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Gesellschaftspolitik zwischen Tradition und Innovation in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland | APuZ 6-7/1989 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 6-7/1989 Gesellschaftspolitik zwischen Tradition und Innovation in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland „Wiederaufbau“ und „Modernisierung“. Zur westdeutschen Gesellschaftsgeschichte in den fünfziger Jahren Vier Jahrzehnte Wiederaufbau in der Bundesrepublik Deutschland Artikel 1

Gesellschaftspolitik zwischen Tradition und Innovation in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland

Uwe Uffelmann

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Zusammenfassung

Am Beispiel von Sozialversicherungsgesetzgebung. Lastenausgleich, Beamtengesetzgebung und Gewerbefreiheit wird versucht, das spezifische Mischungsverhältnis alliierter und deutscher Einflußnahmen zu ermitteln, das der Bundesrepublik Deutschland im Laufe ihrer in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu Ende gehenden Gründungsphase das unverwechselbare, bis heute wirkende Gepräge gab. Reformimpulsen von alliierter Seite (Sozialversicherung. Beamtenrecht und Gewerbefreiheit) stellte sich Widerstand der Westdeutschen entgegen. Beim Lastenausgleich gab es einen derartigen Impuls nicht; die deutschen Entscheidungsträger kämpften jedoch auch ihrerseits nicht um einen fundamentalen Wandel der Vermögensstruktur. Eine umfassende Innovation in den genannten Bereichen unterblieb. Dennoch kam es zu bemerkenswerten Innovationsschüben, die sich jedoch nur auf der Basis traditioneller Strukturen vollziehen konnten. Die deutschen Traditionen erwiesen sich als so stark, daß die von außen kommenden Reformansätze sich nicht durchsetzen konnten und daß auf deutscher Seite entwickelte Vorstellungen — wie die Gerhard Weissers zum Lastenausglcich — keinen breiten Konsens fanden. Aber gerade in der Auseinandersetzung mit den alliierten Impulsen und aufgrund der Notwendigkeit, einen Lastenausglcich durchzuführen, wurden Kräfte freigesetzt, die es ermöglichten, daß auf breiter politischer Basis Weiterentwicklungen der traditionellen Strukturen zustande kamen, die die hohe Qualität des sozialen Systems der Bundesrepublik Deutschland bis heute geformt und die Zustimmung der Bevölkerung zum westdeutschen Staat bewirkt haben.

In seiner 1987 erschienenen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland charakterisierte Rudolf Morsey die Sozialpolitik der frühen fünfziger Jahre als „restaurativ", da an Weimar orientiert, stellte aber gleichzeitig fest, daß über pragmatische Lösungen hinaus Ansätze zu Reformen der Gesellschaftsordnung (Eigentumsbildung im Wohnungsbau, Mitbestimmungsfrage) sichtbar geworden seien. Damit markierte er das Spannungsfeld, das für die Gesellschaftspolitik in Westdeutschland zwischen 1945 und der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre generell kennzeichnend ist

In einem früheren Beitrag in dieser Zeitschrift hat der Verfasser nach der Art des Beziehungsgefüges zwischen der Wiederherstellung bzw. Weiterentwicklung und der Schaffung neuer demokratischer Qualitäten gefragt, und zwar auf der Basis eines Demokratieverständnisses in der westlichen Tradition von Freiheit und Partizipation unter Einbeziehung aller Bereiche des gesellschaftlichen und politischen Lebens sowie in der Annahme, daß die Grundlegung der Bundesrepublik im Spannungsfeld der Bestrebungen erfolgte, positiv erfahrene Wirklichkeit der Weimarer Republik wiederherzustellen und weiterzuentwickeln und/oder neue demokratische Qualitäten zu schaffen. Antworten wurden unter den Aspekten „Bedingungen“ (1. Phase des ökonomischen Aufschwungs, Wirtschaftswachstum und Eigentumsordnung), „Impulse“ Phase des ökonomischen Aufschwungs, Wirtschaftswachstum und politische Stabilisierung), „Kräfte“ (Arbeiterschaft, Führungskräfte in Wirtschaftsbürokratie und Industrie) und „Partizipation“ (Mitbestimmung, Kontrolle ökonomischer Macht und soziale Teilhabe) gesucht).

Während hier die in gesellschaftspolitischer Hinsicht spektakulären Themen „Sozialisierung", „Bodenreform“ und „Mitbestimmung“ besonders berücksichtigt wurden, blieben andere am Rande Mit der Rentenreform wurde nur ein Teilaspekt der umfassenden Problematik der sozialen Sicherung erfaßt. Die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge wurde zwar angesprochen, nicht aber zureichend in den Kontext der Lastenausgleichsgesetzgebung gestellt. Beamtenrecht und Gewerbefreiheit wurden ausgespart.

Diesen vier Aspekten will sich der vorliegende Beitrag widmen. Der Fragehorizont soll dabei das Postulat John Gimbels von 1986 einschließen, „daß wir uns in der zukünftigen Forschung mehr als bisher darüber im klaren sind, daß die Gegenwart aus einer Kombination der Besatzungspolitik einerseits und der deutschen Tradition andererseits entstanden ist“

Gimbel möchte damit die These von der amerikanischen Dominanz und dem Objektcharakter Deutschlands einschränken, den Blick auf die Aktivitäten der westdeutschen politischen und gesellschaftlichen Kräfte lenken und die spezifische Mischung alliierter und deutscher Einflußnahmen ermitteln, die der Bundesrepublik im Laufe der in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre zu Ende gehenden Gründungsphase ihr unverwechselbares, bis heute wirkendes Gepräge gab.

Dieses spezifische Mischungsverhältnis läßt sich am Beispiel von Sozialversicherung. Lastenausgleich, Beamtenrecht und Gewerbefreiheit vorzüglich identifizieren. Die Frage nach den Innovations-und Traditionsanteilen der an den Entscheidungsprozessen beteiligten Kräfte findet dabei aufschlußreiche Antworten.

I. Sozialversicherung

Das deutsche Sozialversicherungswesen grundlegend zu ändern, war nicht nur Wille der Westmächte, sondern auch der Sowjetunion. So kam es 1946 zu einem Gesetzentwurfdes Kontrollrates, der die gemeinsamen Interessen der Alliierten markierte. Der Kontrollratsentwurf sah eine neue Versicherungsstruktur in Gestalt einer Einheits-und Volksversicherung anstelle der selbständigen Zweige der Kranken-, Renten-und Unfallversicherung vor, ein Reformwerk großen Ausmaßes, das nahezu bis zum Ende der Kontrollratsarbeit gerade auch von amerikanischer und britischer Seite gefördert wurde.

Das alliierte Reformkonzept wurde auf Zonenebene diskutiert. Die Ergebnisse sollten in eine gemeinsame Lösung einfließen, der sich die Sowjetunion. die in ihrer Zone am konsequentesten vorging, nicht verschließen wollte. Und wie nahmen die Westdeutschen den Reformentwurf auf? Es kam zu heftigen Widerständen aus den Reihen der Ärzteschaft, der Arbeitgeber in Industrie und Handel.der Selbständigen in Handwerk und Landwirtschaft, aber auch von den Gewerkschaften: „Die innerdeutsche Opposition gewann gerade dadurch an Wirksamkeit und Breite, daß sie von bedeutenden Teilen der Gewerkschaftsbewegung mitgetragen wurde.“

Worum ging es? Der Kontrollratsentwurf sah die Änderung des traditionellen, in Zweige gegliederten deutschen Sozialversicherungssystems vor, indem er die Vielheit zu einer organisatorischen und finanzwirtschaftlichen Einheit zusammenfaßte, die Sozialversicherungspflicht auf nahezu die gesamte Bevölkerung ausdehnte und den Gewerkschaften maßgeblichen Einfluß auf die Verwaltung der Einheitsversicherung zuerkannte.

Ein derartiges Gesetz mußte unzweifelhaft der traditionellen Interessenlage von Gewerkschaften. Sozialdemokraten und Kommunisten entsprechen, und so wurden ihre Vertreter in allen Zonen auch an den Vorarbeiten für den Kontrollratsentwurf beteiligt Im Unterschied zur Sozialisierung und zur Bodenreform kam man von alliierter Seite in seltener Einmütigkeit einem Neuordnungswunsch entgegen, dessen Realisierung folglich relativ schnell hätte möglich sein können. Umso mehr überrascht der Widerstand gerade der Kräfte, von denen nichts anderes als Zustimmung erwartet wurde. Mit Widerstand mußte aufgrund anderer Interessenlagen bei den Versicherungen sowie bei den Angestellten-, Ärzte-, Mittelstands-und Arbeitgeberorganisationen, natürlich auch bei den bürgerlichen Parteien gerechnet werden — sieht man einmal vom linken Flügel der Christdemokraten ab —, denn diese Kräfte waren die traditionellen Träger des gegliederten Versicherungssystems.

Verschiedene Gründe für den alliierten Willen zur Neuordnung auf diesem Gebiet lassen sich identifizieren: Neben einer gewissen Präjudizierungswirkung zügiger, von den Sowjets veranlaßter Maßnahmen in Ost-Berlin und den fünf Ländern der sowjetischen Besatzungszone sowie erster Vereinheitlichungsmaßnahmen in der britischen Zone war eine politische Affinität der Repräsentanten der sozialpolitisch zuständigen Besatzungsdienststellen bei allen drei Westmächten feststellbar. So war gerade auch die Gruppe der Zivilisten, die das Zentrum der amerikanischen Manpower-Division ausmachte, politisch weit links orientiert. Darüber hinaus wurden gleichzeitig in England und Frankreich neue Gesetze zur sozialen Sicherung geschaffen. Schließlich war es aber noch ein ganz anderes Ziel, das die alliierte Reformfreudigkeit förderte: Zur Durchsetzung von Einsparungen konnte eine Vereinheitlichung der Organisationsstruktur durch Minderung der Verwaltungskosten beitragen; eine Ausdehnung der Versicherungspflicht mußte ein gesteigertes Beitragsaufkommen bringen und damit Sanierungskosten für die Sozialversicherung aus Haushaltsmitteln der Länder reduzieren. Schließlich konnte man auch durch einheitliche Leistungsvoraussetzungen und Leistungshöhen dem Einsparungsziel näherkommen Gerade dieser letzte Punkt war es auch, der Widerstand gegen das Reformwerk bei Gewerkschaften und Sozialdemokraten hervorrief, die mit der Zusammenlegung von Arbeiter-und Angestelltenversicherung die Arbeiterversicherung verbessern wollten, während der Kontrollratsentwurf umgekehrt das Leistungsniveau der Angestelltenversicherung dem der Arbeiterversicherung anpaßte und dazu noch die Erhöhung der Beiträge vorsah.

Hier setzte die Kritik der Gewerkschaften ein, die grundsätzlich den Prinzipien des Kontrollratsentwurfs trotz Einschätzungsdivergenzen in einzelnen Bereichen positiv gegenüberstanden. Die Angestelltengewerkschaften waren es dann auch, die zuerst „schrittweise in das Lager der Reformgegner hin überwechselten“ Maßgeblich dafür waren in besonderem Maße die Angesteilten-Ersatzkassen, denen das Reformgesetz die Existenzbasis genommen hätte. Hier liegt nach Hockerts auch ein Hauptgrund für die Herauslösung der Angestellten-Gewerkschaften aus der gewerkschaftlichen Dachorganisation und für die Verselbständigung der DAG gegenüber dem DGB.

Zu den Gegnern des Reformkonzepts gehörten auch die Ärzte-Vertretungen. weil eine Einheitsversicherung die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf fast die gesamte Bevölkerung ihnen ungünstigere Honorarverträge sowie einen Schwund an Privatpatienten gebracht hätte. Die Ablehnung seitens des Mittelstandes — freie Berufe, Handwerker, Handel und Bauern — ist aus dem traditionellen Selbständigkeitsdenken erklärbar, das die Sozialversicherung als Hilfsinstitution für schutzbedürftige Arbeiter abqualifizierte.

Die Zustimmung der Gewerkschaften zu den Prinzipien der Vereinheitlichung des Sozialversicherungswesens — ungeachtet ihrer Kritik an den Bedingungen der Realisierung — mußte auf der Arbeitgeberseite zum Gebrauch des Machtarguments führen, um ihrer grundsätzlichen Ablehnung und ihrem Ziel der Erhaltung der Berufsgenossenschaften und der Betriebskrankenkassen — Elementen des Wirtschaftsfriedens im Sinne der Brücke zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern in den Betrieben — grundsätzliches Gewicht zu geben. Die Gewerkschaften schlugen jedoch mit demselben Argument zurück. Manches deutet Hockerts zufolge darauf, „daß die Frage von Machtverschiebungen im Verhältnis von Arbeitgeber-und Gewerkschaftsseite auf die Frontenbildung in der Reformdebatte stark einwirkte“

Das Problem der Machtverteilung bestimmte auch die Positionsentscheidung der Parteien. Identifizierte sich die SPD mit der gewerkschaftlichen Position, wobei auch hier die „Gegensätze über das Für und Wider bei der Reform der Sozialversicherung ... bis weit in unsere Parteikreise“ hineingingen so nahmen die Unionsparteien eine Mittelstellung ein: Zum einen unterstützen sie die wichtigsten gewerkschaftlichen Argumente für eine Einheits-und Volksversicherung, ohne alle diesbezüglichen Konsequenzen der Aufgabe der klassischen Sozialversicherung mittragen zu wollen, zum anderen fürchteten sie eine Machtverschiebung zu ihren Ungunsten, wenn die parteipolitisch überwiegend mit der SPD verflochtenen Gewerkschaften die Einheitsversicherung kontrollieren würden.

Der Diskussionsablauf kann hier nicht nachvollzogen werden. Der stärkste Widerstand entwickelte sich in der britischen Zone. Seine Spezifika markierte das Novembergutachten 1946 des Sozialpolitischen Ausschusses des Zonenbeirats, das wesentlich von den Gewerkschaften getragen wurde. Natürlich wurden die Zusammenfassung der drei So-zialversicherungszweige wie die Ausdehnung der Versicherungspflicht gutgeheißen, jedoch weder die Abschaffung von Staatszuschüssen als einem der „Grundpfeiler für die Finanzierung der Sozialversicherung“ noch die Abstriche am bisherigen Leistungsrecht. Der Gegensatz wird besonders deutlich am Beispiel der Angestelltenberechnungen. Sah der Kontrollratsentwurf eine Senkung der monatlichen Ausgaben für laufende Renten in der britischen Zone um 1. 5 Mio. Reichsmark vor, so veranschlagten die Gegenvorschläge des Gutachtens eine Mehrausgabe von 6. 8 Mio. Reichsmark oder fast 16 Prozent In einem Anschreiben an die Kontrollkommission heißt es: „ 1. Das Gutachten geht zwar davon aus, daß im Kontrollrat bereits einige grundsätzliche Entscheidungen getroffen wurden. Der Zonenbeirat stimmt aber durch die Überreichung des Gutachtens diesen Entscheidungen nicht zu. 2. Wie dies im Gutachten ausgesprochen wird, sind im gegenwärtigen Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine grundlegende Reform nicht gegeben. 3. Die dauernde finanzielle Sicherung der Sozialversicherung kann nur durch die Gewährung dauernder Staatszuschüsse erzielt werden.“

Gab es in der britischen Zone diese Ablehnung des Gesetzentwurfes des Kontrollrates, so setzte die Sowjetunion in ihrer Zone ihre Variante in Kraft — wahrscheinlich, um Druck auf die Westmächte auszuüben, denn um eine einseitige Abblockung konnte es nicht gehen, arbeiteten die sowjetischen Vertreter doch am Kontrollratsentwurf weiter mit und erklärten, daß das jetzt in der SBZ gültige vorläufige Gesetz dem Kontrollratsgesetz nach dessen Inkraftsetzung angepaßt werde. Die US-Militärregierung förderte das Gesetzgebungswerk bis Sommer 1947, während General Clay bereits seit November 1946 angesichts des deutschen Widerstandes zu der Einsicht gelangte, daß die Deutschen die Angelegenheiten selber regeln sollten. Das geschah bereits zu einem Zeitpunkt, als Clay noch nicht zu denen zählte, die den Ost-West-Konflikt forcieren wollten Definitiv lehnte er aber vor Mitte 1947 die Arbeit am Kontrollratsentwurf nicht ab.

Je mehr jedoch der Kalte Krieg zum Zustandsmuster des Ost-West-Konfliktes im Frühjahr und Sommer 1947 wurde, änderten sich auch die Rahmenbedingungen für das Projekt einer alliierten Sozialversicherungsreform für Deutschland: „In dem Maße, wie sich der Ost-West-Konflikt verschärfte, wurde für die Westmächte die Übereinstimmung mit der auf westdeutscher Seite vorherrschenden Meinung wichtiger als die — nur auf der Grundlage des Kontrollratsentwurfs erreichbare — Einigung mit der Sowjetunion. Im gleichen Maße sank auch die Wahrscheinlichkeit, daß die Westmächte auf zonaler Ebene eine Reform ohne zustimmendes Votum der deutschen Zentralinstanzen vornehmen würden.“ Mit dem Scheitern der Londoner Außenministerkonferenz im November/Dezember 1947 waren die Entscheidungen auf westlicher Seite in dieser Angelegenheit gefallen.

Zusammenfassend kann zur Sozialversicherungsreform sowohl die These als widerlegt gelten, daß die deutschen Reformbestrebungen an der halbherzigen britischen Einstellung und daran scheiterten, daß die USA die Briten schließlich an Reformen hinderten, als auch diejenige von der verhinderten Neuordnung, derzufolge die amerikanischen Besatzer und das deutsche Bürgertum in stiller Koalition fortschrittliche Reformen verhinderten. Der deutsche Widerstand gegen die Initiative des Kontrollrates war eben nicht auf die Gegner der Einheitsversicherung im bürgerlichen Lager beschränkt. Er wurde gerade dadurch so aufsehenerregend, daß die Gewerkschaften ihn mittrugen und ihm damit zu außerordentlicher Breite verhalfen

Was blieb? Im März 1948 erhielt der Frankfurter Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes die sozialpolitische Gesetzgebungskompetenz, mit der auch die im August 1948 erfolgte Einrichtung einer Verwaltung für Arbeit verbunden wurde. Die Befassung des Wirtschaftsrates mit einem Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz begann zu eben der Zeit, als der Parlamentarische Rat seine Arbeit am Grundgesetz anfing. Die großen Parteien und die Gewerkschaften gelangten zu der Auffassung, daß nicht dem Wirtschaftsrat die Entscheidung über die endgültige Neuordnung des Sozialversicherungswesens zukomme, sondern dem gewählten zukünftigen Parlament einer Bundesrepublik Deutschland. Da in besonderem Maße die SPD mit einem Wahlsieg bei der ersten Bundestagswahl rechnete, sah sie um so schneller die Möglichkeit, ihre Vorstellungen umzusetzen. Die bürgerlichen Parteien dachten nicht anders, und so gelangte man zu der Erkenntnis, daß angesichts der Notlage ein die unterschiedlichen Organisationsfragen ausklammerndes Übergangsgesetz die dringlichste Aufgabe sei. Und so ist erklärbar, daß es im Wirtschaftsrat zu Koalitionsverschiebungen kam, die es möglich machten, daß in einem Schnellverfahren mit Zustimmung von CDU/CSU und SPD — derartiges gab es interessanterweise beim Soforthilfegesetz und später wieder bei der Rentenreform von 1957 — im Dezember 1948 das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz vom Wirtschaftsrat verabschiedet werden konnte.

Das Gesetz regelte einen großen Teil der Forderungen der Gewerkschaften, die das Leistungsrecht betrafen: beachtliche Rentenerhöhung, Einführung des Prinzips der Mindestrente sowie die Angleichung der Leistungsbedingungen der Arbeiter-an die Angestelltenversicherung. Auch im Bereich der Kranken-und Arbeitslosenversicherung wurden die Geldleistungen erhöht. Zur Finanzierung wurde wieder ein fester Zuschuß des Staates eingesetzt, der Beitragssatz zur Rentenversicherung verdoppelt, was sich wegen Veränderungen in der Höhe und Zusammensetzung des Gesamtbeitrages zur Sozialversicherung für die Arbeitnehmer nicht durch zusätzliche Zahlungen auswirkte, während der Arbeitgeberanteil um zwei Prozent wuchs. Schließlich wurde ein Finanzausgleich zwischen Rentenversicherung und verschiedenen Krankenkassenarten geschaffen.

Auf die Diskussion um das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz kann hier ebenso verzichtet werden wie auf die alliierten Verzögerungen der Gesetzesgenehmigung. die zum Ärger der betroffenen Rentner bis Mitte Mai 1949 dauerte. Das Sozialversicherungs-Anpassungsgesetz wurde neben dem unten zu behandelnden Soforthilfegesetz zum wichtigsten Sozialgesetz des Wirtschaftsrates, das von der Bundesregierung 1950 auch auf die französische Zone ausgedehnt wurde. Mit ihm schuf er „feste Ausgangspunkte für die Sozialpolitik des ersten Bundestages. Zugleich übergab er diesem freilich auch eine Fülle ungelöster Probleme, darunter die vertagte Streitfrage: Einheitsversicherung oder traditionell gegliederte Sozialversicherung.“

Die Lösung dieses Problems ist bekannt. Das Ergebnis der ersten Bundestagswahl und die Koalitionsentscheidung wiesen die Richtung zur Rekonstruktion des traditionellen Organisationsprinzips für das System von Unfall-, Kranken-, Renten-und Arbeitslosenversicherung in Anlehnung an Institutionen und Recht der Weimarer Republik. Schon 1950 fiel die Entscheidung gegen die Einheitskrankenkasse. Sie erfolgte im Kontext des Selbstverwaltungsgesetzes.dessen Geschichte bereits im Wirtschaftsrat begonnen hatte und das im Frühjahr 1951 auf der Basis der Parität von Versicherten-und Arbeitgebervertretern nach Zurückweisung einer beherrschenden Stellung der Gewerkschaften in den Selbstverwaltungsorganen in Kraft trat. Organisationsfragen hatten im Wirtschaftsrat noch keine Rolle gespielt. Nun beantragten die Regierungsfraktionen 1950 die Einfügung eines neuen Paragraphen „Wiederzulassung von Trägern der Krankenversicherung“ (gedacht war an Betriebs-und Innungskrankenkassen). Der Wiederzulassungsparagraph demonstrierte nach Hockerts „in geradezu symbolischer Weise das Ende des Einheitskassenprinzips“

Der nächste dem Einheitsgedanken entgegengesetzte Schritt war die Errichtung einer Bundesversicherungsanstalt für Angestellte als Rentenversicherungsträger. Nachdem die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte in Berlin 1945 stillgelegt worden war und die Landesversicherungsanstalten für Arbeiter auch die Angestelltenversicherung bei getrennter Rechnungslegung (um einer gesetzlichen Neuregelung nicht vorzugreifen) übernommen hatten, ging eine erste Regierungsvorlage von 1950 über den im Wirtschaftsrat erreichten Stand einer möglichen Wiedereinrichtung einer selbständigen Angestelltenversicherung hinaus und nahm die Abtrennung der Angestelltenversicherung in Angriff. Das entsprach dem Interesse der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG), für die im Konkurrenzkampf mit den DGB-Gewerkschaften um Mitglieder und Einfluß „die Erhaltung einer besonderen Versicherung geradezu eine raison d’etre einer besonderen Angestelltengewerkschaft“ war

Daß es bei der Schlußabstimmung des Gesetzes über die Errichtung einer Bundesversicherungsanstalt für Angestellte zur Einstimmigkeit im Bundestag kam, mag erstaunen. Doch muß berücksichtigt werden, daß die SPD Wählerstimmen benötigte und die Geschlossenheit der Interessen der Angestelltenschaft bei ihr einen Umdenkungsprozeß einleitete, der auch im DGB Früchte trug, ohne allerdings die Mehrheiten für die Vereinheitlichung von Arbeiter-und Angestelltenversicherungen aufzubrechen. Den Ausschlag für die Zustimmung der SPD im Bundestag gaben die Sozialwahlen zu den Vertreterversammlungen der Angestelltenversicherungen bei den Landesversicherungsanstalten im Mai 1953, die dem DGB eine schwere Niederlage zufügten. Von den ca. 1, 5 Mio. abgegebenen Stimmen erhielten die DAG 53, 7 Prozent, der Deutsche Handlungsgehilfenverband 21, 1 Prozent, der DGB 18, 1 Prozent und der kleine Verband der weiblichen Angestellten sieben Prozent

Indem die SPD zustimmte und damit von ihrem Sozialplan abrückte, war der Einheitsversicherungsgedanke letztlich aufgegeben.

Ein weiterer Baustein im Organisationssystem der Sozialversicherung wurde 1952 gelegt mit der Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als Nachfolgerin der im Dritten Reich aufgelösten entsprechenden Reichsanstalt. Im Gesetzgebungsprozeß ging es wieder um die Zusammensetzung und damit um die Machtpositionen in den Selbstverwaltungsorganen.

Das Gesetz fand nicht die Billigung der SPD und der hinter ihr stehenden Gewerkschaften.

Neben der Parität von Versicherten und Arbeitgebervertretern in den Selbstverwaltungsorganen brachte die gesetzliche Regelung des Sozialversicherungswesens eine weitere Neuerung gegenüber den Weimarer Verhältnissen: 1953 wurde entsprechend dem Grundgesetz-Grundsatz der Trennung von Verwaltung und Judikatur ein Sozialgerichtsgesetz verabschiedet, das wiederum — wie auch vorher schon das Arbeitsgerichtsgesetz — die Billigung der SPD erfuhr, wenngleich die Fraktion in Einzelpunkten ihre Auffassung nicht durchsetzen konnte.

So war am Ende der ersten Legislaturperiode die Organisation der Sozialversicherung abgeschlossen, so daß nun die Reform der sozialen Leistungen — des materiellen Rechts — in den Vordergrund der Diskussion treten konnte. Hier gelang bis zur großen Rentenreform 1957 nur Stückwerk, zumal zunächst spezifische Notstände der einzelnen vom Krieg geschädigten Gruppen — besonders Kriegsopfer. Vertriebene. Flüchtlinge. Evakuierte, Heimkehrer, Angehörige von Kriegsgefangenen, rassisch und politisch Verfolgte — gelindert werden mußten.

Auch bei der Rentenreform von 1957 kam es noch einmal zu einer Koalition von CDU/CSU und SPD, die dadurch möglich wurde, daß die SPD vom Prinzip der Volkspension abrückte und in dem Dynamisierungsprinzip — der laufenden Anpassung der Renten an die Lohnentwicklung — die den sozialen Verhältnissen angesichts des Wirtschaftsaufschwungs Mitte der fünfziger Jahre vorerst am besten und schnellsten gerecht werdende Lösung erkannte.

Worum ging es? W. Schreiber, einer der Väter der Rentenreform, betonte 1974 rückschauend, daß sich am Ende der vierziger Jahre in sozialgeschichtlicher Hinsicht eine „unübersehbare Epochenzäsur vollzogen“ habe Während früher die Gestaltungsprinzipien der Fremdhilfe, der Einkommens-umverteilung, der Fürsorge und Versorgung die stärkste Prägekraft gehabt hätten, sei nunmehr das Element der Selbsthilfe, der individuellen Selbstverantwortung jedes einzelnen deutlich in den Vordergrund getreten. Denn der Bürger der freiheitlichen Wirtschafts-und Gesellschaftsordnung wolle sein Leben in eigener Verantwortlichkeit und nicht als Kostgänger eines Versorgungssystems gestalten; er empfinde ein vitales Bedürfnis nach Einrichtungen, die es ihm erleichterten, sein Lebenseinkommen in bedarfsgerechter Weise auf alle, auch die nichteinkommensträchtigen Phasen seines Lebens umzuschichten: „Es geht um zeitlichen Transfer von Teilen des eigenen Einkommens, nicht mehr um Einkommensredistribution von einer Person auf die andere.“

Damit wird der Funktionswandel der Rente manifest. 1957 wurde tatsächlich der Grundsatz der Lohnersatzfunktion durchgesetzt. Das hieß, daß die „Standardrente“ von nun an ca. 60 Prozent der aktuellen durchschnittlichen Bruttobezüge aller Versicherten (realisiert wurden in den folgenden Jahren allerdings nur zwischen 40 und 50 Prozent) umfassen sollte, so daß unter Berücksichtigung von Abzügen kein Absinken des Lebensstandards im Alter zu befürchten war Für die Bewährung dieses Dynamisierungsprinzips spricht die Tatsache, daß 1963 die Unfallversicherung. 1967 die Kriegsopferversorgung. 1972 die Lastenausgleichsleistungen und 1974 das Krankengeld dynamisiert wurden. Das Beispiel der Sozialversicherungsgesetzgebung verweist auf eine Richtung, in die sich der junge Staat Bundesrepublik gesellschaftspolitisch entwikkelte: Auf der Grundlage traditioneller Grundstrukturen (gegliederte Sozialversicherung, Schutzbedürftigkeitsprinzip. Versicherungsprinzip) wurden evolutionäre Schritte getan, die der Demokratie die Zustimmung der Majorität ihrer Bürger sicherte. Die Gesellschaftsordnung blieb im Prinzip unverändert (Unternehmerwirtschaft, Individualeigentum, selbständiger Mittelstand), die sozialen Reformen brachten aber Anpassungsleistungen zum Abbau von systemimmanenten Spannungen und bedingten damit Interessenausgleich. Und auch die politische Demokratie zog daraus ihren Nutzen: Durch den wachsenden Anteil der Arbeitnehmer an der berufstätigen Bevölkerung der Bundesrepublik haben die an Sozialversicherungsleistungen besonders interessierten Wähler hohes politisches Gewicht und fördern damit Stabilität und Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie. Die Rentenreform „hat wie kein zweites Ereignis dazu beigetragen, das Vertrauen in die Sozialstaatlichkeit der Bundesrepublik herzustellen und den sozialen Frieden dauerhaft zu festigen“

II. Lastenausgleich

„Deutsche Politiker waren nicht die eifrigsten Propagandisten des Lastenausgleichs, die Militärregierungen, besonders nicht die amerikanische, keineswegs dessen Verhinderer. Was bisher nur auf Bodenreform und Sozialisierung bezogen war, gilt nicht zuletzt auch für den Lastenausgleich: Die Handlungsspielräume, die den Deutschen auf sozialpolitischem Gebiet von den Besatzungsmächten zugestanden wurden, waren größer als bislang angenommen. Während aber für Bodenreform und Sozialisierung auf deutscher Seite wenigstens programmatische Vorstellungen vorlagen, denen nur eine Umsetzung in konkrete Aktionsprogramme fehlte, existierten beim Lastenausgleich zwar recht verschiedene Pläne, denen aber fast allen die Unterordnung unter die Priorität der monetären Bereinigung gemeinsam war.“ Die Relevanz der Frage nach einem Vermögensausgleich zwischen den durch den Zweiten Weltkrieg, und seinen Folgen unterschiedlich betroffenen Bevölkerungsgruppen als zentrales Problem westdeutscher Innenpolitik steht außer jedem Zweifel. Ein Aspekt dieses Problems war der sogenannte Lastenausgleich, bei dem es kriegsbedingte Unterschiede der Vermögen zu beseitigen galt, und zwar unter besonderer Berücksichtigung der Kriegssachbeschädigten und Vertriebenen.

Schon 1945 setzte die Diskussion ein. Sie wurde aber gleichzeitig durch die ersten Eindrücke der allgemeinen Verwüstung und Zerstörung bereits in dem Sinne determiniert, daß wegen des vermeintlich kaum vorhandenen Aufbringungspotentials ein relativ zügiger individueller Ausgleich undenkbar sei. Schon im Detmolder Memorandum 1946 konnten sich die leitenden Finanzbeamten der Länder und Provinzen der britischen Zone und Bremens nicht auf eine sofortige radikale Gleichverteilung verständigen. Während die sozialdemokratischen Politiker von Gleichheitsvorstellungen ausgingen, traten die Fachleute aus Verwaltung. Banken und Versicherungen für das Entschädigungsprinzip ein. Man gelangte zur Formulierung von sechs „fundamentalen Voraussetzungen für jeden Versuch der Sanierung des deutschen Geldwesens“, die jedoch einen schnellen Lastenausgleich unmöglich machten. Schon hier trat die „künftige Gestaltung des deutschen Geldwesens“ an die erste Stelle Betrachtet man die übrigen 1945 und 1946 vorgelegten deutschen Pläne, so wird der Stellenwert des La-stenausgleichs als flankierende Maßnahme deutlich.

Auch die — allerdings halbherzig — verfolgten Pläne für einen korporativen Lastenausgleich, die über gruppeninterne Schadensausgleichsgemeinschaften von Angehörigen gleicher Wirtschaftssektoren und Vermögenskategorien eine schnelle Problemlösung vorsahen, waren nicht in der Lage, die anderen Teilnehmer an der Lastenausgleichsdebatte zu Überlegungen zu führen, wie man möglichst schnell und nicht nach jahrelangen Vorarbeiten zu einem Ergebnis gelangen könne. Wenig konkret blieb auch das von der britischen Militärregierung beim Zonenbeirat der britischen Zone im Herbst 1946 angeforderte Gutachten. Wieder ist zu beobachten, daß finanztechnische Überlegungen im Vordergrund standen.

Allein Gerhard Weisser, Generalsekretär des Zonenbeirats, legte einen Vorschlag vor, der eine einheitliche Lastenausgleichskonzeption enthielt, die von der Voraussetzung ausging, daß die jetzige Verteilung von Einkommen und Besitz in Deutschland „schlechthin sinnlos und das Produkt blinder Zufälle“ sei. Die Entschädigungsleistungen dürften nach Weissers Auffassung nicht „wie bei einer Konkursquote im Verhältnis zur früheren Höhe der Forderung bemessen werden, sondern müssen der subjektiven Schwere des Verlustes angepaßt werden“. Weisser wollte alle Geschädigten mit neuen Rechtsansprüchen in Gestalt von Renten versehen wissen, um die Sicherung oder Wiedererrichtung einer menschenwürdigen Existenz zu garantieren. Die Entschädigungsleistungen sollten durch eine Vermögensabgabe „beispielsweise bis 80 oder mehr Prozent in der Progression“ finanziert werden. Zusammenfassend betonte Weisser, sein Vorschlag „würde von der gesamten Bevölkerung wegen seiner Durchsichtigkeit und leicht erkennbaren Gerechtigkeit verstanden und gewürdigt werden. Er würde symbolisch ausdrücken, daß nach dem völligen Zusammenbruch der deutschen Volkswirtschaft und ihres früheren Regimes nur ein neues System von Rechten dem moralischen Gewicht der Geschädigten gerecht werden kann.

Die Vorstellungen der Alliierten über eine Reorganisation der deutschen Währung und Finanzen brauchen hier nicht ausführlich behandelt zu werden Bekannt ist der Colm-Dodge-Goldsmith-Plan vom Mai 1946 (CDG-Plan), der die oft ins Spekulative abgleitende Diskussion über Geldreform und Lastenausgleich bis zur Wirtschaftsreform 1948 auf neue Grundlagen stellte, zugleich aber Währungsschnitt und Lastenausgleich zeitlich voneinander trennte. Entsprechend wurde 1948 die Währungsreform durchgeführt. Weniger bekannt ist der Umstand, daß General Clay sich gegen den CDG-Plan wandte und in außerordentlicher Eindringlichkeit bereits im Sommer 1946 eine Kombination von Geldreform und Lastenausgleich forderte: „Abweichend vom Bild des ebenso zielbewußten wie unnachgiebigen Offiziers, zu dessen Entstehen er selbst durch sein arbeitsreiches und einsames Leben beitrug, hatte Clay ein bemerkenswertes Gespür für die sozialpsychologischen Konsequenzen einer einseitigen Geldreform entwickelt, die die Klassenspaltung zwischen der Masse der expropriierten Geldbesitzer und einer Minderheit von Sachvermögenseigentümem bedrohlich vertiefen mußte.“ Dabei war es ihm sehr wichtig, daß die kleinen Sparer und Einkommensbezieher, welche die soziale Basis eines neuen demokratischen Deutschlands bilden sollten, nicht mit einseitigen Maßnahmen abspenstig gemacht würden.

Clay hatte keinen Erfolg. Ende August 1946 wurde der CDG-Plan als ganzer verabschiedet. Der Plan trug nicht dazu bei, die vier Kontrollratsmächte zu einer Einigung zu führen; die Verhandlungen wurden nach der Moskauer Außenministerkonferenz schließlich abgebrochen Eine deutsche Diskussion des CDG-Plans kam nicht recht in Gang, denn die Alliierten ließen die Einzelheiten im dunkeln. Ferner war die Zuspitzung im Ost-West-Konflikt nicht geeignet, Verhandlungen zu fördern, zeichnete sich doch langsam ab, daß die für Gesamt-deutschland geplanten Maßnahmen wohl nur noch zonenbezogen realisierbar waren.

Auch Weissers Vorschlag führte zu keinem Erfolg. Man wird allerdings sagen können, daß die Diskussion in der britischen Zone intensiver als in der amerikanischen war. Die deutschen Politiker in der amerikanischen Zone zeigten — so Schillingers Einschätzung — „wenig Neigung, Stellung zu den Problemen des Lastenausgleichs und der Währungsreform zu nehmen“ Eine öffentliche Diskussion über diese Frage gab es eigentlich nicht. Eine frühe Beteiligung der Flüchtlinge daran wurde durch alliierte Lizenzierungsmaßnahmen bereits im Frühjahr 1946 abgeblockt. Die Parteien haben den Lastenausgleich — von Ausnahmen abgesehen — nur am Rande berücksichtigt. Selbst die SPD kam über allgemeine Deklarationen bezüglich der Notwendigkeit einer Verbindung von Währungsreform und Lastenausgleich nicht hinaus. Und als die Lastenausgleichsfrage 1947 im Zuge der Bildung des Frankfurter Wirtschaftsrates vor die der Verwaltung für Finanzen zugeordnete „Sonderstelle Geld und Kredit“ (SGK) gekommen war. die Anfang 1948 zu dem Entschluß gelangte, daß der Lasten-ausgleich von der Währungsreform zu lösen und wesentlich später zu realisieren sei, gab es daran keine grundlegende Kritik, auch nicht von gewerkschaftlicher Seite.

Im berühmten Konklave von Rothwesten bei Kassel, das seit dem 20. April 1948 die Währungsreform vorbereitete, fanden sich die deutschen Vertreter bereitwillig mit der Abtrennung des Lasten-ausgleichs und seiner Zuweisung an die deutschen Stellen ab. Auch Ludwig Erhard, der zwar den Lastenausgleich als Teil der Währungsreform ansah, konnte sich die Durchführung des Lastenausgleichs im Anschluß an den Geldschnitt vorstellen. „Die Ausklammerung konkreter Bestimmungen zum Lastenausgleich, die von Washington bzw.den westlichen Besatzungsmächten im vermeintlichen Wettlauf mit den Sowjets um der raschen reibungslosen Abwicklung der Währungsreform willen betrieben worden war. konnte somit, folgt man den Quellen, ohne wirklich prinzipielle Gegenvorstellungen vor sich gehen.“

So geriet die Abtrennung des Lastenausgleichs auch sehr schnell angesichts des mit der Währungsreform aufbrechenden Optimismus* ins Abseits, obwohl Termine für seine Abwicklung bereits festgelegt worden waren. Als Gründe für die fehlende deutsche Gegenposition sind geltend gemacht worden: 1. Die Überschätzung der Kriegszerstörungen und die Unterschätzung des Aufbringungspotentials. 2. Das geringe Interesse der Geschädigten inclusive der Flüchtlinge. 3. Die politischen Foren waren noch nicht herausgebildet, in denen sich eine allgemeine Meinungsbildung öffentlich hätte vollziehen können, so daß die Willensbildung den Experten-runden überlassen blieb. Schließlich sind die Befürworter einer individualistischen Wirtschaftsordnung oft Gegner eines individuell orientierten Lastenausgleichs gewesen

Mit der Trennung von Währungsreform und Lastenausgleich und der Übergabe des Lastenausgleichs in deutsche Hände waren wiederum in einem gesellschaftspolitisch zentralen Bereich Weichen gestellt, die für das sozialökonomische System der entstehenden Bundesrepublik Deutschland von größter Bedeutung wurden. Die mit der Währungsreform einhergehende Wirtschaftsreform wirkte verstärkend, wurde sie doch von dem Prinzip geleitet, daß Umverteilung erst dann erfolgen könne, wenn vorher produziert worden sei. So gelangte der Lastenausgleich in den Sog einer Wirtschaftspolitik, die den Markt als solchen bereits als sozial klassifizierte. Der Lastenausgleich wurde allen Maßnahmen zur Kapitalbildung nachgeordnet.

Unter Ausklammerung von Grundsatzfragen wurde — ähnlich wie beim Sozialversicherungswesen — das Soforthilfegesetz, das 1949 schließlich von den Alliierten genehmigt wurde, wiederum auf der Basis der sozialpolitischen großen Koalition von Christ-und Sozialdemokraten beschlossen. Das Gesetz beschränkte sich auf soziale Hilfen und bemühte sich dabei um die frühere Fürsorge ablösende Maßnahmen. Unterhaltshilfe und später die Kriegsschadensrente streiften die Reste des Fürsorgegeruchs ab. Die Mittel wurden aus 3 000 DM übersteigenden Vermögen (jährliche Abgaben von drei Prozent, bei land-und forstwirtschaftlichen Betrieben zwei Prozent), aus Warenvorräten (vier Prozent) und aus Hamsterbeständen (15 Prozent) genommen Der Effekt des Sozialhilfegesetzes war ein ausgleichender, indem er der befürchteten Radikalisierung der Flüchtlinge entgegenwirkte. Zusammen mit ersten Erfolgen des Erhardschen Kurses hat das Gesetz mit zum Erfolg der „bürgerlichen“ Parteien bei der ersten Bundestagswahl beigetragen, obwohl es von der SPD mitbeschlossen worden war.

Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland begann 1949 die sozialpolitische Grundsatzdebatte über den Lastenausgleich. Sie stand — und hier wirkte der Sog des Liberalisierungskurses der Bundesregierung — von Beginn an in dem Dilemma. einerseits mittels des Lastenausgleichs das durch Vertriebene und Flüchtlinge gebildete soziale Unruhepotential auch weiterhin zu pazifizieren. andererseits die Vermögen zu verteilen, die zur neuen Kapitalbildung unerläßlich waren. Würde es gelingen, lang anhaltendes Wachstum zu erreichen, dann ergäben sich neue Verteilungsspielräume für den Lastenausgleich. Der Kurs der Bundesregierung zielte in diese Richtung. Der Lastenausgleichsentwurf der Bundesregierung von 1950 sah die Hauptentschädigung als quotale Abgeltung von Vermögensschäden vor und entfernte sich damit deutlich von der bisherigen Herausstellung sozialpolitischer Grundsätze bei den Ausgleichszahlungen.

Grundlage für das definitive Lastenausgleichsgesetz. das am 14. August 1952 in Kraft trat, bildete das Feststellungsgesetz von 1951/52, welches das Ausmaß des Problems umschrieb. W. Abeishauser benennt den Umfang des Schadens: Neben den Verlusten der 7, 9 Millionen bis 1950 in die Bundesrepublik gekommenen (bis 1961: 8, 9 Millionen) Vertriebenen und Flüchtlinge hatten in Westdeutschland selber mehr als drei Millionen Menschen Vermögensschäden infolge des Krieges erlitten. Die Schadensrechnung sah so aus: 62 Mrd. RM privater Vermögensverlust durch Vertreibung. 27 Mrd. RM privater Sachschaden im Reich. 100 Mrd. Verluste durch Währungsreform, von de-nen 25, 8 Mrd. RM als entschädigungspflichtig anerkannt wurden

In der Lastenausgleichsgesetz-Debatte spielte, da die Umverteilung der Realvermögen wegen der oben genannten Prioritätensetzung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus vor der sozialen Gerechtigkeit für die Regierungskoalition kein Diskussionspunkt war. die Frage der Finanzierung des Lastenausgleichs die zentrale Rolle. „Rebellen“ in der CDU/CSU-Fraktion unter Führung von Linus Kather erreichten eine erhebliche Ausweitung des staatlichen Anteils an der Finanzierung. Von den jährlich aufzubringenden 2, 1 Mrd. DM mußte die öffentliche Hand ein Drittel übernehmen, was bedeutete, daß „die Geschädigten selbst einen erheblichen Teil des Lastenausgleichs durch eigene Steuerleistung mit finanzieren mußten“ Auch die Entscheidungen für eine jährliche staatliche Bereitstellung von 250 Mrd. DM für die Kriegsschadensrente und für die Abzugsfähigkeit der Vermögensabgaben bei der Einkommens-und Körperschaftssteuer dienten dazu, die Belastung der Wirtschaft so niedrig wie möglich zu halten. Der SPD-Abgeordnete Heiland hatte recht, wenn er das Lastenausgleichsgesetz als „Kriegsschadenssteuergesetz“ bezeichnete

Die Vermögensabgabe in Höhe des am Stichtag der Währungsreform vorhandenen Vermögens in Höhe von 50 Prozent (Landwirtschaft 25 Prozent), auf der Basis der steuerlichen Einheitswerte als Steuer konzipiert, konnte in der Tat aus den laufenden Vermögenserträgen bestritten werden und stellte somit kaum eine Belastung für die Wirtschaft dar. „Selbst 1950 machte die Belastung auf Unternehmertätigkeit und Vermögen lediglich 5 v. H. aus. In den folgenden Jahren, in denen die Vermögens-erträge stark zunahmen, ging diese Belastung noch weiter, nahezu bis zur Bedeutungslosigkeit zurück. Deshalb sind im Rahmen des Lastenausgleichs bis 1979, als die Abgabepflicht erlosch, zwar 113, 9 Mrd. DM an Leistungen aufgebracht und verteilt worden und werden bis zum Ende seiner Wirksamkeit jenseits des Jahres 2000 insgesamt 146 Mrd. DM ausgegeben worden sein, doch hat er in die Verteilung des Produktivvermögens praktisch nicht eingegriffen.“

Dennoch ist das nur die eine Seite des Problems; die Wirkung des Lastenausgleichsgesetzes in sozialpolitischer Hinsicht ist die andere. Denn es wurden in der Tat Milliardenbeträge als Hauptentschädigung, Kriegsschadensrente, Hausratsentschädigung oder Währungsausgleich gezahlt und Darlehen zur Wiedereingliederung. Wohnungsraumbeschaffung und Ausbildungshilfe gewährt Insofern ist G. Bucerius im Recht, wenn er rückschauend die Wirkungen des Lastenausgleichsgesetzes als die „größte Vermögensabgabe der Geschichte“ bezeichnete

Der Lastenausgleich hat sicherlich seinen unverwechselbaren Beitrag zur Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge geleistet, allerdings muß davor gewarnt werden, ihn zu überschätzen. Denn die Zahlungen begannen erst 1959 wegen der Schwierigkeiten von Schadensfeststellungen und Finanzierung. 1979 waren erst rund 22 Prozent der anerkannten Vermögensverluste ausgeglichen. Die Erben wurden die Nutznießer. In den fünfziger Jahren gehörten die Vertriebenen und Flüchtlinge zur Nachhut des westdeutschen „Wirtschaftswunders“ und blieben es darüber hinaus. C. Kießmann ist aber darin zuzustimmen, daß das Lastenausgleichsgesetz von 1952 zweifellos in psychologischer Hinsicht eine wichtige Signalfunktion gehabt hat: „Es versprach ein Stück Wiederherstellung .des Alten* im neuen Staat und ein Stück materieller Sicherheit. auch wenn die Realisierung noch einige Jahre auf sich warten ließ. Mit dieser Perspektive wurde das vorhandene Radikalisierungspotential unter den Vertriebenen partiell abgeschöpft. Dem BHE gelang zwar 1953 noch der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde in den Bundestag, und in den Land-tagen der Flächenstaaten spielte er noch eine beträchtliche Rolle, aber gegen die Sogwirkung und die paralysierende Kraft einer Regierungspartei, die soziale Sicherheit mit der Option für den Westen verband und dabei auch auf schnelle Erfolge hinweisen konnte, war auf die Dauer wenig auszurichten. Insofern hat die Politik gegenüber den Vertriebenen zur inneren Stabilisierung wesentlich beigetragen, so schrill auch manche Töne nach Osten noch ausfielen.“

III. Beamtenrecht

„Die Antithese Restauration oder Neuordnung, die als Interpretationskonzept zur Gründungsgeschichte der Bundesrepublik nicht nur von Historikern gerne benützt wurde und immer noch ange-wendet wird, hat sich in der Mehrzahl der bislang untersuchten gesellschaftlichen Bereiche als wenig fruchtbar erwiesen. Nur zu oft diente die Restaurationsthese der Stützung nachträglich formulierter politischer Postulate, die an der Realität der Gründerjahre vorbeisahen. Trotz der gebotenen Skepsis gegenüber global vermuteter unbedingter Restaurationsabsicht im ersten Jahrzehnt nach 1945 — auf deutscher wie auf westalliierter Seite — gibt es verpaßte Chancen der Neuordnung. Vielleicht der wichtigste Bereich, in dem die Weichen in zäher und beharrlicher Arbeit in die Richtung des Hergebrachten zurückgestellt wurden, war das System des Öffentlichen Dienstes. In der Beamtenfrage wurden alle Anstrengungen unternommen, um Reformen. die von den Besatzungsmächten initiiert waren — und deren Konzept auf deutscher Seite in den siebziger Jahren als einleuchtend erkannt und nachempfunden wurde — zu verhindern und rückgängig zu machen.“

Der These von W. Benz widersprechend, daß alle Initiativen zur Reform des Öffentlichen Dienstes von den Amerikanern ausgegangen seien, legte U. Reusch 1985 zwei Arbeiten vor, die sich mit den britischen Versuchen zur Neuordnung des deutschen Beamtentums befassen Ein weiterer Beitrag folgte 1987 Als primär innerdeutsche Angelegenheit betrachtet U. Wengst die Beamtenrechtsfrage in seiner 1988 erschienenen Studie „Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948— 1953“

Die amerikanische und die britische Besatzungsmacht waren erst im Laufe des Jahres 1946 mit ihren Vorbereitungen so weit gediehen, daß sie Gesetze bzw. Leitlinien vorlegen konnten. Für die Länder ihrer Zone erließ die US-Militärregierung im Herbst 1946 durch die Ministerpräsidenten der Länder Beamtengesetze, die das Deutsche Beamtengesetz hier außer Kraft setzten, während die britische Militärregierung im Juni 1946 eine Beamtendirektive herausgab Bis zum oktroyierten Beamtengesetz der britischen und der amerikanischen Besatzungsmächte für das Vereinigte Wirtschaftsgebiet im Februar 1949 war das Deutsche Beamtengesetz von 1937 in der britischen und auch in der französischen Zone — mit Ausnahme der automatisch suspendierten nationalsozialistischen Zutaten — unverändert Rechtsbasis des Öffentlichen Dienstes. Die britische Direktive sah vor, den traditionellen deutschen Beamtenapparat zu zerschlagen und in eine Vielzahl gesonderter Öffentlicher Dienste der einzelnen Gebiets-und sonstigen öffentlich-rechtlichen Körperschaften sowie der Sonderverwaltungen zu überführen. Dabei sollten die Gemeinden. Länder und Provinzen ihre Beamtenangelegenheiten in eigener Kompetenz regeln, also auch die Beamten berufen und besolden. Die Bezeichnung „Beamter“ sollte nur noch für die entsprechenden Bediensteten der zentralen staatlichen Stellen gelten. Dabei war wohl nicht gemeint, auf den verschiedenen Ebenen das öffentlich-rechtliche Dienst-und Treueverhältnis z. B. von Kommunal-und Landesbeamten generell zugunsten von privat-rechtlichen Arbeitsverhältnissen aufzugeben. Sodann sollten die Berufsbeamten den gewählten Volksvertretern als „deren unpolitische Bedienstete“ untergeordnet werden Das bedeutete Trennung der politischen und exekutiven Funktionen sowie Unterbindung aktiver Teilnahme der Beamten an der Politik. Schließlich sollte die Beamtenschaft sich nicht mehr als Vertreter der Obrigkeit verstehen, sondern als „Berater und Diener der Vertretungskörperschaften und Parlamente wie der einzelnen Bürger“ Das setzte Abbau der Beamtenprivilegien unter der Leitlinie der Laufbahn-durchlässigkeit sowie die Einführung des Leistungsund Bewährungsaufstiegs voraus.

Diese Prinzipien galten generell auch für die Länder in der amerikanischen Besatzungszone. Den Amerikanern ging es darüber hinaus u. a. besonders auch darum, den Dualismus Beamte. Angestellte des Öffentlichen Dienstes durch ein einheitliches Dienstrecht zu beseitigen Damit legten beide Reformprogramme die Axt an die Wurzeln des traditionellen deutschen Berufsbeamtentums mit seiner strengen Staatsbezogenheit (Träger eines Staatsorgans. Bestandteil der Staatspersönlichkeit. Repräsentant der Staatsidee), seiner hierarchischen Struktur, der fehlenden politischen Neutralität, der Lebenszeitstellung, des Juristenmonopols, der speziellen Ausbildungsprinzipien sowie der fehlenden Kontrolle durch unabhängige Gremien

Und die Reaktion der Deutschen? Am Beispiel der amerikanischen Beamtenpolitik in Bayern läßt sich zeigen, daß das als wesentliche institutionelle Neuerung geschaffene Landespersonalamt mit seinen umfänglichen Befugnissen zur Lenkung der Stellen-besetzung, zur Durchführung einheitlicher Prüfungen mit Wettbewerbscharakter und zur Vornahme der Gehaltsanweisungen nicht so funktionierte, wie die Reformer es erwarteten. Die Ausführungsbestimmungen des den amerikanischen Minimalforderungen entsprechenden Gesetzes, u. a. die Gleichstellung von Beamten und Angestellten betreffend. ergingen nämlich nicht. Von 1947 bis an die Schwelle der Gründung der Bundesrepublik Deutschland reichten die Auseinandersetzungen zwischen der Militärregierung in Bayern und der Landesregierung, ohne daß die Besatzungsmacht einen grundlegenden Schritt weiterkam. Schließlich wurde von der Landesregierung 1949 ein Entwurf für ein neues Beamtengesetz erarbeitet, zu dem es im chronologischen Report des Office of Military Government for Bavaria heißt: . . mit ein oder zwei geringfügigen Ausnahmen mißachtete der Entwurf die einzelnen Reformgrundsätze, wie sie im Gesetz Nr. 15 (das bizonale Gesetz vom Februar 1949. d. V.) für die Bizone festgelegt bzw. von der Militärregierung für Bayern empfohlen worden waren“

Nicht geringer war der deutsche Widerstand in der britischen Zone. Der Direktive vom Juni 1946. die nicht Gesetzescharakter hatte, war schon im Dezember 1946 die Verordnung Nr. 57 gefolgt, die den neugeschaffenen Länderorganen eine begrenzte Kompetenz auch in Beamtenrechtsfragen einräumte. Damit begaben sich die Briten gleichsam freiwillig der Möglichkeit, selber ein neues Beamtenrecht zu schaffen. Von deutscher Seite geschah in der Folge nichts, bis die Briten im Herbst 1947 einen letzten Versuch unternahmen, die Landesbeamtenreferenten der Länder ihrer Zone zur Reform des Berufsbeamtentums zu veranlassen. Sie scheiterten mit ihrem Bemühen. In der gemeinsamen Anstrengung der Briten und Amerikaner auf bizonaler Ebene ging es dann darum, den Frankfurter Wirtschaftsrat zu einer Gesetzgebung nach alliierten Richtlinien zu veranlassen. Organisatorisch sollte das durch die Errichtung eines Personalamtes als unabhängige Behörde nach dem Vorbild der britischen Civil Service Commission mit Zuständigkeit für das gesamte Personalwesen des Vereinigten Wirtschaftsgebietes geschehen, legislativ durch ein Personalordnungsgesetz. „Allgemeine Richtlinien hinsichtlich bizonalen Personals bei der Verwaltung und Gesetzgebung“ wurden dem Wirtschaftsrat am 31. Oktober 1947 bekanntgegeben. Am 13. November folgte ein Maßnahmenkatalog. Sofort sollte eine Interimsgesetzgebung für Personalfragen veranlaßt werden. Ein derartiges „Übergangsgesetz über die Rechtsstel-lung der Verwaltungsangehörigen der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes“ wurde am 22. April 1948 verabschiedet, dem die Alliierten nach Erledigung von Änderungswünschen zustimmten. Am 23. Juni 1948 trat es zusammen mit dem Gesetz über das Personalamt in Kraft.

Zwar kam das Interimsgesetz einigen alliierten Forderungen nach, indem es die Begründung des Dienstverhältnisses durch Dienstvertrag regelte, den Einfluß des Personalamtes festschrieb und freie Stellen ausschreibungspflichtig nannte. Wie sehr man jedoch die heißen Eisen umging, wird daran deutlich, daß man zur Vermeidung einer offiziellen Gleichstellung von Beamten, Angestellten und Arbeitern den Terminus „Verwaltungsangehörige“ einführte. Die Besatzungsmächte waren mit diesem Gesetz im Unterschied zu den Deutschen, die ihre Pflicht fürs erste als erledigt ansahen, nicht zufrieden und verlangten, den definitiven Gesetzentwurf im Wirtschaftsparlament zu verhandeln. Zwar arbeitete dann ein Ausschuß einen den alliierten Wünschen entsprechenden Entwurf aus, dessen endgültige Fassung vom 15. September 1948 jedoch wieder die traditionellen deutschen Auffassungen enthielt. Dabei waren die CDU-Mitglieder des Ausschusses federführend. „Spätestens ab September 1948 wurden auf deutscher Seite im Hinblick auf das Zusammentreten des Parlamentarischen Rates alle möglichen Verzögerungstaktiken angewendet, um die Verabschiedung des Personalgesetzes solange zu verschieben, bis die neue staatliche Ordnung den Deutschen freie Hand geben würde.“

Dennoch lag der Entwurf am 8. November 1948 dem Wirtschaftsrat vor. Am 2. Dezember 1948 gaben die Amerikaner und Briten erneut ihre Wünsche bekannt. Am selben Tag wurde zu Verzögerungszwecken auf Initiative von CDU/CSU, FDP, DP und Zentrum erneut ein Beamtenrechtsausschuß eingesetzt. Das war offensichtlich das Signal für die Alliierten, nun ihrerseits am 15. Februar 1949 das Gesetz Nr. 15 zu okroyieren. Zwar übernahm das Gesetz den größten Teil des vom Beamtenrechtsausschuß des Wirtschaftsrates erstellten Entwurfs, doch ging es „auf geradezu revolutionäre Weise“ über den deutschen Entwurf hinaus Die Kategorie der Angestellten wurde beseitigt, bei Beamten wurde zwischen solchen auf Dauer und auf Zeit unterschieden. Sodann wurde das Inkompatibilitätsgebot eindeutig fixiert, weiterhin die Disziplinargerichtsbarkeit als Prinzip abgeschafft und schließlich die Zuständigkeit des Personalamts als Stelle für Grundsatzfragen des Dienstrechtes und für die Personalpolitik ausgeweitet.

Die Reaktionen der Deutschen auf diesen Gesetzesoktroi mußten heftig sein. Während die Gewerkschaften, die 1949 den DGB bilden sollten, aufgrund der Abschaffung der Kategorie der Angestellten eigentlich hätten zustimmen können, jedoch die Beseitigung der politischen Betätigung der Beamten kritisierten, mußten sich die Angestellten-Gewerkschaften, denen der Boden entzogen wurde, generell auflehnen. Auch die SPD kritisierte das Gesetz. Hatte die SPD-Fraktion im Wirtschaftsrat den bürgerlichen Parteien die Verantwortung überlassen, obwohl ihre Vorstellungen denen der Briten und Amerikaner näher standen, so kritisierte sie jetzt die Verzögerungstaktik der Mehrheit des Wirtschaftsrates, welche die Reaktion der Militärregierungen hervorgerufen habe. Die CDU/CSU kritisierte die Entscheidung der Alliierten prinzipiell, rechtfertigte aber gleichzeitig ihre Verzögerungstaktik und verwies auf die Kompetenz der Organe der zukünftigen Bundesrepublik für ein derartiges Reformwerk.

Die Besatzungsmächte einschließlich der Franzosen erklärten die Inhalte des Gesetzes Nr. 15 auch für die definitive Regelung durch die Bundesorgane als verbindlich. Am 2. Juni 1949 verordneten die Militärregierungen für den ersten Bundestag eine nur unwesentlich eingeschränkte Inkompatibilität von Mandat und besoldetem Amt. Am 12. September 1949 erklärten sie die Gültigkeit des Gesetzes Nr. 15 für die Bundesbeamten. „Diese Politik des Oktroi stand ... im Widerspruch zu der westdeutschen Staatsgründung unter dem Zeichen von Demokratie und Selbstbestimmung, zum Grundgesetz und zum Besatzungsstatut. Die Alliierten zielten offensichtlich darauf ab, die verfassungsrechtliche . Grauzone'zwischen Verabschiedung des Grundgesetzes und Konstituierung der Bundesorgane für präjudizierende Eingriffe in Verfassungsrecht und -praxis des werdenden deutschen Teilstaates auszunutzen. In der Beamtenfrage lief diese Politik auf eine . Nachbesserung'und . Ergänzung'des Grundgesetzes hinaus.“

In der Tat hatte der Parlamentarische Rat die Grundsätze des Berufsbeamtentums im Grundgesetz fixiert (Art. 33. 4 und 5). Indem sie das Grundgesetz genehmigten, beraubten sich die Alliierten letztendlich der Möglichkeit zur Durchsetzung ihres oktroyierten Gesetzes, stand doch die Verfassung höher als das einfache Gesetz.

Nach Konstituierung der Bundesrepublik verfügten die Hohen Kommissare die Gültigkeit des oktroyierten Gesetzes Nr. 15 für die Bediensteten des Bundes bis zu einer bundesgesetzlichen Regelung. Das veranlaßte die Bundesregierung zu einem Entwurf für ein vorläufiges Personalgesetz, das die Rechtsverhältnisse der Bediensteten des Bundes auf der Grundlage des von nationalsozialistischen Akzenten gereinigten und geringfügig veränderten Deutschen Beamtengesetzes von 1937 regelte. Bis zum Frühjahr 1950 nahm das Gesetz, dem SPD und DGB widersprachen, indem sie erstmals die Prinzipien des oktroyierten Gesetzes befürworteten, die parlamentarischen Hürden. Das Veto der Hohen Kommissare, in dem immerhin erstmals die Forde-rung nach Abschaffung der Angestellten-Kategorie fehlte, konnte überwunden werden, indem Adenauer die Berücksichtigung alliierter Wünsche für das definitive Beamtengesetz zusagte sowie per Verordnung eine Einschränkung der politischen Betätigung der Beamten und die Einrichtung eines Personalausschusses versprach. Im Juni 1950 suspendierte die Hohe Kommission das oktroyierte Gesetz Nr. 15 bis Ende des Jahres. Ihr Interesse an Einflußnahme auf die deutsche Gesetzgebung wurde allmählich geringer. Und als die Arbeit am Beamtengesetz länger als vorgesehen dauerte, wurde die Suspendierung des oktroyierten Gesetzes immer wieder verlängert.

Die schließlich unbefristete Aussetzung im März 1952 zeigte zugleich das Ende des alliierten Interesses an weiterer zermürbender Einflußnahme aufdie deutsche Gesetzgebung. So konnte von da an der Bundestagsausschuß für Beamtenrecht im Anschluß an die erste Lesung des Gesetzentwurfes im Bundestag (16. Januar 1952) die Hauptforderungen der Alliierten beiseite schieben. Die Möglichkeit der Aktivität von Beamten für politische Parteien war unbestritten. Die Inkompatibilität von Amt und Mandat wurde im Prinzip anerkannt, die definitive Regelung in einem Rechtsstellungsgesetz orientierte sich an einem entsprechenden vorläufigen Gesetz vom Mai 1951. Schließlich stand die Existenz des Personalausschusses nicht mehr zur Diskussion, aber: „seine Kompetenzen wurden gegenüber den Bestimmungen der Regierungsvorlage noch etwas erweitert, ohne daß er damit jedoch auch nur annähernd die Befugnisse erhielt, die die Alliierten für ein Personalamt gefordert hatten“

Interessanterweise gelang in der parlamentarischen Debatte eine breite Zustimmung aller Fraktionen — bis auf die KPD —, nachdem es in den Fragen der Pensionsberechtigung wie dem Beförderungsschnitt zu unterschiedlichen Abstimmungsmehrheiten gekommen war. Das Gesamtgesetz wurde am 2. Juni 1953 gegen die Stimmen der KPD angenommen, obwohl es im wesentlichen nichts anderes als eine Fortschreibung der Tradition darstellte.

In den Beratungen über ein Gesetz zum Artikel 131 GG ging es um das Problem der Beamten, die von den Alliierten nach 1945 aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen NS-Vergangenheit entlassen worden waren. Der Artikel 131 GG lautet: „Die Rechtsverhältnisse von Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 im öffentlichen Dienste standen, aus anderen als beamten-oder tarifrechtlichen Gründen ausgeschieden sind und bisher nicht oder nicht ihrer früheren Stellung entsprechend verwendet werden, sind durch Bundesgesetz zu regeln. Ent-sprechendes gilt für Personen einschließlich der Flüchtlinge und Vertriebenen, die am 8. Mai 1945 versorgungsberechtigt waren und aus anderen als beamten-oder tarifrechtlichen Gründen keine oder keine entsprechende Versorgung mehr erhalten. Bis zum Inkrafttreten des Bundesgesetzes können vorbehaltlich anderweitiger landesrechtlicher Regelung Rechtsansprüche nicht geltend gemacht werden.“

Der langwierige Prozeß von Gesetzgebung und Gesetzesnovellierung des „ 131er“ -Gesetzes sowie der Gesetzgebung zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des Öffentlichen Dienstes bis 1953 soll hier nicht nachvollzogen werden Wesentlich erscheint die Bilanz der Wiedereinstellung von „ 131em“: Von 1945 bis zum 31. März 1953: 158 000 untergebrachte Personen (ohne Bundesbahn und Bundespost), vom 1. Juli 1951 bis 30. September 1952 über 3 100 neueingestellte 131er; bis 31. März 1953 nochmals 8 000. „Diese doch recht große Zahl wiedereingestellter , 13ler trug erheblich zur Kontinuität des Beamtentums über den Bruch von 1945 und in den Jahren danach bei und stabilisierte (die) parallele Entwicklung in der Beamtengesetzgebung.“

Am Ende stand also der Sieg der deutschen Beamten-Tradition. Ein weiterer Ansatz zu grundlegender Reform kam nicht zum Tragen, weil die Deutschen es nicht wollten. Die Fast-Einstimmigkeit des Bundestagsbeschlusses vom 2. Juni 1953 lieferte dazu den Beweis. U. Wengst betont den Anteil Adenauers an dieser Gesetzgebung: „Beeindrukkend war dabei vor allem, mit welcher Festigkeit in der Sache und mit welcher Konzilianz in der Form er seinen Standpunkt gegenüber den Hohen Kommissaren behauptete und wie er den sich allmählich erweiternden Handlungsspielraum zu nutzen verstand. einen Verzicht der alliierten Eingriffe in die deutsche Beamtengesetzgebung zu erreichen.“ Auch habe der Bundeskanzler es geschickt verstanden, innerhalb des Gesetzgebungsprozesses diesen in kritischen Momenten zu fördern, zu verzögern oder aber Beschlüsse durchzusetzen, die er für notwendig und richtig erachtete. Wengst sieht weiterhin die Dominanz der Regierung im Gesetzgebungsprozeß. Bundestag und Bundesrat hatten in erster Linie die Vorlagen der Regierung zu ergän-zen und umzugestalten, „was aufs Ganze gesehen von beiden Institutionen in großem Ausmaß und mit bisweilen erstaunlichem Selbstbewußtsein wahrgenommen worden ist“

Wengst bescheinigt dem westdeutschen Parlamentarismus der Gründungsphase der Bundesrepublik allgemein und konkret am Beispiel des Prozesses der Beamtengesetzgebung ein erstaunliches Maß an Verantwortungsbewußtsein der ihn tragenden Kräfte, mit Hilfe derer sich die Bundesrepublik von Beginn an von der Weimarer Republik grundsätzlich insofern unterschied, als sie parlamentarische Entscheidungsprozesse zu einem erfolgreichen Abschluß brachte. „Ob diese positive Bewertung auch für das Ergebnis dieser Gesetzgebungsprozesse zutrifft, ob also die an traditionellen Leitbildern orientierten beamtenrechtlichen Regelungen . Geburtsfehler oder Stützpfeiler der Demokratie'gewesen sind . . .. ist bis heute umstritten und fällt je nach politischem Standort und Einschätzung des demokratischen Gehalts der Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland unterschiedlich aus. Ohne hierauf ausführlich eingehen zu wollen, erscheinen folgende abschließende Feststellungen angebracht zu sein. Der Beamtengesetzgebung in den Anfangsjahren der Bundesrepublik, die auf eine Integration der überkommenen Beamtenschaft abgestellt war. kann insoweit Erfolg bescheinigt werden, als es ihr gelungen ist, die Loyalität dieser Personengruppe zum neuen Staat zu gewinnen und ihre Mitarbeit zu sichern. . Weimarer Verhältnisse'hat es daher auch in der Beamtenschaft der Bundesrepublik nie gegeben. Die mitunter recht deutlich formulierte Kritik an der bürokratischen Kontinuität vor und nach 1945/49 sollte nicht übersehen, daß dies so selbstverständlich nicht war. Auch die zweite Demokratiegründung in Deutschland erschien den Zeitgenossen mit Recht durchaus ungesichert und gefährdet. Die dann wider Erwarten rasche Konsolidierung des neuen Staates ist gewiß auch darauf zurückzuführen, daß von Beginn an eine effiziente Verwaltung aufgebaut wurde, die nunmehr demokratisch legitimierte Politik bereitwillig umsetzte und damit zu einer gesellschaftlichen und politischen Stabilisierung beitrug, die es bislang im Deutschland des 20. Jahrhunderts nicht gegeben hatte und die bis in die Gegenwart angehalten hat.“

IV. Gewerbefreiheit

Den Abschluß möge ein Beispiel bilden, das nicht eine den vorausgehenden gleichwertige Brisanz hatte, an dem sich aber nicht minder deutlich das Spannungsverhältnis zwischen innovatorischen Impulsen und Beharrung traditioneller Strukturen aufzeigen läßt. Es waren eben nicht nur die Schlagzeilen machenden Bereiche, in denen um neue Lösungen gerungen wurde.

1948 ergriff die amerikanische Militärregierung die Initiative zur Wiedereinführung der Gewerbefreiheit und damit zur Abschaffung der restriktiven Gewerbegesetzgebung des Dritten Reiches. Die Initiative richtete sich sowohl gegen das Prinzip der Lizenzierung durch Konzessionen oder Befähigungsnachweise — zum traditionellen deutschen Gewerbezulassungsverfahren gehört die Prüfung von Bedürfnis. Sachkunde und persönlicher Zuverlässigkeit — als auch gegen den Brauch, „der es“ — so Clay — „lokalen Sonderinteressen erlaubt, die Konkurrenz auszuschalten, indem Neubewerbern mit der Begründung, sie verfügten nicht über die notwendige Qualifikation, untersagt wurde, ein neues Geschäft aufzumachen“ -Falls Lizenzierungen unumgänglich seien, sollten sie nicht von Innungen, Kammern oder anderen berufsständischen Organisationen, sondern von amtlichen Stellen vorgenommen werden. Entsprechend führte die Militärregierung 1948 in der amerikanischen Zone die Gewerbefreiheit ein und forderte die Landesregierungen zu gesetzlicher Regelung auf. Im November 1948 ging eine entsprechende Direktive auch an den Wirtschaftsrat.

Die deutschen Stellen waren nicht prinzipiell gegen die Gewerbefreiheit. Das ist dem bereits am 19. August 1948 vom Wirtschaftsrat mit großer Mehrheit definitiv verabschiedeten, aber am Einspruch der Militärregierung gescheiterten Gewerbezulassungsgesetz zu entnehmen, dessen Paragraph 1 lautete: „Die Errichtung, Verlegung, Erweiterung und Übernahme von gewerblichen Unternehmen der Industrie, des Handwerks, des Handels und des Vermittlergewerbes, auch soweit es nicht zum Handel gehört, ist jedermann gestattet, soweit nicht durch dieses Gesetz, durch die Gewerbeordnung und durch die aufgrund der Gewerbeordnung erlassenen Vorschriften Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind.“

Aber gerade die Ausnahmen waren der springende Punkt. Zwar anerkannte auch OMGUS Ausnahmen an, die Volksgesundheit, öffentliche Sicherheit und Wohlfahrt betrafen, doch sollte es ansonsten keine Einschränkungen der Gewerbefreiheit mehr geben. Allerdings unterschied sich der amerikanische Gewerbebegriff vom deutschen insofern, als er Rechtsanwälte und Ärzte einbezog Die deutschen Bedenken, die u. a.der Direktor der Verwaltung für Wirtschaft. Ludwig Erhard, in seiner Besprechung mit General Clay am 15. Dezember 1948 vorbrachte, richteten sich besonders auf das Handwerk. das nach deutscher Tradition als mittelständisches Gewerbe besondere Privilegien der o. a. Art genoß. Er betonte, daß in Deutschland die Verhältnisse gerade auf diesem Gebiet anders lägen als in anderen Ländern und vom Ausland kaum richtig beurteilt werden könnten: „Die Handwerksbetriebe haben große Bedeutung für die allgemeine Sicherheit und das Gesundheitswesen. Deshalb besteht ein öffentliches Interesse daran, nicht totale Gewerbefreiheit einzuführen. An eine Monopolstellung für das Handwerk oder an eine Beschränkung bei der Zulassung ist nicht gedacht; es wird vielmehr nur der große Befähigungsnachweis und der Meistertitel gefordert. Ich bitte daher die Herren Militärgouverneure, den großen Befähigungsnachweis für das Handwerk aufrechtzuerhalten. Wir wollen auch die Möglichkeit schaffen, daß Flüchtlinge und zugewanderte Personen sich den Meistertitel erwerben können, um als Handwerker tätig zu sein.“

Ein Gegenargument Clays ging dahin, daß die Erfordernisse einer Prüfung technischer Fertigkeiten den Auffassungen der Militärregierungen nicht widerspreche. sofern Gleichbehandlung der Bewerber gewährleistet sei. Die Erlaubnis zum Betrieb eines Handwerksgeschäftes dürfe aber nicht zu einer erblichen Einrichtung werden, die vom Vater auf den Sohn und auf den Enkel übergehe Darüber hinaus ging es den Militärregierungen um die Kompetenzfrage generell. Nach amerikanischer Tradition war das Gewerberecht Sache der Gliedstaaten der USA. Clay sprach sich auf dieser Basis gegen eine Zentralisierung dieses Bereichs aus, wie sie im Parlamentarischen Rat zu beobachten sei. Er bevorzuge ein bizonales Rahmengesetz, das nur die Prinzipien der Gewerbefreiheit feststelle, anstatt ein detailliertes Gesetz zu genehmigen, wie es in dem nicht akzeptierten des Wirtschaftsrates vorliege. Dann könnten die Länder alle Einzelheiten selbständig regeln. „Eine Regelung der Materie durch Gesetzgebungsakt der Militärregierung sei sowieso nicht beabsichtigt.“ Immerhin zeitigte die Einführung der Gewerbefreiheit amerikanischen Musters in der amerikanischen Besatzungszone beachtliche Resultate. Während im ersten Quartal 1948 14 888 Geschäftsunternehmen eröffnet worden waren, entstanden im entsprechenden Zeitraum 1949 96 172. Bis 1951 wurden ca. 250 000 neue Unternehmen gegründet, die überwiegend mit Erfolg arbeiteten In der britischen und der französischen Zone blieb die restriktive Gesetzgebung von 1935 gültig.

Erst 1953 wurde mit der Bundes-Handwerksordnung das Problem im Sinne der deutschen Tradition gelöst. Der amerikanische Hohe Kommissar versuchte in diesem Zeitraum wiederholt, doch noch eine Regelung im amerikanischen Reforminteresse durchzusetzen. Es blieb nur der Erfolg, daß die ca. 250 000 Personen, die in der amerikanischen Zone aufgrund der Gewerbefreiheit Unternehmen gegründet hatten, nicht von der neuen Handwerksordnung betroffen sein sollten. Hochkommissar Mc Cloy schätzte den Erfolg der amerikanischen Reformbemühungen 1952 so ein: „Abschließend ist zu bemerken, daß es der Amerikanischen Hoch-kommission zwar nicht gelungen ist, die Gewerbefreiheit durch bestimmte deutsche Gesetze im gesamten Gebiet der Bundesrepublik wieder einzuführen. daß sie aber wenigstens in der amerikanischen Zone den vor der Machtergreifung durch Hitler herrschenden Zustand wiederherzustellen vermochte; da sie auf diese Weise die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile der Gewerbefreiheit klar aufzeigen konnte, hat sie . . . hoffentlich Kräfte in Bewegung gesetzt, die das deutsche Volk wiederum von den Fesseln der veralteten restriktiven Gewerbeordnung befreien werden.“

Das Handwerksgesetz sicherte die primär mittelständischen, überkommenen Privilegien und garantierte deren Schutz, der den amerikanischen Reformvorstellungen entsprechend entfallen wäre. W. von der Heide, der 1948 und 1949 mit Darlegungen und Beurteilungen des Gewerbefreiheitsproblems hervortrat, faßte den deutschen Standpunkt unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten so zusammen: „Unabdingbar erscheint aber in einem Rechtsstaat die Forderung, daß die überkommenen und übernommenen Privilegien und der aus ihnen fließende, besonders garantierte und daher beleihungsfähige Besitzstand nicht entschädigungslos enteignet wird.“ Das mittelständische Handwerk behielt seine Privilegien.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Rudolf Morsey. Die Bundesrepublik Deutschland, snästehung und Entwicklung bis 1969. München 1987.

  2. Vgl. Uwe Uffelmann. Wirtschaft und Gesellschaft in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 1-2/82. S. 3 ff.

  3. Dazu jetzt: Uwe Uffelmann. Der Weg zur Bundesrepublik. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und staatliche Weichenstellungen 1945— 1949. (Historisches Seminar. Bd. 12). Düsseldorf 1988.

  4. John Gimbel. Amerikanische Besatzungspolitik und deutsche Tradition, in: Ludolf Herbst (Hrsg.). Westdeutschland 1945— 1955. Unterwerfung. Kontrolle. Integration. München 1986. S. 150.

  5. Hans-Günther Hockerts. Der Wiederaufbau der Sozialversicherung als Beispiel von Reformkonservativismus, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht. Sonderheft 1982 (Historikertag Würzburg 1981). S. 122.

  6. Vgl. Hans-Günther Hockerts. Sozialpolitische Entscheidungen im Nachkriegsdeutschland. Stuttgart 1980. S. 23 ff.

  7. Vgl. H. G. Hockerts (Anm. 6), S. 28ff.

  8. Ebd.. S. 41.

  9. Ebd.. S. 46.

  10. Zit. nach H. G. Hockerts (Anm. 6), S. 50.

  11. Vgl. H. G. Hockerts (Anm. 6). S. 65.

  12. Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. I. München-Wien 1976, S. 1091 f.

  13. Vgl. Lutz Niethammer. Entnazifizierung in Bayern. Säuberung und Rehabilitierung unter amerikanischer Besatzung. Frankfurt 1972, S. 239.

  14. H. G. Hockerts (Anm. 6). S. 83.

  15. Vgl. ebd.. S. 85.

  16. Ebd.. S. 106.

  17. Ebd.. S. 148.

  18. Ebd.. S. 151.

  19. Vgl. Sozialer Fortschritt. (1953) 2, S. 171.

  20. Wilfried Schreiber. Um die soziale Sicherheit, in: Richard Löwenthal/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik, Stuttgart 1974, S. 791.

  21. Ebd.. S. 797.

  22. Vgl. Werner Abeishauser. Die Langen Fünfziger Jahre. Wirtschaft und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland 1949— 1966. (Historisches Seminar. Bd. 5). Düsseldorf 1987. S. 50.

  23. Ebd.. S. 50.

  24. R. Schillinger. Der Entscheidungsprozeß beim Lasten-ausgleich 1945— 1952. St. Katharinen 1985. S. 109; Christoph Buchheim. Die Währungsreform 1948 in Westdeutschland. in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. 36 (1988) 2. S. 189 ff.

  25. Vgl. H. Möller. Zur Vorgeschichte der deutschen Mark. Die Währungsreformpläne 1945— 1948, Basel-Tübingen 1961. S. 119 und 121.

  26. Auszüge aus dem Vorschlag Gerhard Weissers sind abgedruckt in: U. Uffelmann (Anm. 3). S. 134-137.

  27. Vgl. R. Schillinger (Anm. 24). S. 35 ff.

  28. Ebd.. S. 43.

  29. Ebd.. S. 44ff.

  30. Ebd.. S. 62.

  31. Ebd.. S. 105.

  32. Ebd.. S. 110ff.

  33. Vgl. Peter Paul Nahm. Lastenausgleich und Integration der Vertriebenen und Geflüchteten, in: R. Löwentahl/H. -P. Schwarz (Anm. 20). S. 820.

  34. Vgl. w. Abeishauser (Anm. 22), S. 36.

  35. R. Schillinger. (Anm. 24). S. 279.

  36. Ebd.. S. 280.

  37. W. Abeishauser (Anm. 22). S. 36f.

  38. Ebd., S. 81.

  39. In: Die Zeit vom 13. 4. 1979.

  40. Christoph Kießmann. Westkurs und innenpolitische Stabilisierung der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 49/86. S. 30.

  41. Wolfgang Benz. Versuche zur Reform des Öffentlichen Dienstes in Deutschland 1945— 1953. Deutsche Opposition gegen alliierte Initiativen, in: Viertcljahrshefte für Zeitgeschichte. 29 (1981) 2. S. 245.

  42. Ulrich Reusch. Deutsches Berufsbeamtentum und britische Besatzung 1943— 1947. Stuttgart 1985; ders.. Versuche zur Neuordnung des Berufsbeamtentums, in: Josef Foschepoth/Rolf Steininger (Hrsg.). Britische Deutschland-und Besatzungspolitik 1945-1949. Paderborn 1985. S. 171 ff.

  43. Ders.; Beamtentum und Beamtenrecht in der Besatzungsära. in: C. A. Lückerath (Hrsg.). Berufsbeamtentum und Berufsorganisationen. Köln 1987. S. 53 ff.

  44. Udo Wengst. Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948-1953. Düsseldorf 1988.

  45. Vgl. U. Reusch (Anm. 42). S. 179.

  46. Ebd.. S. 177.

  47. Ebd.. S. 177.

  48. Vgl. W. Benz (Anm. 41). S. 219.

  49. Ebd.. S. 217f.

  50. Zit. nach ebd.. S. 224.

  51. Ebd.. S. 228.

  52. Ebd.. S. 231.

  53. U. Reusch. Berufsbeamtentum (Anm. 42). S. 378.

  54. U. Wengst (Anm. 44). S. 311.

  55. Deutsche Verfassungen. München 198517. S. 185f.

  56. Vgl. dazu U. Wengst (Anm. 44). S. 152ff.

  57. Ebd.. S. 252.

  58. Ebd.. S. 312.

  59. Ebd.. S. 313.

  60. Ebd.. S. 314.

  61. Lucius D. Clay, Entscheidung in Deutschland. Frankfurt 1950. S. 365.

  62. Wörtliche Berichte und Drucksachen des Wirtschaftsrates des Vereinigten Wirtschaftsgebietes 1947— 1949. Bd. 4. München-Wien 1977. S. 647. Drucksache-Nr. 406.

  63. Vgl. Hans-Hermann Hartwich. Sozialstaatspostulat und gesellschaftlicher Status quo. Köln-Opladen 1970. S. 89.

  64. Zit. nach U. Uffelmann (Anm. 3). S. 141 — 143.

  65. Akten zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 4. München-Wien 1976. S. 1026.

  66. Ebd.. S. 1026.

  67. Vgl. Wolfgang Benz, Erzwungenes Ideal oder zweitbeste Lösung? Intentionen und Wirkungen der Gründung des deutschen Weststaates, in: Ludolf Herbst (Hrsg.), Westdeutschland 1945-1955, München 1986, S. 139.

  68. Zit. nach ebd.. S. 139.

  69. Wolf von der Heide. Gewerbefreiheit und Gewerbezulassung im Vereinigten Wirtschaftsgebiet (Stand 1. April 1949). Eine kritische Betrachtung, in: Deutsche Verwaltung. 2 (1949) 10. S. 255.

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Uwe Uffelmann, Dr. phil.. geb. 1937; Professor für mittlere und neue Geschichte sowie Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg; 2. Vorsitzender der Konferenz für Geschichtsdidaktik. Veröffentlichungen u. a.: (Hrsg.) Didaktik der Geschichte. Villingen-Schwenningen 1986; (Hrsg, mit G. Niemetz) Epochen der modernen Geschichte. Schwerpunktthemen — Entwicklungen — Zusammenhänge. Freiburg-Würzburg 1986; Der Weg zur Bundesrepublik. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und staatliche Weichenstellungen 1945-1949. Düsseldorf 1988; Zur Wirtschafts-und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1949-1966, in: Journal für Geschichte. (1988) 1; (Hrsg, mit A. Reese) Historisches Seminar, Düsseldorf 1987 ff. (bisher 10 Bände).