Chile und Nicaragua weisen oberflächlich zunächst einmal zwei Gemeinsamkeiten auf. Beiden Ländern kommt in der bundesrepublikanischen Wahrnehmung Lateinamerikas eine hohe Priorität zu. Ihre interne Entwicklung und deren externe Beeinflußbarkeit werden in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Gleichzeitig wurde der Demokratisierung des Pinochet-Regimes und des sandinistischen Regimes in der Lateinamerika-Politik der scheidenden amerikanischen Administration deklamatorisch hohe Priorität eingeräumt. Kritiker haben der Reagan-Administration vorgeworfen, ihre seit 1985 aktivere Chile-Politik diene nur als Alibi, um ihre Nicaragua-Politik der Öffentlichkeit glaubhafter als Teil eines Kreuzzuges für die Demokratie in Lateinamerika „verkaufen“ zu können. Über diese eher tagespolitischen Gemeinsamkeiten hinaus scheint ein Vergleich der Entwicklung beider Länder auf den ersten Blick eher problematisch zu sein.
I. Begründung des Vergleichs und Vergleichsdimensionen
Trotz aller sozio-ökonomischen, sozialstrukturellen und politischen Unterschiede, die zwischen Chile und Nicaragua bestehen — tatsächlich stellen die beiden Länder Extremfälle innerhalb Lateinamerikas dar —, rechtfertigt sich ein Vergleich aus folgenden Gründen: — Wie die Verfasser deutlich machen werden, schätzen sie die Möglichkeit der Demokratisierung und demokratischer Konsolidierung in beiden Ländern günstig ein. Insofern ist es sinnvoll, in vergleichender Perspektive deutlich zu machen, auf welche Faktoren sich diese Prognose in beiden Fällen jeweils hauptsächlich stützt und ob sich Elemente einer generellen Demokratietheorie finden lassen, die beide Fälle abdeckt. — In beiden Fällen wurde versucht, die interne Entwicklung von außen, in unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Mitteln, zu beeinflussen. Insofern scheint es sinnvoll, nach den Grenzen und Möglichkeiten der äußeren Einwirkung auf eine demokratische Regimetransformation bei verschiedenen Subtypen autoritärer Regime (mit unterschiedlichen Graden von Auslandsabhängigkeit; in unterschiedlichen geostrategischen Lagen) zu fragen. — Chile und Nicaragua gehören einer Region — Lateinamerika — an. Auch wenn sie dort unter-schiedlichen Subgruppen dieser Region zuzurechnen sind und die vielfältigen Unterschiede zwischen ihnen geradezu ins Auge springen, ist ihre Zugehörigkeit zu Lateinamerika doch für einige Gemeinsamkeiten konstitutiv. Wie die Mehrzahl der lateinamerikanischen Länder sind Chile und Nicaragua seit mehr als 150 Jahren staatlich unabhängig und waren davor der spanischen Kolonialmacht unterworfen; beide Länder sind, wie das übrige Lateinamerika, christlich-katholisch geprägt, und in ihnen wird zudem die gleiche Sprache (Spanisch) gesprochen; wie im gesamten Lateinamerika spielen demokratische Normen und Erfahrungen eine Rolle für die politische Kultur beider Länder
Vergleichende Analysen werden damit begründet, daß sich Hypothesen nur dann testen lassen, wenn man ihre Angemessenheit für mehrere — idealiter für möglichst viele — Fälle empirisch überprüft. Dem universalistischen Theorieideal würden komparative Untersuchungen entsprechen, die Voraussetzungen, Probleme und Aussichten der Demokratisierung in unterschiedlichen Regionen behan-dein — etwa, um „nur“ die Dritte Welt heraus-zugreifen, in Asien, Afrika, dem Nahen Osten und Lateinamerika. Eine derartige Forschungsstrategie würde Kosten implizieren. So hätte eine regionen-überschreitende Demokratisierungstheorie Spezifizierungsverluste und die mangelnde empirische Überprüfbarkeit ihrer Hypothesen in Kauf zu nehmen. Sie könnte einige Grundgedanken bzw. abstrakte Grundhypothesen enthalten, an die deduktiv anzuknüpfen wäre, wenn man zu empirisch gehaltfähigeren und damit überprüfbaren spezifischeren Hypothesen gelangen wollte. Bei der „bloß“ regionalistischen Lateinamerikaforschung hat sich gezeigt: „In Lateinamerika sind in den zurückliegenden Jahrzehnten so ziemlich alle globalen Theorien politischer Entwicklung gescheitert.“
Die Verfasser sind sich der Risiken und Kosten eines Vergleichs der Demokratisierungsproblematik in den fundamental unterschiedlichen Ländern Chile und Nicaragua bewußt. Sie erwarteten von vornherein, daß sich bestenfalls Hypothesen sehr allgemeiner Natur finden lassen würden, die für beide Fälle zutreffen. Auf jeden Fall erfüllt dieser Vergleich aber eine heuristische Funktion, denn Möglichkeiten und vor allem Grenzen regionalistischer (genauer: innerregionalistischer), d. h. im Geltungsbereich von vornherein beschränkter Theoriebildung treten deutlich hervor. Denn man könnte ja die These vertreten, daß überregionale Vergleiche dann sehr fragwürdig sind, wenn sich Vergleiche extrem unterschiedlicher Fälle innerhalb einer Region als äußerst problematisch erweisen. Die Verfasser können bei ihren Bemühungen an einen früheren Versuch der vergleichenden Analyse beider Länder hinsichtlich eines anderen Problembereiches (Revolution und Konterrevolution) anknüpfen Ihr Ziel war es damals — ohne die Unterschiede zwischen Chile und Nicaragua künstlich zu planieren —, ein allgemeines für beide Län-der geeignetes theoretisches Kernmodell der Erfolgsbedingungen revolutionärer und konterrevolutionärer Bewegungen vorzustellen.
Für Vergleichsorientierungen sprechen nicht nur theoretisch-methodologische Argumente. Die Berücksichtigung ähnlicher Länder als Vergleichs-maßstab stellt die Voraussetzung für realistische und gerechte Bewertungen dar. So ist es etwa fragwürdig. Demokratisierungsprozesse in Chile und Nicaragua an Verhältnissen in der Bundesrepublik oder am britischen Westminster-Ideal messen zu wollen.
Die Demokratisierungsproblematik Chiles wird seit Jahren in einer — impliziten oder expliziten — Vergleichsperspektive erforscht. Die Tatsache, daß Chile „Nachzügler“ im Prozeß der Redemokratisierung autoritärer Regime ist, welcher Südeuropa und Südamerika seit Mitte der siebziger Jahre in einer breiten Welle erfaßt hat, bietet den Sozialwissenschaftlern Gelegenheit, aus theoretischen und empirischen Analysen anderer Fälle der Redemokratisierung allgemeine Folgerungen über Voraussetzungen und Verlaufsformen der Redemokratisierung in Chile zu ziehen Im Vergleich mit ande-ren autoritären Regimen ist es möglich, Spezifika des Pinochet-Regimes herauszuarbeiten, etwa dessen personalistischen Charakter. Der Vergleich erlaubt es aber auch, grundlegende Gemeinsamkeiten zu identifizieren, die das Pinochet-Regime mit anderen autoritären Regimen verbindet. In Kenntnis der in anderen politisch ähnlichen Ländern abgelaufenen Prozesse vermochte es z. B. wenig zu erstaunen, daß es — auch — in Chile sich als unmöglich erwies, das herrschende Militärregime zu stürzen (ruptura-Strategie), und vielmehr eine reforma-Strate^e zum Zuge kam, die Absprachen zwischen gemäßigten Teilen der Regimeelite und der Opposition eine entscheidende Bedeutung für die (Wieder-) Errichtung von Demokratie zumißt.
Auch für die Erforschung der Bedingungen stabiler Demokratie in Chile („Konsolidierungsforschung“) 7) ist der Nachzüglerstatus Chiles im Redemokratisierungsprozeß insofern von Vorteil, als bereits jetzt über Probleme der Konsolidierung der Demokratie in diesem Lande sinnvoll nachgedacht werden kann. So zeigen etwa die Erfahrungen anderer Länder. daß das Militär — was kaum zu überraschen vermag — weiter eine bedeutende politische Rolle spielt, den Bestand der „jungen Demokratien“ zu gefährden vermag und sich dabei gerade die Ahndung von Menschenrechtsverletzungen, die Militärs und Polizisten begingen, als Belastungsprobe erwiesen hat. Auch chilenische Politiker vermögen von den Erfahrungen anderer Länder zu profitieren.
Während die auf Chile bezogene Demokratisierungsforschung als Redemokratisierungsforschung betrieben und dabei auf vergleichbare, d. h. politisch ähnliche Länderfälle rekurriert wird, die zugleich auch in einem normativen Sinne als Vergleichs-, d. h. Bewertungsmaßstäbe dienen, ist es strittig, an welchen Maßstäben die bisherigen und vermutlichen zukünftigen Entwicklungen „sandinistischer Demokratie“ gemessen werden sollen. Von manchen wird das sandinistische Nicaragua zu den wenigen noch verbleibenden lateinamerikanischen Diktaturen gerechnet, wie der Pinochets, von anderen als zum Totalitarismus tendierendes marxistisch-leninistisches Regime klassifiziert, das dem cubanischen oder osteuropäischen Vorbild folge Dagegen steht der Vorschlag, ein nahes und in mancher Hinsicht ähnliches Land als Vergleichsgröße auszuwählen, um fair, d. h. im angemessenen Ver-gleich über den demokratischen Gehalt und die demokratischen Zukunftsperspektiven des gegenwärtigen Regimes in Nicaragua urteilen zu können, nämlich El Salvador Als Argumente könnte man nennen: In beiden Ländern gibt es (anders als etwa in Costa Rica) eine nur schwach ausgeprägte demokratische Tradition; in beiden Ländern wurden autoritäre Regime 1979 gestürzt und politische Ordnungsformen installiert, die stärker demokratisch sind; beide Länder befinden sich seit Jahren in einer Bürgerkriegssituation; von konservativen Politikem und der konservativen Presse wird El Salvador als positives demokratisches Gegenmodell zum diktatorialen Nicaragua gepriesen.
Hier wird dafür plädiert, das sandinistische Nicaragua als neuen Fall zu begreifen, der an das analytische Vermögen des Komparativisten besondere Anforderungen stellt, weil es vertrauten, d. h. bekannten politischen Entwicklungsmustern nicht folgt. Hirschmann hat sich — unseres Erachtens zu Recht — gegen die in den Sozialwissenschaften vorherrschende Tendenz ausgesprochen, sich an bekannten Wahrscheinlichkeiten zu orientieren und das in dieser Hinsicht Unwahrscheinliche, aber in bestimmten historischen Situationen durchaus Mögliche nicht genügend zur Kenntnis zu nehmen, also das Neue (genauer: das potentiell Neue) zu mißachten Auf bekannte Wahrscheinlichkeiten berufen sich z. B. diejenigen, die die Etablierung und Konsolidierung eines demokratischen politischen Systems in Nicaragua für unmöglich halten. Sie beziehen sich dabei auf die Erfahrung, daß Marxisten-Leninisten sich zwar vor der Machteroberung demokratisch gäben, aber nach der Macht-eroberung die Errichtung eines totalitären Einparteien-Regimes anstrebten
Die Analyse hat mit dem Problem zu kämpfen, daß alle Akteure (die Sandinisten und die Contras in Nicaragua, das Militär und die Oppositionsparteien in Chile) die Demokratie als Zielvorstellung nennen, aber Unterschiedliches mit diesem Begriff meinen. Ideologische Faktoren, wie Demokratie-konzeptionen, sind zwar wichtig, aber man sollte ihre Bedeutung nicht überschätzen. Denn, inwieweit politische Akteure fähig sind, ihre Konzeptionen durchzusetzen, ist von realen Kräfteverhältnissen, etwa von der Stärke/Schwäche von Regime und Opposition und von externen Einflüssen abhängig. Zum anderen spielen Interessenkalküle, also Nutzen-und Kostenkalküle, eine große Rolle. Demokratische Ordnungsformen versprechen nur dann Stabilität, wenn relevante interne und externe politische Akteure mit ihnen glauben leben zu können. Man hat darauf zu achten, unter welchen Bedingungen sich politische Akteure zu Toleranz oder Akzeptanz einer demokratischen politischen Ordnungsform bereitfinden, die sie selbst nur als zweit-oder drittbeste Lösung betrachten. Allerdings soll hier kein demokratischer Relativismus gepflegt, sondern die Orientierung an gängigen Definitionen politischer Demokratie (Mehrparteiensystem, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung etc.), wie sie z. B. von Dahl vorgelegt wurden vorgezogen werden.
II. Chile auf dem Rückweg zur Demokratie?
1. Rahmenbedingungen a)
Sozio-ökonomische und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen Das mittelgroße Chile (knapp 12 Mio. Einwohner) gehört zu den sozio-ökonomisch entwickeltsten Ländern Lateinamerikas mit einem relativ hohen Pro-Kopf-Einkommen, einer hohen Urbanisierungs-(über 80 Prozent) und Alphabetisierungsrate (über 90 Prozent) und einer geringen Bedeutung des Agrarsektors (dort sind unter 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung tätig, allerdings absorbiert der industrielle Sektor nur 25 Prozent) Dem relativ hohen sozio-ökonomischen Entwicklungsstand entsprechend sind die Mittelschichten in Chile relativ bedeutend, und sie sind traditionell politisch sehr einflußreich gewesen, nicht zuletzt wegen ihres hohen Organisationsgrades. Mindestens die Hälfte der Chilenen rechnet sich selbst den Mittelschichten zu
Mit dem Hinweis auf diese sozio-ökonomischen und sozialstrukturellen Charakteristiken des Landes hat man früher versucht, zu erklären, warum sich die Demokratie in diesem Lande durch besondere Stabilität auszeichnete. Man erwartete, daß andere lateinamerikanische Länder im Prozeß der sozio-ökonomischen Modernisierung bald ein ähnliches demokratisches Niveau wie Chile erreichen würden Durch den Militärputsch in Chile von 1973 und militärische Machtübernahmen in anderen relativ sozio-ökonomisch entwickelten Ländern Lateinamerikas (z. B. Argentinien und Uruguay) wurde diese Theorie widerlegt. Die entgegengesetzte Theorie, daß bestimmte ökonomische Erfordernisse („industrielle Vertiefung“) gerade in den sozio-ökonomisch relativ hochentwickelten Ländern Lateinamerikas für das Aufkommen eines „neuen Autoritarismus“ verantwortlich seien verlor mit dem Einsetzen des Redemokratisierungsprozesses gerade dieser Regime, der Ende der siebziger Jahre begann, ihre Stringenz.
Die Erfahrungen verweisen also darauf, daß es fragwürdig ist, deterministische Zusammenhänge zwischen dem sozio-ökonomischen Entwicklungsstand und der Sozialstruktur auf der einen Seite und politischen Einstellungen und politischen Ordnungsformen auf der anderen Seite zu behaupten. So ist die Bedeutung der marxistischen Linken — Chile ist das einzige lateinamerikanische Land, in dem die marxistische Linke traditionell über eine nennenswerte Stärke verfügt — nicht überzeugend auf sozio-ökonomische und sozialstrukturelle Eigentümlichkeiten Chiles zurückzuführen. Allerdings war die Linke in Chile immer eine Minderheitsbewegung: So erzielten die Kommunistische Partei und die marxistisch-orientierte Sozialistische Partei 1973 mit zusammen knapp 35 Prozent ihren höchsten Stimmenanteil, der Marxist und Sozialist Allende ging nur mit relativer Stimmenmehrheit (36 Prozent) aus den Präsidentschaftswahlen von 1970 hervor, und die Vereinigte Linke verzeichnete 1973 mit etwa 44 Prozent ihren höchsten Stimmen-anteil. Man kann sich auf historische Argumente beziehen, wenn man behauptet, daß die Linke trotz ausgeprägter sozialer Ungleichheiten, die sich während des Militärregimes noch vertieften, keine Aussichten hat, die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich zu ziehen. Bei aller gebotenen Vorsicht wird man auch behaupten können, daß die Wachstums-möglichkeiten der marxistischen Linken sozial-strukturell in Chile begrenzt sind. b) Politisch-kulturelle Rahmenbedingungen Anders als die meisten anderen lateinamerikanischen Länder kann Chile auf eine lange und lebendige, bis in das 19. Jahrhundert reichende demokratische Tradition zurückblicken, die zur Ausbildung einer stabilen demokratischen politischen Kultur geführt hatte Das allgemeine Wahlrecht für Männer, die lesen und schreiben konnten, wurde formal bereits 1874 eingeführt, und traditionell fungierte das chilenische Militär nicht als „politischer Schiedsrichter“ des politischen Prozesses. Dem Militärputsch von 1973 gingen mehr als 40 Jahre ziviler demokratischer Politik voraus.
Der Sturz der Unidad Popular-Regierung durch den Militärputsch 1973 hat vielfältige Gründe. Der Versuch der Regierung (1970 bis 1973), das Land sozialistisch umzugestalten, rief die Feindschaft der Oberschicht und eines Großteils der Mittelschichten hervor Daß aber auch innerhalb der gemäßigten Opposition (um die Christdemokratische Partei), die die Wahl Allendes zum Präsidenten im Parlament ermöglicht hatte, schließlich der Militärputsch als Ultima ratio begrüßt wurde (die gemäßigte Opposition rechnete damit, daß das Militär sich nach einer kurzen Übergangszeit wieder aus dem politischen Prozeß zurückziehen würde), ist auch mit einigen Verstößen der Regierung gegen demokratische Normen und Prozeduren zu erklären. So erlitt die Unidad Populär bei den mit Plebiszit-Charakter abgehaltenen Parlamentswahlen vom März 1973 eine Niederlage. Versuche der Regierung, in einer rechtlichen Grauzone am Parlament vorbeizuregieren, und Anklagen gegen die Regierung wegen Verfassungsübertretungen durch das Parla-ment und juristische Körperschaften ließen sie als demokratisch legitimationsschwach erscheinen.
Die demokratische politische Kultur scheint das Militärregime überdauert zu haben. Umfragen deuten auf die Vitalität dieser demokratischen politischen Kultur hin und lassen es als plausibel erscheinen, daß autoritäre oder krypto-autoritäre politische Einstellungen während der langen Jahre der Militärherrschaft nicht nennenswert zugenommen haben Der Sieg der Nein-Stimmen im Plebiszit trotz relativ günstiger sozio-ökonomischer Rahmenbedingungen für das Regime hat die Fortexistenz der demokratischen politischen Kultur in Chile eindrucksvoll dokumentiert. Man könnte auch argumentieren, daß die Bereitschaft der Militärs, eine von ihnen vor der Linken „geschützte Demokratie“ zu etablieren, als Reverenz gegenüber der demokratischen politischen Kultur der Bevölkerung zu interpretieren ist. 2. Das Militärregime: Personalistische Herrschaft, „pervertierter Professionalismus“ und Demokratisierungstoleranz Am 11. September 1973 stürzte das chilenische Militär in einem blutigen Putsch die Regierung der Unidad Populär. Vor dem Putsch gab es innerhalb des Militärs keine konkreten Pläne für eine politische Neuordnung, es existierte lediglich der negative Konsensus, daß die Regierung Allende zu stürzen sei. Schon bald setzte sich aber innerhalb des Militärs die Ansicht durch, daß die Herrschaft der Unidad Populär als Manifestation eines Strukturdefektes der herkömmlichen chilenischen Demokratie zu begreifen sei und es einer längeren Phase direkter autoritärer Herrschaft bedürfe, um eine neue politische Ordnung zu schaffen, deren Rahmenbedingungen einer Rückkehr zu politischen und ökonomischen Krisenzuständen wie zur Zeit der Unidad Popular-Regierung vorbeugen würden. Der Hinweis aufdas „Schreckgespenst“ der Unidad Popular-Periode bietet durchgehend eines der Elemente der Rechtfertigungsideologie des Militärregimes und erklärt einen Teil des Rückhalts oder der Duldung, die das Regime in einem nicht unbeachtlichen Sektor der Bevölkerung gefunden hat. Auch in neueren Umfragen wird die Regierung der Unidad Populär rückblickend von einer Mehrheit der Bevölkerung überwiegend negativ beurteilt.
Es etablierte sich ein zählebiges autoritäres Militärregime personalistischer Prägung, in dem Augusto Pinochet als Oberbefehlshaber des Heeres und als Präsident (zunächst als Vorsitzender der Junta) dominiert. Dieser personalistische Grundzug ersparte dem Regime Fraktionierungstendenzen, die häufig im Kontext von Personalwechseln in der politischen Führung autoritärer Regime auftreten, banden den Fortbestand des Regimes aber auch in einem hohen Grade an die Person Pinochets. Obwohl ungemein politisch tätig, begriff sich das Militär im wesentlichen als unpolitische Institution. Der chilenische Politikwissenschaftler Arriagada hat diese Besonderheit des chilenischen Militärregimes sehr gut mit dem Terminus „pervertierter Professionalismus“ gekennzeichnet Die Kombinationvon aufeinander bezogenen „pervertiertem Professionalismus“ und personalistischer Herrschaft erklärt unter anderem die lange Lebensdauer des autoritären Regimes in Chile.
Zur langen Lebensdauer des Regimes trug vermutlich auch seine Bereitschaft zum Einsatz repressiver Mittel bei. Gestützt auf das Ausnahmerecht, mit Hilfe der Justiz und aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols war es durchaus in der Lage, sich entschiedener Gegner legal (Ausweisungen, Haftstrafen für „politische Vergehen“) und illegal (Folter, Mord) zu entledigen. Insbesondere in der Anfangsphase forderte die Repressionspolitik einen hohen Blutzoll unter Gegnern des Regimes, und sie half dem Regime auch, die Krise von 1983/84 zu überstehen. Das chilenische Militärregime war bei weitem repressiver als das brasilianische, aber nicht so repressiv wie das argentinische Während seine Negativlegitimation (das „Schreckgespenst“ der Unidad Popular-Periode), das Ausbleiben innermilitärischer Fraktionskämpfe und seine repressiven Fähigkeiten dem Regime Stärke verliehen, zeigte es, wie auch andere rechtsautoritäre Regime, Schwächen im Bereich der politischen Mobilisierung. So gab es, auch wenn das Regime von verschiedenen Rechtsparteien und Interessengruppen (vor allem der Unternehmer) unterstützt wurde, weder eine bedeutende genuine Regimepartei noch genuine Interessengruppen des Regimes. Auch im ideologisch-politischen Raum vermochte das Regime nie zu dominieren. Sein Versuch, sich als christlich-katholisch zu legitimieren, war von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil die katholische Kirche schon früh gegen das Regime Opposition bezog und auch dessen Versuch einer Rechtfertigung mit Hilfe der Doktrin der nationalen Sicherheit der Kritik unterzog. Im Plebiszit sollte sich die Mobilisierungsschwäche des Regimes rächen: Die Opposition vermochte im parteipolitischen und interessengruppenpolitischen Raum zu dominieren.
Von vielen Gegnern der Unidad Popular-Regierung wurde das Militärregime nur als „kommissarische Diktatur“, d. h. als Diktatur auf Zeit, gutgeheißen. Die Befürwortung des Putsches implizierte keine Zustimmung zu einer langandauernden Herrschaft des Militärs. Erwartet wurde vielmehr, daß das Regime nach einer kurzen Übergangsphase demokratischen Verhältnissen Platz machen sollte. Im Ausland stieß das Regime, nicht zuletzt wegen seiner systematischen Verletzung von Menschenrechten, von Beginn an mehrheitlich auf Ablehnung.
Das Regime war bestrebt, sich durch Leistungen im sozioökonomischen Bereich zu legitimieren. So traten die Militärs nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Bereich für weitreichende Strukturveränderungen ein. Eine bloße Negativlegitimierung, d. h. die Bekämpfung der wirtschaftlichen Krise, insbesondere der Hyperinflation, reichte ihnen nicht aus; sie traten vielmehr mit dem Anspruch auf, ein neues Wirtschafts-und Gesellschaftsmodell zu verwirklichen, das Chile „modernisieren“ und ihre Herrschaft rechtfertigen sollte Die Militärs ließen den sogenannten „Chicago-Boys“ freie Hand, die Chile in einer Art Experimentierfeld für die monetaristische und liberalistisehe Friedman-Lehre verwandelten. Ökonomische Liberalisierung und politische Repression ergänz-* ten einander. So wurde der Einfluß der Gewerkschaften vorübergehend eliminiert, später mit Einschränkung wieder geduldet. Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre entwickelte sich die chilenische Wirtschaftslage derartig, daß man vom chilenischen Wirtschaftswunder sprach. Die schwere wirtschaftliche Krise von 1982/83 löste eine politische Krise aus. von der die Opposition profitierte. Zwar gestaltete sich die makro-ökonomische Entwicklung Chiles in den letzten Jahren durchaus günstig: So nahm etwa im ersten Quartal des Plebiszit-Jahrs 1988 das Bruttoinlandsprodukt mehr als sechs Prozent zu, und die Inflationsrate sank — für lateinamerikanische Verhältnisse außerordentlich -auf unter zehn Prozent Auch sind der Militärregierung Erfolge bei der Diversifizierung des Außenhandels zu bescheinigen. Es gilt aber zu berücksichtigen, daß die Unterschichten und Teile der Mittel-schichten nicht oder nur marginal vom Wirtschaftswachstum profitiert haben und daß eine gewerkschafts-und arbeitnehmerfeindliche Politik betrieben wurde. Die ungleiche Verteilung der Einkommen und Vermögen hat sich unter der Militärherrschaft vergrößert. Auch scheint die heftige Wirtschaftskrise von 1982/83 im Bewußtsein der Wählerschaft nachzuwirken. Der Versuch des Militärregimes, sich durch wirtschaftliche Leistung zu legitimieren, war deshalb von vornherein problematisch. 1980 stellte das Regime seine Herrschaft in einer nach demokratischen Maßstäben dubiosen Volksabstimmung, die über eine neue Verfassung befand. auf eine neue rechtliche Grundlage. Die Verfassung, die am 11. März 1981 in Kraft trat, sieht nach einer acht-bis neunjährigen Übergangsphase direkter militärischer Herrschaft den Aufbau einer von den Militärs vor der Linken „geschützten Demokratie“ vor, die spätestens 1990 beginnen sollte. Nach der Verfassung sind in der neuen chilenischen Demokratie marxistische Parteien verboten, und dem Militär werden als eine Art Hüter der Verfassung erhebliche politische Mitwirkungsrechte eingeräumt. Die Exekutive soll gestärkt werden, unter anderem durch eine Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten auf acht Jahre. Mehr als ein Drittel der Senatoren wird nicht durch Volkswahl bestimmt, und eine Verfassungsänderung ist derart erschwert, daß die Verfassung de facto parlamentarisch kaum revidierbar sein dürfte.
Nach der Verfassung sollte spätestens Anfang 1989 ein Plebiszit über den zukünftigen Präsidenten Chi-les für die Wahlperiode vom 11. März 1989 bis 11. März 1997 stattfinden. Der Kandidat sollte von der Militärjunta, die sich aus den Oberkommandierenden der drei Teilstreitkräfte (Heer. Marine, Luftwaffe) und der Polizei zusammensetzt, einstimmig vorgeschlagen werden. Im Falle einer Niederlage des nominierten Kandidaten sollte Pinochet für ein weiteres Jahr, d. h. bis zum 11. März 1990, im Amt bleiben. Die Verfassung verpflichtet ihn, Mitte Dezember 1989 freie Präsidenten-und Parlamentswahlen auszuschreiben. Die Amtszeit des neugewählten Präsidenten sowie der Abgeordneten und Senatoren beginnt dann am 11. März 1990.
Wenn man fragt, warum die Militärs damals diesen verfassungsmäßigen „Transformationsplan“ beschlossen, so ist zunächst auf historisch-konjunkturelle Faktoren zu verweisen. In einer durch die damalige ökonomische Boomphase genährten politischen Euphorie rechneten die Militärs damit, daß die bis zum Plebiszit verbleibenden acht Jahre ausreichen würden, um die sozialen und ökonomischen Grundlagen für eine demokratische Legitimierung der Fortsetzung ihrer Politik zu schaffen. Zum anderen waren sich die Militärs natürlich ihrer Legitimierungsdefizite bewußt. Sie wußten, daß selbst die Mehrheit der Befürworter des Putsches, auch im Ausland, das Militärregime nur als „kommissarische Diktatur“ akzeptierten und nach einer Rückkehr des Landes zur Demokratie verlangten. Für die Regimeelite lag es also aus internen und externen Gründen nahe, eine demokratische Legitimation für eine von ihr gewünschte neue Herrschaftsordnung einzuholen, die ihr die Fortdauer der Herrschaft im demokratischen Gewände (bei einer Ausgrenzung des linken Lagers) gestatten sollte. Wenn auch Indizien darauf hindeuten, daß Teile der das Regime tragenden militärischen und zivilen Kräfte den Sieg der Nein-Stimmen im Plebiszit schließlich für möglich, wenn nicht für wahrscheinlich hielten, so scheinen doch Pinochet und seine engsten Anhänger bis zuletzt an einen Sieg im Plebiszitgeglaubt zu haben. Durch die von ihnen erlassene Verfassung haben sich die legalistisch denkenden chilenischen Militärs selbst gebunden. Auf diese Verfassung haben sie sich immer berufen, wenn sie Forderungen der Opposition nach freien Präsidentschaftswahlen ablehnten. Mit den Verfassungsbestimmungen von 1980 bot das Regime -damals nicht vorausgesehen und nicht gewollt — der Opposition die Gelegenheit, das Regime nach seinen eigenen Spielregeln zu schlagen, ihm eine entscheidende Niederlage zuzufügen. Die Militärs strebten eine „militärisch korsettierte Demokratie“ an. Zu klären bleibt, ob sie nach dem Plebiszit-Ergebnis bereits sind, eine authentische Demokratie zu akzeptieren. 3. Transformationsversuche a) Zur externen Beeinflussung des Redemokratisierungsprozesses Westliche Länder beschränken sich im wesentlichen auf eine moralische Verurteilung des Regimes wegen seiner Menschenrechtsverletzungen und seines undemokratischen Charakters, etwa in den Vereinten Nationen. Die USA, die das Militärregime zunächst — auch finanziell — unterstützt hatten, stellten bereits 1976 Waffenlieferungen an Chile ein. Diese Form der Einflußnahme erwies sich aber als weitgehend ineffizient, denn die chile-nischen Militärs konnten ohne Mühe auf dem international sehr diversifizierten Waffenmarkt geeigneten Ersatz für amerikanische Produkte finden. Von außen ließ sich den chilenischen Militärs keine authentische Redemokratisierung aufzwingen. Dies belegt ein Vergleich der Protestpolitik Carters gegenüber Chile und der lange Zeit eher kooperativen Politik Reagans -Wirtschaftliche Sanktionen wurden nie ernsthaft in Erwägung gezogen, allerdings enthielten sich die USA und einige europäische Staaten in den letzten Jahren bei der Gewährung von Weltbankkrediten mehrfach der Stimme. Aber es ist zweifelhaft, ob dem chilenischen Militär durch eine Kreditverweigerung die Redemokratisierung hätte von außen aufgezwungen werden können. Vielleicht wären Trotzreaktionen der Militärs die Folge gewesen.
Insgesamt kommt man zu dem Schluß, daß im Falle Chiles externer Druck internen auf eine Redemokratisierung zielenden Druck nur verstärken, ihn aber nicht ersetzen konnte. Sicherlich hat die externe Isolierung dazu beigetragen, daß das Regime, welches sich immer als „westlich“ begriffen hatte, sich in verstärktem Maße seiner Legitimierungsnöte bewußt wurde und eine Rückkehr zur Demokratie, allerdings zu einer „militärisch korsettierten Demokratie“ vorsah. Aber nicht von außen, sondern nur von innen, durch das Plebiszit, konnte dem Regime eine Niederlage bereitet und konnten Voraussetzungen für eine authentische Redemokratisierung geschaffen werden. In der kritischen Übergangsphase nach dem Plebiszit kommt dem westlichen Ausland eine wichtige Funktion zu. Es dürfte kaum in der Lage sein, eine Beschleunigung des Redemokratisierungsprozesses (etwa vorgezogene Präsidentschafts-und Parlamentswahlen) durchzusetzen, aber es kann wirksam dazu beitragen — etwa durch Kreditverweigerungen oder Kre-ditauflagen —, daß dieser Prozeß nicht blockiert wird. b) Die Transformationsstrategien der Opposition:
Von der Strategie des Regimesturzes zur Teilnahme am Plebiszit Die interne Opposition gegen das Pinochet-Regime formierte sich nur langsam. Einerseits war die Repression sehr effektiv, andererseits war die Opposition in sich zerstritten. Diese Spaltung der Opposition ist zu einem wesentlichen Teil historisch, durch Entwicklungen in den Jahren unmittelbar vor dem Militärputsch begründet. Die Auseinandersetzungen im Oppositionslager sind nur zu verstehen, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß die Zeit der Regierung Allende von 1970 bis 1973 eine Periode tiefgreifender politischer und sozialer Konflikte war, die das Land 1973 stark polarisierten. Die Tatsache, daß ein wichtiger Teil der heutigen Opposition (vor allem die Christdemokraten) auch in Opposition zur Regierung Allende gestanden und diese bekämpft hatte, erklärt, warum es von Anfang an große Schwierigkeiten bereitet hat, eine gemeinsame Oppositionsfront gegen die Pinochet-Diktatur zu bilden.
Die Opposition konnte von den Legitimierungsund Mobilisierungsschwächen des Militärregimes profitieren. Es bedurfte allerdings eines relativen Rückganges der politischen Repression und eines Anstieges der sozialen Unzufriedenheit, um dieses oppositionelle Potential wirksam werden zu lassen. So dauerte es fast zehn Jahre, bis die Opposition das Regime ernsthaft herausfordern konnte. Der wirtschaftliche Einbruch der Jahre 1982/83, als das Bruttoinlandsprodukt um ca. 14 Prozent zurückging und die Arbeitslosenquote auf 30 Prozent kletterte, stellte die Rechtfertigungsbasis des Regimes, soweit es sich über wirtschaftliche Leistungen zu legitimieren trachtete, in Frage. Die Krise schuf ein soziales Unzufriedenheitspotential, das auch weite Sektoren der Mittelschicht erfaßte
Welche Strategien wählte die Opposition, um dieses Unzufriedenheitspotential auszuschöpfen? Grundsätzlich lassen sich zwei Strategien der Transformation autoritärer Regime unterscheiden: die der ruptura und die der reforma Die rupturaStrategie zielt auf einen Sturz des Regimes ab. Durch Massenmobilisierung soll ein Zustand der Unregierbarkeit geschaffen werden, der in einem Militärregime die Militärs zur Kapitulation zwingt. Die Verfechter der nicht-revolutionären Variante der ruptura-Strategie lassen sich von der Ansicht leiten, daß es möglich sei, die Militärs von der Macht „hinwegzudemonstrieren“. Auch die reforma-Strzdegie setzt auf eine Massenmobilisierung gegen das Regime. Da aber ein Regimesturz als unmöglich gilt, wird Druckausübung mit Verhandlungsbereitschaft kombiniert. Einerseits soll durch Massenproteste aufgezeigt werden, daß das Regime isoliert und nicht überlebensfähig ist. Andererseits will man reformbereiten Militärs die Angst vor einer Demokratisierung bzw. Redemokratisierung dadurch nehmen, daß man ihnen in — zumeist informellen — Verhandlungen in Aussicht stellt, ihre grundlegenden Interessen in der neuen politischen Ordnung zu respektieren. Der radikalen Opposition sind derartige Kompromisse, die die neue zivile demokratische Regierung in ihrem Handlungsspielraum einengen, suspekt. In der Regel ist deshalb Redemokratisierung nach der reforma-Strategie das Ergebnis von Verhandlungs-und Einigungsprozessen zwischen den gemäßigten Kräften der Opposition und des Regimes. Auch die gemäßigte Opposition favorisiert zunächst spontan eine rupturaStrategie. Sie entschließt sich erst dann zu einer reforma-Strategie. wenn die relative Stärke des Regimes bzw. die relative Schwäche der Opposition offenkundig werden. Die Anhänger der revolutionären Variante der ruptura-Strategie setzen auf die Möglichkeit gewaltsamer Machteroberung. Die Vertreter dieser Strategie streben nach einer grundsätzlichen Umgestaltung der Wirtschaftsordnung, gegenüber den Institutionen liberaler Demokratie äußern sie in der Regel Vorbehalte.
Bis zuletzt, also bis zum Plebiszit, hielt nur die in der Bevölkerung isolierte revolutionäre Linke, der Movimiento de Izquierda Revolucionario (MIR) und der der Kommunistischen Partei nahestehende Frente Patriötico Manuel Rodn'guez (FPMR), an der revolutionären ruptura-Strategie fest. Die Position der Kommunistischen Partei blieb ambivalent. 1980 hatte sie sich für eine Strategie des bewaffneten Kampfes gegen Pinochet ausgesprochen. Auch nach umfangreichen Waffenfunden im August 1986 und dem mißglückten Attentat des FPMR auf Pinochet im September des gleichen Jahres distanzierte sie sich nicht eindeutig von der Gewaltstrategie. Sie äußerte weiterhin Skepsis gegenüber der reformaStrategie, die ihren Ausdruck in einer Mobilisierungskampagne der Opposition für die Abgabe von Nein-Stimmen im Plebiszit finden sollte. Nur aus oppositioneller Solidarität, weil die große Mehrheit der Oppositionsparteien, auch der Linken, sieh für eine Teilnahme am Plebiszit ausgesprochen hatten. rief sie im August 1988 schließlich ihre Anhänger zur Beteiligung am Plebiszit auf.
In einer Chile-Studie wurde der lange Weg der anderen Oppositionsparteien vom anfänglichen Bekenntnis zu einer nichtrevolutionären ruptura-Strategie zu einer Orientierung an einer reforma-Strategie nachgezeichnet Maßgeblich für diesen Orientierungswandel waren vor allem die Christdemokratische Partei und der gemäßigte Flügel der Sozialistischen Partei (der sogenannte „erneuerte Sozialismus“) unter Führung von Ricardo Nez. Eswurde herausgearbeitet, daß die Hinwendung zu einer reforma-Strategie das Resultat schmerzlicher Anpassungsprozesse an die politische Realität war. So war es der Opposition in den zahlreichen Protesttagen der Jahre 1983 und 1984 nicht möglich, das Regime, wie erhofft, von der Macht „hinwegzudemonstrieren“. Vielmehr reagierte das Regime zunächst mit partieller Liberalisierung und mit ScheinVerhandlungen, schließlich aber mit verstärkter Repression. Im November 1984 wurde der Belagerungszustand ausgerufen, der bis zum Juni 1985 dauerte und die Periode der Protesttage beendete. Auch danach erwies es sich als unmöglich, durch Mobilisierung gegen das Regime einen Zustand der Unregierbarkeit herzustellen. Dies zeigte sich etwa bei den Protesttagen vom 2. und 3. Juli 1986.
Am 2. Februar 1988 erfolgte die Einigung von zunächst 13 Oppositionsparteien auf eine Teilnahme am Plebiszit. Nach dem Sieg der Nein-Stimmen im Plebiszit wollte man mit den Militärs in Verhandlungen über Basisforderungen der Opposition eintreten, die eine Rückkehr des Landes zu einer authentischen Demokratie sicherstellen sollen. Nach dem Plebiszit wiederholten sie diese Forde-Hingen. Beachtung verdient, daß sich mit Ausnahme der Kommunistischen Partei die wichtigsten chilenischen Linksparteien, so der orthodoxe Flügel der Sozialistischen Partei unter Führung Almeydas und die christliche Linke sowie ein kleiner Sektorder politischen Rechten zusammen mit den politischen Zentrumsparteien auf diese Strategie verständigten.
Das Plebiszit bot der Opposition die Möglichkeit, Pinochet auf einem Felde entgegenzutreten, in der die politische Ressourcenverteilung potentiell zugunsten der Gegner des Regimes ausfiel. Während bei der Regimesturzstrategie letztlich die Gewalt-ressourcen den Ausschlag zugunsten Pinochets ga-ben, ging es beim Plebiszit um elektorale Ressourcen, d. h. um Wählerstimmen, deren Verteilung eher die Opposition zu begünstigen schien. Eine Niederlage Pinochets eröffnete der Opposition die Chance, gewissermaßen den „Eckstein“ aus dem personalisierten Regime herauszubrechen und dann unter günstigeren Bedingungen über eine Reform der Verfassung verhandeln zu können. Das Spezifikum der chilenischen Reformstrategie bestand nun darin, das Regime auf die Einhaltung der eigenen Spielregeln — die Durchführung des Plebiszits — zu verpflichten und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, daß dieser Wahlakt unter nicht zu allzu nachteiligen Bedingungen für die Opposition stattfinden würde. Dazu gehörte eine Mobilisierung der Anhänger der Opposition zur Einschreibung in die Wählerlisten, eine Verbesserung der oppositionellen Artikulationsmöglichkeiten in der Öffentlichkeit (einschließlich der Massenmedien) und eine Kontrolle der Durchführung des Wahlaktes und der Auszählung. 4. Das Plebiszit Der Ausgang des Plebiszits war mit vielen unbekannten Größen verbunden. Der genaue Zeitpunkt des Wahlaktes war lange Zeit unbekannt. Außerdem wurde über Veränderungen des Wahlmodus (bis hin zu freien Wahlen, wie von der Opposition gefordert) spekuliert. Die von der Opposition und von der Regierung in Auftrag gegebenen Meinungsumfragen trugen, soweit sie veröffentlicht wurden, gleichfalls zur Verunsicherung bei. Viele Wähler wollten sich, ob aus Angst oder anderen Gründen muß offen bleiben, nicht festlegen. Unter den bereits in die Wählerlisten Eingeschriebenen hatten zum Jahreswechsel 1987/88 die Anhänger des Regimes eine Mehrheit Beruhigend auf die Opposition wirkte deshalb die hohe Einschreibquote in die Wählerlisten, die bis zum Wahltermin auf 92 Prozent der potentiell Wahlberechtigten (Männer und Frauen über 18 Jahre) anstieg Gerade in Gesellschaftssektoren, in denen die Opposition über einen starken Rückhalt verfügte, wie unter jungen Wählern, kam es in den letzten Monaten vor dem Plebiszit zu einem rapiden Anstieg in der Zahl der eingeschriebenen Wahlberechtigten.
Pinochet war Ende August nominiert worden. Als Termin für den Wahlgang wurde der 5. Oktober festgelegt. Daß die Junta Pinochet nominierte, ist wohl auf seinen persönlichen Druck zurückzuführen. Die anderen Junta-Mitglieder hatten zwischenzeitlich Präferenzen für einen zivilen Kandidaten erkennen lassen. Pinochet hatte allerdings spätestens seit 1986 seine Kandidatur aktiv betrieben und die Medien bereits seit einiger Zeit auf die Abschlußkampagne vorbereitet. Seine Nominierung kam deshalb nicht überraschend. Sie erleichterte der Opposition die Schlußkampagne, in deren Verlauf es zu einem deutlichen Umschwung im Meinungsklima kam. Obwohl Umfragen von Instituten. die der Opposition nahestehen, einen deutlichen Sieg für die Nein-Stimmen signalisierten, glaubte dennoch nach den gleichen Umfragen eine Mehrheit der Chilenen bis zum August 1988 an einen Sieg Pinochets Dies änderte sich erst im Verlauf des Septembers. Am 5. Oktober beteiligten sich 7, 2 Millionen Chilenen am Plebiszit: 55 Prozent stimmten mit Nein und damit gegen eine weitere Amtszeit General Pinochets; für ihn votierten 43 Prozent der Wähler. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch: Sie lag bei 97 Prozent der eingeschriebenen Wähler. Nur in 2 der 13 Regionen Chiles sprach sich eine Mehrheit für Pinochet aus. In der Hauptstadt Santiago, auf die fast 40 Prozent der Wähler entfielen, lautete das Stimmenverhältnis 58 Prozent zu 40 Prozent gegen Pinochet. Selbst in den Wohnvierteln der Oberschicht und der oberen Mittelschicht lag der Anteil der Nein-Stimmen bei über 40 Prozent
Nachdem Pinochet und seine engsten Berater in der Wahlnacht zunächst Pläne gehegt zu haben scheinen, das Wahlergebnis zu manipulieren und die Opposition unter Rückgriff auf das Ausnahmerecht zu unterdrücken, mußten sie diese Pläne aufgrund des Widerstandes in den Streitkräften und unter seinen zivilen Unterstützungsgruppen aufgeben und den Wahlsieg der Opposition anerkennen Die 16 Parteien, die in der Kampagne für das Nein zusammengearbeitet hatten — sie agieren seit dem Plebiszit als „Zusammenschluß der politischen Parteien für die Demokratie“ —, gaben am 14. Oktober eine gemeinsame Erklärung heraus, in der sie ihren Willen zu Verhandlungen mit den Streitkräften über einen schnellen, friedlichen und geordneten Übergang zur Demokratie bekundeten. Ihre wichtigsten Forderungen sind: vorgezogene Wahlen für das Parlament und die Präsidentschaft; verschiedene Verfassungsreformen wie die Erleichterung von Verfassungsänderungen, die Wahl aller Senatoren, die Zulassung marxistischer Parteien und die Beschneidung der Kompetenzen des Militärs; die Einstellung von politischen Prozessen, vor allem gegen Journalisten; die Aufklärung und gerichtliche Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen; die Auflösung der Geheimpolizei. 5. Aussichten für die weitere Demokratisierung und die Konsolidierung eines demokratischen politischen Systems Wie sieht die wahrscheinliche weitere Entwicklung aus? Es wird nicht zu einer vorzeitigen Ablösung Pinochets und zu vorgezogenen Parlaments-und Präsidentschaftswahlen kommen, wie sie von der Opposition gefordert werden. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß Gespräche über die von der Opposition geforderten Verfassungsreformen stattfinden werden, die zunächst von Pinochet strikt abgelehnt wurden. Der zukünftige Präsident sowie die Abgeordneten und Senatoren werden, wie in der Verfassung vorgesehen, Mitte Dezember 1989 gewählt werden. Größte Erfolgsaussichten dürfte ein christdemokratischer Kandidat haben. Die Christdemokratische Partei wird vermutlich auch als stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen, ohne die absolute Mehrheit erreichen zu können. Wie sich die Gewichte im rechten und im linken Lager verteilen werden, ist zur Zeit noch nicht abzusehen. Die Rechte hat sich nach der kurzfristigen Zusammenarbeit in der Kampagne für das Ja im Plebiszit wieder fraktioniert. Mit Blick auf die anstehenden Wahlen will sie widersprüchlichen Anforderungen gerecht werden: Sie möchte sich einerseits im Wahlkampf der Unterstützung durch die Regierung versichern, zugleich aber ein Bild der Unabhängigkeit und Eigenständigkeit vermitteln und außerdem mit dem politischen Zentrum ins Gespräch kommen. Auf der Linken stehen sich zwei Sammlungsparteien gegenüber: die „Partei für die Demokratie“, die sich vor allem aus dem Erneuerungsflügel der sozialistischen Partei rekrutiert. und die „Partei der Sozialistischen Linken“, der der orthodoxe Flügel der Sozialistischen Partei, Teile der christlichen Linken und die Kommunistische Partei angehören.
Der Redemokratisierungsprozeß in Chile sieht sich einigen Belastungen ausgesetzt. So könnte eine zukünftige demokratische Regierung mit massiven Umverteilungsforderungen bisher benachteiligter Gesellschaftssektoren konfrontiert werden, welche u. U. zu einer wirtschaftlichen Krise und zu politischer Polarisierung beitragen könnten. Umfragen in den Reihen der Arbeiterschaft offenbaren ein starkes Gefühl der Benachteiligung, Vorbehalte gegen die Unternehmer und Forderungen nach einer möglichst schnellen Umverteilung Der Konfliktstoff, der in solchen Forderungen liegt, wird allerdings auch auf der Linken, wohl vor dem Hin-tergrund der negativen Erfahrungen mit der Wirtschaftspolitik in der Zeit der Unidad Populär, wahrgenommen. Schon seit einigen Jahren wird in oppositionellen Studienzentren über die Frage einer „konzertierten Aktion“ bzw. eines Sozialpaktes diskutiert. Die Gewerkschaften sind überdies heute wesentlich schwächer als vor 1973 36), und es wird auch nach einer Redemokratisierung einige Zeit dauern, bis sie wieder ihre alte Schlagkraft zurückgewinnen können.
General Pinochet, dem Machtbesessenheit und ein politisches Sendungsbewußtsein unterstellt werden, wird gleichfalls als Störfaktor den Prozeß der Redemokratisierung zu behindern versuchen, obgleich seine Machtposition nach der Niederlage im Plebiszit schwächer geworden ist. Offen ist, inwieweit er die in der Verfassung vorgesehene Option, über das Jahr 1990 hinaus Oberbefehlshaber des Heeres zu bleiben, wahmehmen will und kann.
Die Frage der Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen könnte, wie das argentinische Beispiel besonders deutlich zeigt, zu einer Belastungsprobe zwischen einer zukünftigen demokratischen Regierung und den Streitkräften werden. Es ist davon auszugehen, daß es zu keinen umfassenden Prozessen gegen Angehörige der Streitkräfte und der Polizei kommen wird. Dadurch könnte die Glaubwürdigkeit einer zukünftigen demokratischen Regierung durch Teile der Linken und durch die Menschenrechtsorganisationen in Frage gestellt werden. Probleme könnten auch bei der Kontrolle der Geheimdienste und rechter Terrorkommandos, die in letzter Zeit sehr aktiv geworden sind, auftreten. Störmanöver gegen den Demokratisierungsprozeß sind auch von der revolutionären Linken zu erwarten. Die revolutionäre Linke ist in Chile stärker als in der Mehrzahl der Nachbarländer. In Argentinien, Brasilien und Uruguay hat sie sich nach ihrer Zerschlagung unter der Militärherrschaft im Gegensatz zu Chile nicht wieder erholt. Es ist nicht zu erwarten, daß alle bewaffneten Kader unter einer demokratisch gewählten Regierung ihre Waffen niederlegen werden. Auch die Kommunistische Partei Chiles scheint noch nicht bereit zu sein, unmißverständlich dem bewaffneten Kampf abzuschwören — unbeschadet ihrer langen parlamentarischen Tradition.
Insgesamt kann man aber die Möglichkeiten der Redemokratisierung Chiles als günstig einschätzen, und das Plebiszit-Ergebnis wird man als Votum für eine Rückkehr zu einer authentischen Demokratie, aber ohne radikale Experimente, interpretieren dürfen.
Unzweideutig hat der Kandidat des Regimes, Au-gusto Pinochet, eine schwere Niederlage erlitten. Sie ist gleichbedeutend mit einer Niederlage des Militärregimes, gerade weil es sich um ein personalistisches autoritäres Regime handelt. Aus diesem personalistischen Militärregime ist durch das Plebiszit mit Pinochet gewissermaßen der Eckstein herausgebrochen worden, auch wenn es der — um im Bild zu bleiben — „Eckstein“ selbst noch nicht gemerkt zu haben scheint. Die Militärs haben nach ihren eigenen Spielregeln verloren. Angesichts dieser Situation bietet die Redemokratisierung einen Ausweg aus einer für die Militärs unhaltbaren Lage. Durch das Plebiszitergebnis haben kompromißbereite Kräfte innerhalb des Militärs Auftrieb erhalten, die „Falken“ um Pinochet haben innermilitärisch an Einfluß verloren und dürften nicht in der Lage sein, den Redemokratisierungsprozeß zu vereiteln.
Für das Militär dürfte eine Redemokratisierung letztlich erträglich sein, weil aller Voraussicht nach gemäßigte, gegenüber den Militärs kompromißbereite Kräfte die Präsidentschafts-und Parlamentswahlen gewinnen werden. Damit verliert das Problem der Wiederzulassung marxistischer Parteien an Bedeutung. Auf eine Ahndung der Menschenrechtsverletzungen kann die Opposition schon aus Gründen demokratischer Selbstachtung nicht verzichten. Allerdings will die gemäßigte Opposition von Anklagen gegen das Militär und die Polizei als Institutionen absehen und sich auf die Strafverfolgung von Individuen konzentrieren. Auch im sozioökonomischen Bereich trennen die gemäßigte Opposition, die für eine Garantie des Privateigentums und eine soziale Marktwirtschaft eintritt, und die Militärs keine Welten. Hinzu kommt, daß die im Plebiszit siegreiche Opposition sich nicht triumphalistisch, sondern gegenüber dem Militär verhandlungs-und kompromißbereit zeigt.
In der Opposition haben gemäßigte Kräfte mit dem Plebiszitergebnis einen Sieg erreicht. Die Skepsis der radikalen Opposition, bis zuletzt auch artikuliert von der Kommunistischen Partei, daß es unmöglich sein werde, die Militärs nach ihren eigenen Spielregeln zu schlagen, hat sich nicht bewahrheitet. Demgemäß haben gerade revolutionäre Kräfte, die auf eine gewaltsame ruptura setzten, eine strategische Niederlage erlitten. Die Opposition hat die positive Lernerfahrung gemacht, daß Einigkeit sich auszahlt. Angesichts der gegenwärtigen Stärke des gemäßigten Parteienlagers dürfte es aber nicht ein-37 mal nötig sein, daß alle 16 Parteien, die für das Nein eintraten, weiter zusammenhalten und einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten nominieren.
Auch die Chancen der Konsolidierung der chilenischen Demokratie können als recht günstig eingeschätzt werden. Chile wird vermutlich von dem Trend zur autoritären Regression, der für Nachbarländer prognostiziert wird, ausgenommen sein. Redemokratisierten politischen Systemen in Lateinamerika wird allgemein keine größere Überlebenschance eingeräumt, und in den Politikwissenschaften dominiert eine politische „Zyklentheorie“, die den Wechsel der Staatsformen für den lateinamerikanischen Normalfall hält.
Für Chile ist zunächst auf politisch-kulturelle Faktoren zu verweisen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß sich in Chile, im Gegensatz zu den meisten Ländern Lateinamerikas, eine solide demokratische politische Kultur herausgebildet hat, welche das Militärregime überdauert hat. Auch hat die 15jährige Militärherrschaft, wenn man den Umfragen trauen kann, zu keiner Radikalisierung der Bevölkerung geführt.
Eine Gefahr für das Überleben der Demokratie stellt in Lateinamerika vor allem das Militär dar. Es ist zwar unwahrscheinlich, daß das chilenische Militär zu seiner traditionellen unpolitischen Rolle zurückkehrt, es ist aber nicht damit zu rechnen, daß es den demokratischen politischen Prozeß etwa in einem derartigen Ausmaß beeinflussen wird wie das brasilianische Militär nach der Redemokratisierung. Das chilenische Militär hat im Plebiszit eine echte Niederlage erlitten. Sein Modell einer „geschützten Demokratie“ ist von der Mehrheit der Bevölkerung verworfen worden, wirtschaftliche Leistungen und Hinweise auf das „Schreckgespenst“ der Unidad Popular-Regierungsperiode erwiesen sich als unzureichend, um dem Regime die Zustimmung der Mehrheit der Bevölkerung zu sichern. Weiterhin ist auf die Attitüde des „pervertierten Professionalismus“ zu verweisen, demgemäß sich das Militär als unpolitische, gegenüber dem Generalspräsidenten Pinochet gehorsame Kraft verstand. Mit dem Plebiszitergebnis ist — wie bereits betont — aus dem personalistischen Militärregime der Eckstein herausgebrochen worden. Es ist fraglich, ob das Militär als Institution in einem demokratischen System größere eigenständige politische Handlungsfähigkeit entwickelt. Bei optimistischer Interpretation könnte man spekulieren, daß es in Zukunft zivilen Präsidenten Reverenz erweisen wird.
In der Wählerschaft und den Parteien gibt es Indizien für einen der Demokratie förderlichen Lernprozeß, der sich nicht nur auf die Herrschaft des Militärs, sondern auch auf die Allende-Jahre und den Zusammenbruch der Demokratie bezieht. In Chile sind schon alle denkbaren sozio-ökonomischen Ordnungspolitiken ausprobiert worden. Nachdem sowohl Schwächen des Sozialismus (unter Allende) als auch des rohen Privatkapitalismus (unter den Militärs) hervorgetreten sind, dürfte es kein Zufall sein, daß die Mehrheit der Chilenen ein gemischtwirtschaftliches System, eine soziale Marktwirtschaft und zentristisch-reformistische Parteien bevorzugt. In den Parteien scheint die Einsicht gewachsen zu sein, daß ein starres Verharren im traditionellen politischen Lagerdenken und das Ablehnen von Kompromissen und Koalitionen die Demokratie gefährden können. Die negative Erfahrung. daß sich das Militär, von einigen zivilen Kräften als Krisenhelfer herbeigerufen, nicht schnell von der Macht zurückzog, sondern versuchte, sich auf lange Dauer in der Herrschaft einzurichten, wird das Handeln der Parteieliten in Zukunft beeinflussen.
Die Demokratie wird in Chile nicht in einer wirtschaftlichen Krisensituation, sondern unter relativ günstigen ökonomischen Rahmenbedingungen (wieder) errichtet. Die chilenische Demokratie sieht sich deshalb mit weniger sozio-ökonomischen Problemen belastet als die „jungen Demokratien“ in den Nachbarländern. Gerade, weil immerhin 43 Prozent der Chilenen im Plebiszit für Pinochet stimmten, werden demokratische Regierungen sich besondere Mühe geben, gegenüber den ökonomischen Leistungen des Militärregimes, etwa bei der Inflationsbekämpfung und der Diversifizierung des Außenhandels, nicht schlecht abzuschneiden.
Die Militärs haben eine Wirtschafts-und Sozialpolitik der „Umverteilung nach oben“ betrieben. Demokratische Regierungen werden deshalb mit dem Problem des sozialen Nachholbedarfes der Unterschichten konfrontiert. Nicht vergessen sollte man aber, daß die „neue Demokratie“ Chiles von der „alten Demokratie“ insofern profitieren kann, als die politisch besonders konfliktreiche Agrarre: form als Umverteilungsreform bereits unter Frei und Allende durchgeführt wurde (im Gegensatz zur gänzlich anderen Situation in Brasilien).
Bei allen Schwächen sieht die Verfassung jedoch eine politisch-institutionelle Reform vor. die die Stabilität der Demokratie günstig beeinflussen könnte. Einen Strukturdefekt der traditionellen chilenischen Demokratie stellte es dar, daß der Präsident mit relativer Stimmenmehrheit gewinnen konnte, über keine ausreichende Parlamentsmehr-heit verfügte (wie etwa Allende) und daß Parteien, die ihn unterstützt hatten, während der Legislaturperiode die Koalition verließen. Die Verfassungsbestimmung, der auch die Opposition zustimmt, daß bei nur relativer Stimmenmehrheit eine Stichwahl zwischen den beiden Präsidentschaftskandida-ten mit den meisten Stimmen entscheiden soll, verspricht zumindest eine partielle Korrektur dieses Strukturdefekts. Möglicherweise wird sie die Kompromißbereitschaft der Parteien stärken und zu einem Abbau des traditionellen parteipolitischen Lagerdenkens beitragen.
III. Demokratisierung in Nicaragua?
1. Rahmenbedingungen a) Sozio-ökonomische und sozialstrukturelle Rahmenbedingungen Der Kleinstaat Nicaragua (3, 3 Mio. Einwohner) unterscheidet sich sozio-ökonomisch und sozial-strukturell erheblich von Chile. Nicaragua gehört zu den sozio-ökonomisch am wenigsten entwickelten Ländern Lateinamerikas. Die gesamte Volkswirtschaft und Sozialstruktur sind durch die nach wie vor hohe Bedeutung der Landwirtschaft geprägt. Fast 50 Prozent der Erwerbsbevölkerung arbeiten im Landwirtschaftssektor, die Analphabetenquote betrug vor dem Machtantritt der Sandinisten über 40 Prozent, und mehr als 60 Prozent der Nicaraguaner befinden sich in Lebensverhältnissen, die eine Befriedigung der materiellen Grundbedürfnisse nicht in ausreichendem Maße erlauben, so daßsie in Statistiken als „Arme“ geführt werden Das gute Abschneiden des Frente Sandinista bei den Wahlen von 1984 vermag deshalb sozialstrukturell nicht zu überraschen. Anders als in Chile gibt es keine bedeutsamen Mittelschichten, die die Wachstumsmöglichkeiten linker Parteien begrenzen. Aber auch im Falle Nicaraguas muß gegenüber deterministischen Behauptungen über Zusammenhänge zwischen sozio-ökonomischem Entwicklungsstand und Sozialstruktur auf der einen und politischen Einstellungen und Ordnungsformen auf der anderen Seite gewarnt werden. Ein Blick auf das sozio-ökonomisch und sozialstrukturell ähnliche Nachbarland Honduras genügt. Dort werden nach wie vor die beiden Traditionsparteien, die Liberale Partei und die Nationale Partei, gewählt, und sozialreformistische Parteien — um von genuinen Linksparteien gar nicht zu reden — haben bisher nur eine äußerst schwache Wählerresonanz gefunden b) Politisch-kulturelle Rahmenbedingungen Anders als Chile kann Nicaragua auf keine größere Tradition demokratischer Verhältnisse und sauberer Wahlen zurückblicken. Dementsprechend hat sich in Nicaragua bestenfalls eine ambivalent demokratische politische Kultur herausgebildet. Es fehlen Umfragen, die es, wie in Chile, erlaubten, die Verteilung autoritärer und demokratischer politischer Einstellungen zuverlässig einzuschätzen.
Im historischen Rückblick läßt sich aber immerhin feststellen, daß es in Nicaragua keine Tradition einer Monopolpartei gibt und partiell demokratische Elemente Bedeutung gehabt haben. Somozas Fassaden-Demokratie war in erster Linie eine Konzession an die USA, aber wohl auch an politisch-kulturelle Traditionen des Landes. Die sandinistische Revolution wurde nicht nur von Hoffnungen auf eine Hebung der materiellen Lebenslage begleitet, sondern auch von Hoffnungen auf die Erreichung genuin demokratisch-pluralistischer Zustände. Gesichtspunkte interner und vor allem externer Koalitionspolitik veranlaßten wohl die Sandinisten, ihre berühmten Revolutionsversprechen (Pluralismus, gemischtwirtschaftliche Ordnung, Blockfreiheit) abzugeben. Mit diesen Versprechen erwiesen sie aber auch zugleich der politischen Kultur ihres Landes Reverenz. Es fragt sich, inwieweit die Praktizierung eines, allerdings eingeschränkten, Pluralismus durch den Frente Sandinista de Liberaciön Nacional (FSLN) nach der Machteroberung auf diese, wenn auch ambivalente demokratische Tradition des Landes mitzurückzuführen ist. 2. Der revolutionäre Sturz des Somoza-Regimes Das Somoza-Regime, das über 40 Jahre Bestand hatte zeichnete sich in den letzten Jahren seiner Existenz in wachsendem Maße durch „Sozialrevolutionäre Verwundbarkeit“ aus.
Wegen der extrem ungleichen Verteilung von Lebenschancen und der sozialreaktionären Praktizierung eines Entwicklungsmodells der sozio-ökonomischen Modernisierung ohne Verteilungsgerechtigkeit entstand ein großes Potential sozialer Unzufriedenheit, vor allem in den Unterschichten.
Das Somoza-Regime war besonders legitimitätsschwach. De facto war es ein autoritäres Regime, es versah sich aber mit einer demokratischen Fassade. Die Berufung auf demokratische Normen, ohne ihnen in der Realität ernsthaft Rechnung zu tragen, machte das Regime besonders unglaubwürdig. Als Sippenregime und zugleich als Bereicherungsdiktatur stieß das Regime schließlich selbst innerhalb der Großbourgeoisie, die lange materiell vom Regime profitierte, auf Ablehnung, auch wenn ein Teil der bürgerlichen Opposition phasenweise zu einer begrenzten politischen Zusammenarbeit mit dem Regime gegen die Konzedierung minoritärer Machtpositionen bereit gewesen war. Die potentielle Spannweite für regimeoppositionelle Koalitionen war deshalb im somozistischen Nicaragua besonders groß.
Nach dem Erdbeben von 1972 trat der korrupte Charakter des Regimes vollends zutage. Im Zeichen einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise griff es zunehmend zu den Mitteln unfairer Konkurrenz und untergrub damit die auf sozio-ökonomischer Leistung beruhende Zustimmung einiger Sektoren zum Regime. Das Regime war auch ausgesprochen schwach in seiner Fähigkeit zur organisatorisch-mobilisatorischen Kontrolle von Anhängern, Indifferenten und Gegnern. Seine eigentliche Stärke erhielt es zum einen durch die Unterstützung der USA, zum anderen durch seine hohen Kontrollfähigkeiten über Zwangsressourcen. Die aus Berufssoldaten bestehende Nationalgarde wahrte bis zuletzt dem Diktator gegenüber Loyalität. Ihr besonderer Charakter als Prätorianergarde des herrschenden Familienclans sollte sich aber dann letztlich als Vorteil für den FSLN erweisen. Sobald der Diktator das Land verlassen hatte, stellten auch die Nationalgardisten den Kampf ein und flohen ins Ausland. Der Amtsantritt des amerikanischen Präsidenten Carter (1977— 1981), dessen Betonung von Menschenrechtskriterien eine Distanzierung vom Somoza-Regime wahrscheinlich machte, stimulierte die gemäßigte Opposition, den Frontalangriff auf das Somoza-Regime zu wagen. Sie erhoffte die Unterstützung der amerikanischen Regierung für den Versuch, die Diktatur abzulösen
Am Widerstand Somozas sollte allerdings die Durchsetzung dieser friedlichen, gemäßigten und demokratischen Transformationsalternative scheitern. Er trug auf vielfältige Weise zu Diskreditierung der gemäßigten Opposition, zu ihrem Glaubwürdigkeitsverlust als realistische Transformationsalternative bei. Die Ermordung des bürgerlichen Oppositionsführers Pedro Joaquin Chamorr schien zu signalisieren, daß jetzt auch die gemäßigte Opposition nicht mehr wie früher von Terrormaßnahmen ausgenommen sein würde. In ihrem Kampf gegen Protest-und Aufstandsversuche nahm die Nationalgarde in wachsendem Maße Zuflucht zu nicht-selektiven, zwischen radikalen und gemäßigten Opponenten nicht mehr diskriminierenden Gewaltakten. Indem das Regime die Organisationsarbeit von Sozialreformisten in einigen Unterschichtbereichen verhinderte, so vor allem in dem in Nicaragua sehr wichtigen Agrarbereich, schuf sie Freiräume, in denen sich sozialrevolutionäre Bewegungen ausdehnen konnten, ohne der sozialreformistischen Konkurrenz ausgesetzt zu sein. Vor allem aber weigerte sich Somoza hartnäckig, zurückzutreten oder ein Plebiszit zuzulassen, das er aller Wahrscheinlichkeit nach verloren hätte.
Der FSLN wußte in äußerst geschickter Weise den günstigen Moment zu nutzen, d. h. die Schwächen des Regimes auszunutzen und die Möglichkeiten für die Bildung einer sehr breiten Antiregimekoalition voll auszuschöpfen Er präsentierte sich in den Augen der nationalen wie internationalen Öffentlichkeit als besonders entschiedener Teil der demokratischen Oppositionsbewegung. Mit seinem Bekenntnis zum politischen Pluralismus, zur Block-freiheit, zur gemischtwirtschaftlichen Ordnung und mit seinem Versprechen, bald freie Wahlen abzuhalten, wurde der FSLN national wie international breit koalitionsfähig bzw. neutralisierte er wichtige potentielle Gegner. So ist es der geschickten Innen-und Außenpolitik des FSLN zuzuschreiben, daß die amerikanische Regierung 1979 keine Mehrheit in der Organisation Amerikanischer Staaten erhielt, eine „Friedenstruppe“ nach Nicaragua zu entsenden, die das militärische Machtmonopol des FSLN im nachsomozistischen Nicaragua in Frage gestellt hätte. Innerhalb weniger Monate konnte der FSLN, vormals eine kleine marxistisch orientierte Guerillaformation, zur hegemonialen Kraft im Oppositionslager aufsteigen und der bürgerlichen Opposition, die bis 1977/78 dort politisch dominiert hatte, erfolgreich den Führungsanspruch streitig machen. 3. Das sandinistische Regime: Ein ambivalenter Befund Die Analyse der bisherigen politischen Entwicklung des sandinistischen Nicaragua, welche sich an gängigen Demokratienormen orientiert, wird bewußt kurz gehalten. Zum einen ist auf einen früheren Aufsatz zu verweisen, dessen Grundthesen immer noch Gültigkeit haben Zum anderen läßt sich der Demokratiebefund in Nicaragua nicht sauber analysieren, weil das Land seit Ende 1981 einem Bürgerkrieg ausgesetzt ist und sich in diesem Sinne in einem veritablen Notstand befunden hat. Es ist unmöglich zu klären, inwieweit der Bürgerkrieg tatsächlich für Abweichungen der Sandinisten von ihren demokratischen Revolutionsversprechen verantwortlich gewesen ist. Schließlich ist auf das Faktum zu verweisen, daß unterschiedliche Perioden der Verhärtung und der demokratischen Öffnung unterschieden werden müssen. So bestand im zweiten Halbjahr 1984 anläßlich der Präsidentschaftsund Kongreßwahlen die Chance, die Institutionalisierung eines überzeugend demokratisch-pluralistischen Systems zu erreichen. Danach kam es zu einer Verhärtung des Regimes, die im Zeichen des Arias-Plans für Frieden in Zentralamerika seit August 1987 einer erneuten demokratischen Öffnung gewichen ist.
Eine Untersuchung des Regimes fördert Ambivalenzen zu Tage Das Regime kann nicht als genuin demokratisch klassifiziert werden, weil es die Opposition benachteiligt und jahrelang das Ausnahmerecht für sich in Anspruch genommen hat. Von totalitären Regimen unterscheidet es sich dadurch, daß es Oppositionsrechte respektiert, ein Mehrparteiensystem toleriert und Wahlen veranstaltet, in denen Oppositionsparteien prinzipiell die Möglichkeit haben, politische Machtpositionen zu erwerben. Das Regime trägt gewiß einige autoritäre Züge, aber von rechtsautoritären Regimen, wie dem Pinochet-Regime in Chile, unterscheidet es sich schon durch seine Fähigkeiten zur organisierten Mobilisierung.
Sinnvoll mag es sein, auf die erste Phase der Macht-errichtung näher einzugehen. In dieser Phase wurde deutlich, daß die Sandinisten damals nicht bereit waren, ein genuin pluralistisch-demokratisches System zu errichten. Bezeichnenderweise verschoben sie die Präsidentschafts-und Parlamentswahlen auf das Jahr 1985 (später wurde dann beschlossen, sie 1984 abzuhalten), obwohl nach übereinstimmender Meinung von Beobachtern frühzeitige Wahlen im Jahre 1979 oder 1980 eindeutig zugunsten des FSLN ausgegangen wären. Nicht-sandinistischen Parteien wurde ein minderer politischer Rechtsstatus eingeräumt. So war es ihnen verboten, bis zum Beginn des für 1985 geplanten Wahlkampfes öffentliche Kundgebungen abzuhalten. Von der Verhängung des Ausnahmezustandes im März 1982 an — sie wurde mit der Contra-Gefahr begründet — waren Führer und Mitglieder oppositioneller Parteien und der mit ihnen verbundenen Gewerkschaften repressiven Maßnahmen ausgesetzt. Ihnen gegenüber wurde die als Einschüchterung gedachte Methode der Kurzzeitverhaftung angewandt. Es kam allerdings nicht zur Folter, zum Mord und zum Verschwindenlassen von Oppositionellen. Es entwickelte sich ein linksgerichtetes Regime, in dem der FSLN eine dominierende Position beanspruchte und einen begrenzten Pluralismus respektierte.
Mit dem Sieg im Bürgerkrieg erhielt der FSLN 1979 die Gelegenheit zum Neuaufbau von Streit-und Sicherheitskräften, die er ideologisch auf das Regime verpflichten konnte. Die Kontrolle über die Streit-und Sicherheitskräfte ermöglichte ihm den Aufstieg als hegemoniale politische Kraft. Er sicherte sich eine Mehrheit in den politischen Entscheidungsgremien, brachte die Massenkommunikationsmittel weitgehend unter seine Kontrolle und betrieb ganz gezielt eine umfassende Politik der organisatorischen Mobilisierung. Als Avantgarde-partei hat sich der FSLN mit einem dichten Kranz von Massenorganisationen umgeben, die sich ideologisch mit dem revolutionären Sandinismus identifizieren. Elemente eines begrenzten Pluralismus blieben erhalten. So wurden zwar nicht-sandinistisehe Parteien in ihren Rechten eingeschränkt, sie wurden aber nicht verboten. Eingeschränkt, aber nicht völlig unterdrückt wurde auch die Meinungsvielfalt. Als Stimme der fundamentalen antisandinistischen Opposition fungierte die Zeitung „La Prensa“, die allerdings, wie auch dem FSLN gegenüber kritische private Radiosender, nach Ausru fung des Ausnahmezustandes der Zensur unterlag. Die Unternehmerverbände existierten weiter, und trotz einiger Versuche des FSLN, die man als „halbherzige Gleichschaltungsversuche“ kennzeichnen könnte, blieben Gewerkschaften bestehen, die dem Regime gegenüber kritisch eingestellt sind. Als vielleicht wichtigste Oppositionsinstanz, die Kontrollansprüche des FSLN abwehrte, fungierte die katholische Amtskirche. Sie nahm gegenüber dem Regime eine zunehmend kritische Haltung ein. Die dem Sandinismus verbundene „Volkskirche“, durch Priester wie die Brüder Cardenal in der Regierung repräsentiert, blieb innerkirchlich eine Minderheitserscheinung.
Man hat sich vor Augen zu führen, daß demokratische Öffnungen, wie jüngst im Zusammenhang mit dem Arias-Plan, von diesen Machtpositionen des FSLN aus stattgefunden haben, die für eine Hegemonialpartei typisch sind.
Im wirtschaftlichen Bereich besetzte der FSLN mit dem Mittel der Verstaatlichung (Banken. Außenhandel, Somoza-Besitz) zwar einige wichtige „Kommandohöhen“, respektierte aber durchaus das Prinzip der Gemischtwirtschaft. So wird wohl bis heute der größte Teil des Bruttoinlandproduktes im Privatsektor erzeugt. Im sozialen Bereich profilierte sich der FSLN durch einige bedeutsame Strukturreformen (Agrarreform, Einführung kostenloser Gesundheitsfürsorge, Alphabetisierungskampagne, Stützung der Preise von Grundnahrungsmitteln), die seine Orientierung an Normen sozialer Gerechtigkeit bzw. sozialer Demokratie erkennen ließen
Als undemokratisch sind insbesondere Menschenrechtsverletzungen des sandinistischen Regimes kritisiert worden. Zu diesem Problemkomplex schreibt Wolfgang Dietrich unter Bezug aufdie zentralamerikanischen Nachbarländer: „Erst der Umstand, daß sich Nicaragua in den Bereichen, die die Integrität der Person betreffen, so deutlich von seinen nördlichen Nachbarn abhebt, gibt dem Blick für Probleme, wie die Pressezensur, den Konflikt mit der Kirche, die Einschränkung von Streik-und Demonstrationsrecht und anderes, frei. Denn all diese Probleme gibt es in den anderen Ländern Zentralamerikas in der einen oder anderen Form auch, nur spricht man dort kaum darüber, weil man schon mit der Arbeit an den Mord-, Folter-und , Verschwundenenfällen‘ kaum nachkommt... Man beklagt die Pressezensur und schikanöse Verhaftungen von Journalisten in Nicaragua, übersieht aber geflissentlich die Ermordung ihrer Kollegen in den Nachbarländern, wo formell oft gar keine Zensur existiert.“ Tatsächlich schneidet das sandinistische Nicaragua gerade im Bereich elementarer Menschenrechtsrespektierung recht gut im Vergleich zu den redemokratisierten Nachbarn El Salvador und Guatemala ab. Es muß hier bei dem Hinweis bleiben, daß die Konsolidierungschancen der Demokratie in beiden Ländern als prekär zu veranschlagen sind. Denn in beiden Fällen handelt es sich um „militärisch korsettierte Demokratien“, in denen das Militär letztlich den Handlungsspielraum der zivilen Regierungen beschränkt, ihren sozialen Reformbemühungen und ihrem Verlangen nach Rechtsstaatlichkeit Grenzen setzt und sich wie ein Staat im Staate verhält 4. Transfonnationsversuche Die Reagan-Administration war mit ihrer Contra-Politik primär dafür verantwortlich, daß keine ernsthaften Versuche unternommen wurden, von innen her Fortschritte im Demokratisierungsprozeß zu erreichen. Hierzu hätten z. B. die Wahlen von 1984 einen guten Ansatzpunkt geboten. Demgemäß fand die interne Opposition Nicaraguas zu wenig nationale und internationale Beachtung. Es fragt sich, inwieweit ihr Verhalten durch die in Gestalt der Contras — scheinbar — bestehende Option des Regimesturzes beeinflußt wurde. Diese interne Opposition — selbst die kommunistisch orientierten Parteien haben sich inzwischen der antisandinistischen Opposition angeschlossen -hat sich bisher durch Forderungen wie die Trennung von Partei und Staat gerade in den Streit-und Sicherheitskräften, die Einführung der Nichtwiederwählbarkeit des Präsidenten und die baldige Ausschreibung von Wahlen hervorgetan. Es ist abzuwarten, welche Forderungen sie als wirklich essentiell betrachtet, wenn sie davon auszugehen hat. daß die Strategie des Regimesturzes ohne Erfolgsaussichten ist Die Nicaragua-Politik der Reagan-Administration war von dem Versuch gekennzeichnet, das sandinistische Regime zum Sturz zu bringen auch wenn in öffentlichen Erklärungen die Contras als „Druckmittel“ hingestellt wurden. Die amerikanische Administration hat eine direkte Intervention nie als Ultima ratio verworfen. Eine direkte Intervention war aber schon wegen der damit verbundenen Kosten und Opfer (nach Berechnungen von Experten würden 100 000 bis 200 000 amerikanische Soldaten benötigt) und möglicher destabilisierender Folgewirkungen (ganz Zentralamerika könnte zum Schauplatz revolutionärer Kämpfe werden) immer äußerst unwahrscheinlich. Man hoffte, daß es den Contras gelingen würde, das sandinistische Regime zu stürzen. Die Contras wurden von amerikanischen Administrationen seit November 1981 finanziell unterstützt, im Sommer 1986 fand sich eine knappe Kongreßmehrheit bereit, den militärischen Kampf der Contras zu finanzieren. Nachdem der Arias-Plan im August 1987 lanciert wurde, versagte der Kongreß dem militärischen Kampf der Contras seine weitere Unterstützung. Er hat lediglich Gelder für humanitäre Zwecke bewilligt. Angesichts der Gegnerschaft im Kongreß sah die Reagan-Administration schließlich davon ab, neue Mittel für die militärische Unterstützung der Contras zu beantragen. Das amerikanische Handelsembargo vom Frühjahr 1985 gegen Nicaragua ist als flankierende Maßnahme des Contra-Kampfes zu interpretieren.
Die Reagan-Administration hat auch versucht, von Honduras aus militärisch Druck auf Nicaragua auszuüben. Dort ist der Hauptteil der Contras stationiert. Der Versuch der Contras, das sandinistische Regime zu stürzen, versprach von vornherein wenig Erfolgsaussichten. Denn schließlich handelt es sich um ein Regime, das neben dem staatlichen Gewalt-monopol über eine große Mobilisierungsstärke verfügt. von großen Teilen der Bevölkerung unterstützt wird und pragmatisch durch unorthodoxe Reformen (z. B. die Agrarreform und das Autonomie-statut für die Indios) versucht hat, den Contras das Wasser abzugraben. Gerade die Außenlenkung und -Unterstützung der Contras durch die USA hat es den Sandinisten erlaubt, nationalistische Sentiments für sich zu reklamieren und die Contras als »Söldner Ronald Reagans“ zu qualifizieren. Auch* konnten sich die Contras nicht überzeugend als demokratische Alternative anbieten. Vielmehr scheint einem nicht unerheblichen Teil der internen Opposition das sandinistische Regime — einen entsprechenden Druck aus dem Ausland vorausgesetzt — noch als so offen, daß Versuchen, auf friedlichem Wege seine Radikalisierung zu verhindern und größere Mitsprache-und Kontrollrechte für oppositionelle Gruppierungen durchzusetzen, der Vorzug vor einer Unterstützung der konterrevolutionären Strategie des bewaffneten Regimesturzes gegeben wird.
Die Strategie des gewaltsamen Regimesturzes gilt inzwischen allgemeinhin als gescheitert. Der Arias-Plan ist ein deutliches Indiz für diese Einschätzung. In der amerikanischen Bevölkerung stieß die Contra-Politik immer mehrheitlich auf Ablehnung, Experten zweifelten an ihren Erfolgsaussichten. Inzwischen haben die Contras alle ihre politisch potentiell attraktiven Köpfe, wie Eden Pastora, Alfonso Robelo und Arturo Cruz, verloren. Übrig geblieben sind militärische Führer, die wegen ihrer Vergangenheit in Somozas Nationalgarde, ihrer Korruption und Menschenrechtsverletzungen kaum als glaubwürdige demokratische Alternative zu den Sandinisten gelten können. Seit Monaten befinden sich die Contras in einem Waffenstillstand.
Es ist sehr unwahrscheinlich, daß sie erneut als bedeutende militärische Kraft in Nicaragua in Erscheinung treten werden. Auch dürfte der neue amerikanische Präsident, George Bush, kaum wie sein Vorgänger auf die Contra-Karte setzen, schon wegen der Mehrheitsverhältnisse im Kongreß.
Überlegungen zum Demokratisierungsproblem in Nicaragua haben deshalb davon auszugehen, daß die Strategie des militärischen Regimesturzes gegenüber den Sandinisten gescheitert ist und sich eine weitere Demokratisierung des Regimes nicht ohne die Sandinisten durchsetzen läßt.
5. Aussichten für die weitere Demokratisierung und die Konsolidierung eines demokratischen politischen Systems Es wurde herausgearbeitet, daß sich für das sandinistische Regime ein ambivalenter Befund ergibt, wenn man Normen politischer Demokratie anlegt.
Im folgenden wird davon ausgegangen, daß die Contras gescheitert sind, von den USA weiter nicht mehr militärisch unterstützt werden und die Sandinisten die Entschuldigung — sei sie nun gerechtfertigt oder ungerechtfertigt — nicht mehr haben, der Bürgerkrieg und die aggressive Politik der USA seien für Abweichungen von Revolutionsversprechen (Pluralismus, gemischtwirtschaftliche Ord- nung, Blockfreiheit) und ökonomische Mangelerscheinungen (etwa die extrem hohe Inflationsrate) verantwortlich.
An der Debatte, was die Sandinisten „im Innersten ihres Herzens“ denken bzw. dachten, welcher Traum von welcher politischen und gesellschaftlichen Ordnung sie ideologisch bewegt bzw. bewegte, wollen sich die Autoren nicht beteiligen Vielmehr unterstellen sie, daß den Sandinisten vor der Machteroberung — vage — die Errichtung eines „zweiten Cuba“ vorschwebte. Auf diese Weise wird das Problem der Demokratisierung Nicaraguas zu einer besonderen theoretischen Herausforderung, die sich nicht stellen würde, wenn man die Sandinisten als eine Art von „tropischen Sozialdemokraten in Uniform“ begriffe. Tatsächlich vollzog sich die Machteroberung in Nicaragua nach ähnlichen Regeln wie in Cuba — was vielfach in Vergessenheit geraten ist. Castro gab sich vor der Macht-eroberung programmatisch gemäßigt, stellte baldige freie demokratische Wahlen in Aussicht, schmiedete eine breite, heterogen zusammengesetzte Oppositionsallianz und galt im In-und Ausland als radikaler Demokrat
Wenn man Fortschritte des Demokratisierungsprozesses im sandinistischen Nicaragua erwartet, kann man sich vor allem auf externe Faktoren berufen. Die UdSSR hat zwar das sandinistische Regime durch Waffenlieferungen und Wirtschaftshilfe bisher tatkräftig unterstützt, im wesentlichen hat es sich aber um eine Überlebens-, nicht um eine Aufbauhilfe, die das revolutionäre Nicaragua attraktiv machen würde, gehandelt Ökonomisch befindet sich das Land in einer schweren Krise, der Lebensstandard hat sich zunehmend verschlechtert, die Arbeitslosigkeit wächst, Versorgungsengpässe nehmen zu. die Inflationsrate beträgt mehrere tausend Prozent in den Unterschichten herrscht Hunger. Nichts deutet daraufhin, daß die UdSSR bereit wäre, in Nicaragua ein „zweites Cuba“ zu finanzieren. Zum einen hat sich die Finanzierung Cubas für die UdSSR als ungeahnt kostspielig erwiesen, auch aus strategischen Gründen lohnen sich angesichts der Gegnerschaft der USA keine Risikoinvestitionen in Nicaragua. Hinzu kommt, daß unter Gorbatschow interne Reformen der Sowjetunion im Mittelpunkt stehen und die Neigung gesunken ist, sozialistische Verbündete in fernen Ländern durch hohe Beträge zu unterstützen und für sie schwer einzuschätzende Risiken in Kauf zu nehmen.
Angesichts der erklärten Gegnerschaft der nahen USA und der begrenzten Investitions-und Risikobereitschaft der fernen UdSSR bestand für das sandinistische Nicaragua wohl nie — auch nicht vor Gorbatschow — die Option, sich in einen Klientel-staat der UdSSR zu verwandeln. In einiger Überspitzung sei als Hypothese formuliert: Vor mehr als 20 Jahren gab es für das revolutionäre Cuba nur eine Alternative: die Abhängigkeit von den USA oder die von der Sowjetunion. Die Sandinisten sehen sich nicht mit dieser Entweder-Oder-Entscheidüng konfrontiert und haben nicht diese „Wahlfreiheit“.
Ziel der Contadora-Initiative, die von den regionalen Mittelmächten Mexico. Venezuela und Columbien sowie dem zentralamerikanischen Panama 1983 gestartet wurde und die die ausdrückliche Unterstützung lateinamerikanischer Demokratien (Brasilien, Argentinien, Uruguay und Peru) und der Europäischen Gemeinschaft erhielt, war es, vor allem sicherheitspolitische Vereinbarungen in Zentralamerika, insbesondere gegenüber dem sandinistischen Nicaragua durchzusetzen, die Besorgnissen der USA Rechnung tragen. So ist in den Con-tadora-Akten unter anderem vorgesehen, daß sich die zentralamerikanischen Staaten verpflichten, keine Militärstützpunkte fremder Mächte zu errichten und ausländische Militärberater abzuziehen. Für Nicaragua würde dies bedeuten, daß die UdSSR keine Militärstützpunkte erhält und Militärberater aus kommunistischen Ländern, z. B. aus Cuba, das Land verlassen müßten. Der Arias-Plan, der von den zentralamerikanischen Regierungen im August 1987 unterzeichnet wurde, konzentriert sich vor allem auf interne Demokratisierungsmaßnahmen Er knüpft an die Contadora-Initiative an. indem er Voraussetzungen schaffen will, die das außen-und sicherheitspolitisches Wohlverhalten des sandinistischen Nicaragua innenpolitisch absichem. Mit der Unterzeichnung des Arias-Plans hat sich das sandinistische Nicaragua auf Demokratisierungsmaßnahmen festgelegt wie: Aufhebung des Ausnahmezustandes, Gewährleistung der Mei-nungs-, Informations-und Versammlungsfreiheit, die Abhaltung freier, von internationalen Vertre-tern beobachteter Wahlen zu den in der Verfassung vorgesehenen Terminen, zusätzlich Wahlen zum neuzubildenden zentralamerikanischen Parlament. Zudem sieht der Arias-Plan Dialoge der Regierung mit der internen Opposition vor. Guerilla-Gruppen in Nachbarländern sollen nicht unterstützt werden, mit Guerilla-Gruppen im eigenen Land sollen Verhandlungen über einen Waffenstillstand geführt werden. Vorgesehen ist ferner eine breite politische Amnestie.
Der Arias-Plan kann als Indiz dafür gewertet werden. daß die USA-freundlichen Regierungen der Region in Costa Rica. El Salvador, Guatemala und Honduras von der Untauglichkeit der Contra-Politik des Regimesturzes bzw.der Überlebensfähigkeit des sandinistischen Regimes überzeugt sind. Angesichts dieser Sachlage räumen sie — nicht zuletzt im wohlverstandenen US-amerikanischen Sicherheitsinteresse — der internen Demokratisierung Nicaraguas Priorität ein. Dem Arias-Plan folgend, sind die Sandinisten in Verhandlungen mit denContras eingetreten, die zum — bisher andauernden — provisorischen Waffenstillstand geführt haben, sie haben die Pressezensur beendet und Anfang des Jahres 1988 den Ausnahmezustand aufgehoben. Präsidentschafts-, Parlaments-und Kommunalwahlen sowie die Wahlen zum zentralamerikanischen Parlament werden 1990 stattfinden. Der Druck aus dem nahen und dem fernen westlichen Ausland hat also die Sandinisten zu bedeutsamen Konzessionen veranlaßt, die manche Beobachter für unwahrscheinlich erachtet hatten.
Dauerhafte, nicht nur vorübergehende, später wieder zurückgenommene Konzessionen an demokratische Ordnungserwartungen des westlichen Auslandes liegen deshalb im sandinistischen Interesse, weil nur bei demokratischem „Wohlverhalten“ westliche Wirtschaftshilfe wieder in vollem Umfang aufgenommen wird und mit einer Beendigung des ökonomischen Boykotts, den die USA seit 1985 gegenüber Nicaragua praktizieren, zu rechnen ist. Ohne intakte Handelsbeziehungen zu westlichen Ländern und ohne westliche Wirtschaftshilfe wäre das sandinistische Regime gezwungen, auf Dauer einen Hungersozialismus zu praktizieren, der seiner internen Legitimation abträglich ist. Die Sandinisten spekulieren darauf, daß sich die neue amerika-nische Administration vom Kurs der Reagan-Administration abwenden, pragmatisch verfahren und auf eine Unterstützung der Contras verzichten Mird.
Sie halten ein Arrangement mit der neuen amerikanischen Administration für durchaus mögich. Die Beendigung ökonomischer Boykottmaß»ahmen und die Wiederaufnahme westlicher Wirt-Khaftshilfe wird die Sandinisten — so spekulieren * -in die Lage versetzen, einen Wirtschaftsauf-schwung herbeizuführen, der sich zum Wahltermin 1990 für sie in Wählerstimmen auszahlt. Nur Fortschritte in der Demokratisierung gemäß dem Arias-Plan bieten ihnen einen Ausweg aus der unhaltbaren ökonomischen Notlage der Gegenwart.
Der Arias-Plan weist für die Sandinisten den Vorzug auf. daß er ihre Überlebensinteressen berücksichtigt. So verlangt er von ihnen nicht, daß sie den Wahlen von 1984, die ihnen eine solide Mehrheit verschafften, nachträglich die demokratische Legitimation absprechen. Man kann die These vertreten, daß die Sandinisten mit einem demokratischen politischen System leben können. Auch wenn der FSLN bei Wahlen unter 50 Prozent absinken sollte, hätte er immer noch die Möglichkeit, durch eine Koalition an der Regierung zu bleiben. Das Argument, bei freien Wahlen würden die Nicaraguaner die Sandinisten eindeutig ablehnen, ist wenig plausibel. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die Sandinisten bei den Wahlen vom November 1984. die relativ fair durchgeführt wurden, bei einer hohen Wahlbeteiligung immerhin 67 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf sich zogen. Die Wahlen fanden in einem ökonomischen Krisenjahr statt. Auch wenn sich die ökonomische Krise seitdem verschärft und die soziale Unzufriedenheit sich erheblich intensiviert haben, ist nicht damit zu rechnen, daß die Sandinisten unter die 40 Prozent-Marke geraten werden. Das neue Wahlrecht, welches die Sandinisten begünstigt, wird vermutlich ihnen eine Parlamentsmehrheit bescheren, auch wenn sie Stimmenverluste erleiden sollten. Selbst bei einem — allerdings sehr unwahrscheinlichen — Verlust der Regierungsgewalt würden die Sandinisten dank ihrer Kontrolle über die Streit-und Sicherheitskräfte und dank ihrer Massenorganisationen auch weiterhin einen gewichtigen Machtfaktor in Nicaragua darstellen.
Auch gilt es die normative Kraft des Faktischen nicht zu mißachten. Mit ihren Revolutionsversprechen (Pluralismus etc.), dem Fundamentalstatut der Verfassung und in ihren öffentlichen Erklärungen haben sich die Sandinisten an demokratisch-pluralistische Legitimationsprinzipien gebunden, auch wenn ihnen selbst die revolutionäre Legitimation ausreichend sein mag. An diesen demokratisch-pluralistischen Legitimationsprinzipien werden sie im In-und Ausland gemessen. Selbst in Perioden der Verhärtung haben sie einen begrenzten parteipolitischen Pluralismus respektiert. Die Wahlen von 1984 und Konzessionen in Zusammenhang mit dem Arias-Plan haben eine erhebliche faktische demokratische Kompromißbereitschaft der Sandinisten erkennen lassen. Kurzum: Es ist letztlich nicht entscheidend, ob die Sandinisten „Pluralisten wider Willen“ sind, sondern welches Ausmaß an Pluralismus sie zu respektieren bereit waren und sind.
Ein Kurswandel in der amerikanischen Politik würde den Sandinisten die „Allzweckentschuldigung“ nehmen, die USA und der Bürgerkrieg seien für Verstöße gegen demokratische Revolutionsversprechen und ökonomische Mangelerscheinungen hauptsächlich verantwortlich. In verstärktem Maße würden sie sich gezwungen sehen, eine demokratische Legitimation einzuholen und durch ökonomische Leistungen zu überzeugen, die ihnen interne Zustimmung sicherten. Die Sandinisten könnten aber durchaus davon profitieren, wenn die USA definitiv von einer Regimesturzstrategie Abschied nehmen, die Contra-Unterstützung einstellen und auch auf Versuche einer „Ausblutungsstrategie“ (ökonomischer Boykott; die Contras als „Druckinstrument“) verzichten würden. Wenn die nicaraguanischen Unternehmer fest damit rechnen müßten. daß das Regime überleben wird und nicht zu stürzen ist. würden sie politisch motivierte Investitionsstreiks einstellen. Die gemischtwirtschaftliche Ordnung Nicaraguas hätte dann endlich die Chance, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Angesichts der Existenz der Contras und der aggressiven, auf einen Sturz des sandinistischen Regimes abzielenden Politik der USA war es für die interne Opposition Nicaraguas immer sehr schwierig, sich als loyale Opposition zu verstehen und dementsprechend zu präsentieren. Die Sandinisten wurden dazu angeregt, ja geradezu eingeladen, die interne Opposition illoyaler Aspirationen zu verdächtigen. Die Distanzierung der USA von einer Regimesturzstrategie würde vermutlich dazu beitragen. daß sich die politische Polarisierung zwischen dem sandinistischen Lager und der internen Opposition abschwächt.
Bei Fortschritten im Bereich der politischen Demokratie wird der FSLN von Maßnahmen profitieren können die der sozialen Demokratie zugerechnet werden können. In diesem Zusammenhang wurden Verstaatlichungsmaßnahmen (Somoza-Besitz. Finanzsektor. Außenhandel), die Agrarreform, die kostenlose Gesundheitsbetreuung und die massive Alphabetisierungskampagne bereits erwähnt. Weitere größere sozio-ökonomische Strukturreformen, die für politische Polarisierungen sorgen könnten, sind in Zukunft nicht mehr zu erwarten. Es ist unwahrscheinlich, daß die interne Opposition diese Maßnahmen bei den nächsten Wahlen prinzipiell in Frage stellen wird und eine Rückkehr zum sozialen Status quo ante verlangt. Mit einer solchen Vorgehensweise würde sie Wählerstimmen verlieren.
IV. Perspektiven der Demokratisierung in Chile und Nicaragua: Ein Vergleich
Die fundamentalen und vielfältigen Unterschiede zwischen Chile und Nicaragua, die in der vorliegenden Untersuchung klar hervorgetreten sind, sollen nicht erneut genannt werden. Für die nachfolgenden Überlegungen, die sich die Frage stellen, inwieweit sich in beiden Fällen ein ähnliches analytisches Vorgehen (ein ähnlicher „approach“ bzw. „enfoque“) empfiehlt und sich für beide Fälle einige — notwendigerweise sehr abstrakte — Hypothesen möglicherweise bewähren, mag der Hinweis genügen, daß die Demokratisierung in Chile die Verdrängung der bisherigen Herrschaftselite (der Militärs) durch zivile Oppositionsparteien aus politischen Machtpositionen impliziert, während der FSLN in Nicaragua aller Voraussicht nach an der Macht bleibt und Fortschritte bei der Demokratisierung in diesem Lande davon abhängig sind, inwieweit der FSLN bereit ist.seine Machtausübung im verstärkten Maße demokratischen Rahmenbedingungen zu unterwerfen. Im ersten Fall geht es also um die Errichtung (genauer: Wiedererrichtung) eines demokratischen politischen Systems, das den Wechsel der Herrschaftselite voraussetzt, im zweiten Fall um den Ausbau der Demokratie durch die bisherige Herrschaftselite. Es wäre verhängnisvoll. Demokratisierung in Nicaragua mit dem Sieg antisandinistischer Kräfte (sei es im Bürgerkrieg oder durch Wahlen) gleichzusetzen. In unrealistischer Weise, aus ideologischer Voreingenommenheit bzw. in steriler Orientierung an bekannten Mustern würde man die für Nicaragua relevante Frage, unter welchen Bedingungen sich Marxisten-Leninisten nach der Machteroberung zur Praktizierung demokratisch-pluralistischer Normen bereitfinden, als sinnlos verwerfen. 1. Autoritäre Regime, mögen sie auch noch so legtimations-und mobilisierungsschwach sein, lassen sich auf friedliche Weise, durch politische Massen-mobilisierung, die ihren Ausdruck in Streiks und Demonstrationen findet, nicht stürzen. Das staatliche Gewaltmonopol (mit anderen Worten: ihre monopolartige Verfügung über Zwangsressourcen) und ihre Bereitschaft, Gewalt gegen Kontrahenten einzusetzen, sind ausreichend, um einen Regime-sturz zu verhindern. Ein Vergleich von Chile und Nicaragua bestätigt diese generelle Hypothese. So war es weder der zivilen Opposition in Nicaragua möglich, Somoza von der Macht „hinwegzudemonstrieren“, noch erwies sich die nichtrevolutionäre ruptura als realistische Transformationsstrategie im Chile Pinochets. Erfahrungen der (Re-) Demokratisierung autoritärer Regime in anderen Ländern zeigen. daß allgemein die nichtrevolutionäre ruptura wenig Erfolgsaussichten bietet.
2. Autoritäre Regime sind, wenn überhaupt, nur auf revolutionäre Weise (durch eine revolutionäre ruptura) zu stürzen. Revolutionen stellen aber historische Ausnahmefälle des Regimewechsels bzw.der Regimetransformation dar, und sie vollziehen sich nur unter bestimmten Sonderbedingungen.
Am Beispiel des revolutionären Sturzes des Somoza-Regimes wurden diese Sonderbedingungen herausgearbeitet (externe und interne Isolation des Sippenregimes; das Unvermögen der zivilen Opposition, das Regime auf friedliche Weise zu transformieren;
Selbstdarstellung der revolutionären Opposition als demokratisch-sozialreformistische Alternative).
Gegen das Pinochet-Regime versprach die Strategie revolutionärer ruptura, wie sie von den Guerilla-Organisationen FPMR und dem MIR und zum Teil auch der Kommunistischen Partei propagiert wurde, von vornherein keinen Erfolg.
Als rechtsautoritäres Regime wurde das Pinochet-Regime von der Oberschicht und Teilen der Mittel-schichten gegen linke Revolutionäre unterstützt und besaß wegen seiner Negativlegitimation („Schreckgespenst“ der Unidad Popular-Regierungsperiode) und seiner wirtschaftlichen Leistungen einen nicht unerheblichen Rückhalt in der Bevölkerung, wie auch das Plebiszit zeigte. In der Bevölkerung stießen zudem revolutionäre Aktionen mehrheitlich auf Ablehnung. Mit seinem „Transfonnationsfahrplan“, z. B.der Plebiszitbestimmung, schien das Regime die Möglichkeit zur gewaltfreien Rückkehr zur Demokratie zu bieten.
Somoza lehnte es ab. ein Plebiszit abzuhalten, weil er mit seiner Niederlage rechnete und bei einer Demokratisierung — nicht erst bei einer Revolution — mit dem Verlust auch seiner ökonomischen Privilegien rechnen mußte. Demgegenüber erwarteten Pinochet und seine Kernanhängerschaft bis zuletzt den Sieg im Plebiszit. Auch braucht das chilenische Militär aus Gründen, die genannt wurden, eine authentische Demokratie nicht im gleichen Maß zu fürchten wie Somoza und die Somozisten. Spekulieren läßt sich, daß die revolutionäre Opposition in Chile einen Aufschwung genommen hätte, wenn es zum Sieg Pinochets im Plebiszit gekommen wäre. Die von der Mehrheit der Oppositionsparteien befolgte Strategie der Redemokratisierung via reforma hätte dann als diskreditiert gegolten. Warum die Contras keine Siegesaussichten hatten, wurde begründet. 3. Die Redemokratisierungsforschung („Transitionsforschung“) hat zur Entwicklung realistischer Erwartungshorizonte geführt, die die gesamten Analysen auch normativ prägen. So wird im Falle des „Nachzüglers“ im Redemokratisierungsprozeß.
Chile, davon ausgegangen, daß nach dem Plebiszit in Verhandlungen zwischen gemäßigten Kräften der Opposition und des Regimes versucht wird, für beide Seiten akzeptable Einigungen zu erzielen.
Gegenüber den Militärs sieht sich die Opposition mit der doppelten Aufgabe konfrontiert, ihnen einerseits zu demonstrieren, daß das Festhalten an der autoritären Herrschaft sinnlos und nachteilig ist, und daß andererseits eine Rückkehr zur Demokratie keine größeren Gefahren für die Militärs impliziert. Die Transitionsforschung schenkt also der Rolle antidemokratischer bzw. ambivalent demokratischer Kräfte gebührende Aufmerksamkeit.
In diesem Sinne begreift sie Demokratie als Muster der Konfliktregulierung, das antidemokratischen bzw. ambivalent demokratischen Kräften einen akzeptablen Ausweg aus einer als unhaltbar erkannten Situation bieten soll. Dementsprechend wurde für Chile begründet, warum die Militärs vermutlich mit einer Rückkehr des Landes zur Demokratie leben können. In gleicher Weise wurde nüchtern gefragt, inwieweit Fortschritte bei der Demokratisierung Nicaraguas mit fundamentalen Eigeninteressen der Sandinisten — ihnen wurde, auch wenn das strittig ist, ein ideologischer Marxismus-Leninismus unterstellt — vereinbar sind. Generell geben diese Überlegungen Anlaß zur folgenden abstrakten Hypothese: Eine Demokratisierung setzt nicht voraus, daß alle relevanten politischen Akteure demokratisch gesinnt sind. Alle relevanten politischen Akteure müssen aber bei nüchterner Interessen-und Kostenkalkulation davon ausgehen können, daß in einer demokratischen Ordnung nicht gegen ihre fundamentalen Eigeninteressen verstoßen wird. Anders formuliert: Sie müssen zu der Überzeugung gelangen, daß sie mit dem speziellen Muster der Konfliktregulierung, Demokratie genannt, leben können 4. Die Elemente eines eingeschränkten und begrenzten Pluralismus und demokratischer oder nur quasi-demokratischer Spielregeln begünstigen Fortschritte bei der Demokratisierung bzw. Redemokratisierung. So war die de facto-Toleranz der bis 1987/88 verbotenen Oppositionsparteien in Chile durch das Pinochet-Regime Voraussetzung dafür, daß die traditionellen Parteien — auch die immer noch legal verbotenen marxistischen Parteien — erneut erstarken konnten. Und in Nicaragua war es durchaus von Bedeutung, daß nicht-sandinistische Parteien erlaubt waren (und sind), wenn ihnen auch geringere Rechte eingeräumt wurden.
Vergleichbar waren insbesondere das Plebiszit in Chile vom Oktober 1988 und die Präsidentschaftsund Parlamentswahlen in Nicaragua vom November 1984. Im Vorfeld beider Wahlen sahen sich die Regimeeliten, da sie bestrebt waren, möglichst viele Stimmen zu gewinnen, zu Korrekturen ihrer bisherigen Politik veranlaßt. So wurde in Nicaragua das Tempo der Agrarreform beschleunigt und es wurden nicht mehr Staats-, sondern in erster Linie Familienbetriebe bei Umverteilungen bedacht. In Chile entdeckte das Regime die bisher mißachteten Unterschichten als politisch maßgebliche Stimmen-lieferanten und setzten einige Maßnahmen zu ihren Gunsten in Gang. In beiden Fällen wurde korrekt ausgezählt, und es erhielt die Opposition, obwohl die Regimeelite das wichtigste Massenmedium, das Fernsehen, kontrollierte und mit einem klaren Wettbewerbsvorteil in den Wahlkampf eintrat, für einige Wochen begrenzte Möglichkeit zur Wahl-werbung, auch im Fernsehen. Gerade in Kenntnis der chilenischen Plebiszitergebnisse kann eine frühere Einschätzung der Wahlen in Nicaragua wiederholt werden: „Wenn die Unzufriedenheit mit dem FSLN tatsächlich so groß war, wie Kritiker im Inland und Ausland behaupteten, dann hätten sie unter den geschilderten Wahlprozeßbedingungen ihren Ausdruck in einem mächtigen Votum für antisandinistische Parteien finden müssen.“ Es gewann aber der FSLN bei einer hohen Wahlbeteiligung immerhin 67 Prozent der gültigen Stimmen. Es ist bedauerlich, daß die amerikanische Administration diesen Wahlen demokratischen Charakter absprach, während sie in Chile dem Plebiszit einen Charakter als demokratische Testwahl zuerkannte. Sie setzte sich aktiv dafür ein. daß sich Parteien, wie die christdemokratische und die konservative, die der Coordinadora Democrätica angehörten, nicht an den Wahlen beteiligten. Diese Parteien wurden zur eigentlichen Opposition hochstilisiert, ohne deren Teilnahme die Wahlen keinen demokratischen Wert hätten. Wahrscheinlich hätten aber die der Coordinadora angehörigen Parteien bei den Wahlen nicht sonderlich gut abgeschnitten. Die Unterstützung der Contras hätte sich gegen einen durch demokratische Wahlen legitimierten FSLN nicht mehr rechtfertigen lassen. Es ist zu hoffen, daß erstens auch die der Coordinadora angehörigen Parteien sich an den nächsten Wahlen, die 1990 stattfinden sollen, beteiligen werden; daß zweitens die neue amerikanische Administration die Wahl-teilnahme unterstützt; daß drittens auch ein Wahlsieg des FSLN akzeptiert wird. Auch im Falle eines Wahlsiegs des FSLN würde eine gewichtige antisandinistische Opposition im Parlament dank ihrer Unterstützung im westlichen Ausland ein enorm starkes Hindernis gegen befürchtete diktatorische Tendenzen des FSLN darstellen. f 5. Die Konsolidierungschancen eines demokratischen politischen Systems wurden in beiden Fällen, allerdings aus unterschiedlichen Gründen, als günstig eingeschätzt. Für Chile wurden vornehmlich interne, für Nicaragua vornehmlich externe Gründe für diese Beurteilung ins Feld geführt. Gleichwohl lassen sich einige Gemeinsamkeiten entdecken: a) Eine grundlegende Voraussetzung für eine stabile Demokratie ist die Unterordnung des Militärs unter zivile Kräfte. Es wurde begründet, warum hierzu in Chile größere Hoffnungen bestehen als in postautoritären Nachbarländern. Das Muster der zivil-militärischen Beziehungen in Nicaragua mag den Beobachter an das cubanische Beispiel oder an osteuropäische Vorbilder erinnern. Gleichwohl sollte man nicht verkennen, daß die Sandinisten, die sich selbst als „politisch-militärische Avantgarde“ verstehen, mit der Schaffung ihnen ideologisch treuergebener Streit-und Sicherheitskräfte verhindern, daß das Militär zu einer eigenständigen Machtgröße wird, die den Bestand der Demokratie gefährden könnte. b) Im Falle Chiles begünstigt die Existenz der in einer langen Geschichte geschaffenen soliden demokratischen politischen Kultur die Stabilität eines wiedererrichteten demokratischen politischen Systems. Nicaragua weist dagegen eine nur sehr ambivalente demokratische politische Kultur auf. Immerhin wird gemäß dieser politischen Kultur die Monopolherrschaft einer Partei abgelehnt, Dissenz und Opposition gelten als normal, Diktaturen werden nicht als Dauererscheinungen, sondern nur für Krisenzeiten als legitim akzeptiert. Mit anderen Worten: Ein Versuch des FSLN, eine Einparteiherrschaft in Nicaragua zu installieren, würde auf Resistenz innerhalb der nicaraguanischen Bevölkerung stoßen.
c) Die Stabilitätschancen von Demokratie werden günstig beeinflußt, wenn Strukturreformen, die der sozialen Demokratie zugerechnet werden können, stattgefunden haben und zentrale sozio-ökonomische Ordnungsfragen nicht nach der polarisierenden Devise Kapitalismus oder Sozialismus. Markt oder Plan diskutiert werden. Für Chile wurde auf die Agrarreform, die bereits unter Frei und Allende stattfand, hingewiesen und auf historische Erfahrungen. die eine nichtideologische Debatte sozioökonomischer Ordnungsfragen begünstigen. Für Nicaragua wurde ebenfalls auf einige Strukturreformen hingewiesen, die keine Oppositionspartei, die günstige Wahlchancen haben will, infrage stellen darf. Auch dürften planwirtschaftliche Experimente der Sandinisten bei der nicaraguanischen Bevölkerung die Neigung verringert haben, sozioökonomische Probleme im Sinne eines ideologischen Sozialismus anzugehen. d) Es ist für beide Länder auf die der Demokratie dienlichen „Lernerfahrungen" und „Lernmöglichkeiten“ zu verweisen. Die Sandinisten haben gelernt, daß sie auch mit einem demokratischen politischen System leben können. Die nicaraguanische interne Opposition hat noch zu lernen, daß der Traum von einem Regimesturz unrealistisch ist und die Sandinisten gerade dann in Bedrängnis gebracht werden können, wenn die Opposition sich als loyal-demokratischeOpposition verhält. Negative und positive historische Erfahrungen begünstigen in Chile vermutlich Tendenzen zu einem Abbau des traditionellen parteipolitischen Lagerdenkens und zur Ausbildung von Koalitions-und Kompromißbereitschaft. Das chilenische Militär wird Abstand davon nehmen, wieder nach der direkten Herrschaft zu greifen, wenn es die Erfahrungen macht, daß fundamentale Eigeninteressen in der neuen chilenischen Demokratie respektiert werden.
Fazit: Bei einer vergleichenden Analyse von (Re-) Demokratiesierungsprozessen bietet sich eine Forschungsstrategie an, die nicht nur nach den demokratischen Intentionen der relevanten politisehen Akteure Ausschau hält, sondern sich auch von der Frage leiten läßt, unter welchen Bedingungen und auf Grund welcher Faktoren politische Akteure, denen eine antidemokratische oder ambivalente Haltung zur Demokratie zugeschrieben werden kann, demokratischen Grundsätzen und Verfahren zustimmen. Für die demokratische Opposition ist es in der Regel günstiger, sich auf eine mit verschiedenen Einschränkungen verbundene, zunächst von der Regimeelite kontrollierte demokratische Öffnung einzulassen und auf die Eigendynamik des Demokratisierungsprozesses zu setzen, als — zumeist vergeblich — auf eine politische Konstellation zu warten, in der sich die demokratischen Idealvorstellungen der Opposition möglichst ohne Abstriche verwirklichen lassen.