I. Varianten der Kanzlerdemokratie
Der Begriff der „Kanzlerdemokratie“ ist zu Beginn der Ära Adenauer aufgekommen und durch sie geprägt Zunächst wurde er überwiegend kritisch verstanden: als ein aus deutschen obrigkeitsstaatlichen Traditionen resultierendes „spezifisches System“, „das sich deutlich von anderen westlichen Demokratien unterscheidet“ Zumal die in den fünfziger Jahren befürchtete „Atrophie der demokratischen Institutionen“ in der Bundesrepublik nicht eingetreten ist — diese sich vielmehr zu einer „normalen“ westlichen Demokratie (mit spezifischen Stärken und Schwächen wie die anderen auch) entwickelt hat —, ist die Sicht der Kanzler-demokratie inzwischen freundlicher geworden, gilt sie geradezu als erstrebenswerte Ausprägung parlamentarischer Regierungsweise, der nur leider der amtierende Kanzler nicht gerecht zu werden vermöge
Wolfgang Jäger hat neuerdings gar die Frage aufgeworfen, ob sich nicht seit der Ära Adenauer „unabhängig von der jeweiligen Persönlichkeit des Amtsinhabers ... die Bedingungen der politischen Führung geändert“ haben Darauf wird in diesem Beitrag einzugehen sein, wobei die Erörterung auf die Alternative hinausläuft, ob die „Kanzlerdemokratie“ als spezifisches Merkmal der Ära Adenauer oder als genereller Strukturaspekt des Regierungssystems der Bundesrepublik zu gelten hat
Ich möchte mich nun der Frage zuwenden, ob und in welcher Weise die Kanzlerdemokratie auch in den 25 Jahren nach dem Ausscheiden Adenauers als Kanzler — also zwischen 1963 und heute — Bestand hatte. Dabei werde ich so vorgehen, daß ich zunächst (I.) die Kanzlerschaft derfünfNachfolger Adenauers porträtiere, wobei die Persönlichkeit der Bundeskanzler sowie Besonderheiten ihrer Regierungszeit im Vordergrund stehen sollen. Danach werde ich (II.) auf Fragen der Regierungstechnik eingehen und mich schließlich (III.) mit generellen Entwicklungstendenzen und Problemen des Regierungssystems beschäftigen.
Die beiden Nachfolger Adenauers, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, waren nur recht kurze Zeit — jeweils etwa drei Jahre — im Amt; schon deshalb und auch aus anderen Gründen ist nicht zu erwarten, daß sie der Kanzlerdemokratie eine bestimmte Form zu geben vermochten.
Erhard hielt kaum jemand für einen geeigneten Bundeskanzler im regierungstechnischen Sinne. Johannes Gross prägte seinerzeit die daraufgemünzte Formulierung, Erhards Kanzleramtschef und enger Berater Ludger Westrick sei der „Premierminister des Kanzlers“ gewesen Solange Erhard jedoch als „Wahllokomotive“ Erfolg hatte — das war insbesondere bei der Bundestagswahl von 1965 der Fall — konnte er seine sonstigen Schwächen kompensieren. Wie indessen der rapide Ansehensverlust nach dieser Wahl zeigte — eine ähnliche Entwicklung trat nach der Bundestagswahl von 1972 ein —, war diese Basis nur für sehr begrenzte Zeit tragfähig.
Erhards Intentionen und die Regierungspraxis des durch den erbitterten „Kampf ums Kanzleramt“ Zermürbten klafften in vieler Hinsicht auseinander. Vor dem Hintergrund des strengen Kabinettsregiments Adenauers wurde in der Öffentlichkeit wohlwollend aufgenommen, daß Erhard dort mehr Kollegialität in Aussicht stellte; doch wurde daraus kein praktikabler Regierungsstil. Erhard verstand sich als „Volkskanzler“ — eine Selbstverständlichkeit in dem Sinne, daßjeder Bundeskanzler Anhänger über seine Partei hinaus zu gewinnen sucht und auch tatsächlich gewonnen hat. Die Basis in der eigenen Partei wird deshalb freilich nicht unwichtiger — dafür ging Erhard jedoch das Verständnis ab. In der Tat scheint eine „zwiespältige Einstellung zur Politik“ sein Handeln bestimmt zu haben: „der Mitteilungs-und Wirkungswille des zur Missionierung der Allgemeinheit Entschlossenen einerseits, die Verständnislosigkeit für politische Tatsachen andererseits“, wie es Günter Gaus 1965 formulierte Erhard dachte in wirtschafts-und gesellschaftspolitischen Kategorien, während er der traditionellen Machtpolitik fremd gegenüberstand, ja eine „gewisse Verachtung der Politik schlechthin“ an den Tag legte.
Erhard hatte als einziger Bundeskanzler kein Verhältnis zu seiner Partei, wie er überhaupt „kein Verhältnis zur existierenden Parteiendemokratie“ hatte. So strebte er zunächst den Parteivorsitz, der von Adenauer auch nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler beibehalten wurde, gar nicht an. übernahm ihn aber schließlich doch noch — wenige Monate vor dem Ende seiner Kanzlerschaft. Erhards Anti-Parteien-und Anti-Verbände-Affekt trug im übrigen durchaus zu seiner Volkstümlichkeit bei: Der Fachmann mit überparteilicher Attitüde findet nicht nur in Deutschland Anklang, wie das Beispiel Raymond Barres zeigt Da Erhard zunächst eine geradezu enthusiastische Presse hatte — wohl nicht zuletzt eine Reaktion auf das gespannte Verhältnis seines Vorgängers den Medien gegenüber —, hätte vielleicht schon die Möglichkeit bestanden, sich durch das Fernsehen über Parteien und Interessenverbände hinweg direkt an das Volk zu wenden, wie dies General de Gaulle — unter freilich wesentlich anderen Voraussetzungen — in Frankreich praktizierte. Die damalige Konvergenz von SPD und CDU/CSU hätte eine solche Personalisierung noch begünstigt. Erhard hat von dieser Möglichkeit aber nicht ernsthaft Gebrauch gemacht, hat sie wohl nicht einmal als Versuchung empfunden.
Kurt Georg Kiesinger „hat sein Amt mit der Ausstrahlungskraft seiner überragenden Persönlichkeit ausgefüllt“ Angesichts der Kräfteverhältnisse in der Großen Koalition, diesem Regierungsbündnis zweier annähernd gleich starker Parteien, blieb ihm freilich kein großer Spielraum; er hatte im wesentlichen eine Koordinierungsaufgabe wahrzunehmen, was er mit Geduld, Geschick und Eleganz tat. Neben dem Kabinett bestanden zwei Nebenregierungen: der „Kreßbronner Kreis“ und vor allem die eng kooperierenden und gut harmonierenden beiden Fraktionsvorsitzenden, Rainer Barzel und Helmut Schmidt Es fiel den Unionsparteien schwer, sich auf die veränderte Situation einzustellen, daß sie zwar — ihrem Selbstverständnis entsprechend — weiterhin den Kanzler stellten, daß dieser aber als Kanzler einer Großen Koalition kaum als Parteiführer hervortreten konnte, sondern deren „Wortführer“ sein mußte. Da die Koalition wichtige Probleme, deren Lösung auf ihrem Programm stand, erfolgreich bewältigte, kann Kiesinger durchaus als erfolgreicher Bundeskanzler gelten, dessen „Bonus“ seiner Partei bei der Bundestagswahl 1969 zugute kam Die sozial-liberale Koalition regierte etwa ebenso lange wie Adenauers „bürgerliche Koalition“; allerdings amtierten während dieser Zeit zwei Bundeskanzler: Willy Brandt fünf Jahre und Helmut Schmidt acht Jahre. Während es den Unionsparteien schwer fiel, sich mit der ungewohnten Oppositionsrolle abzufinden, hatte die SPD keine Schwierigkeiten, sich zum ersten Mal mit der Rolle der Hauptregierungspartei zu identifizieren. Obwohl beträchtliche Teile der APO nach 1969 zur SPD stießen, ergaben sich daraus in der sozial-liberalen Aufbruchstimmung zunächst keine Probleme für die Funktionswahrnehmung einer Regierungspartei. Willy Brandt wurde von seiner Partei ähnlich vorbehaltlos unterstützt wie Adenauer durch CDU und CSU in den fünfziger Jahren, wenn es ihm auch bereits 1973 nicht mehr gelang, „die Jungsozialisten zur Rücksicht auf seine Person und Regierung zu bewegen“ Außerdem hielten viele Intellektuelle Brandt wie keinem seiner Vorgänger und Nachfolger die „Versöhnung“ von Geist und Macht und vor allem auch von Macht und Moral zugute. Die Verleihung des Friedensnobelpreises trug noch dazu bei. daß Brandt im Wahlkampf 1972 in der Tat „von seinen Anhängern geradezu als Heiliger verehrt wurde“, wie Wolfgang Jäger formuliert hat
In die Startphase der sozial-liberalen Koalition fiel auch ein beträchtlicher Ausbau der Planungskapazität im Bundeskanzleramt. Diese Aktivitäten hatten aber letztlich kaum einen Effekt sie scheiterten vor allem an der Beharrungskraft der Ressorts — zu denjenigen, die sich Ehmkes Dynamik widersetzten, gehörte insbesondere der damalige Bundesminister Schmidt — und an mangelnder politischer Unterstützung durch Brandt selbst, der zunächst durch die Außenpolitik absorbiert war, aber auch nach 1972 kein sonderliches Interesse für den Ausbau des Planungsinstrumentariums wie überhaupt für Fragen der Regierungstechnik zeigte. Mit Ehmke, Frau Focke und Jochimsen verließen 1972 „die drei Promotoren institutionalisierter und organisierter Koordinationsplanung“ das Kanzler-amt, die neue Mannschaft entsprach zwar mehr dem eher kontemplativen Temperament Brandts, harmonierte aber nicht miteinander; insbesondere war der neue Amtschef Horst Grabert seiner Aufgabe nicht gewachsen Als nach Abschluß der Verhandlungen und Ratifizierung der Ostverträge die Innenpolitik und namentlich die von der sozialliberalen Koalition angekündigten „inneren Reformen“ auf der Tagesordnung standen, hatten sich der Elan der Regierung und die Führungskraft des Kanzlers offenbar erschöpft. Persönliche Probleme und schließlich vor allem wirtschaftliche Schwierigkeiten kamen hinzu und tragen zur Erklärung bei, warum Brandt und seine Regierungskoalition ihren großen Erfolg bei der Bundestagswahl von 1972 nicht nutzen konnten.
Brandts Resignation und die Übernahme der Kanzlerschaft durch Helmut Schmidt sowie die Ablösung Walter Scheels durch Hans Dietrich Genscher markieren 1974 einen deutlichen Einschnitt der sozialliberalen Koalition, deren Anfangsträume nun endgültig verflogen waren. Arnulf Baring meinte sogar: „Der Stimmungs-und Richtungsumschwung im Lande lag irgendwo zwischen 1972 und 1974, nicht 1982. Die Kombination Schmidt-Genscher bedeutete von Anfang an einen Trend zur Vorsicht, die Wende zu einer im wesentlichen konservierenden Politik, einer Politik zur Sicherung des Erreichten“. Damit wollte sich der linke Flügel der SPD, der in einigen Großstädten und Parteibezirken über die Delegiertenmehrheit verfügte, nicht abfinden. Der zweite sozialdemokratische Bundeskanzler mußte gegen eine wachsende innerparteiliche Opposition ankämpfen.
Helmut Schmidt ist nicht nur der Bundeskanzler mit der nach Adenauer längsten Amtszeit, sondern zweifellos auch derjenige, der bisher neben Adenauer die Vorstellung von der Bundesrepublik als einer Kanzlerdemokratie am nachhaltigsten prägte. Schmidt hatte zwar in der eigenen Partei einen schwereren Stand als Adenauer und sah sich — anders als dieser — durch eine oppositionelle Bundesratsmehrheit eingeengt. Diese politische Rolle des Bundesrats war ein Thema der öffentlichen Auseinandersetzung, die ihren Höhepunkt im Wahljahr 1976 erreichte.
Ende der siebziger Jahre entlud sich auch die Spannung zwischen dem Bundesverfassungsgericht — das von der Opposition immer wieder bemüht wurde und dieser in mehreren spektakulären Entscheidungen Recht gab — und der Bundesregierung, als in einer Podiumsdiskussion der Evangelischen Akademie Tutzing am 1. Oktober 1978 Bundeskanzler Schmidt und Verfassungspräsident Benda aneinandergerieten. Hingegen konnte sich Schmidt bis zum Ende seiner Kanzlerschaft aufeine überwiegend positive Resonanz in den Massenmedien stützen, in denen (namentlich im Fernsehen) er sich glänzend darzustellen vermochte, während Adenauers Verhältnis zu den Massenmedien aus „wechselseitiger Antipathie“ bestanden hatte. Bereits seit 1970 war Schmidt der populärste deutsche Politiker, der auch bei Unionswählem beträchtliches Ansehen genoß; den Höhepunkt seines (auch internationalen) Renommees erreichte er nach Mogadischu im Herbst 1977
Schmidts effizienter und intensiver Arbeitsstil weist manche Gemeinsamkeiten mit Adenauer auf. Charakteristisch scheint mir die Tatsache zu sein, daß Schmidts Kanzleramtschef Schüler wohl am ehesten von allen Nachfolgern Globkes den Vergleich mit diesem aushält. Eine andere Gemeinsamkeit zwischen Schmidt und Adenauer besteht darin, daß sich beide regelmäßig mit Repräsentanten der Wirtschaft — im Falle Schmidts sind es vor allem Gewerkschaftsführer, aber auch Manager großer Banken und Industrieunternehmen — berieten. Diese regelmäßigen Konferenzen mit Verbandsführem wurden von Schmidt geradezu institutionalisiert und zu dieser Zeit dann als Indiz für „neokorporatistische“ Tendenzen interpretiert Schließlich dominierte Schmidt das Kabinett ähnlich wie Adenauer, wenn er auch der FDP, die mit dem Außen-, Innen-und Wirtschaftsministerium immerhin über drei der bedeutendsten Ressorts verfügte, wohl mehr Konzessionen machen mußte als Adenauer. „Nebenkanzler“ aus den eigenen Reihen, wie sie Brandt insbesondere mit Karl Schiller und Helmut Schmidt in seinen Regierungen hatte, gab es in Schmidts Kabinetten jedoch nicht. „Hinter der Kulisse des perfekten Kanzlerbildes verbarg sich allerdings eine durchaus ambivalente Realität.“ Darauf hat Wolfgang Jäger mit Recht hingewiesen: „Die Konsens-Politik Schmidts ließ nämlich nur eine Politik der kleinsten Schritte zu. Die großen Zukunftsaufgaben — man denke an die Ökologie oder die Rentenfinanzierung — wurden gar nicht angepackt . .
Kohls sechsjährige Amtszeit als Bundeskanzler übertrifft bereits jetzt diejenige Brandts, und am Ende der gegenwärtigen Legislaturperiode wird er voraussichtlich mit Schmidt gleichgezogen haben, also der nach Adenauer am längsten amtierende Kanzler der Bundesrepublik sein. (Dessen Amtszeit als CDU-Parteivorsitzender [1950— 1966] hat Kohl [seit 1973] fast schon erreicht.) Das Argument, seine Amtszeit sei für ein zuverlässiges Urteil noch zu kurz, ist also schon heute nicht mehr stichhaltig.
Mit Kohl übernahm ein „Politiker neuen Typs“ die Regierungsführung in der Bundesrepublik. Er ist mit einer „in . bürgerlichen* Parteien außergewöhnlichen. inzwischen freilich auch hier üblich gewordenen Intensität und Selbstverständlichkeit Parteipolitiker“ Obwohl Erhards Hypothek, verglichen mit den „anhaltenden Herabsetzungen, die Helmut Kohl über sich hatte ergehen lassen müssen“, nach Alfred Grossers Urteil „eher gering“ war sind die Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche Amtsführung als durchaus günstig zu bezeichnen, insbesondere der starke Rückhalt in der eigenen Partei, der sich durch den Erfolg von Kohls riskanter Strategie beim Regierungswechsel von 1982/83 noch gefestigt hatte, und die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Allerdings dürften die Koordinationsprobleme zwischen Bund und Ländern schwieriger geworden sein und hat sich das Selbstbewußtsein der CDU-Regierungschefs in den Ländern während der Oppositionsperiode der Partei auf Bundesebene noch gekräftigt zumal sie auch im Parteipräsidium der CDU — diesem neben den Koalitionsrunden besonders wichtigen Entscheidungsgremium der gegenwärtigen Bundesregierung — vertreten sind, muß der Bundeskanzler ihre Vorstellungen und Interessen berücksichtigen. Erinnern die genannten Rahmenbedingungen an die Ära Adenauer — mit einer wesentlichen Modifikation: dem veränderten Verhältnis von CDU und CSU —, so sind hinsichtlich des Arbeitsstils und der eng damit zusammenhängenden Arbeitsweise des Kanzleramtes Unterschiede festzustellen. In dieser Hinsicht dürften sich Adenauer und Schmidt nähergestanden haben als Adenauer und Kohl, was etwa weniger Förmlichkeit und Systematik, Abneigung gegen Aktenstudium oder die Zusammenarbeit mit Beamten angeht Die Bedeutung dieser Eigentümlichkeiten sollte man freilich nicht überschätzen, gilt Kohl doch als gut informiert. Auch erwies sich der Wechsel in der Leitung des Kanzler-amtes, zu der sich Kohl im November 1984 entschließen mußte, als wirksame Maßnahme: Wolfgang Schäuble stand als ehemaligem Fraktionsgeschäftsführer der CDU/CSU der zweckmäßigere Arbeitsstil zu Gebote, und er war mit der Bonner Szene besser vertraut als sein Vorgänger. Seither verfügt Kohl in der Tat über ein „geräuschlos funktionierendes Koordinations-Scharnier der Bundesregierung, das an die Amtszeiten von Hans Globke und Manfred Schüler erinnert“ Im Sommer 1988 kam es indessen zu Schwierigkeiten mit der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die mehrfach gefordert hat, stärker in den politischen Entscheidungsprozeß einbezogen zu werden
Zeitweilig geriet Kohl in eine problematische Konkurrenz mit dem Bundespräsidenten, die in dieser Form wohl einmalig in der Geschichte der Bundesrepublik war: „In Kohls Kanzlerdemokratie wird der Präsident zu einer politischen Kraft“, konnte man 1985 in der Presse lesen In der Tat kam es zu einem für Kohl ungünstigen Kontrast zwischen dessen Unvermögen, seine Person und die Prinzipien seiner Politik — namentlich kn Fernsehen — überzeugend darzustellen, und von Weizsäckers moralischem Prestige und (modischen Tendenzen durchaus Tribut zollenden) rhetorischem Geschick. Nachdem sich diese problematische politische Konkurrenz inzwischen wieder abgeschwächt hat, kann man freilich den gegenwärtigen Bundespräsidenten als ähnlich glückliche Ergänzung des Bundeskanzlers ansehen, wie sie es Heuss für Adenauer gewesen ist
Die Popularität der Regierungskoalition und namentlich des Bundeskanzlers konnte weder vor noch nach der Bundestagswahl von 1987 mit ihrer durchaus ansehnlichen Leistungsbilanz Schritt halten. Sowohl 1985/86 wie 1988 war das „Halbzeittief* besonders ausgeprägt -Der traditionelle „Kanzlerbonus“ blieb Kohl bisher versagt: Noch unmittelbar vor der Bundestagswahl von 1987 entschieden sich auf die Frage nach dem bevorzugten Kanzler 46, 2 Prozent für den SPD-Kanzlerkandidaten Rau und nur 45, 7 Prozent für Kohl, den amtierenden Kanzler Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungskoalition sowie auch die „Strategiedebatte“ innerhalb der Unionsparteien dürften zu dieser Diskrepanz erheblich beigetragen haben Dennoch konnte sich die Regierungskoalition bei der Bundestagswahl selbst behaupten
Es bleibt abzuwarten, wie der Tod von Franz Josef Strauß im Oktober 1988 sich auf die Position des Bundeskanzlers, das Verhältnis von CDU und CSU, die Gewichtsverteilung in der Regierungskoalition und deren Resonanz bei der Wählerschaft auswirken wird. Eine Verschärfung der Integrationsprobleme am rechten Rand des politischen Spektrums sowie Verluste der FDP sind ebenso vorstellbar wie ein freundlicheres und konstruktive-res „Betriebsklima“ innerhalb der Regierungskoalition sowie eine weniger angefochtene Stellung des Bundeskanzlers, die sich insgesamt positiv auf das Ansehen der Regierung auswirken könnten.
II. Aspekte der Regierungstechnik
Zielte die bisherige Darstellung auf Besonderheiten — seien sie in der Persönlichkeit der verschiedenen Bundeskanzler oder in der spezifischen politischen Konstellation begründet —, so möchte ich mich nun der Frage nach strukturellen Übereinstimmungen zuwenden. Von ihrer Existenz und ihrem Umfang hängt ab, ob „Kanzlerdemokratie“ als spezifisches Merkmal der Ära Adenauer anzusehen ist oder ob sie ein durchgängiges Strukturelement des Regierungssystems der Bundesrepublik darstellt.
Durch Kontinuität gekennzeichnet sind zunächst einmal die rechtlichen und institutioneilen Voraussetzungen der Kanzlerdemokratie. Die Artikel des Grundgesetzes, die eine starke Stellung der Regierung und namentlich des Regierungschefs ermöglichen, gelten seit 1949 unverändert. Einzelne Bestimmungen — wie die bezeichnenderweise niemals praktizierten Regelungen für die Kanzlerwahl in Artikel 63, Absatz 3 und 4, und auch das in Artikel 67 verankerte konstruktive Mißtrauensvotum — sind freilich auf ein Vielparteiensystem mit obstruktiven Flügelparteien zugeschnitten, wie es in der Weimarer Republik existiert hat, in der Bundesrepublik aber in dieser Form nicht wiedererstanden ist bzw. spätestens bei der Bundestagswahl von 1953 zu bestehen aufgehört hat.
Umschreibt man die Funktion der Verfassungsbestimmungen (mit der Smend’schen Formel) als „Anregung und Schranke“, so erwies sich vor allem das Ressortprinzip als „Schranke“ für die Gestaltungsmöglichkeiten des Regierungschefs, während das Kabinettsprinzip kaum jemals größere Bedeutung erlangte Weitere — zumindest zeitweise noch wirksamere — Schranken sind das Bundesverfassungsgericht und der Bundesrat.
Die Regierungsfähigkeit jedes Bundeskanzlers hängt wesentlich von dem Instrumentarium ab, das ihm zur Verfügung steht, sowie von seinem Willen und seinem Vermögen, sich dieses Instrumentariums zu bedienen, wie Wilhelm Hennis bereits in den sechziger Jahren gebührend hervorgehoben hat
Auch das Instrumentarium ist seit Beginn der Bundesrepublik das gleiche geblieben: an erster Stelle das Bundeskanzleramt, während das Presse-und Informationsamt der Bundesregierung größere politische Bedeutung wohl nur in der Anfangsphase der Ära Adenauer hatte (auch weiterhin gehörten freilich die jeweiligen Amtschefs in ihrer gleichzeitigen Eigenschaft als Sprecher der Bundesregierung fast immer zum engeren Beraterkreis des Bundeskanzlers) und über die Leistungsfähigkeit der Geheimdienste zuverlässige Angaben fehlen.
Das Bundeskanzleramt hat sich seit der Ära Adenauer personell erheblich ausgeweitet, wobei der größte Zuwachs zu Beginn der sozial-liberalen Koalition zu verzeichnen war, verursacht vor allem durch die damalige Planungseuphorie. Auch seine Leitungsebene ist vielfältiger geworden Man wird kaum sagen können, daß das Bundeskanzleramt durch seine Vergrößerung zu einem effektiveren Instrument des Bundeskanzlers geworden ist — die gegenteilige Vermutung ist wahrscheinlicher. Die Vergrößerung des Kanzleramtes entspricht der Ausweitung der Ministerien, die eines Gegengewichts bedurfte Dieser Notwendigkeit wurde man sich bereits in Erhards Regierungszeit bewußt; sie führte dann zuerst während der Großen Koalition zu entsprechenden Maßnahmen Der Aufbau einer Planungsabteilung im Bundeskanzleramt, der zu Beginn der sozial-liberalen Koalition forciert wurde, litt — von persönlichen und taktischen Ungeschicklichkeiten abgesehen — darunter, daß er auf einer unzureichenden Analyse der Funktionsbedingungen eines solchen Planungssystems beruhte. Zudem korrespondierte mit der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt der Auf-bzw. Ausbau von Planungsabteilungen in den Ressorts, so daß letztlich keine größere Steuerungskapazität des Bundeskanzleramtes erreicht wurde. Nach dem Regierungswechsel im Oktober 1982 wurde die Planungsabteilung im Rahmen einer Umgliederung des Bundeskanzleramtes aufgelöst, nachdem sie allerdings bereits in der Ära Schmidt fast jegliche politische Bedeutung verloren hatte.
Die Bedeutung des Amtes für die außenpolitischen Aktivitäten des Bundeskanzlers hat sich freilich kaum geändert, wenn sich auch die Autonomie des Auswärtigen Amtes seit 1961 in zunehmendem Maße gefestigt hat, zumal seit Mitte der sechziger Jahre in die außenpolitische Kompetenzverteilung „ein doppeltes Spannungsverhältnis eingebaut (ist): zum einen zwischen Bundeskanzler und Ressortminister und zum anderen zwischen den Koalitionsparteien“ Dennoch ist heute jeder Regierungschef und insbesondere — angesichts der geographischen und wirtschaftlichen Situation der Bundesrepublik — jeder Kanzler mit Außenpolitik befaßt, selbstverständlich auch der gegenwärtige: Helmut Kohl wurde im Sommer 1985 zwar bescheinigt, daß er „weder von Wirtschaftspolitik noch von Außenpolitik etwas versteht“ in derselben Zeitung war jedoch etwa zur gleichen Zeit von einer „Amerikanisierung der Verhältnisse“ in Bonn die Rede: „Gemeint ist damit die Rollenverteilung zwischen Kanzleramt/White House und Auswärtigem Amt/State Department. Gemeint ist die Interessenaufteilung zwischen operativen Machern um den Präsidenten/Kanzler und den auf Kontinuität drängenden Pragmatikern Genscher/Shultz . . ." Und nach dem Durchbruch zum europäischen Binnenmarkt unter maßgeblicher Beteiligung Kohls und seiner Moskau-Reise liest man wiederum in derselben Zeitung: „Der Außenpolitiker Kohl hat sich eindrucksvoll in Szene gesetzt und Hans-Dietrich Genscher . . . fast in eine Nebenrolle gedrängt“
— was etwas heißen will, hat doch nach Helga Haftendoms kompetentem Urteil „seit den Zeiten von Außenminister Schröder in der Regierung Erhard . . . ein Außenminister nicht mehr eine solch starke Position innegehabt, wie dies bei Außenminister und Vizekanzler Genscher der Fall ist“
Von Adenauers besten Zeiten einmal abgesehen, als es ein Auswärtiges Amt noch nicht gab, es von Adenauer mitgeleitet oder kontrolliert wurde, spielte das Kanzleramt — insbesondere Egon Bahr als „Kopf und Herz der neuen, sozial-liberalen Ost-politik“ — vor allem während der ersten Regierung der sozial-liberalen Koalition, aber auch weiterhin eine maßgebliche Rolle, beispielsweise bei der politischen Vorbereitung des Europäischen Währungssystems während der Kanzlerschaft Helmut Schmidts Mit Außenpolitik ist zwar jeder Bundeskanzler befaßt, und für jeden gilt auch, daß internationale Anerkennung seine innenpolitische Position zu stärken pflegt. Adenauer verstand es zudem geschickt, durch Konzentration auf die Außenpolitik die Angriffsflächen seiner Amtsführung zu verringern Darin dürfte auch eine besondere Eignung derAußenpolitik als Domäne des Kanzlers liegen: Gegen den Ressortegoismus, der in der Innenpolitik zu dominieren pflegt, vermag auch ein starker Bundeskanzler wenig auszurichten
Zu den permanenten Faktoren des Regierungssystems gehört auch die föderalistische Struktur sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit, namentlich in Gestalt des Bundesverfassungsgerichts: Mögen diese Faktoren auch zur Zeit der sozial-liberalen Koalition stärker ins öffentliche Bewußtsein getreten sein, so stellten sie doch bereits auch für Adenauer unbequeme und unliebsame Begrenzungen seines Handlungsspielraums dar Es genügt, an die Opposition der Länder gegen seine Fernsehpläne und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in dieser Angelegenheit vom Februar 1961 zu erinnern! Zudem läßt sich das Verhältnis zwischen Bundesregierung und Bundesländern am Ende der Ära Adenauer nur als notorisch schlecht bezeichnen: Für eine Reihe wesentlicher Probleme konnten über Jahre hinweg keine akzeptablen Lösungen gefunden werden
Zu den durch Kontinuität charakterisierten Strukturen ist schließlich — zumindest seit Mitte der fünfziger Jahre — das Parteiensystem zu rechnen mit seiner Konzentration auf zwei große Parteien (CDU/CSU und SPD) und wenige kleinere (FDP, Deutsche Partei bis 1961, Grüne seit 1983). Alle bisherigen Bundesregierungen beruhten auf — recht stabilen — parlamentarischen Koalitionen. Wenn sich auch das Verständnis von Koalitionspolitik gewandelt hat — Adenauers raffinierte Bedenkenlosigkeit in der Ausnutzung innerer Gegensätze von Koalitionsparteien fand keine Fortsetzung, seit 1969 wurden Koalitionen als auf längere Zeit angelegte Bündnisse abgeschlossen —, galten von Anfang an bis heute bestimmte Spielregeln, die wohl — ähnlich wie die Geschäftsordnung des Bundestags — Konventionen der Weimarer Republik beibehielten. Zu diesen Spielregeln gehört insbesondere, daß die Besetzung der in den Verhandlungen über die Regierungsbildung festgelegten Kabinetts-sitze den Koalitionsparteien obliegt; auch die CSU war in diesem Sinne bereits in der Ära Adenauer Koalitionspartei Insofern stellt auch eine Einrichtung wie der „jour fixe“ in der bayerischen Staatskanzlei, dieses monatliche Treffen der Bundesminister aus den Reihen der CSU sowie des Vorsitzenden der Bonner CSU-Landesgruppe mit einigen Mitgliedern des bayerischen Kabinetts und weiteren bayerischen Landespolitikern, keine prinzipielle Neuerung dar, wenn er auch mit Recht wegen des Sonderstatus von Strauß, der zudem als einziger Parteivorsitzender nicht dem Kabinett angehörte, und wegen seiner Rivalität mit dem Bundeskanzler besondere Beachtung fand.
Zu den Kommunikations-und Koordinationsformen von Koalitionsregierungen gehören jedenfalls Koalitionsausschüsse verschiedener Prägung: in mehr oder weniger formalisierter Form, mit unterschiedlicher Beratungsintensität. Der bereits erwähnte „Kreßbronner Kreis“ bildete keine Ausnahme unter den besonderen Bedingungen der Großen Koalition, sondern er war die Ausprägung der Regel unter diesen spezifischen Verhältnissen Die Existenz von Koalitionsausschüssen impliziert, daß die Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers. dieses häufig überschätzte oder mystifizierte. in der Realität eher stumpfe Instrument „Koalitionsdomänen“ (im Hinblick auf Personen und politische Inhalte) zu berücksichtigen hat.
Daneben bestanden und bestehen — die Grenzen sind fließend — eine Vielzahl von Zirkeln, die sich mehr oder weniger regelmäßig treffen und deren Gemeinsamkeit darin liegt, daß sich ihre Zusammensetzung nicht nach formalen Kriterien bestimmt, vielmehr vom Bundeskanzler so gewünscht wird. Mit solchen Zirkeln enger Mitarbeiter und befreundeter Experten, von Parlamentariern und Journalisten haben sich alle Kanzler beraten: Wenn man die Existenz solcher Beratungsgremien berücksichtigt, hat auch Adenauer keine „einsamen Entscheidungen“ getroffen, wie insbesondere Jost Küpper (und vor ihm bereits Jürgen Domes) herausgearbeitet hat Wenn in letzter Zeit dem amtierenden Bundeskanzler innerhalb der Regierungskoalition vorgehalten wurde, er bereite wichtige Entscheidungen in diversen Zirkeln vor so handelt es sich dabei um keine Erfindung Kohls, sondern um eine Spezialität Adenauers und auch um eine Praxis der anderen Bundeskanzler, wie im übrigen wohl jedes Regierungschefs. Die — kaum zu umgehende — Bedeutung solcher informeller Beratungszirkel wird von Gremien mit formaler Kompetenzausstattung, wie insbesondere dem Bundeskabinett und den Bundestagsfraktionen der Regierungsparteien, als Beeinträchtigung ihrer Zuständigkeit empfunden und entsprechend beanstandet
Unterschiedlich war die Praxis im Hinblick auf die Verbindung von Kanzlerschaft und Führung der Hauptregierungspartei. Die Regel ist, daß die Kanzler zugleich Parteivorsitzende sind, wie dies bei Adenauer. Kiesinger, Brandt und Kohl der Fall war und ist. Erhard und vor allem Schmidt bilden die Ausnahme. Beide Male blieb der Vorgänger als Bundeskanzler weiterhin Parteivorsitzender (bei Erhard mit Ausnahme der letzten Monate seiner Kanzlerschaft). Die Frage ist, ob diese Ämtertrennung in jedem Falle negativ zu bewerten ist, zumal sie angeblich auch Funktionserfordernissen des parlamentarischen Regierungssystems widerspricht
Ich neige zu einer differenzierenden Betrachtungsweise: Während Erhards Verzicht auf den Parteivorsitz von Anfang an unklug war, weil er sich damit voraussehbare Schwierigkeiten einhandelte, gab es für Schmidts Verzicht gute Gründe, auch wenn er selbst nachträglich die gegenteilige Ansicht vertritt. Anders als Erhard profitierte Schmidt von der Distanz zur eigenen Partei und mußte nicht als Folge seines Verzichts auf die Parteiführung innerparteiliche Konkurrenten um das Kanzleramt fürchten, zumal er sich auch der Unterstützung durch den Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner sicher sein konnte. Im nachhinein spricht jedenfalls mehr für die Annahme, daß die gleichzeitige Übernahme des Parteivorsitzes bereits früher zu Schmidts Scheitern geführt hätte, als daß er dadurch Schwierigkeiten hätte vermeiden können. Brandt vermochte die Frustration des linken Parteiflügels über die Regierungspolitik besser aufzufangen und die Partei zu integrieren, als dies Schmidt vermutlich möglich gewesen wäre. Vor solchen Schwierigkeiten hätte Erhard wohl — trotz seiner prinzipiellen Parteifeme — kaum gestanden, zudem konnte sich dieser — im Unterschied zu Schmidt — auf die Loyalität des Parteivorsitzenden nicht verlassen. Allgemein wird man sagen können, daß die Trennung der Ämter grundsätzlich möglich ist, wenn sie einvernehmlich erfolgt, so daß die Unterstützung des Regierungschefs durch die eigene Partei nicht in Frage gestellt ist
III. Entwicklungstendenzen und Probleme des Regierungssystems: Ist die Kanzlerdemokratie „historisch-überholt“?
Wolfgang Jäger hat neuerdings den Begriff der Kanzlerdemokratie als „historisch überholt“ bezeichnet; die Zukunft gehöre „einer Parteiendemokratie, die dem Bundeskanzler die mühselige Rolle eines Koordinators und Sprechers im komplexen Entscheidungsprozeß — möglicherweise auch die Rolle eines telegenen Showmasters und Moderators — zuweist“. Die Bedingungen politischer Führung, wie sie in den Jahren der Großen Koalition bestanden, dürften zum „Normalfall“ werden
Ich möchte diese Einschätzung als eine Tendenzangabe im Hinblick aufbestimmte Merkmale des politischen Prozesses verstehen; eine begriffliche Alternative kann man daraus aber wohl kaum ableiten, denn auch die Kanzlerdemokratie der Ära Adenauer war zugleich Parteiendemokratie, und Koordination ist ein wesentliches Element jeglicher Regierungstätigkeit; auch ist die Ära Adenauer kein homogenes Gebilde: Vor allem in ihrer Spätphase nach der Präsidentschaftskrise von 1959 weist der politische Prozeß doch große Übereinstimmungen mit späteren Perioden in der Entwicklung des Regierungssystems auf.
Es mag indessen sein, daß der Handlungsspielraum der führenden Politiker abgenommen hat und weiterhin abnimmt, daß überhaupt die politischen Gestaltungsmöglichkeiten zurückgehen. Ich stimme dieser — auch von Jäger akzeptierten — These nicht ohne Zögern zu, könnte es doch auch sein, daß der Eindruck reduzierter politischer Gestaltungsmöglichkeiten darauf beruht, daß die politische Szene von den Medien sozusagen besser ausgeleuchtet wird als früher — in den fünfziger Jahren etwa —, so daß auch Hindernisse und Gegenkräfte fürjedermann deutlicher erkennbar sind. (Dadurch wird freilich politische Führung auch objektiv schwieriger!) Vorstellbar ist außerdem, daß sich weniger die tatsächlichen Verhältnisse als die Maßstäbe verändert haben: Gemessen an einem überzogenen (idealistisch überhöhten, ästhetischen) Politikbegriff scheinen die politischen Gestaltungsmöglichkeiten geringer zu sein, als sie auch heute tatsächlich sind. Selbst in der Ära Adenauer erfolgte im übrigen die Konkretisierung der Regie-rungspolitik „in einem mehrstufigen Geflecht formeller und informeller Ebenen“ wobei der Kanzler nur in bestimmten Bereichen (vor allem in der Außenpolitik) der überragende Akteur war.
Doch haben sich die politischen Strukturen zweifellos verfestigt: Das gilt für die Parteien ebenso wie für die Interessenverbände (bzw. die Besitzstände gesellschaftlicher Gruppen) und die mit ihnen kooperierende Ministerialbürokratie, auch für den „kooperativen Föderalismus“, der ja in starkem Maße Verwaltungsföderalismus ist; die rechtlichen Normierungen nehmen ständig zu — und damit auch die Möglichkeiten rechtlicher Kontrolle bzw. politischer Gestaltungsmöglichkeiten der Gerichte —. so daß es zumindest schwieriger und langwieriger geworden ist, zu politischen Entscheidungen zu gelangen und diese dann auch zu realisieren. Teilweise dürfte eine solche Entwicklung aus jahrzehntelanger politischer „Normalität“ (ein in Deutschland ungewohnter Zustand: vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis heute gerechnet, hat er die Dauer des Kaiserreiches von 1871 erreicht!) resultieren, teilweise das Ergebnis spezifischer deutscher Traditionen sein, wie ausgeprägte Sozialstaatlichkeit und insbesondere die Perfektionierung des Rechtsstaates als Resultat der Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Diktatur: In der Praxis freilich mit der unvermeidlichen Konsequenz, daß sich Richtern politische Gestaltungsmöglichkeiten zulasten von Politikern und Beamten eröffnen und zudem deren politische Verantwortungsbereitschaft ausgehöhlt wird. Das Bundesverfassungsgericht und die Verwaltungsgerichte mit ihrer Tendenz, eigenes Ermessen an die Stelle eines für fehlerhaft gehaltenen Verwaltungsermessens zu setzen, sind hier an erster Stelle zu nennen, aber auch die Arbeitsgerichtsbarkeit im Hinblick auf vom Gesetzgeber nicht geregelte Fragen des Arbeitskampfes.
Gerichte können freilich nur tätig werden, wenn sie angerufen werden. Dies istjedoch in zunehmendem Maße der Fall — nicht zuletzt eine Folge der Ausweitung politischer Partizipation, wie sie die politische Kultur der Bundesrepublik seit Ende der sechziger Jahre kennzeichnet und insbesondere zu einer verstärkten Beanspruchung der Verwaltungsgerichte führte. Ausweitung politischer Partizipation bedeutet freilich nicht nur alternative Formen politischer Beteiligung wie Bürgerinitiativen oder politisch-soziale „Bewegungen“; sie betrifft auch die Parteien, die in den siebziger Jahren zahlreiche neue Mitglieder gewonnen haben; außerdem dürften Mitglieder und Funktionäre von Parteien sowie Parlamentarier „anspruchsvoller“ geworden sein, stärker auf ihre „Berechtigung“ zur Mitentscheidung pochen und eine geringere Bereitschaft zur (bloßen) Unterstützung ihrerjeweiligen politischen Führung aufweisen
Außerdem hat die Entwicklung der Medien, namentlich die Ausbreitung des Fernsehens, die Struktur politischer Prozesse verändert Die Berichterstattung im Fernsehen hängt von der Möglichkeit der Visualisierung ab: „Gefilmt werden können immer nur konkrete Dinge, Ereignisse und Personen. Doch deren jeweilige Bedeutung wird nur verständlich in ihrer Beziehung auf meist abstrakte, unsichtbare und deshalb unzeigbare Zusammenhänge. Hinzu kommt, daß das Fernsehen bei den zeigbaren Ereignissen meistens deren Oberflächenstruktur präferiert. So wird die Politik verkürzt auf das Vorzeigbare mit dem Effekt, daß sich die Information auf die politischen Persönlichkeiten zentriert.“ Die Vorliebe für Neues und Krisenhaftes ist im Fernsehen besonders ausgeprägt, und die „starke Vereinfachung politischer Vorgänge . . . fördert die Fiktion, politische Probleme seien leicht zu verstehen, ihre Lösung sei nur eine Frage des guten Willens ... Es muß vermutet werden, daß sich die politischen Vorstellungen und Forderungen der zum Femsehpublikum gewordenen Bevölkerung von der komplexen Realität mit noch unbekannten Folgen entfernen.“
Besonders im öffentlich-rechtlich organisierten Bereich versuchen Medien (auch aufgrund der starken Tendenz zum anwaltlichen Journalismus in der Bundesrepublik) und Politiker, sich gegenseitig zu instrumentalisieren, wobei beide Seiten durchaus erfolgreich sind
Schließlich sind die Erwartungen an die Politik gestiegen, wohl nicht zuletzt auch als Folge fortschreitender Säkularisierung Angesichts hoher Erwartungen an die Politik und der Vielfalt der bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigenden Faktoren (auch: aus flexiblerem Wählerverhalten resultierende Irritationen) und Akteure ist überzeugende und wirksame politische Führung sehr schwierig und eher unwahrscheinlich geworden. Aus diesen Entwicklungen möchte ich jedoch nicht den Schluß ziehen, daß die Kanzlerdemokratie in der Bundesrepublik „historisch-überholt“ sei, zumal es auch gegenläufige Tendenzen gibt: So dürften etwa einzelne Minister während der Kanzlerschaft Schmidts oder Kohls in der Öffentlichkeit weniger Beachtung gefunden haben als in den fünfziger und sechziger Jahren, von der normativen Dimension ganz abgesehen, daß gerade Demokratien politischer Führung bedürfen. Man kann den Begriff zwar — unter Hinweis auf die besonderen Bedingungen der Gründungsphase und auf die Persönlichkeit des ersten Bundeskanzlers — für die Ära Adenauer reservieren in der „Kanzlerdemokratie“ ja auch negativ — im Sinne einer autoritären Deformation — verstanden wurde, was angesichts der fortschreitenden Verklärung Adenauers leicht in Vergessenheit gerät. Ein solches individualisierendes Vorgehen scheint mir jedoch nicht zwingend zu sein. Man braucht Besonderheiten der verschiedenen Kanzler und der politischen Konstellationen während ihrer Amtszeit nicht in Abrede zu stellen und kann trotzdem die „Kanzlerdemokratie“ für ein generelles Merkmal des Regierungssystems in der Bundesrepublik halten, dessen Dominanz freilich zeitlich variierte: Die Große Koalition wird man sinnvollerweise als Ausnahmesituation verstehen, und die kurze Kanzlerschaft Ludwig Erhards hat zumindest in der Retrospektive den Charakter eines Übergangsregimes. Doch selbst in diesem Falle läßt sich mit Johannes Gross argumentieren: „Auch Erhards Regentschaft ist eine Kanzler-demokratie, und jeder Nachfolger wird einer Kanzlerdemokratie vorstehen, solange das politische System der Bundesrepublik intakt bleibt und stabil.“ Die beiden sozialdemokratischen Kanzler und auch Helmut Kohl haben Gross Recht gegeben.
Es versteht sich allerdings, daß „Kanzlerdemokratie“ nur ein Merkmal des Regierungssystems ist, das gleichzeitig auch andere Charakterisierungen erlaubt: Parteienstaat/„Fraktionenstaat“ Verbändestaat, Verwaltungsstaat, Justizstaat dürften die wichtigsten sein, die zu verschiedenen Zeitpunkten als besonders prägnante Etikettierung galten; hinzu kommen noch die föderalistische Struktur mit der daraus resultierenden „Politikverflechtung“ sowie die Medien als Faktor mit zunehmender Bedeutung, für den noch kein entsprechender Begriff geprägt wurde (von der „vierten Gewalt“ einmal abgesehen). Alle diese Charakterisierungen treffen gleichzeitig zu — wobei die Gewichtung zeitlich variieren und nicht exakt gemessen werden kann — und relativieren sich damit gegenseitig Die meisten dieser Charakterisierungen gelten auch für andere westliche Demokratien: So ist die „Kanzlerdemokratie“ die deutsche Variante einer allgemeinen Entwicklung in den westlichen Demokratien, die fast überall — namentlich in den größeren Staaten — zu einer herausragenden Stellung des Regierungschefs geführt hat. In Staaten mit Vielparteiensystemen, wie Italien, und in kleineren Demokratien, wie den skandinavischen, den Beneluxländern oder der Schweiz, ist diese Entwicklung zwar weniger ausgeprägt, aber nicht unbekannt, wie etwa die Stellung verschiedener österreichischer Bundeskanzler (Kreisky allen voran) oder auch des spanischen und griechischen Regierungschefs zeigt.
Welche der genannten Merkmale und Faktoren sind für das Regierungssystem der Bundesrepublik am ehesten spezifisch? Die Antwort auf diese Frage möchte ich auf die Formel bringen: föderalistische Parteiendemokratie mit starkem justizstaatlichem Gepräge; sie impliziert, daß das Regierungssystem der Bundesrepublik in beträchtlichem Maße als Konkordanzdemokratie zu charakterisieren ist. Auch insofern bezeichnet „Kanzlerdemokratie“ zwar ein wichtiges Merkmal, das jedoch im internationalen Vergleich eben nicht als sonderlich spezifisch erscheint — schon deshalb nicht, weil sich ausländische Regierungschefs mit weniger und schwächeren Gegengewichten konfrontiert sehen: Man denke nur etwa an den britischen Prime Minister! Zu seinen Kompetenzen gehört bekanntlich das Recht der Parlamentsauflösung, über das der Bundeskanzler nicht verfügt, waren die Verfassungsväter im Parlamentarischen Rat doch aufgrund ihrer Weimarer Erfahrungen darauf bedacht, die Parlamentsauflösung zu erschweren. Dies hatte bisher zweimal (1972 und 1982/83) zur Folge, daß eine Parlamentsauflösung nur auf fragwürdigen Umwegen möglich war. Zwar mag man im Parlamentarischen Rat. wie Karlheinz Niclauß in Erinnerung gerufen hat die Bundestagsauflösung mittels Vertrauensfrage als Ersatz für direkt-demokratische Instrumente angesehen haben, doch erschien dieses Verfahren in den beiden praktizierten Fällen — vor allem 1982/83 — als fragwürdig: Wer (außer dem Bundesverfassungsgericht) mochte schon glauben, daß die Regierungsmehrheit, die am 16. Dezember 1982 den Haushalt für 1983 verabschiedete, am Tage darauf nicht mehr existierte?
Leider haben sich Bundestag und Bundesrat bisher nicht zu einer entsprechenden Verfassungsänderung (m. E. am besten im Sinne der britischen Lösung, da eine Verfassungsänderung zugunsten eines Selbstauflösungsrechts des Parlaments mit Zweidrittelmehrheit der Problematik nicht gerecht würde) entschließen können die aufgrund der Entwicklung des Regierungssystems in der Bundesrepublik, namentlich des Strukturwandels ihres Parteiensystems, gerechtfertigt wäre und dem eingetretenen Verfassungswandel Rechnung trüge: Wenn der kleinere Koalitionspartner seine vor der Wahl formulierte Koalitionsaussage revidiert und durch seinen Koalitionswechsel einen politischen Richtungswechsel herbeiführt, wie dies im Herbst 1982 der Fall war, ist offenbar die Legitimierung dieses Wechsels durch Neuwahlen erforderlich geworden. Darin spiegelt sich ein Wandel des Koalitionsverständnisses seit der Ära Adenauer. Diese Entwicklung bedeutet eine Modifikation des demokratischen Elements der Kanzlerdemokratie als Ausprägung der parlamentarischen Demokratie.