I. Einführung
Wann sich die „fünfziger Jahre“ in der öffentlichen Erinnerung zu einer charakteristischen Epoche verdichteten, ist unbekannt. Erste Rückblicke zu Beginn der siebziger Jahre, die nicht mehr nur zeitgenössische Kommentare zum „Ende der Nachkriegszeit“ oder der „Ära Adenauer“ sein sollten, waren noch stark aufdie nationalpolitischen Erfahrungen gerichtet. „Deutschland war teilbar“, so faßte Thilo Koch seine mehrteilige Fernsehserie über „Die fünfziger Jahre in Deutschland“ Anfang 1972 zusammen Doch bald danach muß Nostalgie aufgekommen sein. „Heimweh nach den falschen Fünfzigern“ meldete jedenfalls „Der Spiegel“ schon 1978 in einer Titelgeschichte mit jenem damals weithin üblichen politisch-kritischen Unterton, der seit Ende der sechziger Jahre in kaum einem Bild vom „CDU-Staat“ Bundesrepublik fehlte. Hier waren schon alle die Phänomene der fünfziger Jahre verzeichnet, die seither eine anhaltende Faszination auf sich ziehen: die Moden und die Architektur, die Kinofilme und ihre Stars, die (Unter-Die vorliegende Darstellung entstand im Rahmen eines von der Stiftung Volkswagenwerk geförderten Forschungsprojekts am Historischen Seminar der Universität Hamburg mit dem Titel Modernität“ und , Modernisierung“ in der Bundesrepublik Deutschland der 1950er Jahre“. Außer den Verfassern sind an diesem Projekt Thomas Südbeck (für den Schwerpunkt Motorisierung/Verkehrsentwicklung/Verkehrspolitik) und Michael Wildt (für den Schwerpunkt Ernährung/Konsum) beteiligt. In den Text eingeflossen sind Passagen der unveröffentlichten Projektskizze (1986) sowie einige interneArbeitspapiere der Bearbeiter. Die Platzbeschränkung für diesen Beitrag machte es nötig, die Anmerkungen auf Belege und einige Hinweise auf die neuere Forschungsliteratur zu begrenzen. haltungs-) Musik, die Literatur und nicht zuletzt die Philosophien
Erinnerungen und Sehnsüchte, intellektuelle Interessen und naive Entdeckerfreuden sind bei dieser Faszination ebenso schwer zu trennen wie die Kalküle derer, die besonders die Kultur und Lebensweise der fünfziger Jahre mehr oder minder markt-gängig aufbereiten. Fast verflogen dagegen scheinen die Motive, mit Hinweisen auf die Aufbau-Leistungen der heutigen Großeltem-Generation Protesthaltungen von Jugendlichen entgegenzuwirken oder, später, „Null-Bock“ -und „No-future“ -Attitüden mit Berichten über das Vorwärts-und Aufwärtsstreben von damals zu begegnen. Auch die Suche nach historischen Vorbildern in der neuen Frauenbewegung blieb im Blick auf die fünfziger Jahre erfolglos Vorbei scheint überdies die Zeit neckischer politisch-historischer Animation, mit der über die „Pubertät der (Bundes-) Republik“ aufgeklärt wurde Kulturgeschichte dagegen hat Konjunktur, ästhetische und anthropologische Betrachtungsweisen haben die politisch-soziologischen zum Teil verdrängt. Erst über den Umweg stilgeschichtlicher Erörterungen von „Moderne" und „Postmoderne“ gelangt allmählich wieder die gesellschaftliche und wirtschaftliche Dimension in den Blick, z. B. in der Akzentuierung der fünfziger Jahre als „Epoche der Moderne“. Unverhofft sind — auf anderen Wegen — auch Geschichtsschreiber inzwischen bei einer ähnlichen Bewertung dieser Zeit angelangt. In den siebziger Jahren hatte noch die These von der „westdeutschen Restauration“ weite Verbreitung gefunden die schon einmal, um 1950. vor allem linken Intellektuellen und Politikern (von Walter Dirks bis Kurt Schumacher) dazu gedient hatte. Verhältnisse. die sie nach dem Zusammenbruch 1945 anderserwartet hatten, auf den Begriff zu bringen Nicht „Restauration“, sondern „Modernisierung“ sei die geschichtliche Signatur der fünfziger Jahre, gab daraufhin der Adenauer-Biograph und Bundesrepublik-Historiker Hans-Peter Schwarz zu bedenken. als er 1981 die fünfziger Jahre als „Epoche aufregender Modernisierung“ charakterisierte Freilich wurde hier nur vage deutlich, was mit „Modernisierung“ gemeint ist — ähnlich vage, wie der Begriff der „Modernisierung“, mit dem Ralf Dahrendorf und David Schoenbaum das Aufkommen der nationalsozialistischen Herrschaft und den Zerfall der Weimarer Republik erklärt hatten „Modernisierung unter konservativen Auspizien“ — mit dieser Wendung mag die Entwicklung in der Ära Adenauer am Ende treffend zusammengefaßt sein. Zuvor ist jedoch genauer zu erkunden. worin denn diese „Modernisierung“ bestand. „Modernisierungstheorien“, die es seit den sechziger Jahren als Handlungstheorien gibt, bieten dabei kaum Anhaltspunkte, beziehen sie sich doch ebenso wie die geschichtswissenschaftlichen „Modemisierungs“ -Überlegungen fast immer auf den Übergang von agrarischen zu industriellen Gesellschaften. Neuerdings sind jetzt auch mit guten Gründen die Verhältnisse während der Weimarer Republik mit ihren sozial-und wohlfahrtsstaatlichen Regelungen als „modern“ im Sinne der zeitgenössischen Soziologie (besonders Max Webers) identifiziert worden Die Jahre nach 1933 wurden dabei allerdings vornehmlich als krankhaftes („pathologisches“) Fortschreiten der „Moderne“ gedeutet — eine Sicht, die der Eigendynamik einzelner gesellschaftlicher Entwicklungsstränge nicht gerecht zu werden vermag.
Wenn auch in neuesten historisch-soziologischen Gegenwartsdiagnosen, z. B. unter dem Stichwort „Strukturbruch der Moderne“ mit einleuchtenden Hinweisen die Zeit seit dem Ende des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der sechziger Jahre als Einheit gefaßt wird spricht einiges für die Tragfähigkeit der Auffassung, die Zeit des „Dritten Reiches“ nicht aus der Gesellschaftsgeschichte der „Moderne“ auszuklammern. Politische Zäsuren, besonders die von 1933. sind überdies schon des öfteren in geschichtswissenschaftlichen Erörterungen z. B. über die „Zwischenkriegszeit“ relativiert worden, und neuere lebensgeschichtliche Forschungen über die „Wiederaufbau“ -Generationen nach 1945 haben die Jahrzehnte seit etwa 1930 als Erfahrungseinheit ins Bewußtsein gerückt und damit diese Sicht gerade für das gesellschaftsgeschichtliche Begreifen der Ära Adenauer als bedenkenswert bestätigt
Nichtsdestoweniger sind für eine die politischen Einschnitte überschreitende deutsche Gesellschaftsgeschichte noch immer viele Probleme klärungsbedürftig. Es hat Brüche gegeben, die nicht vorschnell übertüncht werden sollten. Der Zweite Weltkrieg, der Zusammenbruch und die Teilung des Deutschen Reiches haben zu manchem Schnitt in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verflechtungen geführt. Zu erinnern ist nicht nur an das unspektakuläre und noch kaum aufgearbeitete Verschwinden des Einflusses der ostelbischen Junker. die die politische Kultur bis in die Weimarer Republik hinein anachronistisch belastet hatten. Hinzuweisen ist im Blick auf Brüche auch auf scheinbar banalere, gleichwohl für die geschichtswissenschaftliche Analyse zentrale Dinge, wie etwa die Wirtschaftsstatistik. Die westdeutsche Volkswirtschaft ist heute anders dimensioniert und nach innen und außen verflochten als der entsprechende regionale Teil der damaligen reichsdeutschen Volkswirtschaft, aus dem sie erwachsen ist; Zeitreihen über Produktion und Umsatz, die einen Längsschnittvergleich über Jahrzehnte ermöglichen, antworten. streng genommen, nur auf Fragen der Betriebswirtschaftslehre. nicht aber auf solche der (Volks-) Wirtschaftsgeschichte Wie aber ist dann die staatliche Innovationsförderung, beispielsweise die in den fünfziger Jahren beginnende Vorbereitung auf die friedliche Nutzung der Kernenergie, die als eines der wenigen Felder der Wirtschaftspolitik in ihrem Entwicklungsprozeß beschrieben worden ist historisch angemessen zu würdigen, wenn sie nicht auf langfristige Entwicklungstrends bezogen werden kann?
Doch ungeachtet dieser weit vorgreifenden Probleme sind noch viele weitere Erkundungen angesagt, bevor die historiographische Modellierung der „Modernisierung“ der „modernen“ westdeutschen Gesellschaft der fünfziger Jahre beginnen kann. Für die grobe Vorstrukturierung der Befunde dieser Erkundungen erscheinen folgende Fragenbündel zweckmäßig:
— Zu fragen ist erstens nach dem Verhältnis von „Rekonstruktion“ und „Ausbau“ der westdeutschen Gesellschaft. In historischen Überblicken wird das Ende der „Rekonstruktion“ bzw.des „Wiederaufbaus“ und der Beginn des „Ausbaus“, der schon zeitgenössisch als „Modernisierung“ charakterisiert wurde grob auf das Jahr 1955 datiert. Dieses makroökonomisch sinnvolle Zwei-Phasen-Modell läßt jedoch die Frage offen, ab wann dieser „Ausbau; ins Blickfeld der „Planer“ der politisch-administrativen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung getreten ist. Darüber hinaus bliebe das Verhältnis von „Rekonstruktion“ und „Modernisierung“ im „Wiederaufbau" -Prozeß selbst, also in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, zu klären
— Da der Begriff „Wiederaufbau“ schon begrifflich auf Standards von vor 1945 hinweist, ist zweitens zu fragen nach dem Gewicht von Kontinuitätsdeterminanten Trotz aller Mythen war der technische und technologische Stand industrieller Entwicklung in Deutschland vor dem Krieg (und in einigen Bereichen auch während des Krieges) zweifelsfrei hoch; auch im Lebensstandard und in der sozialen Sicherung lag die deutsche Gesellschaft trotz der Einbrüche im Zuge der Weltwirtschaftskrise und des „Dritten Reiches“ im Spitzcnfeld der Industrie-gesellschaften. Die Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges und die Veränderungen in den Jahren danach konnten in dieser Perspektive als Unterbrechung eines gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesses erscheinen, an den es wieder anzuknüpfen galt. Daß im übrigen auch die Zeit der NS-Herrschaft in der erfahrbaren Alltäglichkeit schon Elemente später noch massiver erlebter „Modernität“ aufwies — bis hin zur Waschmittel-und Coca-Cola-Reklame —. ist mittlerweile bekannt — Die ersten Nachkriegsjahre mit dem Besatzungsregime und den Versuchen zunächst zur „Umerziehung“, dann zur „Umorientierung“ zur Demokratie sowie die bald folgende Öffnung der westdeutschen Volkswirtschaft zum Weltmarkt haben die bundesrepublikanische Gesellschaft intensiv mit Konzepten und Mustern politischer und Alltagskulturen anderer westlicher Industriegesellschaften, vor allem denen der USA. bekannt gemacht — ein Vorgang, der schon zeitgenössisch meistens als „Amerikanisierung“ bezeichnet wurde. Zu fragen ist deshalb drittens nach dem tatsächlichen Gewicht dieser Anstöße von außen für die bundesrepublikanische Entwicklung in den fünfziger Jahren. Zwar sind einzelne Aspekte der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen schon untersucht worden doch auch hier stellt sich generell das Problem der Wiederanknüpfung von zerrissenen Verbindungen: Bekanntlich gab es bereits in den zwanziger Jahren eine erste. „Amerikanisierungs“ -Welle Die hier als prägend angedeutete Zweiphasigkeit der Entwicklung in den fünfziger Jahren legt nahe, auch die „Modernisierung“ zeitlich zu differenzieren. Zwar ist die Gegenwartscharakterisierung „modern“ für das gesamte Jahrzehnt geradezu inflationär überliefert, es scheint jedoch, daß dieses Prädikat oft nicht mehr als „neu“ und „modisch“, allenfalls „zeitgemäß“ bedeutete, also ein Verlegenheitsurteil war, das mehreren Zwecken genügen konnte. Betont sei hier vor allem die Tendenz, die noch mangelbedingte Sparsamkeit bei der Ausstattung der alltäglichen Lebenswelt als Ausdruck eines neuen Stils, einer neuen Ästhetik, erscheinen zu lassen in einer Gesellschaft, in der Wohlstand noch weithin an der bürgerlichen Traditionsbehäbigkeit gemessen wurde. Besonders für durch Flucht, Vertreibung oder Ausbombung im Krieg besitz-und oft auch statuslos gewordenen Gruppen der Gesellschaft galt es ja. Forme(l) n zu finden, die ihnen die Integration in eine neue Umgebung erleichterten. Am Beispiel der Siedlungen des Sozialen Wohnungsbaus, deren Wachsen seit Beginn der fünfziger Jahre vielerorts beobachtet werden konnte. ließe sich dieser Sachverhalt breiter entfalten: Mit Hinweisen auf die „moderne Zeit“ wurde versucht, die überkommene „Gediegenheit“, die wohlhabenderen Schichten Vorbehalten blieb, zu ersetzen, obwohl gerade in diesen Schichten die „Moderne“ ihre „Avantgarde“ gehabt hatte. Freilich war sie im „Dritten Reich“ als Stil in vielen Bereichen verpönt gewesen und blieb es auch in der DDR noch einige Jahre — ein Anlaß für ihre Favorisierung im Westen auch aus politischen Gründen.
II. Muster der Wirtschaftsentwicklung
Die Geschichte der „Modernisierung“ der westdeutschen Gesellschaft in den fünfziger Jahren setzt wohl zweckmäßig bei der Frage nach speziellen Mustern der Wirtschaftsentwicklung an. Zu den bereits Zeitgenossen und bald auch die zurückblikkenden Betrachter faszinierenden Phänomenen der fünfziger Jahre gehört das Wachstum der westdeutschen Wirtschaft Zahlen, in denen die „Einmaligkeit“ dieses „Wirtschaftswunders“ meistens gemessen wurde — z. B. die Verdreifachung des Bruttosozialprodukts zwischen 1950 und 1960 —, können nur wenig von der damals erfahrbaren Dynamik vermitteln, mit der sich die Bundesrepublik an die Spitze der westeuropäischen Volkswirtschaften setzte und im Wachstum weltweit nur noch von Japan übertroffen wurde. Eher kann der Hinweis auf die zu Beginn des Jahrzehnts noch verbreitete Sorge über anhaltende Arbeitslosigkeit und der an seinem Ende herrschende Mangel an Arbeitskräften diese Dynamik nachvollziehbar werden las-sen: Die Zahl der Erwerbstätigen erhöhte sich zwischen 1950 und 1960 um ein Viertel von 20 auf 25 Millionen. Auch die meisten Vertriebenen und Flüchtlinge, deren wirtschaftliche Eingliederung anfangs noch als Belastung gesehen wurde, hatten Beschäftigung gefunden. Zuwanderer aus der DDR waren bald willkommen, und die dortige Staatsführung wußte sich gegen den Abwerbeeffekt, den die westdeutsche Entwicklung im eigenen Land erzeugte, am Ende nur mit dem Bau der Mauer in Berlin (1961) zu helfen. Der nun versiegende Zustrom großenteils qualifizierter Arbeitskräfte konnte nur zum Teil durch die bereits angelaufene Anwerbung von Gastarbeitern aus südlichen Ländern ersetzt werden
Die im internationalen Vergleich hohe Qualifikation des deutschen Arbeitskräftepotentials ist erst spät als eine wichtige Voraussetzung des west-(und ost-) deutschen „Wirtschaftswunders“ betont worden. Zunächst wurde die Dynamik vor allem als eine mehr oder minder zwangsläufige Folge der Marktwirtschaft gesehen, die 1948 mit der Währungsreform wirksam wurde. Später wurde der trotz Kriegszerstörungen und Demontagen im Vergleich zur Vorkriegszeit noch um zehn Prozent ge-wachsene Kapitalstock der westdeutschen Industrie als weitere wesentliche Basis entdeckt und es entstand Streit darüber, ob die amerikanische Start-kredithilfe im Zuge des Marshall-Plans, die gleichzeitig mit der Währungsreform erfolgte, für die westdeutsche Wirtschaftsentwicklung von maßgeblicher Bedeutung gewesen sei Entscheidend scheint, daß der Marshall-Plan, von seiner psychologisch ermutigenden Wirkung auf die Wirtschaftstätigkeit abgesehen, die Grundlagen für die starke außenwirtschaftliche Verflechtung Westdeutschlands schuf. Mit der Währungsreform und den ordnungspolitischen Grundentscheidungen von 1948. die zugleich auch innen-und außenpolitische Richtungsentscheidungen im Kalten Krieg waren, waren die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, daß der Export westdeutscher Erzeugnisse in den fünfziger Jahren zu einem maßgeblichen Schrittmacher der Wirtschaftsentwicklung wurde. Die noch nicht wieder voll ausgelasteten Kapazitäten besonders im damals noch zentralen Bereich der westdeutschen Stahl-und Eisenindustrie bildeten während des Korea-Krieges den Ansatzpunkt für die Aufhebung noch bestehender kriegsfolgebedingter Produktionsbeschränkungen vor allem für Güter, die jetzt weltweit nachgefragt wurden. Schon 1952 war die Import-Export-Bilanz der Bundesrepublik aktiv; 1960 war die Exportquote der westdeutschen Volkswirtschaft mit über 17 Prozent des Nettosozialprodukts ungefähr gleich hoch wie die des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg -Sie wuchs in den nächsten Jahren weiter bis auf 25 Prozent (1970). Charakteristisch scheint die Struktur der Ausfuhr: Wertmäßig hatten industrielle Fertigwaren 1960 einen Anteil von 82. 4 Prozent (1950: 64. 8 Prozent) die Bundesrepublik war noch ausgeprägter ein Land der verarbeitenden Industrie geworden, als es das Deutsche Reich gewesen war.
In Zahlen läßt sich dieses „Industriewunder“ vielfältig spiegeln: Im Durchschnitt wuchs der industriell-gewerbliche („sekundäre") Sektor der Wirtschaft zwischen 1950 und 1960 um jährlich 9. 5 Prozent. während für den land-und forstwirtschaftlichen („primären") Sektor nur eine Wachstumsrate von jahresdurchschnittlich 3. 9 Prozent aufzuweisen war und der („teritäre“) Dienstleistungssektor um durchschnittlich 6. 35 Prozent zunahm Prozent zunahm 34). Das Ergebnis war. daß 1960 die Industrie mit weit über 50 Prozent zum Bruttosozialprodukt beitrug und die Bundesrepublik auch damit an der Spitze der westeuropäischen Industriegesellschaften. . Anschaulicher wird diese Entwicklung wiederum an der Verteilung der Arbeitskräfte: Im primären Sektor ging die Zahl der Beschäftigten zwischen 1950 und 1960 um 1. 4 Millionen zurück (jährlich um durchschnittlich 2. 7 Prozent), während sie im sekundären Sektor um 3. 4 Millionen zunahm (jährlich um durchschnittlich 3. 4 Prozent) Eine nahezu gleich hohe Steigerung hatte auch der tertiäre Sektor aufzuweisen. Niemals zuvor in der deutschen Wirtschaftsgeschichte hatte es eine Periode vergleichbar rapiden Wandels in der Beschäftigten-struktur gegeben. Ein Sechstel des Produktivitätsfortschritts der westdeutschen Volkswirtschaft während dieser Jahre insgesamt, so ist errechnet worden. geht auf diese Verlagerung der Erwerbstätigen aus weniger produktiven Bereichen — wie dem der Landwirtschaft — in solche mit ohnehin schon hoher Produktivität zurück
An der Landwirtschaft, in der trotz Arbeitskräfte-schwund die Produktivität wuchs, läßt sich auch am augenfälligsten ein anderes Mittel zur Steigerung des volkswirtschaftlichen Wachstums erkennen: die Maschinisierung und Motorisierung. Im Gegensatz zur Industrie war die Landwirtschaft im „Dritten Reich“ trotz aller Propaganda nicht nachdrücklich gefördert worden, so daß sie sich 1950 noch aufdem im internationalen Vergleich unterdurchschnittlichen Stand der Motorisierung von 1930 befand. Friedrich Wilhelm Henning hat wohl nicht zu Unrecht den „Beginn der modernen Welt für den agrarischen Bereich auf die fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts“ datiert. Auch in der Industrie nahmen die Arbeitsplätze mit hoher Qualifikationsanforderung an die Beschäftigten zu; der Anteil schwerer körperlicher Arbeit sank, zugleich kamen erste Diskussionen über die „sozialen Folgen der Automatisierung“ auf
Innerhalb der Industrie verschoben sich während der fünfziger Jahre die Anteile der Branchen. Vor allem die Investitionsgüterindustrien gewannen an Gewicht. Als „Wachstumsindustrien“ galten vor allem die Mineralölverarbeitung, die Chemische Industrie und die Kunststoffproduktion und -Verarbeitung, der Fahrzeugbau und (noch immer) die Elektroindustrie Wie weit eher die Inlandsoder die Auslandsnachfrage das Wachstum der einzelnen Branchen stimulierte, ist noch nicht erforscht. Daß der Inlandsnachfrage keine geringe Bedeutung zukam, lassen die folgenden Abschnitte über die „mobile“, die „Konsum“ -und die „Freizeit“ -Gesellschaft erkennen.
III. Die „mobile“ Gesellschaft
Wenn von „Mobilität“ oder „mobilisierter Gesellschaft“ die Rede ist, kann sowohl die räumliche Mobilität, d. h. Wanderungen und Umzüge, als auch die soziale Mobilität, d. h. das Auf-und Absteigen in den gesellschaftlichen Schichten gemeint sein. In den fünfziger Jahren waren beide Prozesse oft untrennbar miteinander verflochten. Vertriebene. Flüchtlinge und Kriegsheimkehrer begannen zunächst das Gesellschaftsbild zeitgenössischer Beobachter zu prägen. Für Elisabeth Pfeil war der Flüchtling um 1948 die idealtypische „Gestalt einer Zeitenwende“ Und Helmut Schelsky las nicht zuletzt am sozialen Abstieg vor allem zahlreicher Vertriebener jenen Trend zur „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ ab, der lange Jahre als gängiges Deutungsmuster gesellschaftlicher Entwicklung galt Die räumliche Mobilität ging allerdings schnell zurück. Bereits Mitte der fünfziger Jahre sprachen Statistiker vom „settle down“ besonders der Flüchtlinge und Vertriebenen in der „neuen Heimat“. Die letzten größeren Bevölkerungsverschiebungen durch gezielte Umsiedlungsangebote, die mit der festen Aussicht auf Arbeitsplätze und Neubau-Wohnungen verbunden waren, fanden 1953 bis 1956 statt. Seitdem setzte sich der große, seit dem Ersten Weltkrieg feststellbare Trend rückläufiger Wanderung fort, der offensichtlich nur durch den Krieg unterbrochen worden war. 1950 kamen auf I 000 Einwohner 61, 7 Umzüge, 60, 7 im Jahre 1960. Zu einem Drittel handelte es sich dabei um Umzüge zwischen den Bundesländern, zu zwei Dritteln um Wanderungen innerhalb der Landesgrenzen Eine deutliche Zunahme dagegen war für eine Sonderform der räumlichen Mobilität, das „Berufspendlertum“, zu verzeichnen. Für über 30 Prozent der abhängig Beschäftigten lag 1961 ihr Arbeitsplatz nicht am Wohnort. Seit 1950 hatte sich die Berufspendlerzahl mit über sechs Millionen fast verdoppelt Und dies galt gleichermaßen für Stadtregionen wie Hamburg und Flächenstaaten wie Bayern
Den Hintergrund für diese gegenüber der Vorkriegszeit sprunghafte Steigerung wird man zeitlich differenziert betrachten müssen. Zu Beginn der fünfziger Jahre mag noch der Wohnungsmangel an Orten mit einem großen Arbeitsplatzangebot die Hauptursache für das „Pendeln“ gewesen sein; im Laufe der Jahre verschoben sich aber die Motive im Zuge sich schnell ändernder Umstände. Im intensiv staatlich geförderten Wohnungsbau, besonders in Klein-und Mittelstädten mit 5 000 bis 50 000 Einwohnern, sowie in einer weit in die ländlichen Gebiete sich hineinfressenden Industrie-und Gewerbeansiedlung, die die Zeitgenossen „in helles Erstaunen versetzte“ zeigte sich als eine Haupt-folge des Industriewachstums die zunehmende Urbanisierung der gesamten Gesellschaft die die Form ihrer Mobilität generell veränderte. Begleit-erscheinung und Teil dieser Urbanisierung, als deren Repräsentanten die Pendler gelten können, war die Zunahme des Wohnungseigentums gerade bei dieser Bevölkerungsgruppe. Die Hälfte aller Pendlerhaushalte verfugte 1960 bereits über eigene „vier Wände“ — eine Folge auch der seit 1956 mit dem Zweiten Wohnungsbaugesetz eingeleiteten „Familienheim“ -Förderung Zu realisieren war der gerade nach den Jahren der Wohnungsnot besonders starke Wunsch nach dem „eigenen Heim“ oft eher in ländlichen und stadtnahen Gebieten als in städtischen Kernzonen.
Als Folge dieser Entwicklung zum „settle down“ in der Region entstand eine beträchtliche Intensivierung des Verkehrs, eine erhebliche Zunahme des PKW-Bestandes, an die zumeist auch gedacht war, wenn Ende der fünfziger Jahre von „Mobilisierung“ oder „Mobilität“ die Rede war. Vor allem auch in den sich ändernden Relationen zwischen öffentlichem und privatem Personenverkehr läßt sich der Formwandel der Mobilität veranschaulichen: Zwischen 1950 und 1961 stieg die Zahl der im Öffentlichen Verkehr beförderten Personen um 32 Prozent auf 7, 2 Mrd. Personen Die Straßen-und U-Bahnen beförderten auch 1961 noch die meisten Fahrgäste, doch war ihr Anteil am Verkehrsaufkommen seit 1950 von 58 Prozent auf 41 Prozent zurückgegangen. Auch bei der Eisenbahn sank seit 1957 die Zahl der beförderten Personen; ihr Anteil an der Personenbeförderung schrumpfte von knapp 27 Prozent (1950) auf 18, 5 Prozent (1961). Eine deutliche Zunahme war allein für die Omnibusse zu verzeichnen, die 1961 zweieinhalbmal soviele Personen beförderten wie 1950 — ein Hinweis auf eine schnelle verkehrsmäßige Erschließung und gesteigerten Bedarf an neuen Verbindungen.
Während seit 1957 die Steigerungsraten im Öffentlichen Personenverkehr sanken, gewann der individuelle motorisierte Personenverkehr eine neue Qualität. Erstmals in diesem Jahr gab es auf den westdeutschen Straßen mehr zugelassene PKWs als Krafträder (ohne Mopeds, die in diesen Jahren auf-kamen und zum Teil die Fahrräder ablösten). Erstmals 1954 waren mehr PKWs neu zugelassen worden als Krafträder. Deren Bestand hatte sich mit über 2 Mio. 1955 seit 1950 zwar verdoppelt, ging dann aber bis 1960 auf 1. 5 Mio. zurück. Dagegen verachtfachte sich der PKW-Bestand 1960 gegenüber 1950 auf über 4 Mio. Damit kamen jetzt etwa 80 PKWs auf 1 000 Einwohner. Die Bundesrepublik übertraf mit dieser Motorisierungswelle alle anderen vergleichbaren Industriegesellschaften, wenn sie auch zu diesem Zeitpunkt (1960) noch nicht den Motorisierungsgrad anderer westlicher Länder erreicht hatte
Daß diese auch in der zunehmenden Verkehrsdichte auf den Straßen (und im „ruhenden Verkehr“ an den Straßenrändern) sichtbare neue Form der erhöhten Mobilität nicht nur auf die außergewöhnliche Einkommenssteigerung des überwiegenden Teils der Haushalte zurückzuführen war, sondern auch zentral mit der erwähnten Pendlermobilität zu tun hatte, läßt sich an folgenden Zahlen ablesen: 1960 hatten 27 Prozent aller in Landgemeinden wohnenden Arbeiter einen Führerschein, dagegen nur 14 Prozent der Arbeiter in den Städten Dabei verfügte erst jeder achte Arbeiterhaushalt über einen PKW, während es bei den Beamten und Angestellten schon jeder vierte war. Allerdings wurden 1960 schon über die Hälfte aller Autokäufe von Arbeitnehmern getätigt (1950 waren es noch knapp neun, 1955 schon gut 28 Prozent der Käufer gewesen) Der Schluß liegt nahe, daß der in den sechziger Jahren sich noch steigernde PKW-Zulassungsboom maßgeblich durch den Wunsch nach einem bequemeren und weniger wetteranfälligen Erreichen der Arbeitsstätte ausgelöst worden war.
Freilich hatte die Automobilindustrie mit dem Angebot preiswerter Klein(st) wagen die Erfüllung dieses Wunsches leichter erreichbar werden lassen, und auch die Betriebskosten fielen als Folge von Benzinpreissenkungen (1958) und steuerpolitischen Regelungen (Möglichkeit der Absetzung von Aufwendungen für die Arbeitswege 1955). Zudem verstärkte der erhöhte Kfz-Bestand auch den Gebrauchtwagenmarkt, auf dem die Preise seit Mitte der fünfziger Jahre sanken. 1960 hatte sich die Verkehrsleistung des motorisierten Individualverkehrs gegenüber 1950 versechsfacht, während die des Öffentlichen Personenverkehrs nur um knapp 60 Prozent zugenommen hatte.
Nicht zuletzt aus der durchschnittlichen Verdoppelung der Nahverkehrstarife in jenem Jahrzehnt bei gleichzeitiger Kostensenkung für den privaten PKW-Verkehr ist geschlossen worden, die bundes-republikanische Verkehrspolitik sei unter dem Druck der Automobilindustrie zuungunsten des Öffentlichen. vor allem des schienengebundenen Verkehrs konzipiert und so der Weg in die Auto-Ge-Seilschaft gefördert worden — eine These, die für die fünfziger Jahre noch vor allem einer zeitlich differenzierenden Prüfung bedarf. Unzweifelhaft ist, daß das „eigene Auto“ zum Mittel einer Mobilität wurde, die nicht nur die täglichen Aktionsradien vieler Menschen beträchtlich erweiterte, sondern auch die Welt nach vielen Richtun-gen hin schnell erschließen helfen konnte, ohne den „Privatbereich“ zu verlassen. Damit wurde es auch zum Symbol aller Anstrengungen zum Auf-und Ausbau der privaten Existenz, die F. H. Tenbruck wohl mit Recht als einen charakteristischen Zug der fünfziger Jahre hervorgehoben hat
IV. „Konsumgesellschaft“
Zum Symbol war das Auto Ende der fünfziger Jahre auch für die allgemeine Wohlstandsentwicklung geworden, die in der Erinnerung vieler Zeitgenossen bereits 1948 begonnen hat. Für die Beschreibung dieser Entwicklung hat sich das Bild einer „Wellenbewegung“ eingebürgert. „Geradezu wellenförmig“ hätten sich „die Westdeutschen bessere Lebensmittel, Bekleidung, Wohnungen, Autos“ erschlossen. In der prominenten zeitgenössischen Interpretation Schelskys trug das Ansteigen „universalen Konsums der industriellen . . . Massen-produktionen“ von vornherein am wirksamsten zur „Überwindung des Klassenzustandes der industriellen Gesellschaft“ bei. sorgte für eine „verhältnismäßige Nivellierung ehemals schichtentypischer Verhaltensstrukturen“, dem „vielleicht dominierendsten Vorgang in der Dynamik der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft“ Er selbst wie auch Theodor W. Adorno fühlten sich bereits Mitte der fünfziger Jahre bemüßigt, vor den Gefahren des „Konsumterrors“ zu warnen Am Ende des Jahrzehnts war „Konsumgesellschaft“ ein geläufiger Begriff. Nicht mehr die Verteilungskämpfe um knappe Güter seien nunmehr das drängende soziale Problem, sondern die sinnvolle Nutzung der allen verfügbaren Überfülle an Waren und Dienstleistungen -so etwa lautete das gängige Argumentationsmuster einer „Soziologie der Prosperität“
Dieses Bild von der „Konsumgesellschaft“ Bundesrepublik und ihrer Entstehung muß wohl in verschiedenen Feldern differenziert und korrigiert werden: Zum einen ist der neuerdings wiederbelebte Mythos, es habe sich um eine bruchlose Entwicklung vom „Hungerwinter“ (1946/47) zum kulinarischen „Schlaraffenland“ gehandelt, zurück-zuweisen; zum anderen scheint die „Wellen“ -Metaphorik überprüfenswert, und zum dritten ist an die Fragwürdigkeit der „Nivellierungs“ -These zu erinnern.
Eine historisch unvergleichlich schnelle Wohlstandssteigerung war zweifellos die „zentrale Erfahrung der westdeutschen Bevölkerung seit den 1950er Jahren“ Die Reallöhne lagen schon 1950 auf einem Niveau, das zuvor nur in den „Spitzenjahren“ 1913 und 1928 erreicht worden war, und wuchsen seitdem kontinuierlich bis zum Ende des Jahrzehnts um jahresdurchschnittlich fünf Prozent bei sektoral starken Unterschieden: In der Landwirtschaft wurden knapp vier Prozent erreicht, während für Industrie und Handwerk über elf Prozent verzeichnet werden konnten Am Ende der „Ära Adenauer“ (1963/64) hatten sich die Reallöhne gegenüber ihrem Beginn ungefähr verdoppelt.
Mit Recht hat wohl J. Mooser diese Entwicklung als „Abschied von der . Proletarität"" gedeutet, als Überwindung der Armutsexistenz im engen Kreislauf der Sorge um die Reproduktion der Arbeitskraft und der Angst vor Krankheit und Mangel im Alter. Tarif-und rentenpolitische Neuerungen (Annäherung an die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter, „dynamische“ Rente) halfen besonders seit 1957 diesen Zustand herbeizuführen und zu fördern All dies und vor allem die anhaltende „Vollbeschäftigung“ seit etwa 1955 haben dann zwar nicht zur Auflösung der Klassen-gesellschaft und damit zur „Entproletarisierung“ geführt, die prominente Soziologen zeitgenössisch registrierten oder voraussagten, aber doch zu einer Stabilisierung des Lebenszuschnitts bei den Angehörigen der unteren Einkommensschichten auf einem Niveau, das zuvor nur in den wenigen kurzen „guten“ Zeiten erreicht worden war.
Daß diese Situation erst das letzte Drittel der fünfziger Jahre kennzeichnete, wird oft durch die zeitgenössisch geprägten Bilder von den aufeinander-folgenden „Freß“ -, „Kleidungs" -und „Wohnungs“ -„Wellen" verdeckt. Dabei weckt schon für die ersten Jahre nach der Währungsreform ein vergleichender Blick in die nach Branchen gegliederte Umsatzstatistik Zweifel an der Aussage dieser Bilder: Der Einzelhandelsumsatz an Bekleidung und Wäsche und vor allem an Hausrat und Wohnungseinrichtungsgegenständen stieg bald nach der Währungsreform erheblich stärker als der an Nahrungsund Genußmitteln. Dies scheint eine angesichts der Not und des allgemeinen Bedarfsstaus bis 1948 und des dann einsetzenden Wohnungsbaus durchaus nachvollziehbare Prioritätensetzung in den einzelnen Haushalten zu spiegeln Ein Blick in die Verbrauchs-und Ausgabenstatistiken der Haushalte zeigt zudem, daß gerade in den Arbeitnehmerhaushalten das „Vom-Munde-Absparen“ noch bis in die sechziger Jahre hinein an der Tagesordnung war. Der Fleischverbrauch, traditionell ein Indiz für den Lebenszuschnitt, erreichte erst 1958 wieder den Stand von 1935/38
Gleichzeitig stieg die Sparquote der privaten Haushalte insgesamt vom vergleichsweise schon hohen Stand von 3. 1 Prozent im Jahr 1950 auf zuvor nie gekannte 8, 7 Prozent zehn Jahre später Über 80 Prozent der Haushaltsvorstände und der Hausfrauen hielten einer repräsentativen Umfrage zufolge Ende der fünfziger Jahre Sparsamkeit für eine Eigenschaft, die unbedingt zum „guten Charakter“ gehöre; 69 Prozent der befragten Hausfrauen wollten lieber zwei Stunden auf den nächsten Omnibus warten als ein Taxi nehme Prozent der befragten Hausfrauen wollten lieber zwei Stunden auf den nächsten Omnibus warten als ein Taxi nehmen. Nur 21 Prozent der Haushalte waren nach dieser Umfrage Ratenzahlungsverbindlichkeiten eingegangen, und über zwei Drittel hatten keine Schulden 68). Private Sparsamkeit scheint jenes „Streben nach Sicherheit“ fortgesetzt zu haben, das für die frühen fünfziger Jahre wohl mit Recht als ein Leitbild ermittelt wurde. Gespart wurde jetzt allerdings auf langlebige Konsumgüter. aufs Auto und aufs Eigenheim, denn entgegen gelegentlich anzutreffenden Erinnerungen war die technische Ausstattung der Haushalte im Durchschnitt noch bescheiden. Umfragen zufolge gab es im April 1958 erst in elf Prozent aller Arbeiterhaushalte und in 26 Prozent aller Angestellten-haushalte einen Kühlschrank, der als ein Symbol des „Wirtschaftswunders“ galt; eine elektrische Waschmaschine war erst in 20 Prozent der Arbeiter-und in 26 Prozent der Angestelltenhaushalte vorhanden 69).
Die sich an der Wende von den fünfziger Jahren zu den sechziger Jahren einstellende materielle Verbesserung des Lebenszuschnitts gerade in den unteren Schichten verdankte sich — dies ist in der neueren Debatte um Wege und Umstände der Frauenemanzipation kaum betont worden — zu einem erheblichen Teil der „Mitarbeit“ der Ehefrauen, die von den Männern Umfragen zufolge damals nur in Notlagen als legitim angesehen wurde Schätzungen haben jedoch ergeben, daß die Aufrechterhaltung des durchschnittlichen Lebensstandards der Arbeiterfamilien in den beginnenden sechziger Jahren nur zu zwei Dritteln aus den regulären Einkünften der Berufstätigkeit des Mannes (in einer „Vollfamilie“) gedeckt werden konnten -Der Anteil der erwerbstätigen Arbeiter-Ehefrauen stieg zwischen 1957 und 1966 von einem Viertel auf ein Drittel; bei Angestellten lag dieser Anteil niedriger. Die Arbeiter-Ehefrauen arbeiteten in diesen Jahren mehrheitlich als Un-oder Angelernte — ein Hinweis darauf, daß die Erhöhung der Haushalts-einkünfte das Hauptmotiv für diese „Mitarbeit“ war Nur so und mit Hilfe von Nebeneinkünften und Überstunden war es in Arbeiterfamilien möglich, das offensichtliche Bedürfnis, am spürbar wachsenden Wohlstand teilzuhaben, zu befriedigen. Mit dieser Entwicklung ging ein wirtschaftspolitisches Kalkül auf, das Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard 1953 einmal so formulierte: Der „Luxus von heute“ könne „nur dann allgemeiner Konsum von morgen sein . . wenn wir es ertragen, daß es in der ersten Phase immer nur eine kleine Gruppe mit gehobenem Einkommen sein kann, deren Kaufkraft an jene Güter heranreicht“ Daß nicht eine auf soziale Gleichheit und volkswirtschaftliche Umverteilung gerichtete Sicht, sondern ein Anstreben eines „Fahrstuhlsnach-oben“ -Effekts (U. Beck) für die ganze Gesellschaft das Verhalten aller die Wirtschaft und Politik steuernden Instanzen leitete, läßt sich gut an den Tarifabschlüssen ablesen, die meistens schnell und ohne Arbeitskämpfe zustandekamen, nachdem 1956 die IG Metall eine wegweisende Annäherung des Status der Arbeiter an denjenigen der Angestellten erstritten hatte Erst seit den ausgehenden sechziger Jahren wurde die allgemein begrüßte Kapitalakkumulation als Voraussetzung für die beachtlich voranschreitende Vermögens-konzentration wieder zu einem politischen Thema.
Wie wenig die Wohlstandssteigerung sich unmittelbar als soziale Nivellierung auswirkte, läßt sich an der Verteilung des „kulturellen Kapitals“ (Pierre Bourdieu), das vor allem durch die familiäre und schulische Sozialisation erworben wird, ablesen. Wir wollen hier nur an einige schulische Bedingungen erinnern. In Westdeutschland war nach einigen Experimenten zu Beginn der fünfziger Jahre die Tradition des starr gegliederten Systems der allgemeinbildenden Schulen wieder in Kraft gesetzt, und die Verteilung der Schüler auf die einzelnen Schulzweige folgte während der gesamten fünfziger Jahre noch Mustern, wie sie seit dem Beginn des Jahrhunderts bekannt waren: Der Volksschüleranteil in der Sekundärstufe (ab Klasse 5) lag mit ca. 80 Prozent 1951 wieder genau so hoch wie 1926/27; 1960 war er erst auf ca. 70 Prozent gesunken. Der Anteil der Gymnasiasten stieg in den fünfziger Jahren von ca. zehn auf ca. 15 Prozent Noch deutlicher spiegelt sich die Verteilung der Schüler in den Abschlüssen: 1958 verließen 4, 4 Prozent der Abgänger dieses Jahres die Schule als Abiturienten, 13, 3 Prozent hatten die „Mittlere“ bzw. „Fachschulreife“ erworben Im Blick auf die Herkunft der Studenten ermittelte der Soziologe Morris Janowitz, daß die Prozent 1951 wieder genau so hoch wie 1926/27; 1960 war er erst auf ca. 70 Prozent gesunken. Der Anteil der Gymnasiasten stieg in den fünfziger Jahren von ca. zehn auf ca. 15 Prozent 75). Noch deutlicher spiegelt sich die Verteilung der Schüler in den Abschlüssen: 1958 verließen 4, 4 Prozent der Abgänger dieses Jahres die Schule als Abiturienten, 13, 3 Prozent hatten die „Mittlere“ bzw. „Fachschulreife“ erworben 76). Im Blick auf die Herkunft der Studenten ermittelte der Soziologe Morris Janowitz, daß die obere und untere Unterschicht zwar mehr als die Hälfte der Bevölkerung umfaßte, aber nur fünf Prozent der Studenten stellte 77) — ein Sachverhalt, der in den sechziger Jahren dann zur Mobilisierung für die Ausschöpfung dieses Bildungspotentials führte.
Daß es dieser Mobilisierung bedurfte, legen Umfrageergebnisse nahe, die verdeutlichen, daß noch zu Beginn der sechzigerJahre die gegebene Bildungschancen-Verteilung in der Bevölkerung weithin für selbstverständlich gehalten wurde 78). Und nur wenig mehr als die Hälfte von repräsentativ befragten Jugendlichen entschied sich 1961 bei den vorgegebenen Alternativantworten, ob jedem eine gute Ausbildung offen stehe oder ob es dabei auf den Geldbeutel und die Stellung des Vaters ankomme, für die erste Variante 79). Zu erinnern ist daran, daß Jugend in den fünfziger Jahren weitaus stärker von Berufs-und Erwerbstätigkeit geprägt war als heute. 1953 standen bereits fast 70 Prozent aller 15— 17jährigen und 85 Prozent aller 18— 20jährigen im Arbeitsleben (1984 nur noch 19 bzw. 56 Prozent) 80). Zwar war für viele von ihnen die Schulzeit noch nicht völlig vorüber, doch über die Rolle und Bedeutung der für Deutschland seit den zwanziger Jahren typischen Berufsschulen (neben der betrieblichen Lehre im „dualen System“ der Lehrlingsausbildung) ist noch wenig bekannt. 1949, elf Jahre nach reichsweiter Einführung der Berufsschulpflicht, besuchten zwei Drittel aller berufsschulpflichtigen Jungen, aber nur zwei Fünftel der berufsschulpflichtigen Mädchen Berufsschulen; eine Ursache für diesen Mangel waren fehlende Schulkapazitäten. 1952 waren dann alle männlichen jugendlichen Berufsschulpflichtigen erfaßt, jedoch 20 Prozent der Mädchen wurden noch „zurückgestellt“ oder dispensiert, weil die Berufsschulen immer noch nicht ausreichten Hervorzuheben ist allerdings die Fortsetzung des säkularen Trends zur qualifizierten Berufsausbildung. Bei den 1887— 1896 geborenen Volksschülem hatte der Anteil der Schulabgänger, die anschließend keine Lehre absolvierten, bei 60 Prozent gelegen; bei den Geburtsjahrgängen 19271936 waren es 37 Prozent, und bei den Jahrgängen 1937— 1946, den Schulabgängern der fünfziger Jahre, waren es nur noch 24 Prozent Trotz dieser unübersehbaren Verbesserungen waren, wie die Diskussion um die „deutsche Bildungskatastrophe“ (Picht) in den sechziger Jahren zeigte, Bildung und Ausbildung in der Bundesrepublik hinter dem stürmischen Wirtschaftswachstum und Strukturwandel auch im internationalen Vergleich zurückgeblieben.
Betrachtet man die hier unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung zur „Konsumgesellschaft“ angesprochenen Tendenzen im Zusammenhang, dann scheint im Rückblick zumindest noch für die zweite Hälfte der fünfziger Jahre die Charakterisierung „Arbeitsgesellschaft" treffender als die Kennzeichnung „Konsumgesellschaft“.
V. „Freizeitgesellschaft“
Ist schon dem Bild von der westdeutschen „Konsumgesellschaft“ der fünfziger Jahre mit einigem Zweifel zu begegnen, so gilt dies noch mehr für die „Freizeitgesellschaft“, die bereits in Gegenwartsdeutungen gleichsam zum Mythos stilisiert wurde, aber auch als „Problem“ eine Fülle sozialpädagogischer und -therapeutischer Überlegungen auslöste Als Ausgangspunkt allen kritischen Nachdenkens kann die These vom u. a. durch Moden und Medien „außengeleiteten“ (Riesman) Konsum-Menschen gelten, der sich vor allem in der Freizeit entfalte. Von rapide zunehmender Freizeit konnte aber für die meisten Westdeutschen der fünfziger Jahre wohl kaum begründet die Rede sein.
Mitte der fünfziger Jahre hatte die tatsächliche Wochenarbeitszeit der in der Industrie Beschäftigten mit ca. 49 Stunden wieder den Stand vom Ende der dreißiger Jahre erreicht Als dann 1956/57 in weiten Bereichen die 5-Tage-Arbeitswoche einsetzte wuchs damit entgegen landläufiger Meinung nicht sprunghaft auch die Freizeit, denn an den verbleibenden Werktagen mußte länger gearbeitet werden. So sank zwischen 1957 und 1960 die „geleistete“ Wochenarbeitszeit für in der Industrie Beschäftigte nur um 0, 9 Stunden Berücksichtigt man. daß die seit 1957 recht gut dokumentierten Arbeitszeiten der Arbeiter in der (großbetrieblichen) Industrie die kürzesten aller Arbeitnehmer waren und daß es vor allem in den kleineren Betrieben einen beträchtlichen Teil statistisch nicht erfaßter Überstunden gab. muß die These von der rapide gewachsenen Freizeit weiter eingeschränkt werden. Hinzu kommen definitorische Probleme. Seit 1957 stieg nachweisbar die Tendenz zum „Zweitjob“; sieben Prozent aller Arbeitnehmer sollen 1961 ihre „Freizeit“ zum Teil dazu genutzt haben Zu fragen ist auch nach der Bedeutung der „Feierabendarbeit“ für eigene Zwecke, z. B. im landwirtschaftlichen „Nebenerwerb“, oder der damals häufigen Nachbarschaftshilfe beim Bau des neuen Eigenheims. Und zu bedenken sind schließlich auch die noch kaum zureichend im zeitlichen Vergleich erforschten Arbeitsweg-Zeiten, ganz abgesehen vom Wandel der Alltagsgewohnheiten, den die zunehmende Berufstätigkeit der Ehefrauen und der PKW-Besitz mit sich brachten. Auf alle Werktage verteilte Besorgungen im und für den Haushalt konzentrierten sich nun stärker auf den Samstag und ließen dessen „Freizeit“ -Qualität fragwürdig werden. Allerdings bot das „lange Wochenende“ auch Raum für die verstärkte Pflege von Familie und Geselligkeit, für die an den übrigen Wochentagen oft kaum Zeit war. So scheint es, daß die Antworten auf die — recht unscharf — jährlich einmal gestellte Meinungsforschungsfrage nach dem Umfang der persönlichen Freizeit, die zwischen 1957 und 1960 nur eine Steigerung von elf Minuten auf täglich knapp drei Stunden verzeichnete (heute viereinhalb), nicht ganz unrealistisch waren Insgesamt ergibt sich der Eindruck einer hart schaffenden Bevölkerung. Wohl nicht nur über 80 Prozent der Baden-Württemberger lagen Mitte der fünfziger Jahre in der Regel um 22 Uhr 30 im Bett und standen vor sieben Uhr wieder auf Ca. 40 Prozent der Bundesdeutschen — eher die Angestellten, Beamten und Freiberufler als die Arbeiter — fühlten sich 1955 einer Repräsentativumfrage zufolge persönlich gestreßt und überarbeitet Über die Freizeitgestaltung vor 1960 ist noch wenig bekannt Zeitgenössische Beobachtungen lassen fürdie erste Hälfte der fünfzigerJahre einerseits auf einen starken Zug zur „Häuslichkeit“ schließen -ein Trend, der u. a.dem angespannten Haushaltsbudget z. B.der Neu(bau) -Wohnungsbesitzer entspricht —, andererseits wurde ein starker „Sog von draußen“ verzeichnet — die Verdoppelung der Zahl der Kinobesuche zwischen 1950 und 1956 aufca. 800 Millionen wäre hierfür ein Beleg Für die Jugendlichen, deren Freizeitverhalten bereits damals intensiv erkundet wurde, liegen genauere Erhebungen vor die als ein wichtiges Ergebnis den Eindruck von nur geringen Differenzen zur Freizeitnutzung der Älteren vermitteln — kein überraschender Befund angesichts des hohen Anteils bereits berufstätiger Jugendlicher.
Eine zunehmende Bedeutung für die Freizeitgestaltung gewann bekanntermaßen im letzten Drittel der fünfziger Jahre das Fernsehen, nachdem zuvor schon der Rundfunk manche Alltagsgewohnheiten, z. B. die Essenszeiten, mitbestimmt hatte Zeitgenössische Beobachter haben oft mit den „Freizeit“ -und „Konsum“ -Tendenzen zugleich auch die „Mediatisierung“ und „Informalisierung“ der Gesellschaft hervorgehoben. Die Rundfunkdichte hatte zu Beginn der fünfziger Jahre bereits den Vorkriegsstand übertroffen und wuchs kontinuierlich weiter bis zum Ende des Jahrzehnts. Schnell setzte hier mit der Einrichtung der UKW-Netze eine „Modernisierung“ ein, die Mitte der fünfziger Jahre bereits die Hälfte der Rundfunkteilnehmer, d. h. 40— 45 Prozent der Haushalte, erreichte „Modernisierung“ wird hier in einem doppelten Sinn nachvollziehbar: zum einen als technische Neuerung, zum anderen als dadurch mögliche inhaltliche Differenzierung und (weitere) regionale Spezifizierung des bis dahin weithin großraumgebundenen einheitlichen Programmangebots.
Nichtsdestoweniger standen die ermittelten Hörerwünsche und das erfragte Hörerverhalten weiterhin stark in der Tradition der dreißiger Jahre. Rundfunk vor allem als „Nebenbeschäftigung“ zur Unterhaltung und Zerstreuung — so lassen sich entsprechende Erhebungen zusammenfassen. Die Programmstruktur folgte mit ihrer Verteilung von Wort-und Musiksendungen im Verhältnis von ca. 1: 1 ebenfalls dieser Tradition
Das „Fernsehzeitalter" begann für breite Kreise der Bevölkerung erst Ende der fünfziger Jahre. Zum Empfang des ab 1. November 1954 gesendeten ARD-Programms standen 1957 republikweit eine Million Apparate bereit. 1960 waren es schon fast vier Millionen. Die Femsehdichte war allerdings regional noch stark unterschiedlich. 1960 wurden in 14 von 100 bayerischen und in 30 von 100 nordrhein-westfälischen Haushalten Fernsehgeräte ge-zählt Die soziale Zusammensetzung der Geräteinhaber entsprach dabei schon früh in etwa der der Gesamtbevölkerung. Schon die ersten Erhebungen über den Fernsehzuschauer ermittelten, daß 90 Prozent der privaten Femsehhaushalte den Apparat täglich einschalteten und durchschnittlich eine Stunde und 20 Minuten täglich davor verbrachten; am Wochenende wurde erheblich länger femgesehcn. Auch die damit zunehmende Häuslichkeit ließ sich schon frühzeitig beobachten: nachlassender Besuch von Gaststätten, Tanzlokalen, Kinos, charakteristischerweise aber kein Rückgang der Lektüre von Lesemappen. Im übrigen war dieser Trend zur Häuslichkeit bei Arbeitern und bei den Bewohnern kleinerer Orte ausgeprägter als z. B. bei den Angestellten und in den Großstädten. Als Haupt-Motive für die Anschaffung eines Fernsehgeräts wurden 1958 u. a. ermittelt 1. Freude am Fernsehen. Unterhaltung, Zerstreuung = 29 Prozent; 2. Man kann zu Hause bleiben, Gemütlichkeit wird erhöht, die Familie zusammengehalten = 21 Prozent; 3. Information = 16 Prozent.
Die Ähnlichkeit zu den Programmwünschen für den Rundfunk ist unübersehbar. Bemerkenswert scheint der frühe Erfolg der Fernsehfamilie „Schölermann“. die als „unsere Nachbarn heute abend“ stil-und programmbildend wirkte. Der „Anspruch“ des Publikums — so der Fernsehverantwortliche des Bayerischen Rundfunks. Clemens Münster — „auf die . Gartenlaube', d. h. die technisch perfekte möglichst gut gemachte“ Familiensendung. wurde von den Programmverantwortlichen schnell (an) erkannt und ließ bildungsbürgerliche Ambitionen, die zunächst — wie Jahrzehnte zuvor beim Hörfunk — aufkamen, zurücktreten.
Etwa gleichzeitig mit dem Durchbruch zur Fernsehgesellschaft und den damit verbundenen Formen „neuer Häuslichkeit“ entstand vor allem in den sommerlichen Urlaubsmonaten der Massentourismus als Phänomen der „Freizeitgesellschaft“. Wohl mit Recht definierte Ende der fünfziger Jahre die einzige einschlägige soziologische Gegenwartsuntersuchung den Tourismus als „Luxuskonsum“ Immerhin hatte zu diesem Zeitpunkt etwa ein Drittel der Westdeutschen Teil an diesem Luxus. Mindestens als erreichbares Leitbild konnte die Urlaubsreise an der Wende von den fünfziger zu den sechziger Jahren gelten Das Reisen als intensiv erfahrene Möglichkeit von privater Mobilität — vor allem mit dem eigenen PKW — und auch der wahrgenommene Anschein der befristeten Entzogenheit von sozialer Kontrolle haben sicherlich maßgeblich zum Lebensgefühl von „Modernität“ beigetragen, besonders bei den — damals noch recht wenigen — Urlaubern, die in die südlichen Länder mit noch ärmlicheren Lebensverhältnissen fuhren. Ein großer Teil des Fünftels der Auslands-urlauber reiste allerdings in deutschsprachige Gebiete.
VI. Ausblick
Als „motorisiertes Biedermeier“ hat Erich Kästner die hier angesprochenen Entwicklungen einmal zusammenfassend ironisch charakterisiert — ein Bild. das manche Assoziationen hervorrufen kann und zum Ausmalen provoziert Vor allem die politische Kultur wäre hier noch zu erörtern.
Unverkennbar war zu Beginn der fünfziger Jahre die Orientierung an herkömmlichen politischen Normen und Verhaltensmustern
Autoritäre Herrschaftsstrukturen, mindestens aber autoritäre Politikformen (z. B. in der innerparteilichen Willensbildung) bildeten noch lange den Erfahrungshintergrund der Bevölkerung, die mehr durch das Kaiserreich* ), die Präsidialregierungszeit (1930— 1933), die nationalsozialistische Dikta-tur und die Besatzungsherrschaft geprägt war als durch die wenigen Jahre der funktionierenden Weimarer Republik. So überrascht es wenig, wenn die in Meinungserhebungen regelmäßig gestellte Frage „Ganz allgemein — interessieren Sie sich für Politik?“ 1952 von nur 27 Prozent und 1959 von 29 Prozent mit „Ja“ beantwortet wurde Zu Anfang der fünfziger Jahre wurden noch starke Sympathien für die Monarchie und für autoritäre Regierungsformen ermittelt. Erst ein Jahrzehnt später konnte eine mehrheitliche Wertschätzung des bestehenden politischen Systems registriert werden
Nicht überbewertet werden sollte die „schon monoton eindeutige Westorientierung“ in jenen Jahren. die bei Meinungsumfragen in der Bevölkerung ermittelt wurde. Sie dokumentierte wohl weniger eine Absage an den nationalistischen „deutschen Sonderweg“ und eine Hinwendung zum „modernen Westen“ als eine Parteinahme im weltweiten Kalten Krieg. Der Wiederaufbau der Bundeswehr durch Soldaten, die ihre erste Laufbahn an der Front gegen den „bolschewistischen Osten“ begonnen hatten und in diesem Punkte nicht umzulernen brauchten, ist das vielleicht prägnanteste Beispiel dafür, wie sich die verschiedenen politischen Einstellungen unter dem Druck der internationalen Handlungsbedingungen zusammenfügen konnten.
Die Wege und Muster, nach denen sich die durchaus vielfältigen politisch-kulturellen Strömungen amalgamierten, gegenseitig blockierten oder stabilisierten, sind schwer zu entwirren. Für die frühen fünfziger Jahre ist eine konservative Grundstimmung unverkennbar. Visionen vom „christlichen Abendland“ halfen nicht nur, die Bundesrepublik als antisowjetisches Bollwerk zu stabilisieren, sie behinderten auch die Förderung liberal-und sozialdemokratischer Einstellungen, waren jedoch im Antikommunismus mit ihnen verbunden Jür-gen Habermas hat für die Nachkriegszeit allgemein ein Argumentationsmuster beobachtet, das er als „Verbindung der affirmativen Einstellung zur gesellschaftlichen Moderne mit einer gleichzeitigen Abwertung der kulturellen Moderne“ charakterisiert — ein Urteil, bei dem besonders der Begriff der „kulturellen Moderne“ erläuterungsbedürftig ist.
Die positive Beurteilung der „gesellschaftlichen Moderne“ in zeitgenössischen Kommentaren läßt sich in einer allmählichen Zunahme zwangloser Verbindungen zwischen liberalen Werten — wie eigener Leistung, individueller Freiheit oder rechtlicher Gleichheit — und traditionellen, religiös-moralischen und familienzentrierten Werten feststellen. Mit „Entdämonisierung und Entdramatisierung“ hat Hans Maier dabei sich durchsetzende Tendenzen der versachlichten Reaktion auf technische Neuerungen und Änderungen im gesellschaftlichen Verhalten wohl angemessen charakterisiert. Die seit Mitte der fünfziger Jahre zunehmende Anerkennung der „pluralistischen Gesellschaft“ im katholischen intellektuellen Milieu sowie die zunehmende Ablösung der marxistisch inspirierten „sozialistischen Idee“ durch pragmatische Orientierungen im sozialdemokratischen „Lager“ wiesen in dieselbe Richtung. Die „zweite industrielle Revolution“ wurde besonders hier zu einem gängigen Begriff optimistischer Gegenwartsdeutung. die bald auch die düsteren kulturpessimistischen Beschwörungen der „Gefahren der Technik“ nach der Erfahrung des Krieges und Hiroshimas verdrängte.
Wenn Ralf Dahrendorf am Ende der fünfziger Jahre einen „Wandel der Werthaltungen“ weg von der „heroischen, gemeinschaftsbetonten arbeitsamen Vergangenheit“ hin zum „individuellen Lebenserfolg und Lebensgenuß als Richtschnur des Handelns“ registrierte, so hat er allerdings die damaligen Verhaltenstrends wohl nur teilweise erfaßt. Im Blick auf hedonistische Tendenzen konnte er allenfalls die damals heranwachsenden Kinder meinen. Arbeitsfreude und „Lebenserfolg“ erscheinen hier vorschnell polarisiert. Angemessen beobachtet hingegen scheinen Tendenzen zur „Durchökonomisierung“ der Einstellungen; damit läßt sich jedenfalls die offensichtliche Konsumfixiertheit der ausgehenden fünfziger und beginnenden sechziger Jahre erklären, die zeitgenössisch noch oft als „westlicher Materialismus“ beklagt wurde.
Eine andere Umschreibung dieser Tendenzen lautete „Amerikanisierung“, teils positiv als „Zivilität" gewertet, die in der Aufforderung zur bewußten Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre Ausdruck fand, teils negativ als Verlust von als wertvoll geltenden Normen und gemeinschaftsfördemden Traditionen. „Amerika“ war für beide Richtungen das „soziologische Barometer“, der Spiegel der eigenen „modernen“ Zukunft Entsprechend verwirrend sind die Zeugnisse der Einstellung gegenüber „Amerika“. Allgemein nahm die Sympathie gegenüber den „Amerikanern“ Ende der fünfziger Jahre stark zu Dabei hatte sich das Vorurteil, man könne von den Amerikanern technisch zwar viel ), kulturell aber nichts lernen, trotz erheblicher kulturpolitischer Anstrengungen der USA — z. B. in Amerikahäusem und Besuchsprogrammen — in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre noch erheblich verstärkt. 70 Prozent der Bevölkerung hing 1956 dieser Meinung an, ermittelten US-Dienststellen. 1950 waren es nur 58 Prozent gewesen Wie weit amerikanische Einflüsse auf die Musik-und Jugendkultur, die es ohne Zweifel gegeben hat, die Einstellungen der jungen Westdeutschen gegenüber den „Amerikanern“ positiv prägten, ist noch zu erkunden.
So scheinen es eher endogene als unmittelbar exogene Faktoren gewesen zu sein, die die Modernisierung Westdeutschlands, die im Feld politischer Kultur Ende der sechziger Jahre spektakulär sichtbar wurde, ausgelöst und gefördert haben. Die Bundesrepublik war zu diesem Zeitpunkt zweifellos eine „westlich-moderne“ Gesellschaft, wenn sich auch und gerade im Zuge der Ost-West-Entspannungspolitik zeigte, daß die nationale Orientierung durchaus revitalisierbar war. Wirtschaftliches Wachstum, technische Modernisierung, Veränderungen im Konsum und in der Lebensweise sowie ein sich — vielleicht — schon abzeichnender „Wertwandel“ in der Bevölkerung verflochten sich während der fünfziger Jahre in der Bundesrepublik jedoch zu einem gesamtgesellschaftlichen „Klima“, das sich als beständig auch bei den sozialökonomischen und politisch-kulturellen Erschütterungen der Folgezeit erwies und auf neue Herausforderungen nicht wie die Weimarer Republik mit überbordendem Extremismus und schließlich der Kapitulation reagierte. Vielleicht bedurfte es nach den Erfahrungen des „totalen Krieges“ und der „Hungerjahre“ des äußerlich sittsam-streng und bescheidenen „Biedermeiers“, um traditionellen Tugenden und Normen, die überholt erscheinen konnten, einen erfahrbar praktischen Gehalt zu geben.