Am Juni 1988 ist der amerikanisch-sowjetische Vertrag über die Beseitigung ihrer landgestützten Flugkörper mittlerer Reichweite in Kraft getreten. Die Medien haben ausführlich über den inzwischen begonnenen Abzug und die Zerstörung der Raketen berichtet. Die NATO kann sich zugute halten, diesen Abrüstungsprozeß maßgeblich herbeigeführt zu haben. Zwar hätte es den Vertrag ohne den Amtsantritt von Michail Gorbatschow wohl kaum gegeben, aber es läßt sich nicht bestreiten, daß die Null-Lösung ein westlicher Vorschlag war, auf den die Sowjetunion schließlich eingeschwenkt ist. Auch die Tatsache, daß der Vertrag eine stark asymmetrische Abrüstung zugunsten der USA vorschreibt 1). ist bemerkenswert.
Vor diesem Hintergrund könnte man heute eine breite öffentliche Unterstützung für die Sicherheitspolitik der Allianz erwarten. Der INF-Vertrag hat jedoch die Akzeptanzfähigkeit der NATO-Politik in der Bundesrepublik Deutschland nicht nachhaltig verbessert. Es bleiben vielmehr erhebliche Defizite, die der NATO auch in Zukunft zu schaffen machen werden.
I. Ausgangslage
In einer Demokratie braucht die Regierung die Zustimmung der Bevölkerung, um die notwendigen Mittel für ihre Verteidigungspolitik aufzubringen. In dieser Hinsicht steht die NATO in der Bundes-republik Deutschland vor einem Dilemma: Große Teile der Öffentlichkeit empfinden Unbehagen über die starke Abstützung der gegenwärtigen NATO-Strategie der Flexiblen Reaktion auf Nuklearwaffen, ohne jedoch bereit zu sein, diese Abhängigkeit durch eine Verstärkung der konventionellen Streitkräfte zu vermindern.
Bei den Nuklearwaffen gibt es eine augenfällige Diskrepanz zwischen offizieller und öffentlicher Meinung, die zugleich die ambivalente Haltung der deutschen Bevölkerung gegenüber diesen Waffen zum Ausdruck bringt. In der Abschlußerklärung der NATO-Gipfelkonferenz in Brüssel am und März 1988 heißt es: „Durch Aufrechterhaltung einer glaubwürdigen Abschreckung hat das Bündnis den Frieden in Europa seit fast vierzig Jahren gesichert. Konventionelle Verteidigung allein kann diese Stabilität nicht geben; daher gibt es für die absehbare Zukunft keine Alternative zur Strategie der Kriegsverhinderung. Dies ist eine Abschrekkungsstrategie, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht, die weiterhin auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wo dies erforderlich ist.“ 2)
Im folgenden werden diese Probleme zunächst beschrieben und dann ihre maßgeblichen Gründe aufgezeigt. Auf der Grundlage dieser Diagnose wird schließlich im dritten Teil nach Antworten auf die Akzeptanzproblematik gesucht.
Der Auffassung der NATO-Staats-und Regierungschefs, daß nukleare Abschreckung einen maßgeblichen Anteil an der Sicherung des Friedens gehabt hat, stimmt immerhin noch fast die Hälfte (49 Prozent) der westdeutschen Bevölkerung zu 3). Daß jedoch „auch in absehbarer Zukunft die Sicherheit der Bundesrepublik und Westeuropas vor einem Angriff der Sowjetunion nur durch die atomare Abschreckung erhalten bleiben kann“, wurde 1988 von 41 Prozent verneint (1986: 34 Prozent) und von nur 32 Prozent bejaht (1986: 37 Prozent). Ferner glauben im Unterschied zu der im Brüsseler Kommunique enthaltenen Einschätzung nur 36 Prozent der Bundesbürger, daß ein „Verzicht der NATO auf atomare Abschreckung in Europa die Gefahr eines konventionellen Krieges vergrößern würde“ (1986 waren es 41 Prozent) Eine noch größere Diskrepanz zwischen Regierenden und Regierten besteht in der Frage der Modernisierung des Nuklearpotentials, über das die NATO nach der Durchführung des INF-Vertrages entscheiden wird. Während die Bundesregierung sich gegen eine dritte Null-Lösung ausgesprochen hat und damit eine Modernisierung nicht prinzipiell ablehnt, sind nur 14 Prozent der Bundesdeutschen für eine Modernisierung der Kurzstreckenraketen, aber 68 Prozent dagegen
Diese Zahlen signalisieren, daß die NATO in der Bundesrepublik weiterhin mit dem Problem konfrontiert ist, das der Bundesminister der Verteidigung 1983 auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die „Nachrüstung“ als „die sinkende Akzeptanz der Nuklearwaffen in den westlichen Gesellschaften“ beschrieb Die NATO hat versucht, diesem Problem durch ein Programm zur Verstärkung der konventionellen Verteidigung („Conventional Defense Initiative“) entgegenzuwirken. Ziel dieses Programms ist es. die vermeintliche Abhängigkeit der Allianz vom frühen nuklearen Ersteinsatz zu beseitigen, um dadurch die Akzeptanz der Flexiblen Reaktion zu festigen.
Der Erfolg dieses Vorhabens ist zweifelhaft. Erstens ist es halbherzig, weil es die Nuklearlastigkeit der geltenden Strategie nur mildert, aber nicht aufhebt: Welchen Unterschied macht es aus der Sicht derjenigen, die Nuklearwaffen ohnehin skeptisch gegenüberstehen, ob der Zeitpunkt eines etwaigen nuklearen Ersteinsatzes um einige Tage oder auch Wochen hinausgeschoben werden könnte? In diesem Fall gilt: aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Zweitens werden der NATO in der Bundesrepublik wie auch in anderen Mitgliedstaaten die finanziellen und demographischen Ressourcen für eine nachhal-tige Verbesserung der konventionellen Streitkräfte fehlen. Das galt für die Bundesrepublik schon vor dem Amtsantritt von Generalsekretär Gorbatschow. gilt aber heute im Zeichen des „Neuen Denkens“ und Handelns auf sowjetischer Seite (INF-Vertrag. Rückzug aus Afghanistan, Ankündigung eines einseitigen Abbaus von insgesamt 500 000 Soldaten, davon 50 000 Mann und 5 000 Panzer aus der DDR.der Tschechoslowakei und Ungarn bis Ende 1991) um so mehr
Die Akzeptanzfähigkeit der NATO-Strategie und damit ihre Durchsetzbarkeit in der Bundesrepublik ist also problematisch geworden. Zur Bewertung dieser Entwicklung ist es jedoch notwendig, sie in den richtigen Kontext zu stellen. Dazu gehören drei Anmerkungen:
Die erste betrifft den Stellenwert von Sicherheitspolitik für den politischen Meinungsbildungs-und Entscheidungsprozeß in der Bundesrepublik. Wie in den meisten anderen westlichen Demokratien sind innenpolitische Themen für die Mehrzahl der Bundesbürger wichtiger als außen-und sicherheitspolitische Fragen Zweitens gibt es eine ungebrochen hohe Zustimmung zur NATO-Mitgliedschaft der Bundesrepublik Drittens ist die Zustimmung zur NATO-Strategie, z. B. gemessen an der Einstellung zur nuklearen Abschreckung, bei den Anhängern der gegenwärtigen Regierungskoalition höher als im Durchschnitt und signifikant höher im Vergleich zu den Anhängern der SPD und den GRÜNEN
Diese drei Hinweise sollten jedoch nicht zur Unterschätzung des Akzeptanzproblems verleiten. Noch ist ungewiß, ob die derzeitige konservativ-liberale Koalition die Bundestagswahlen 1990 gewinnt. Aber selbst wenn es zu einer Neuauflage dieses Regierungsbündnisses käme, wäre damit das Problem nicht gelöst. Die gegenwärtige Hinhalte-Taktik der Bundesregierung in der Modernisierungsfrage zeigt, daß sie auf jeden Fall eine neue „Nachrüstungs“ -Kontroverse verhindern möchte. Sollte es ihr gelingen, bis zu den Wahlen 1990 in diesem Punkt keine Farbe bekennen zu müssen, würde ihr das einen Wahlsieg zwar erleichtern, andererseits jedoch wäre sie damit noch nicht „über den Berg“.
Im Jahre 1983. als Konservative und Liberale vor den Bundestagswahlen im März jenes Jahres unmißverständlich ihre Bereitschaft zur Stationierung der Pershing II und Marschflugkörper bei einem Scheitern der INF-Verhandlungen erklärt hatten, konnte sich die Regierung darauf berufen, von der Wählerschaft ein entsprechendes Mandat erhalten zu haben. Falls sie aus wahltaktischen Erwägungen ein ähnlich klares Bekenntnis in der Modernisierungsfrage nicht ablegt, wird es ihr später um so schwerer fallen, die Stationierung neuer Nuklearwaffen gegen den zu erwartenden innenpolitischen Widerstand durchzusetzen.
II. Diagnose
Fragt man nach den Gründen für die Akzeptanz-probleme, auf die die NATO-Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik trifft, gilt es, zwei Kategorien auseinanderzuhalten. In der Realität ist die Trennung natürlich nicht so eindeutig, wie es die hier vorgenommene Analyse suggeriert. Sie ist jedoch vor allem nützlich im Hinblick auf die Frage, wie die NATO eine stärkere öffentliche Unterstützung wiederfinden kann. 1. Aktuelle Faktoren Damit sind Faktoren gemeint, die erklären, warum latente Akzeptanzprobleme gerade jetzt aufbrechen bzw. besonders ausgeprägt sind. Hier sind zunächst zwei Fehler zu nennen, die im Zusammenhang mit dem INF-Vertrag gemacht worden sind. Den ersten Fehler hat die Bundesregierung begangen, als sie nur widerwillig auf die zweite NullLösung für Flugkörper von 500— 1 000 km Reichweite einging. Der zweite Fehler bestand darin, daß eine Modernisierungsdiskussion in der NATO los-brach, kaum daß die Tinte unter dem INF-Vertrag trocken war. Beides hinterließ den Eindruck, die NATO reagiere verunsichert genau in dem Augenblick, in dem Moskau mit der vom Westen immer geforderten Abrüstung ernst macht. Die Folge war eine beträchtliche Schmälerung des Legitimationsgewinns, den die UdSSR der NATO durch ihr Eingehen auf den westlichen Null-Lösungsvorschlag verschafft hatte.
Zu den aktuellen Faktoren zählt ferner die Einschätzung der Bedrohung durch die Sowjetunion. Umfragen zeigen hier eine starke Abnahme. Militärisch bedroht durch die UdSSR fühlten sich 1983 46 Prozent der Bundesbürger, heute sind es nur noch 24 Prozent, während sich 59 Prozent nicht bedroht fühlen Wenngleich viele Bundesbürger in dieser Hinsicht nicht konsistent urteilen weisen diese Zahlen doch darauf hin, daß die militärische Bedrohung durch den Warschauer Pakt als Rechtfertigung für eigene Rüstungsmaßnahmen an Wirksamkeit verloren hat.
Diese Entwicklung ist nicht nur. aber auch nicht zuletzt durch die hohen Sympathiewerte für Gorbatschow zu erklären. Der sowjetische Generalsekretär genießt z. Z. ein außergewöhnliches Ansehen bei der deutschen Bevölkerung. Für 83 Prozent ist er ein Mann, dem man vertrauen kann und Gorbatschow ist gar populärer als Reagan oder der Bundeskanzler
Die Beurteilung der militärischen Bedrohung und die hohen Sympathiewerte für Gorbatschow belegen. wie wenig Eindruck bei der deutschen Bevölkerung der von NATO-Seite ständig wiederholte Hinweis hinterlassen hat, an der wirklichen militärischen Lage habe sich seit Gorbatschows Amtsantritt bisher nichts geändert. Zwar sind ohnehin nur 30 Prozent der Bundesbürger der Meinung, der Warschauer Pakt sei militärisch stärker als die NATO eine Rolle spielt in diesem Zusammenhang aber auch, daß die meisten Menschen Bedrohung nicht eindimensional aus den militärischen Fähigkeiten der Gegenseite ableiten.
Von größerer Bedeutung scheint die Einschätzung politischer Absichten zu sein, also das, was man dem anderen unterstellt, mit seinem Militärpotential machen zu wollen. Zweifellos gibt es hier auch für den Durchschnittsbürger einen Zusammenhang: Defensive Worte und aggressive Taten vertragen sich nicht miteinander. Wenn jedoch die Gesamtpolitik eines Staates als primär nach innen gerichtet und nach außen kooperativ wahrgenommen wird, ist sein Militärpotential (innerhalb gewisser Bandbreiten) für die Tatsache, ob man sich 13 durch diesen Staat bedroht fühlt, offenbar nicht ausschlaggebend.
Dies jedenfalls ist der Schluß, der sich aus den genannten Zahlen ziehen läßt. Die UdSSR wird von vielen Bundesbürgern heute im Vergleich zu 1983 weitaus weniger bedrohlich wahrgenommen, obgleich sich ihr Rüstungspotential bisher im nuklearen Bereich kaum (Beginn der Zerstörung von INF-Raketen) und im konventionellen Bereich überhaupt noch nicht geändert hat. Dies spiegelt gewiß die Verbesserung der Ost-West-Beziehungen wider, aber es ist auch ein Ergebnis der damit zusammenhängenden Innen-und Außenpolitik Gorbatschows. Die meisten Bundesbürger trauen ihm einfach keine aggressiven Absichten zu. sondern sind überzeugt, daß es ihm vor allem um die innere Erneuerung geht, für die er außenpolitisch Ruhe und die Kooperation mit dem Westen braucht. 2. Strukturelle Faktoren Bei den strukturellen Gründen für Akzeptanzprobleme handelt es sich um Faktoren, die zu dauerhaften Veränderungen von Einstellungen und Perzeptionsmustern führen können. Man könnte sie daher auch als Nährboden für Entwicklungen auf der Ebene der aktuellen Faktoren bezeichnen. Jede Erörterung solcher Faktoren trägt spekulative Züge und kann nicht alle Einflußgrößen erfassen und gewichten. Es sei deshalb betont, daß ich mich im folgenden aufeinige wenige Faktoren konzentriere, die nach meiner Auffassung einen Erklärungswert für die festgestellten Akzeptanzschwierigkeiten der NATO-Sicherheitspolitik haben.
Der erste strukturelle Faktor ist die exponierte Lage der Bundesrepublik, die durch sechs Merkmale gekennzeichnet ist: 1. Die Bundesrepublik befindet sich an der geographischen Nahtstelle des Ost-West-Konflikts. Sollte dieser Konflikt in eine bewaffnete Auseinandersetzung umschlagen, wäre sie unmittelbar territorial betroffen. 2. Als kleinräumiger, hochindustrialisierter Staat mit empfindlicher Infrastruktur ist sie außerordentlich verwundbar durch Kriegseinwirkungen. 3. Wegen der Teilung Deutschlands in zwei Staaten, die gegeneinander gerichteten Bündnissen angehören. ist sie von Rückschlägen und Krisen in den Ost-West-Beziehungen besonders betroffen. 4. Die territoriale, infrastrukturelle und politische Verwundbarkeit der Bundesrepublik verschärft ihre Abhängigkeit von der militärischen Beistandszusage ihrer NATO-Partner, insbesondere aber von dem amerikanischen Nuklearversprechen.
5. Neben dieser militärischen gibt es als Folge des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs eine politische Abhängigkeit in Form von alliierten Sonderrechten, die aus der fortdauernden Verantwortung der Alliierten für Berlin und Deutschland als Ganzes resultieren. 6. In der Bundesrepublik gibt es innerhalb der NATO die höchste Konzentration an Soldaten, Waffen und militärischen Einrichtungen
Diese mehrfach exponierte Lage der Bundesrepublik beeinflußt einen zweiten Faktor, der die Konsensfähigkeit der NATO-Strategie strukturell belastet. Gemeint ist hier das Spannungsverhältnis zwischen der Kriegsverhütungs-und Kriegsbeendigungsrolle von Nuklearwaffen. Von westlichen, insbesondere deutschen Politikern wird immer wieder betont, daß vierzig Jahre Frieden in Europa entscheidend der Existenz von Nuklearwaffen zu verdanken sind In diesem Zusammenhang wird ferner hervorgehoben, daß Nuklearwaffen politische Waffen seien, deren abschreckende Wirkung gerade darauf beruhe, daß sich Kriege mit ihnen nicht führen ließen
Diese Identifikation von Nuklearwaffen mit ihrer Rolle als Kriegsverhütungsmittel läßt sich mit ihrer Funktion als Kriegsbeendigungsmittel, die ihnen die Strategie der Flexiblen Reaktion auch zuweist, im öffentlichen Bewußtsein nur schwer auf einen Nenner bringen. Denn wer einerseits die Vorstellung weckt, nukleare Abschreckung sichere gerade deshalb den Frieden, weil Nuklearwaffen Massen-Vernichtungsmittel seien, deren Einsatz unweiger-lieh zum Selbstmord führe, untergräbt seine Glaubwürdigkeit, wenn er andererseits den Einsatz von Nuklearwaffen zur Kriegsbeendigung nicht ausschließt. Jede Nuklearstrategie muß mit diesem Problem leben. Im Falle der Flexiblen Reaktion springt es jedoch besonders ins Auge, weil sie eine nukleare Ersteinsatzdrohung enthält. Diese Drohung suggeriert, für die NATO seien Nuklearwaffen nicht reine kriegsverhindernde Vergeltungsinstrumente, sondern Waffen, mit denen sich Kriege eben doch führen ließen, weil ihr Einsatz nicht die automatische Selbstvemichtung einleite.
Ein dritterstruktureller Faktor ist die Tatsache, daß die Bundesrepublik inzwischen zu einer führenden Wirtschaftsmacht mit politischem Gewicht und internationalem Ansehen herangewachsen ist. Dieser Prozeß hat zu einer wachsenden Diskrepanz zwischen fortbestehender militärischer und politischer Abhängigkeit besonders von den USA einerseits und neugewonnener wirtschaftlicher Stärke sowie gewachsenem Selbstbewußtsein andererseits geführt. Unter diesen Umständen kann das Gefühl, aufdie USA in einer so existenziellen Frage wie der Abwehr einer äußeren Bedrohung angewiesen zu sein, zu einer erheblichen Belastung der Partnerschaft führen.
Ob dies tatsächlich eintritt, hängt wesentlich von dem Bild ab, daß die Bundesbürger von ihrem militärischen „Vormund“ haben. Dieser vierte strukturelle Faktor hat sich in den letzten Jahren nachhaltig verändert. Zwar gibt es in der Bundesrepublik keinen nennenswerten Antiamerikanismus. So erklärten kürzlich nur 16 Prozent, die Amerikaner nicht besonders zu mögen, 41 Prozent dagegen mögen sie, während 43 Prozent unentschieden waren oder keine Angaben machten
Aber der beinahe ungeprüfte Sympathiebonus, der den USA lange Zeit entgegengebracht wurde, ist einer nüchterneren Beurteilung gewichen. Der Vietnam-Krieg, Watergate, europäisch-amerikanische Handelskonflikte, Iran/Contra-Gate, die Invasion Grenadas und der Bombenangriff auf Libyen, die Nicht-Konsultation der europäischen NATO-Partner durch die USA („Waldspaziergangs“ -Formel der INF-Unterhändler 1982, SDI-Rede Reagans 1983, sowjetisch-amerikanisches Gipfeltreffen in Reykjavik 1986), die militärische Aufrüstung der Reagan-Administration und ihre anfänglich mi-litante Rhetorik, die Ramstein-Tragödie und die Frage der Reichweite bundesdeutscher Souveränität — dies sind nur einige der Stichworte, die erklären helfen, warum die USA heute kritischer beurteilt werden, und warum dies vor allem unter jüngeren Bundesbürgern und solchen mit höherem Bildungsgrad der Fall ist
Vor diesem Hintergrund ist der fünfte strukturelle Faktor zu sehen: NATO und Warschauer Pakt wollen beide einen Krieg vermeiden und für den militärischen Sektor weniger investieren müssen, aber bisher ist es erst in Anfängen gelungen, die militärische Konfrontation gemeinsam (INF-Vertrag, KVAE-Abkommen) zu entschärfen. Daraus resultiert ein eklatantes Mißverhältnis zwischen dem kostenträchtigen und hohen Grad der militärischen Konfrontation in Europa einerseits und dem Grad des politischen Konflikts und der äußerst geringen Kriegsgefahr andererseits.
Dieses Mißverhältnis ist für viele Bundesbürger aus zwei Gründen immer unerträglicher geworden. Der erste ist der schlichte Zeitfaktor. Seit vierzig Jahren herrscht in Europa ein Friede, in dem es zwar ein Auf und Ab von Entspannung und Konfrontation gegeben, aber seit Anfang der sechziger Jahre (Mauer-Bau, Kuba-Krise) keine wirkliche Kriegs-gefahr mehr bestanden hat. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß es immer schwerer fällt, bei den Wählern für die Notwendigkeit aufwendiger Rüstungsmaßnahmen vor allem dann Verständnis zu finden, wenn diese, wie gezeigt, kein Feindbild mehr haben.
Der zweite, mit dem ersten zusammenhängende Grund liegt darin, daß es Gefahrenquellen gibt, die in den Augen vieler Bürger heute größer sind als die militärische Bedrohung. Stichworte sind hier Umweltverschmutzung, drohende Klimaveränderungen (Ozonloch, Treibhauseffekt), Kernkraftwerke, Aids und Terrorismus. Alle diese Probleme lassen sich ohne internationale Kooperation nicht mehr bewältigen. Militärische Konfrontation jedoch beeinträchtigt eine solche politische und wirtschaftlich-technologische Kooperation. Auch dies ist ein Grund, warum der heutige Grad dieser Konfrontation als überzogen empfunden wird und die Erwartungen an die Politik steigen, endlich für ihren Abbau zu sorgen.
III. Therapie
Bundesverteidigungsminister Scholz hat kürzlich — zwar untertreibend, aber deutlich — festgestellt: „Der sicherheitspolitische Grundkonsens in der Bundesrepublik Deutschland ist etwas mürbe geworden, wir müssen ihn wieder festigen.“ Wie kann das erreicht werden? Bevor auf diese Frage eine positive Antwort zu geben versucht wird, werden drei Irrwege aufgezeigt, die keine Lösung des Problems in Aussicht stellen.
Erstens sollte man nicht darauf setzen, daß Gorbatschow scheitern könnte und dann die „bequemen“ Zeiten zurückkehren, in denen der Verweis auf die östliche Bedrohung Akzeptanzprobleme gar nicht erst aufkommen ließ oder sie zu lösen half. „Perestroika“ und „Glasnost“ sind der Reflex auf eine schwerwiegende Systemkrise, an deren Überwindung der Westen selber ein elementares friedenspolitisches Interesse haben muß. Er kann sich schon deshalb ein Scheitern der Gorbatschowschen Reformpolitik nicht wünschen, sondern sollte sie durch Kooperationsbereitschaft unterstützen.
Ein zweiter Fehler wäre der Versuch, die Verbindung zwischen militärischer Bedrohung und Verteidigungsanstrengungen aufzulockern und die eigenen Streitkräfte als eines der Insignien staatlicher Souveränität darzustellen Dieser Ansatz würde der Bundeswehr keine zusätzliche Legitimation verschaffen, könnte aber vorhandene „verbrauchen“. Denn Streitkräfte haben nur solange eine Existenzberechtigung, wie es eine äußere Bedrohung gibt.
Ein dritter Irrweg bestünde darin, zu sehr auf öffentliche Aufklärung und politische Führung zu setzen. Gewiß ist, wie es der damalige Verteidigungsminister Wörner ausdrücktc, „das Akzeptanzproblem immer auch ein Problem der politischen Führung“ Aber mit Standhaftigkeit, Information und politischer „Öffentlichkeitsarbeit“ allein ist es angesichts der strukturell bedingten Akzeptanz-schwierigkeiten nicht getan. Von der immer wieder geforderten Einsetzung eines „Rates der Weisen“ wäre daher unter diesem Gesichtspunkt nur dann eine Verbesserung zu erwarten, wenn er auf die strukturellen Wurzeln des Problems einginge und zu entsprechenden Vorschlägen käme.
In diesem Sinne wird nunmehr eine Antwort aufdie Frage versucht, wie die NATO auf die diagnostizierten Akzeptanzprobleme reagieren sollte. Auf deutsche Initiative hin entwickelt die NATO zur Zeit ein sicherheitspolitisches Gesamtkonzept. Dabei scheint die Frage im Vordergrund zu stehen, wie die Abschreckungsfähigkeit der geltenden Strategie der Flexiblen Reaktion für die Zukunft erhalten werden kann. Dies ist notwendig, wäre aber, wenn es dabei bliebe, unzureichend.
In demokratischen Gesellschaften kann eine Militärstrategie dauerhaft nur dann Wirkung entfalten, wenn sie nicht nur nach außen, sondern auch nach innen glaubwürdig ist. Mit anderen Worten: Die Strategie muß die Gegenseite abschrecken, ohne die eigene Bevölkerung zu verschrecken. In der Bundesrepublik ist es schwieriger geworden, beiden Anforderungen gerecht zu werden. Die NATO sollte deshalb erstens bei der Ausarbeitung des Gesamtkonzepts dem Aspekt der Stärkung der inneren Glaubwürdigkeit ihrer Strategie mindestens die gleiche Bedeutung beimessen wie der Sicherung ihrer Glaubwürdigkeit gegenüber der Sowjetunion. Inhaltlich sollte dabei besonderer Wert auf die Verminderung der Abhängigkeit der Strategie von Nuklearwaffen gelegt werden. Dies könnte durch eine einseitige Verringerung der Waffen kürzester Reichweite (nukleare Artillerie) demonstriert werden. Wünschenswert wäre unter diesem Gesichtspunkt ferner die Erklärung, daß die Strategie der Flexiblen Reaktion grundsätzlich offen ist für den Abzug aller Nuklearwaffen, falls bestimmte Bedingungen erfüllt werden (Abzug aller sowjetischen Nuklearwaffen aus Osteuropa und Herstellung konventioneller Stabilität).
Eine zweite Empfehlung betrifft den politischen Stellenwert und die Anlage der Rüstungskontrollpolitik der Allianz. Da der sicherheitspolitische Grundkonsens in der Bundesrepublik brüchig geworden ist, kann es sich die NATO nicht erlauben, als Bremser in der Rüstungskontrolle zu erscheinen. Zuweilen wird bedauert, die geschickte Politik Gorbatschows mache es der NATO in dieser Hinsicht nicht leicht. Anstelle solchen Lamentierens sollte man in der sowjetischen Politik des „Neuen Denkens“ besser die Chance sehen, mit der UdSSR ein umfassendes und stabiles Rüstungskontrollregime zu errichten. Ob dies gelingt, weiß heute niemand; entscheidend ist jedoch, daß die Öffentlichkeit einen Mißerfolg nicht der NATO anlastet. Um nicht mißverstanden zu werden: Weder die äußere Bedrohung, noch die „öffentliche Meinung“, die ohnehin schwierig zu bestimmen und häufig inkonsistent ist, kann die alleinige Richtschnur der NATO-Sicherheitspolitik sein. Heute geht esjedoch darum, zu erkennen, daß die NATO-Strategie bei der Bevölkerung der Bundesrepublik größere Glaubwürdigkeitsdefizite aufweist als in Moskau. Dementsprechend sollte die NATO ihre Rüstungskontrollpolitik verstärkt auf das Ziel ausrichten, daß sie von der Öffentlichkeit als fair und erfolgsorientiert wahrgenommen wird.
Im Hinblick auf Nuklearwaffen erfordert dies, keine Tabuzäune um bestimmte Waffenkategorien zu legen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen nuklearer und konventioneller Abrüstung, auf dem die NATO zu Recht beharrt; was es aber nicht geben sollte, ist eine Ablehnung von Verhandlungen über Nuklearwaffen kürzerer Reichweite, bis Fortschritte im konventionellen Bereich erzielt worden sind. Vielmehr sollte es gelingen, diesen Zusammenhang in einem Mandat für Verhandlungen über nukleare Stabilität festzuschreiben.
Im konventionellen Bereich sollte dem Warschauer Pakt keine einseitige Bringschuld aufgebürdet werden. Wie immer man das konventionelle Kräfteverhältniseinschätzt — erfolgsorientiertes Verhandeln erfordert Rücksichtnahme auf die Sicht und Zwänge der anderen Seite. Konkret heißt dies, daß die NATO nicht nur den Abbau von Überlegenheiten auf östlicher Seite fordert, sondern auch selber zu einschneidenden Reduzierungen ihres Potentials bei land-und luftgestützten Systemen bereit ist.
Drittens geht es um die deklaratorische Behandlung von Nuklearwaffen. Besonders im Verlauf der „Nachrüstungs" -Kontroverse hat es in der Bundesrepublik Versuche gegeben, Nuklearwaffen als das Grundübel dieser Welt darzustellen und ihnen das Stigma des Amoralischen aufzudrücken. Auch von Seiten der Reagan-Administration wurden zur Rechtfertigung von SDI ähnliche Töne angeschlagen. Ein derartiger rhetorischer Umgang mit Nuklearwaffen ist allein schon deshalb unklug, weil er die Probleme nicht löst, die ihre Existenz und das Wissen um ihre Herstellbarkeit mit sich bringen. Umgekehrt sollte man aber auch nicht in den Fehler verfallen, Nuklearwaffen zu dem Garanten des Friedens hochzustilisieren. Eine nuklearwaffen-freie Welt ist, wie u. a. die Popularität von Präsident Reagans SDI-„Vision“ in den USA zeigt, für die Bürger kein Schreckens-, sondern ein Wunschbild. Aufgabe verantwortlicher Politik ist es.dem Trugbild entgegenzuwirken, die Menschheit könne sich in den „vornuklearen“ Zustand zurückverset-zen. Deutlich muß dabei aber bleiben, daß die Abschaffung aller Nuklearwaffen nicht nur ein prinzipiell erstrebenswertes, sondern auch ein tatsächlich angestrebtes Ziel ist.
Das gewandelte Amerika-Bild in der Bundesrepublik bildet den vierten Ansatzpunkt. Gegenseitige politische Solidarität ist das Fundament einer nach außen wie nach innen glaubwürdigen Sicherheitspolitik. Mit Blick auf die Akzeptanzproblematik in der Bundesrepublik kommt es hier vor allem auf zweierlei an. Zum einen sollte die NATO einen rüstungskontrollpolitischen Kurs einschlagen, wie er bereits skizziert worden ist. Zum anderen darf die NATO-interne Debatte über die gerechte Verteilung der Verteidigungslasten nicht verengt auf materielle Aspekte geführt werden. Die Bundesrepublik trägt im Bündnis wegen ihrer einzigartigen exponierten Lage besonders hohe Lasten und Risiken, die heute von vielen Bürgern aus den genannten Gründen als drückend empfunden werden. Dies muß von ihren NATO-Partnern stärker berücksichtigt werden. Dazu ein Beispiel.
In letzter Zeit hat bei uns eine Souveränitäts-Debatte eingesetzt, provoziert u. a. durch die Ram-stein-Katastrophe, das Remscheid-Unglück, Tiefflüge und die Existenz einer amerikanischen Anti-Atomterror-Truppe („Nuclear Emergency Search Troop“). In dieser Debatte hat das bisherige Verhalten der politisch Verantwortlichen die Entstehung des Eindrucks begünstigt, die Bundesrepublik sei kein gleichberechtigtes NATO-Mitglied. Zweifellos ist die Frage der Souveränität der Bundesrepublik kompliziert und heikel. Gerade wegen der Brisanz der Angelegenheit hätte man jedoch mit mehr politischem Gespür reagieren sollen. So wäre im Anschluß an die Ramstein-Tragödie eine umgehende amerikanische Zusage angebracht gewesen, daß die USA sich für ihren Bereich der Erklärung von Verteidigungsminister Scholz anschließen würden, Kunstflüge bei Veranstaltungen der deutschen Luftwaffe nicht mehr zuzulassen. Statt dessen mußte Scholz ankündigen, bei den Alliierten auf eine entsprechende Regelung hinwirken zu wollen
Die fünfte Überlegung schließt sich unmittelbar an. Sie betrifft einen Sachverhalt, der neuerdings mit dem Begriff „Zivilisationsverträglichkeit" belegt wird. Dabei geht es um die Auswirkungen der außergewöhnlich hohen Konzentration militärischer Einrichtungen und Aktivitäten auf die deutsche Bevölkerung. Gegen die jährlich 67 000 Tiefflugstunden über dem Gebiet der Bundesrepublik regt sich erheblicher Widerstand auch unter Bürgern, die der NATO wohlgesonnen sind Ähnliche Vorkommnisse gibt es auf lokaler Ebene, hervorgerufen durch die Belastung der Bevölkerung durch Manöver
Die NATO hat auf diese Entwicklung reagiert. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums sind die Tiefflüge seit 1980 um mehr als 25 Prozent vermindert worden Weitere Maßnahmen mit diesem Ziel sollen folgen (verstärkte Verlagerung von Flugbetrieb ins Ausland und über See, Einsatz von Simulatoren, gleichmäßigere Verteilung von Flug-bewegungen im bundesdeutschen Luftraum) ®). Ferner sollen ab 1990 Großmanöver der Bundeswehr mit mehr als 2 000 teilnehmenden Soldaten um mehr als die Hälfte reduziert werden Insbesondere im Hinblick auf die Tiefflug-Belastung kann und sollte jedoch noch mehr getan werden.
IV. Schlußbemerkung
Es gibt Stimmen, die beklagen, daß der NATO heute ihr eigener Erfolg zu schaffen mache: 40 Jahre nach ihrer Gründung hätten sich die Bundesbürger so sehr an den Frieden gewöhnt, daß sie die NATO als Garant dieses Friedens nicht mehr ausreichend würdigten. Eine solche Auffassung unterliegt einem Mißverständnis. Von der großen Mehrheit der Bevölkerung wird die Notwendigkeit militärischer Abschreckungsfähigkeit im Rahmen der NATO nach wie vor bejaht. Fundamentalopposition gegen diese Prinzipien gibt es nur unter Anhängern der GRÜNEN. Auf wachsendes Unbehagen trifft jedoch die gegenwärtige militärstrategische Umsetzung dieser Prinzipien. Das gilt insbesondere für die Funktion. Größe und Struktur des westlichen Nuklearwaffenarsenals, aber auch für die Auswirkungen der Präsenz konventioneller Streitkräfte auf die deutsche Zivilbevölkerung. Die NATO hat darauf spät und bisher unzureichend reagiert.
Dieses Versäumnis macht ihr heute im Zeichen der neuen sowjetischen Politik besonders zu schaffen. Das ist um so erstaunlicher, als „Perestroika“, „Glasnost“ und „Neues Denken“ nicht das Werk eines einzelnen Mannes, nämlich des Generalsekretärs Gorbatschow sind, sondern eine tiefgehende Systemkrise in der UdSSR widerspiegeln und beheben sollen. Der Westen hätte also allen Grund, die Systemauseinandersetzung offensiv und selbstbewußt mit dem Ziel zu führen, sie militärisch zu „entschlacken“ und damit auf diejenigen Felder (Demokratie. wirtschaftlich-technologische Entwicklung) zu konzentrieren, auf denen er systembedingte Vorteile hat. Dies erfordert ein „Neues Denken“ auch auf westlicher Seite, weil die bisherige Integrationsklammer der östlichen militärischen Bedrohung wegfallen oder zumindest lockerer werden dürfte. In dem Bestehen dieser Herausforderung könnte der Schlüssel zur Überwindung der Akzeptanzprobleme der NATO-Strategie liegen.