschow am 17. April 1988, zit. nach Selig S. Harrison, Inside the Afghan Talks, in: Foreign Policy, 72 (1988),

  24. Ebda.

  25. Ittehad-e-Islami-ye-Mujahedin-e-Afghanistan.

  26. Gorbatschow am 8. Februar 1988. in: Europa-Archiv. « (1988) 11, S. D 296-299.

  27. vgl. S. S. Harrison (Anm. 23). S. 45; D. Braun/KZiem (Anm. 22). S. 221.

  28. Vgl. Citha D. Maaß. Pakistan nach dem Tod von Zia ul Haq. Instabilität oder Entspannung?, in: Europa-Ar-chiv. 43 (1988) 19. S. 553-558.

  29. Vgl. D. Braun/K. Ziem (Anm. 22). S. 47f.'

  30. Vgl. Helmut Hubel. Die sowjetische Nahost-Politik unter Gorbatschow, in: Europa-Archiv. 43 (1988) 10. S. 277 bis

  31. Die folgenden Angaben sind entnommen aus: D. Braun/K. Ziem (Anm. 22). S. 61-146.

  32. Vgl. ebda., S. 215-231.

  33. Vgl. die Dokumentation in: Europa-Archiv, 43 (1988) 11, S. D 291-318.

  34. Ebda.. S. D 302

  35. Vgl. S. S. Harrison (Anm. 23). S. 55 ff.

  36. Ebda., S. 56.

  37. Vgl. J. Bellers/G. D. Totakhyl (Anm. 3); Tahir Amin, Afghan Resistance — Past. Present and Future, in: Asian Survey, 24 (1984) 4. S. 373-399; A. Hyman (Anm. 6); D. Braun/K. Ziem (Anm. 22); Eden Naby, Islam within the Afghan Resistance, in: Third World Quarterly, 10 (1988) 2, S. 787— 805; zur Tradition vgl. David Busby Edward. Charismatic leadership and political process in Afghanistan, in: Central Asian Survey. 5 (1986) 3/4. S. 273— 299.

  38. O. Roy (Anm. 15). S. 236 f.

Weitere Inhalte

Citha D. Maaß, Dr. phil., geb. 1946; Studium der Politischen Wissenschaft, Volkswirtschaftslehre und Geschichte in Göttingen, München und New Delhi/Indien; sechs Jahre Forschungsaufenthalt in Südasien. davon 31/2 Jahre als Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung. Veröffentlichungen u. a.: Indien — Nepal — Sri Lanka: Süd-Süd-Beziehungen zwischen Symmetrie und Dependenz, Wiesbaden 1982; zahlreiche Artikel über politische Probleme Südasiens.