Der Begriff „Kanzlerdemokratie“ ist schon in den frühen fünfziger Jahren geprägt worden, zuerst mit vorwiegend negativem Bedeutungsgehalt. Er sollte eine nach Meinung der Kritiker so nicht wünschenswerte Verschiebung der politischen Gewichte hin zum Chef der Exekutive bezeichnen. Karl Loewenstein, immerhin kein locker formulierender Journalist, sondern ein Politikwissenschaftler von Gewicht, hat sich in seiner Verfassungslehre aus dem Jahr 1957 sogar zu der Behauptung verstiegen, dieses Regime sei insofern „demoautoritär“, als die Regierung zwar auf demokratische Art und Weise ins Amt gelange, danach aber die politische Führung autoritär und ohne jede Begrenzung durch das Parlament oder die Wählerschaft ausübe. Zwar hat sich dieser negative Bedeutungsgehalt seither relativiert oder ins Positive gewendet und wird vielfach als Synonym für „starke Stellung des Regierungschefs“ und eine Art deutscher Version des Prime Ministerial Government verstanden Tatsache bleibt aber, daß die Ära Adenauer bis heute als eine Art Maßstab verstanden wird, an dem spätere Ausprägungen der Kanzlerdemokratie gemessen werden.
Auch die Regierungstechnik Adenauers hat schon zahlreiche zeitgenössische Analytiker und später die Zeitgeschichtsforscher auf den Plan gerufen. Wo die Könige baun, haben nicht bloß die Kärrner zu tun, sondern auch die Publizisten, Politologen und Historiker! Wilhelm Hennis hat dem Thema „Richtlinienkompetenz und Regierungstechnik“ im Jahr 1964 eine bis heute unübertroffene Studie gewidmet Vor dem damaligen Hintergrund der Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Referatesfür das Passauer Symposium zum Parlamentarismus im Oktober 1988 in der Universität Passau zum Thema: „Politische Führung im Wettbewerb zwischen Parlament und Regierung“.
Schwierigkeiten Erhards, in den Schuhen Adenauers zu gehen, hat er zwar ein vielleicht etwas übertriebenes Bild von der Effektivität Adenauerschen Regierens entworfen, aber doch mit der ihm eigenen Überzeugungskraft herausgearbeitet, daß eine Antwort auf die politische Zentralfrage der Durchsetzung („how to get things done“) nicht simplistisch ansetzen darf — sie muß die Institutionen, die Konstellation und die Führungskunst des jeweiligen Kanzlers gleicherweise berücksichtigen 5). Jedenfalls skizzierte auch er den ersten Bundeskanzler als einen Mann, der Kunst und Technik politischer Führung beherrschte — also das eigentliche Vorbild dieser Zentralfigur des deutschen Regierungssystems, das sich in diesem Punkt dem britischen angleiche.
Nun ist seit dem ersten Regierungsjahr Erhards, als Hennis’ Studie erschien, fast ein Vierteljahrhundert vergangen, in dem weder die Zeitgeschichtsforschung noch die Politikwissenschaft untätig geblieben sind. Staatliche Archive und Parteiarchive sind wenigstens teilweise zugänglich, wichtige Tagebücher konnten ausgewertet werden, verschiedene Quelleneditionen eröffnen den Blick auf die „Innenansicht der Macht“ (Peter Glotz). Der geschichtliche Abstand läßt sehr viel deutlicher als die seinerzeitige zeitgenössische Sicht der Dinge erkennen. was an Adenauers Kanzlerdemokratie zeitbedingt. was strukturbedingt und was die Leistung eines einmaligen politischen Temperaments gewesen ist.
Desgleichen reizt es auch die Politikwissenschaftler immer wieder, Bilanzen der Kanzlerdemokratie vorzunehmen. Karl Dietrich Bracher hat dies 1974 mit Blick auf ein Vierteljahrhundert bundesdeutscher Geschichte geleistet, neuerdings gefolgt von Jost Küpper Peter Haungs und Wolfgang Jäger Eine entsprechende Studie aus der Feder von Karlheinz Niclauß ist eben erschienen Wer das Thema „Regierungstechnik in Adenauers Kanzlerdemokratie“ aufgreift, bewegt sich also auf wohl vermessenem Grund und Boden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit soll im folgenden versucht werden, die wohlbekannten Thesen zur Kanzlerdemokratie im Licht eigener Forschungen zu erörtern Dabei werden drei Perspektiven maßgebend sein:
Es wird — erstens — zu fragen sein, ob das klassische Bild Adenauerscher Kanzlerdemokratie, wie es sich bereits Mitte der sechziger Jahre darstellte, aufgrund neuerer zeitgeschichtlicher Erkenntnisse bestätigt oder verändert werden muß, und wenn ja, in welchen Punkten.
Zweitens ist zu prüfen, ob eine genauere Untersuchung des Regierungsstils und der Regierungswirklichkeit in immerhin 14 Jahren Adenauerscher Kanzlerschaft es wirklich erlauben, diese lange Phase als Einheit zu verstehen. Müssen wir nicht Binnendifferenzierungen vornehmen? Lassen sich Gegebenheiten, wie sie unter späteren Kanzlern so offenkundig wurden, nicht doch auch schon in der Ära Adenauer erkennen? Man denke etwa an das von Wolfgang Jäger in die Diskussion geworfene Stichwort „Koordinationsdemokratie“. Ein differenziertes Bild des Adenauerschen Regierens könnte auch dazu beitragen, die Leiden und die Künste seiner Nachfolger im Amt des Kanzlers gerechter zu beurteilen.
In bezug auf die späteren Kanzler bleibt schließlich — drittens — zu fragen, worin sich zur Regierungstechnik Adenauers besonders auffällige Unterschiede ergeben. Dabei lassen sich, wie könnte das anders sein, Elemente der Kontinuität und neuartige Gegebenheiten gleicherweise erkennen.
Die Regierungstechnik Adenauers wird in den folgenden Zusammenhängen untersucht, die zwar längst nicht die Gesamtheit der relevanten Felder umfassen, aber doch zu den wichtigeren gehören: 1. Kabinett. 2. Koalitionspolitik. 3. Führung der Regierungspartei, 4. Ausgrenzung der Opposition und 5. Außenpolitik. Wichtig wären auch andere Felder: die Bedeutung der öffentlichen Meinung und Öffentlichkeitsarbeit, das Verhältnis zur Wirtschaft und zu den Verbänden der Wirtschaft sowie das Verhältnis zum Bundesverfassungsgericht und zur Rechtsprechung. Zu jedem der genannten Themen ließe sich eine kleinere oder größere Monographie schreiben, und vielfach liegen solche Studien auch schon vor -Im Rahmen dieses Überblicks kann im folgenden nur eine zusammenfassende Bilanz gegeben werden.
I. Kabinett
Verfassungsrechtlich betrachtet und bewertet, sieht sich der Bundeskanzler bei dem Bemühen, sein Kabinett zu erfolgreicher Arbeit zu veranlassen, drei Prinzipien gegenüber: dem Kanzlerprinzip, dem Ressortprinzip und dem Kollegialprinzip Soll der Begriff . Kanzlerdemokratie* überhaupt Sinn machen, so liegt ihm zweifellos die Annahme zugrunde, daß das Kanzlerprinzip dominiert, während sowohl die Ressortzuständigkeit wie die kollegiale Erörterung und Beschlußfassung nachgeordnet sind.
Freilich sind die entsprechenden politischen Entscheidungsprozesse nicht in erster Linie aus Prinzipien zu erklären. Die empirische Analyse muß anders vorgehen. Sie fragt nach der Steuerungskapazität von Institutionen und bestimmter Amtsträger, prüft, woher gesetzgeberische oder außenpolitische Initiativen kommen, wer über Vetofunktionen verfügt, wo Modifikationen vorgenommen werden usw. Wenn man mit diesen und anderen Fragestellungen der empirischen Politikwissenschaft an die Entscheidungsprozesse der Adenauerschen Kanzlerdemokratie herangeht, so läßt sich auch beim heutigen Kenntnisstand feststellen, daß der Kanzler, gestützt auf das Bundeskanzleramt, zumindest zwischen 1949 und 1961 in der Tat jene Entschei-dungsprozesse dominiert hat, die er für wichtig hielt und dominieren wollte. Aufgrund der koalitionspolitischen Gegebenheiten, und da sich sowohl das Auswärtige Amt unter Gerhard Schröder wie das Verteidigungsministerium unter Franz Josef Strauß dem Zugriff des Bundeskanzlers stärker entzogen hatten als zuvor, stellen dann die beiden letzten Jahre der Adenauerschen Kanzlerschaft eine Übergangsperiode dar.
Schon Hennis hat in seiner bereits erwähnten, bahnbrechenden Untersuchung den Scheinwerfer-kegel des Interesses voll auf das Bundeskanzleramt und die Rolle Staatssekretär Globkes in diesem Zusammenhang gelenkt. In dieser Hinsicht sprach er sogar von einer „Ära Adenauer/Globke“ Er brachte damit allerdings nur einen Sachverhalt zur Sprache, der allen Kundigen bestens bekannt war. Zwar gibt es noch keine aktengestützte, umfassende Studie über das Bundeskanzleramt unter Globke doch alle bisher vorliegenden Fallstudien weisen nach, daß Staatssekretär Globke im System der Kanzlerdemokratie eine Hauptrolle gespielt hat.
Dabei bestätigt sich alles, was über Globkes Steuerungstechnik formuliert wurde: Personalpolitik, souveräne Handhabung der Geschäftsordnung der Bundesregierung, ziemlich weitgehende Kontrolle des Zugangs zum Bundeskanzler — sowohl, was die Vorgänge wie den Terminkalender angeht —, diskrete Loyalität des Staatssekretärs allein gegenüber Adenauer. Globke saß faktisch seit Beginn der Ära Adenauer wie die Spinne im Netz der innenpolitischen Entscheidungsprozesse. Zwischen 1951 und 1953 mußte er seine überragende Position in den Fragen der Innenpolitik mit Staatssekretär Lenz teilen; danach war er unter dem Kanzler für volle zehn Jahre fast allmächtig.
Zu wenig wird bisher erkannt, daß nach dem Ausscheiden Blankenhorns aus dem Bundeskanzleramt im Frühjahr 1955 und nach der Ernennung von Brentanos zum Außenminister auch viele Fragen der Außen-und Sicherheitspolitik, einschließlich der Kontrolle des Bundesnachrichtendienstes, von Globke aufgegriffen wurden. Sein Einfluß war hier allerdings wesentlich geringer als in der Innenpolitik, zumal Adenauer auf diesem Feld vieles direkt erledigte und zudem auch andere Berater einsetzte — Staatssekretär von Eckardt etwa und zeitweilig weiterhin wie zwischen 1949 und 1955 den NATO-Botschafter und späteren Botschafter in Paris Herbert Blankenhom.
Was die Rolle Globkes angeht, hat also die bisherige Forschung keine Überraschungen erbracht. Man wird erwarten können, daß sich hier auch in Zukunft nur wenig grundlegende Neubewertungen ergeben, sondern lediglich detaillierte Darstellungen des im Grundsatz schon Bekannten. Dabei verdient ein Punkt Hervorhebung. Wie unlängst Udo Wengst überzeugend herausgearbeitet hat, kann die Rolle der ehemaligen Berliner Reichsministerialität in den Bonner Anfängen gar nicht überschätzt werden Theodor Eschenburg hat in dieser Hinsicht den Terminus „der bürokratische Rückhalt“ benutzt
Man ist versucht, noch pointierter vom „bürokratischen Rückgrat“ des Bonner Staates in den ersten beiden Jahrzehnten zu sprechen. In dieser Hinsicht war Globke nur der wichtigste Repräsentant der traditionellen Spitzenbürokratie, mit deren Hilfe Adenauer den neuen Staat in Ordnung brachte. Dank der Forschungen von Rudolf Morsey Udo Wengst und Wolfgang Benz wissen wir, wie intensiv Adenauer um die Wiedererrichtung des Berufsbeamtentums gerungen hat — wohl wissend, wie dringend er dessen bedurfte.
Demgegenüber sind unsere Kenntnisse von der Rolle des Kabinetts insgesamt und der Kabinettsausschüsse begrenzter Relativ deutlich zeichnen sich dank zahlreicher Editionen und Detailstudien die Verhältnisse etwa bis zum Jahr 1953 ab, im Fall der Sozialpolitik dank der Pionierarbeit von Günter Hockerts bis 1957. Natürlich tragen diese Untersuchungen dazu bei.den aufgedonnerten Begriff eines „demokratischen Diktators“, wie der dümmliche Buchtitel von Charles Wighton lautet, hin auf das Bild eines Regierungschefs zu korrigieren. dessen Steuerungsmöglichkeiten im interministeriellen Willensbildungs-und Entscheidungsprozeß vielfach mit dem des britischen Premierministers vergleichbar waren.
Leider besitzen wir noch keine durchgehende, ins einzelne gehende Darstellung der Kabinettsitzungen und ihrer Bedeutung für den gesamten Entscheidungsprozeß. Zwar läßt die Edition der Kabinettsprotokollegut erkennen, wie das Kabinett in den Anfängen der Kanzlerdemokratie funktionierte und wo der Schwerpunkt seiner Diskussionen lag. Doch gibt es genügend Indizien, aus denen sich schließen läßt, daß die Bedeutung der Diskussionen und Entscheidungen im Kabinett nicht immer gleich geblieben ist.
Ganz offensichtlich haben die umfassenden „Berichte“, die Adenauer häufig vortrug, eine wichtige Informations-und Steuerungsfunktion erfüllt. Wenn der Kanzler seine Tour d’horizon vorgenommen hatte, wußten die Minister — hier sei der etwas burschikose Ausdruck gestattet —, „was Sache ist“. Er maß dem eine ähnliche Orientierungsfunktion zu wie den im Wortlaut erhalten gebliebenen „Berichten zur Lage“, die er vor dem Bundesparteivorstand der CDU regelmäßig zu erstatten pflegte und die dann auch so starken Niederschlag in seinen „Erinnerungen“ gefunden haben.
Zwar fehlte es in keinem der Adenauerschen Kabinette an dem Typ des reinen Fachministers, der weitgehend des politischen Rückhalts entbehrte und der dementsprechend vom Wohlwollen des Kanzlers abhängig war. Aber auf der anderen Seite fanden sich in jedem seiner Kabinette auch Persönlichkeiten eigenen Ranges mit mehr oder weniger starkem Rückhalt in ihren Fraktionen und in einer breiteren Öffentlichkeit. Sie haben vielfach erzwungen, daß bestimmte Fragen im Kabinett breit erörtert werden mußten, selbst wenn das Adenauer manchmal mißfiel. Paradebeispiele dafür sind die Erörterung der Westverträge im Mai 1952 oder auch die kabinettsinternen Diskussionen über die Moskaureise des Kanzlers im Jahr 1955. Doch man muß es wiederholen: detaillierte und endgültige Studien über Adenauers Führungsstil im Kabinett liegen uns nicht vor
In verschiedenen zeitgenössischen Tagebüchern genauer Beobachter findet man des öfteren die Feststellung, Adenauer habe weder den Willen noch das Talent gehabt, aus dem Kabinett ein Team zu machen, es zu motivieren und ihm die Überzeugung einzupflanzen, gemeinschaftlich an einer großen Aufgabe mitzuwirken. Daran dürfte viel Wahres sein. So notierte etwa Herbert Blankenhom am 21. April 1958 nach einem Gespräch mit Bundesinnenminister Gerhard Schröder, „daß die Autorität des Bundeskanzlers ungebrochen ist, daß aber die Schwäche seines Regierungssystems, die in dem Mangel einer eng zusammenarbeitenden, sich aufeinander verlassenden Führungsschicht besteht, unverändert anhält, ja noch zugenommen hat. Es fehlt bei den einzelnen Ministern an dem Bewußtsein, gemeinsam an allen entscheidenden politischen Fragen zusammenzuwirken, weil der Bundeskanzler es weitgehend an der gründlichen Unterrichtung fehlen läßt, die hierfür die Voraussetzung wäre.“ Oder am 3. Februar 1959, knapp ein Jahr später in bezug auf die Berlin-Krise: „Der alte Mann hat mich sehr bewegt. Er steht in seinem hohen Alter mehr oder weniger allein diesen Problemen gegenüber, denn er hat nur sehr wenige Menschen, mit denen er sich gern über derartige Fragen beredet. Zum Teil ist es seine eigene Schuld ... Er hat keinen vertrauten Zirkel im Kabinett oder in der Partei, mit dem er einmal ä fond und in wirklicher Sachkenntnis die Dinge erörtert . . .“ Auch das psychologische Motiv für solche Schwierigkeiten wird von Blankenhorn, der Adenauer wie nur wenige kannte, klar diagnostiziert: „Sein Wille, alles selbst zu machen“, notierte er am 15. August 1960, „ist nach wie vor ungebrochen“.
Es ist oft gesagt worden, daß Adenauer, der immerhin von 1909 an, seit er Erster Beigeordneter des Oberbürgermeisters von Köln war. bis 1933 — also fast ein Vierteljahrhundert lang — den Führungsstil des mit großen Kompetenzen ausgestatteten Ober-bürgermeisters von Köln erst studieren und dann selbst praktizieren konnte Das färbt ab und vergißt sich nicht. Daß Bundesminister keine Dezernenten sind, war ihm natürlich auch klar. Doch läßt die unablässige Flut seiner Briefe an säumige, renitente, von seinen Vorstellungen abirrende, ihn nicht informierende, zu schwatzhaft miteinander streitende Minister doch viel von dem autoritativ-bürokratischen Führungsstil erkennen, für den er als Kölner Oberbürgermeister berühmt und berüchtigt war Aus seiner Sicht wäre die Vorstellung, man solle ein Kabinett wie ein Team von begeisterungsfähigen und kooperationswilligen Mitarbeitern beim großen Werk der Wiederaufrich24) tung des Landes am langen Zügel führen, als idealistische Versponnenheit erschienen.
Fritz Erler berichtete Anfang 1964 dem Parteipräsidium der SPD von einem Gespräch mit Erhard. Erhard, immerhin 14 Jahre Minister im Kabinett Adenauer, hatte vermerkt, daß er erst jetzt ermessen könne, wie schlecht das Kabinett von Adenauer informiert worden sei. Er wolle dem Kabinett mehr berichten, um es politisch zu aktivieren So hat Adenauer das Scheitern Ludwig Erhards, der seine Kabinettsarbeit im Geist der Teamarbeit begonnen hatte, mit grimmiger Genugtuung verfolgt. Dies ist die eine Seite seines Führungsstils gegenüber den einzelnen Herren des Kabinetts, von dem keiner ausgenommen war — weder Ludwig Erhard noch Jakob Kaiser, weder Franz Blücher noch Heinrich von Brentano, weder Franz Josef Strauß noch Gerhard Schröder.
Andererseits war er aber gleichzeitig doch auch ein Mann, der sich intensiv beriet, der in kleiner Runde zu überzeugen suchte, Kompromisse schmiedete, oft auch widerstrebende Minister überfuhr oder mundtot machte, jedenfalls aber in kritischen Situationen durchweg die Unerläßlichkeit direkter Diskussion und Auseinandersetzung erkannte. Je nach taktischem Ermessen zog er dabei bald Gespräche unter vier Augen, vielfach in Gegenwart Globkes, oder etwas größere Gesprächsrunden vor. Entsprechend den Themen, um die es ging, waren diese Runden recht unterschiedlich zusammengesetzt: Minister, häufig begleitet von ihrem Staatssekretär, Spitzenparlamentarier bzw. führende parlamentarische Experten, enge Vertraute aus dem Bundeskanzleramt — Globke, Lenz, Blankenhorn, von Eckardt, Rust — und manchmal Experten von außen. In Wirtschaftsfragen tauchte immer wieder, von 1949 bis zu seinem Tod im Jahr 1962, Robert Pferdmenges auf, oft auch Hermann Josef Abs. Muß man daraus schließen, daß Adenauers Regierungsstil darin bestand, mittels einer Vielzahl ad hoc zusammengesetzter Kreise zu regieren?
Dies wäre, so hat es beim derzeitigen Kenntnisstand den Anschein, nicht zutreffend. Dank Globke funktionierte die Kabinettsstruktur durchweg, und das Kabinett als solches war noch nicht zu jener für vertrauliche Beratungen zu großen Runde aufgeschwemmt wie unter späteren Kanzlern. Zwar wurden bei der Erörterung wichtiger Gesetze oder Verträge, wie unter späteren Kanzlern, auch häufig Spitzenparlamentarier zu den Kabinettssitzungen hinzugezogen. Aber eine Ausuferung der Teilnahme an Kabinettssitzungen und die Zersplitterung der Entscheidungszentren wurde im ganzen doch vermieden.
Allerdings ist es auch unter Adenauer nicht zur Bildung eines engeren Kabinetts nach britischem Vorbild gekommen. Zwischen 1949 und 1957 sowie ab 1961 war dies vorwiegend deshalb nicht angebracht, weil die Koalitionszusammensetzung von großer Bedeutung war. Bestimmte Minister mochten von ihrer Ressortzuständigkeit her gesehen nicht viel Gewicht haben, aber sie repräsentierten größere oder kleinere Fraktionen, die die Regierung trugen. Und während der Jahre der Alleinherrschaft von CDU/CSU zwischen 1957 und 1961 hatte Adenauer keine Lust, in diesem Punkt grundlegende Veränderungen vorzunehmen. Jetzt erschien ein vergleichsweise umfangreiches Kabinett, das sich über das System der Kabinettsausschüsse oder durch ad hoc angesetzte Gesprächsrunden und Einzelgespräche steuern ließ, sogar recht vorteilhaft, um potentiell unbotmäßige Minister in Schranken zu halten.
Man darf auch zwei grundlegende Faktoren nicht übersehen. Zum einen besaß Adenauer als Gründungskanzler, aufgrund seines internationalen Ansehens, kraft seiner großen Erfolge als Wahlkämpfer, dank seines politischen Ingeniums, aber zu einem Teil auch dank seiner Anciennität ein hohes Maß an persönlicher Autorität. Der Anciennitätsaspekt sollte dabei nicht übersehen werden. Adenauer wurde jedenfalls, ungeachtet aller Vorbehalte im einzelnen, als einzigartige Erscheinung respektiert.
Hinzu kam aber, daß verschiedene Spitzenpolitiker innerhalb und außerhalb des Kabinetts seit Anfang der Ära Adenauer behutsam ihre Positionen für die Eventualität ausbauten, daß der Erbfall plötzlich eintreten würde. Das galt für Heinrich von Brentano und Ludwig Erhard, später für Gerhard Schröder und Franz Josef Strauß, in gewissem Maß auch für Eugen Gerstenmaier. Diadochen verderben ihre Nachfolgechancen aber dann am sichersten, wenn sie zu Lebzeiten des regierenden Monarchen diesem ungeschützt entgegentreten. Dieser mag bereits zu schwach sein, um solchen Widerstand im Keim zu ersticken, aber doch noch stark genug, jeden, der ihm unehrbietig in die Quere kommt, mit seinem lebenslangen Haß zu schädigen.
Tatsächlich haben alle Prätendenten — bis auf einen — die Klugheit besessen, sich nach dieser Überlegung zu verhalten. Dieser eine war Ludwig Erhard, und er mußte es bitter bereuen. Daß die Führung Adenauers im Kabinett so vergleichsweise unangefochten blieb, ist jedenfalls auch aus dieser einmaligen Konstellation zu erklären. Wer nach ihm etwas werden wollte. tat gut daran. im Kabinett nicht allzu weit aus der Reihe zu tanzen. Allerdings muß hinzugefügt werden, daß die jedem Kabinetts-system inhärenten Zentrifugalkräfte auch im Kabinett der Adenauerjahre deutlich spürbar waren. Die großen Häuser — Bundeswirtschaftsministerium, Auswärtiges Amt, Bundesverteidigungsministerium, Bundesinnenministerium — hatten ihr Eigengewicht, und selbst kleinere Ministerien wie das Gesamtdeutsche unter Jakob Kaiser erwiesen sich in der Saarfrage nicht hundertprozentig steuerbar
In bezug auf das Auswärtige Amt und das Bundesverteidigungsministerium hatte Adenauer die bekannten einmaligen Möglichkeiten, die eigene Kontrolle zu etablieren. Doch wer seine Auseinandersetzungen mit Außenminister von Brentano studiert — vor allem die der Jahre 1955 und 1959 —. weiß, wie schwierig dies selbst auf diesem Feld war. das Adenauer vom Anfang bis zum Ende als Kanzlerprärogative betrachtete. Nach der Regierungsbildung 1961 verstärkten sich die Schwierigkeiten noch, obschon Staatssekretär Carstens mit Geschick und Energie sowohl die Belange seines Hauses wie die Richtlinien des Kanzlers miteinander zu versöhnen suchte.
Alles in allem bedeuten die Kabinette Adenauer aufgrund einmaliger Konstellation die größte Annäherung an das System des Prime Ministerial Government, obschon der Faktor Koalitionsregierung in immerhin zehn von 14 Jahren dagegen wirkte, daß sich die Exekutive der Bundesrepublik zu stark in diese Richtung entwickelte. Wenn es Adenauer dennoch gelang, die von den Koalitionszwängen ausgehenden Störfaktoren in Grenzen zu halten, so vor allem deshalb, weil ihm jedermann zutraute, notfalls kaltblütig eine Koalitionskrise in Kauf zu nehmen und gnadenlos durchzustehen. Zwar mußte er nur zweimal ein Exempel statuieren — im Winter 1955/56 und im Herbst 1962, beide Male gegenüber der FDP —, doch die Mehrheitsverhältnisse waren eben so beschaffen bzw. im Jahr 1962 die Koalitionsbedingungen fluider, so daß er sich die bekannt harte Gangart leisten konnte.
II. Koalitionspolitik
Parlamentarische Regierungen, die sich nicht der Vorteile eines Mehrheitswahlrechts erfreuen, sind meistenteils Koalitionsregierungen. Regierungskunst besteht hier zu einem Gutteil darin, Koalitionen zusammenzubringen und zusammenzuhalten sowie Koalitionskrisen durchzustehen, indem man die bisherige Koalition hart oder flexibel erhält, eine neue Koalition eingeht oder zeitweilig mit Blick auf künftige Koalitionsmöglichkeiten auch Minderheitsregierungen riskiert. Zur Koalitionspolitik gehören auch langfristige Kalküle der Wahl-strategie. Ist es sicherer, kleinere Koalitionspartner pfleglich zu behandeln in der Erwartung, daß sich die Regierung bei künftigen Wahlen als fest gefügtes Bündnis präsentiert? Oder will man es riskieren, kleinere Koalitionspartner abzuwetzen, herauszuschleudern, in innere Schwierigkeiten zu versetzen, um der so geschwächten Partei die Wähler abzujagen, so daß sie vielleicht am Wahltag unter die Fünf-Prozent-Grenze absinkt?
Das eben allgemein Skizzierte deutet bereits gewisse Grundelemente Adenauerscher Koalitionspolitik an. Sie hat naturgemäß größtes zeitgenössisches Interesse gefunden, ist entsprechend häufig auch von Wissenschaftlern analysiert worden und gibt dem Zeitgeschichtler, der die Manöver der Spitzenpolitiker und der parteiinternen Gruppierungen anhand interner Quellen nunmehr nochmals analysiert, keine allzu großen Rätsel auf So seien dazu nur wenige Punkte genannt, vor allem solche, in denen sich Adenauers Koalitionspolitik deutlich von der Koalitionspolitik der späteren Bundeskanzler abhebt.
Charakteristisch für ihn ist — erstens — die raffinierte Bedenkenlosigkeit, mit der er innerfraktionelle und innerparteiliche Gegensätze seiner kleineren Koalitionspartner ausnutzt. Das Binnenleben der Partner ist für ihn keineswegs tabu. Bald offen, bald verstohlen, immer aber voller Freude an der Intrige des Parteifreundes gegen den Parteifreund spielt er auf der Klaviatur persönlicher Riva-litäten des Richtungsstreits und der Differenzen zwischen Bundestagsfraktionen und Landesparteien. Am meisten Aufmerksamkeit hat in dieser Hinsicht seine Behandlung der FDP gefunden, die im Winter 1955/56 zum Koalitionsbruch führte, 1961 die Wiederbegründung der Koalition erlaubte und im Herbst 1962 in einer letzten Regierungskrise kulminierte. Doch den Fraktionen der DP und des GB/BHE erging es nicht anders
Seit 1969 ist unsere Koalitionspolitik durch die Langweiligkeit eines „Drei-Parteien-Blocksystems“ (Heino Kaack) gekennzeichnet, in dem die FDP den Koalitionswechsel während der Legislaturperiode tabuisiert, sofern sie ihn nicht gerade notgedrungen doch vollziehen muß. Demgegenüber erscheint Adenauers diesbezügliche Koalitionspolitik machiavellistisch und des rechten partnerschaftlichen Geistes ermangelnd. Beides ist richtig. Doch sollte man nicht vergessen, daß er das Spiel nach den sowohl aus der deutschen Parlamentsgeschichte wie auch international ganz natürlichen Regeln betrieben hat, denen zufolge der Koalitionswechsel während der Legislaturperiode das eigentliche Salz in der Suppe des Parlamentarismus darstellt. Daß sich die deutschen Parteien in dieser Hinsicht nur wenige Jahre nach seinem Tod gewissermaßen selbst kastrieren und jenes gewiß Stabilität, zugleich aber auch lähmende Immobilität beinhaltende System der längerfristig angelegten Bündnisse entwickeln würden, war noch in den sechziger Jahren schwer vorstellbar.
Ein zweites Charakteristikum betrifft die Natur der koalitionsinternen Spannungen oder der offenen Koalitionskrisen. Die vier Regierungen Adenauer lassen verschiedene kritische Perioden erkennen — nicht nur die offenen Koalitionskrisen der Jahre 1955/56 und des Jahres 1962, sondern auch Phasen, in denen eine Koalitionskrise nur mit Mühe am Ausbrechen gehindert wird: während der Beratungen um die Montanmitbestimmung im Jahr 1951 während der Auseinandersetzungen um die Westverträge im Frühjahr 1952 und während der Spannungen um die Saarpolitik im Jahr 1954. Die zuletzt erwähnten Krisen sind aber nicht allein Koalitionsspannungen, sondern auch Auseinandersetzungen, bei denen sich Adenauer rebellischen Anwandlungen in Teilen der eigenen Fraktion bzw. — im Fall Jakob Kaisers — auch eines CDU-Ministers gegenübersieht. Das macht zwar die Situation aus seiner Sicht nicht weniger kritisch, verhindert aber zugleich, daß die Gegensätze sich primär zu einer Koalitionskrise auswachsen. Je sicherer er sich aber die eigene Fraktion unterwirft, um so unausweichlicher wird die Entladung von Richtungsgegensätzen in einer Koah'tionskrise. Dominieren des Kanzlers in der Kanzlerpartei und Koalitionsspannungen hängen zusammen.
Ab 1961 sieht er sich dann einer neuen Konstellation gegenüber — gekennzeichnet einerseits durch prinzipielle Koalitionsfähigkeit der SPD sowie andererseits durch ganz offensichtliches Nachlassen seiner Führungskraft in der Union. Er sucht daraus den Ausweg, nunmehr in eigener Person als Spielführer das Spiel mit wechselnden Koalitionen zu spielen. Dies liegt zwar durchaus in der Logik der Konstellation, freilich weniger in der Gesamtanlage seiner bisherigen Politik, die auf gnadenlose Ausgrenzung der SPD abgestellt war.
Ein besonders interessanter Punkt ist — drittens — Adenauers Behandlung des Führungspersonals der kleineren Koalitionsfraktionen. Solange das anging, hat er lieber mit Zuckerbrot als mit der Peitsche gearbeitet. Bei der Regierungsbildung 1949 ist er bestrebt, die jeweils maßgebenden Figuren aus den kleineren Parteien ins Kabinett aufzunehmen und sie damit auch der Kabinettsdisziplin zu unterwerfen. Nun gibt es nie so viele Kabinettssitze wie Aspiranten darauf. Doch während der Aufbauphase der Bundesrepublik finden sich hinlänglich viele Positionen, die den nicht mit Ministerehren Geschmückten attraktiv erschienen. So wird Hermann Höpker-Aschoff Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, so macht er Karl-Georg Pfleiderer zum Botschafter in Belgrad, so hält er August-Martin Euler bei der Stange, indem er ihm signalisiert, daß sein Ehrgeiz, der sich auf das Auswärtige Amt richtet, nicht ganz hoffnungslos ist, so unternimmt er auch nichts, um Erich Mendes Erwartung, eine Position im Verteidigungsministerium zu erhalten, vorzeitig zu enttäuschen, und so erhält der DP-Fraktionsvorsitzende Hans Mühlenfeld schließlich einen schönen Botschafterposten. Bei der Regierungsbildung 1953 und dann nochmals 1955 schafft er die Positionen von Bundesministern für besondere Aufgaben oder neue Ministerien, um weitere Ehrgeizige einzubinden.
Adenauers größter, äußerst folgenschwerer Mißgriff ist in dieser Hinsicht die Entlassung Thomas Dehlers aus dem Kabinett. Bundespräsident Heuss und Höpker-Aschoff haben sie, wie wir wissen, in erster Linie betrieben. Aber so bildet sich erstmals ein Zentrum FDP-internen Mißmuts in dieser wichtigen Regierungsfraktion, das sich schließlich auch durch den Ministerflügel der FDP nicht mehr kontrollieren läßt.
Der offene Konflikt ist also dort unvermeidlich, wo die Methode von Zuckerbrot und ständiger Überredung, gemischt mit Püffen und gelegentlichen Drohungen, nicht mehr nutzt. Dieser Punkt ist im Verhältnis zur FDP im Herbst 1955 und im Winter 1955/56 erreicht.
Vergleicht man diese Führungstaktik im Umgang mit kleineren Koalitionsparteien mit der Art und Weise, wie sich Bundeskanzler Brandt die Unterstützung der FDP gesichert hat, so erkennt man die Unterschiede. Brandt war — anders als Adenauer — bereit, das sozial-liberale Bündnis gewissermaßen mit allen Weihen einer auf Dauer abgestellten Koalitionsehe einsegnen zu lassen und auf diesem Feld jedem Partnertausch abzusagen. Dies war aber nur deshalb möglich, weil auch die FDP im Zeichen der „Freiburger Thesen“ geneigt gewesen ist, die Koalition als eine Art Jahrhundertbündnis zu feiern.
Schließlich sei -viertens — noch erwähnt, daß Adenauer wenigstens bis Mitte der fünfziger Jahre die ihm auferlegten Koalitionsrücksichten genauso nützlich fand wie viel später Helmut Schmidt. Der linke Flügel der CDU stand bekanntlich der Koalition mit der FDP und DP durchweg skeptisch gegenüber weil in ihr bestimmte Zielvorstellungen der Wirtschafts-und Sozialpolitik nicht zu realisieren waren. Da Adenauer in der Wirtschafts-und Sozialpolitik im großen und ganzen den Auffassungen der FDP viel näher stand als denen eines Jakob Kaiser oder Karl Arnold, wäre ihm in den kritischen Phasen bis Mitte der fünfziger Jahre eine Alleinherrschaft der CDU/CSU eher lästig erschienen.
Kritisch wurde die Koalitionssituation aus seiner Sicht immer dann, wenn sich ein Zusammengehen von SPD und FDP im Zeichen der Außenpolitik abzeichnete. Hier standen nach Meinung Adenauers nicht allein außenpolitische Grundsatzfragen auf dem Spiel, bei denen es für ihn keinen Kompromiß gab. Die Annäherung von SPD und FDP im Zeichen der Außenpolitik drohte auch die Gesamt-anlage seiner Innenpolitik zu zerstören, die bis ins Jahr 1962 hinein in der koalitionspolitischen Ausgrenzung der SPD bestand. Die Koalitionspolitik verband sich in dieser Hinsicht mit Adenauers Konfrontationskurs gegenüber der Opposition.
So waren es zwei Faktoren, die auf die Koalitionspolitik einwirkten: das Ausmaß der Kontrolle, die Adenauer gegenüber der eigenen Partei ausübte, und das Ausmaß der Konfrontationspolitik gegenüber der SPD, die der eigenen Partei gegenüber und einer breiteren Öffentlichkeit vermittelbar war. Auch in dieser Hinsicht stellten die Jahre 1961/62 einen Wendepunkt dar, von dem an Adenauer mit veränderten Regierungstechniken arbeiten mußte.
III. Führung der Regierungspartei
Eine aktengestützte Gesamtdarstellung der CDU in der Ära Adenauer liegt noch nicht vor. Doch hat diese für die Zeitgenossen so erstaunliche Partei neuen Typs schon früh von selten der zeitgenössischen Politikwissenschaft viel Beachtung gefunden und die Zahl der seither erschienenen mo-nographischen Teilstudien ist nicht eben gering
Auch in dieser Hinsicht liegen die Geheimnisse der Führungskunst Adenauers offen zutage, und der Befund läßt sich in wenigen Sätzen beschreiben. Er hat seinen Aufstieg in der Nachkriegszeit als Parteiführer vollzogen. Die Partei existierte vor den Institutionen des neuen Staates, auch wenn es zutrifft, daß die Bundes-CDU erst 1950 in Goslar gegründet worden ist. So sollte man den Kanzler der frühen Ära Adenauer nicht als Staatsmann begreifen, der das Instrument einer Partei zur Durchsetzung seiner Absichten schafft, sondern als Parteiführer, der den Staat zu guten Teilen nach seinen Vorstellungen einzurichten vermag, weil ihm eine leistungsfähige Partei zu Gebot steht.
Wieweit seine Politik stark weltanschaulich bestimmt war oder ob er — wie beispielsweise Klaus Dreher behauptet — in der CDU „nicht viel mehr ... als ein Wahlkampf-und ein Akklamationsinstrument“ gesehen hat, war zu Lebzeiten Adenauers ebenso umstritten wie heute in der Forschung. Richtig dürfte ersteres sein. Aber wer wollte bestreiten, daß Parteiführer ihre Parteien immer auch instrumental behandeln?
Innerparteilich durchgesetzt hat er sich in den Jahren von 1946 bis 1949 dank seiner Wahlerfolge, weil er in der britischen Zone an der Spitze des größten CDU-Verbandes stand, weil er sich im Führungskampf der CDU-Granden als stärkstes politisches Talent erwies und weil er außenpolitisch wie wirtschaftspolitisch die zeitgemäßen, Erfolg bringenden Konzepte verfolgte. Und als Kanzler hat er von 1949 an bis ins Jahr 1962 seine Partei aus denselben Gründen hinter seine Politik gebracht — weil er ein beispiellos erfolgreicher Wahlkämpfer war, weil er sich allen innerparteilichen und oppositionellen Rivalen gegenüber als der in jeder Hinsicht fähigste Politiker der damaligen Bundesrepublik erwies und weil seine Konzepte — Westintegration und soziale Marktwirtschaft — überzeugender waren als alle konkurrierenden Entwürfe.
Ein Mann dieses Kalibers kann sich halten, solange er Fortüne hat, und die blieb ihm eigentlich bis fast zum Ende treu. Es war kein Zufall, daß er im Frühjahr 1963 in dem Augenblick zum Rücktritt gedrängt wurde, als die Umfragedaten für die CDU dramatisch absackten. Die vom Institut für Demoskopie in Allensbach seit 1950 erhobenen Daten zur Zustimmung für Adenauers Politik zeigen einen ziemlich unbekannten Kanzler, der im Februar 1950 bei 28 Prozent beginnt und seit Anfang 1953 nie mehr — trotz mancher Tiefs — unter 37 Prozent absackt. Dies vollzieht sich nur einmal, im April 1963 — in dem Monat, als ihn die Partei zum Rücktritt zwingt!
Die CDU der Ära Adenauer wies drei Elemente auf: eine politisch schwache Bundesparteiorganisation Landesverbände von erheblichem Gewicht und eine Fraktion, auf deren Unterstützung es letztlich vor allem ankam.
Wie Adenauer im Vorstand seiner Partei regierte, läßt sich heute aus den schon veröffentlichten Sitzungsprotokollen gut erkennen. Das Gerangel um die Positionen der Stellvertretenden Vorsitzenden hatte zwar theoretische Bedeutung für den stets naheliegend erscheinenden Fall eines raschen Ausscheidens des greisen Kanzlers. Aber politische Macht war mit diesen Ämtern kaum verbunden. Die maßgebenden Herren hatten zumeist auch keine leistungsfähigen Apparate außer denen, die ihnen aufgrund staatlicher Funktionen zur Verfügung standen. Die Bundesgeschäftsstelle war ein Instrument des Vorsitzenden, doch keine Institution, die diesem gegenüber eigenes Gewicht hätte in die Waagschale werfen können oder wollen.
Seit 1957 intensivierten sich die Bemühungen, die Bundespartei als solche zu stärken, und die 1962 erfolgte Einsetzung von Hermann Josef Dufhues zum Geschäftsführenden Vorsitzenden signalisierte dem Kanzler, wohin die Reise ging — nämlich zu einer Bundespartei mit eigenem politischen Gewicht. Kein Wunder, daß es binnen kurzem zu heftigen Zusammenstößen zwischen Adenauer und Dufhues kam. Doch dies war schon das Ende einer Ära, die eben dadurch gekennzeichnet war, daß Adenauer seine Partei vom Haus des Bundeskanzlers aus führte und nicht etwa von der Parteizentrale in der Nassestraße aus — übrigens unter verschwiegener, aber effektiver Beteiligung Globkes, der immer wieder einmal zum Einsatz kam, wenn es mit den Landesverbänden und deren Vorsitzenden Schwierigkeiten gab.
Auch im Verhältnis zu den selbstbewußten Landesfürsten setzte Adenauer in erster Linie die Machtmittel des Bundeskanzlers ein. Zumeist ging es im Bund-Länder-Verhältnis um Gesetzgebungsvorhaben, in der ersten kritischen Phase bis 1953 auch um die Westverträge, und dabei spielte sich das Miteinander und Gegeneinander im institutioneilen Dreieck Bundesregierung, Koalitionsfraktionen und Bundesrat ab. Regierungstechnik und Einflußkanäle waren also in dieser Hinsicht durch die Verfassungsordnung festgelegt. Bei den Koalitionsbildungen in den Ländern mußte sich der Kanzler weitgehend aufs gute oder drohende Zureden beschränken, ohne über sicher wirksame Mittel zu verfügen, widerstrebende Landesverbände zur Räson zu bringen. Zwar bemühte er sich ebenso um Gleichschaltung der Koalitionspolitik im Bund und in den Ländern wie zwei Jahrzehnte nach ihm die Kanzler der sozial-liberalen Koalition. Aber die politische Polarisierung, die auf der Bonner Bühne das Verhältnis zwischen Adenauer und der sozialdemokratischen Opposition kennzeichnete, setzte sich in den Ländern nicht fort. Immerhin gelang es Adenauer Zug um Zug, in den Schlüsselländern Koalitionen nach seinem Willen zustandebringen zu helfen. Im Sommer 1950 machte endlich die verhaßte CDU-SPD-Zentrum-Regierung unter Karl Arnold einer Regierung aus CDU und Zentrum Platz Im gleichen Jahr wurde die SPD-Regierung in Schleswig-Holstein abgelöst. 1953 gelang es schließlich, in Baden-Württemberg mit Gebhard Müller einen CDU-Ministerpräsidenten zu installieren, wenn auch um den Preis einer Hereinnahme der SPD in die Koalition. Desgleichen vollzog sich 1955 endlich der Machtwechsel in Niedersachsen.
Adenauer war also bei seinen Versuchen der Gleichschaltung durchaus erfolgreich, doch immer nur dann, wenn seine eigenen Intentionen mit den Möglichkeiten und Absichten der CDU in den Ländern zur Deckung kamen.
Daß auf Seiten der CDU-Landesfürsten kein Über-maß an Disziplin gegenüber dem Parteivorsitzenden und Kanzler herrschte, mußte dieser Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre anläßlich des Rundfunkstreits erleben. Zu Recht war Adenauer davon überzeugt, daß das Fernsehen künftig eine Schlüsselrolle spielen würde, und wollte seiner Regierung deshalb ein Machtinstrument einrichten. Aber die Länderinteressen waren stärker, da und dort auch der gesunde Menschenverstand einzelner CDU-Politiker, die voraussahen, daß ein Bundesfemsehen ja auch einmal in die Hand des politischen Gegners fallen könnte. So lief Adenauer auf. Die Stenographischen Protokolle des CDU-Bundesvorstandes, in denen diese Auseinandersetzungen teilweise ihren Niederschlag gefunden haben, sind traurige Dokumente der Ohnmacht eines Kanzlers, dessen Machtwille sich an den Strukturen des Bundesstaates und einer föderalistisch organisierten Kanzlerpartei wundreibt. Auch die gerissenste Regierungstechnik hat dort ihre Grenzen, wo Verfassung oder Parteiorganisation dem Gestaltungswillen des Mannes an der Spitze Schranken auferlegen.
Vom Problem Bayern ist der erste Bundeskanzler der CDU ziemlich verschont geblieben, auch deshalb, weil die CSU nach Gründung der Bundesrepublik fast ein Jahrzehnt brauchte, bis sie sich bei den Landtagswahlen im Herbst 1958 endlich als dominierende politische Kraft etablierte. Die Bonner CSU-Landesgruppe fügte sich in die Unionsfraktion ein. Erst 1961 gelang es Franz Josef Strauß, den CSU-Vorsitz zu erringen und sich damit für seine Bonner Ambitionen den festen Rückhalt einer eigenen Landespartei zu verschaffen. Das erschwerte Adenauer zwar die Kontrolle über seinen mächtigen Verteidigungsminister, ohne aber zu den aus jüngerer Vergangenheit bekannten Herausforderungen der Autorität des Kanzlers zu führen.
Von Anfang bis zum Ende der Ära Adenauer am wichtigsten war die CDU/CSU-Fraktion. Letztlich hat sich Adenauer mit seinem Konzept einer bürgerlichen Koalition durchgesetzt, weil er dabei die CDU-Fraktion hinter sich hatte -Seine Macht war zu Ende, als die Koalition im Frühjahr 1963 von ihm abfiel.
Anders als bei den kleinen Koalitionsparteien war es im Fall der Unionsfraktion nicht möglich, alle Fraktions-Granden durch Hereinnahme ins Kabinett zu befriedigen und sich dort abarbeiten zu lassen. Manche Schwierigkeiten, die Adenauer zwischen 1951 und 1954 mit dem Fraktionsvorsitzenden von Brentano hatte, resultierten auch daraus, daß er sich — nach dessen Meinung viel zu lange — weigerte, ihm den Weg ins Auswärtige Amt freizugeben. Die besonders Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre heftigen Zusammenstöße mit Gerstenmaier gingen auf vergleichbare Frustrationen zurück. Auch die von Kiesinger und Gerstenmaier im Jahr 1958 mit einiger Entschiedenheit betriebenen Versuche, die außenpolitischen Gräben zur Opposition zu überbrücken, brachten neben anderem auch den bekannten Sachverhalt zum Ausdruck, daß Spitzenparlamentarier, deren Schaffenskraft nicht in der Regierung ein Betätigungsfeld findet, der Regierung im Parlament Schwierigkeiten zu machen pflegen.
Immerhin war Adenauer klug genug, einige der stärksten Talente aus der eigenen Fraktion rechtzeitig in die Regierung hereinzunehmen. Und wo das nicht möglich war. wurden sie gelegentlich in Son-dermissionen beschäftigt, wie etwa seit Anfang der sechziger Jahre Kurt Birrenbach
Bekanntlich war Heinrich Krone im Verhältnis Adenauer—Fraktion ein gutes Jahrzehnt lang die Schlüsselfigur. Als Stellvertreter von Brentanos, der wegen seiner europapolitischen Prä-Okkupationen oft länger von Bonn abwesend war, hat er schon vor 1955 die Fraktion weitgehend geleitet. Danach wurde er für Adenauer schlechthin unentbehrlich. Für den Kanzler war Krone der denkbar ideale Partner: ein gewaltiger Arbeiter, weltanschaulich unerschütterlich, charakterfest bis zur Selbstverleugnung, auch ein Mann, der seine Grenzen kennt und von dem nicht zu befürchten ist', daß er den Dolch im Gewand trägt. Zugleich war er ein Bewunderer Adenauers, dem er, wenn es zum Konflikt zwischen Fraktion und Kanzler kam — wie im Frühjahr 1959 — schließlich doch nachzugeben pflegte.
Aus der Sicht Adenauers war es unschätzbar, daß Krone sowohl zu Globke wie zu von Brentano, mit dem ihn die langjährige Zusammenarbeit in der Fraktionsführung verband, ein menschlich und sachlich ausgezeichnetes Verhältnis hatte. So konnte manches, was zwischen dem Außenminister und dem Kanzler nicht oder schlecht lief, in dem Dreieck Krone, von Brentano. Globke gekittet werden.
Wie seit dem Präsidentschaftstheater von 1959 bundesweit bekannt war gingen die Auffassungen der Fraktionsmehrheit und Adenauers in der Nachfolgefrage auseinander, und schließlich hat sich ja die Fraktion auch brutal durchgesetzt. Doch daß trotz dieses Differenzpunktes, dem sich seit Beginn der sechzigerJahre noch andere hinzugesellten, der Kanzler im großen und ganzen doch auf die Fraktion bauen konnte, war weitgehend das Werk Krones. Er hat in der zweiten Halbzeit der Ära Adenauer eine ähnliche Rolle gespielt wie Herbert Wehner in den Jahren der Kanzlerschaft Helmut Schmidts.
IV. Ausgrenzung der Opposition
Mehr als jeder Kanzler nach ihm hat sich Adenauer gegen die Opposition behauptet, indem er sie angegriffen, durch unablässige Angriffe zermürbt und damit auch politisch isoliert hat. An der Polarisierung in den Jahren 1949 bis 1952 hatten Adenauer und Schumacher gleicherweise Anteil. Nur während einiger Monate Anfang 1951, als Adenauer befürchtete, die Wiederbewaffnung nicht ohne Unterstützung der PD durchziehen zu können, hat die Konfrontation einem etwas mehr dialogischen Verhältnis Platz gemacht. Aber das war nicht von Dauer.
Die SPD-Führung nach Schumacher hätte die Konfrontation gerne abgebaut. Aber Adenauer war dazu nicht bereit, und dies mit dem denkbar besten Gewissen. Nach Ausweis aller Zeugnisse, die seither bekannt geworden sind, war er fest davon überzeugt, daß die SPD teils absichtlich — wie der lange Zeit von ihm zutiefst beargwöhnte Herbert Wehner —, teils aus Dummheit das außenpolitische Spiel der Russen mitmache. So war seine vielfach demagogische, vielfach auch verletzende Konfrontationspolitik einerseits Ausfluß eines Kalküls, das sich bewährt hat, andererseits aber doch auch seiner Sorgen um die Außenpolitik.
In den Anfängen hatte die Polarisierung natürlich auch das Ziel, die Gräben so tief zu ziehen, daß die in den eigenen Reihen bis 1953 nie ganz verstummenden Befürworter einer Großen Koalition ihrerseits isoliert blieben. Später hat Adenauer bei seiner aggressiven Ridikülisierung und Delegitimierung der sozialdemokratischen Außenpolitik wohl vor allem die Wählerschaft im Auge gehabt.
Die Polarisierungspolitik hatte auch ihre außenpolitische Pointe. Anfänglich beobachtete Adenauer auf Seiten der Alliierten Hohen Kommissare nämlich durchaus Versuche, auf ein Zusammengehen mit den Sozialdemokraten hinzuwirken. Später hat Adenauer die Vorschläge der SPD mit Blick auf das westliche Ausland für so verheerend gehalten, daß er gar nicht genug tun konnte, sich davon abzusetzen. Auch dabei spielte kaltes Kalkül eine Rolle. Je unzuverlässiger und törichter er nach außen hin die Opposition porträtierte, umso sicherer konnte er hoffen, bei seinem Ringen um Wählermehrheiten auch von den Regierungen und von der Öffentlichkeit der westlichen Demokratien unterstützt zu werden.
Gewiß sind auch die Kanzler der sozial-liberalen Koalition mit ihrer Opposition nicht zimperlich um-gesprungen. Vor allem Helmut Schmidt ist, darin Adenauer durchaus ähnlich, ein Meister rhetorisch vernichtender Ausgrenzungspolitik gewesen. Aber in diesem Punkt ist und bleibt Adenauers Regierungstechnik doch unübertroffen. Er hat 13 Jahre hindurch seine eigene Machtbasis legitimiert, indem er die Opposition de-legitimiert hat Die Einbeziehung der SPD in seine Bemühungen um eine Regierungsbildung im Herbst 1962 war somit das beste Indiz dafür, daß sich die Ära Adenauer, die im Verhältnis zur Opposition weiterhin eine Ära giftiger Konfrontation war, selbst überlebt hatte — überlebt vor allem deshalb, weil die Sozialdemokraten mit dem Godesberger Programm und der Wehner-Rede vom 30. Juni 1960 ganz offensichtlich auf den Regierungskurs eingeschwenkt waren, wenngleich mit Vorbehalten und Hintergedanken.
In bezug auf Adenauers Regierungstechnik jedenfalls kann die Bedeutung seiner Konfrontationspolitik gegenüber der SPD gar nicht überschätzt werden.
V. Außenpolitik
Die zentrale Rolle heutiger Regierungschefs beim Management außenpolitischer Interdependenz gehört zu den allbekannten Phänomenen modernen Regierens. Dies ist eine globale Entwicklung, ganz und gar nicht beschränkt auf die Bundesrepublik oder auch nur auf Präsidialsysteme Selbst in Vielparteiensystemen mit öfter wechselnden Regierungen profitiert der jeweilige Regierungschef von den Konferenz-und Konsultationsspektakeln zeitgenössischer Gipfeldiplomatie und einer immer dichter werdenden Besuchsdiplomatie. Viele Faktoren haben daran Anteil, in erster Linie die erleichterten Reisebedingungen des Jet-Zeitalters. Daß jeder Regierungschef die neuen Gegebenheiten nutzt, sich als ‘Außenpolitiker in Szene zu setzen. versteht sich von selbst.
So gesehen war die Kanzlerdemokratie Adenauers kein Sonderfall. Die Regierungszeit Adenauers, auf dessen außenpolitische Künste dank der verstärkten Sichtbarkeit des Regierungschefs im Zeichen der Gipfel-und Besuchsdiplomatie soviel strahlendes Licht gefallen ist, markierte aber für die breite Öffentlichkeit deutlich den Anfang dieser Entwicklung. Und da Adenauer im Auftreten wie als Verhandler bei solchen Gelegenheiten gute Figur machte, hat dies sein Prestige sichtbar gehoben. Daß Bundeskanzler ihre kürzeren oder längeren Reisen in ausländische Kapitalen nur im Gefolge großer Rudel von Journalisten absolvieren, ist seit Adenauers ersten Auftritten in Rom, London, Paris und Washington selbstverständlich.
In einem Jahrzehnt, als die Westdeutschen aus dem Zustand internationaler Ächtung und Bedeutungslosigkeit wieder voll Staunen über das eigene Glück hervorkamen, haben sie sich gern mit diesem eindrucksvollen Repräsentanten identifiziert. Daher ist es kein Wunder, daß in erster Linie der Außen
Politiker Adenauer ins Bewußtsein trat und im Bewußtsein verblieben ist.
Wenn Adenauer von Anfang an als Außenpolitiker die Szene beherrscht hat, so allerdings noch aus einem weiteren Grund, der unmittelbar mit dem Besatzungsstatus der Bundesrepublik zu tun hatte. Bis zur Erlangung der Souveränität im Mai 1955 hat er erst nur in seiner Eigenschaft als Bundeskanzler, dann als Bundeskanzler und Außenminister alle Fäden der Außenpolitik in der Hand gehalten. Sein diesbezüglicher Informationsvorsprung war vom Kabinett nicht aufzuholen und vom Bundestag schon gar nicht Gewiß hat er das Kabinett und den Auswärtigen Ausschuß regelmäßig informiert oder informieren lassen; gewiß führte dann, wenn die Verträge kabinettsreif und schließlich ratifikationsbedürftig waren, an einer detaillierten und kontroversen Diskussion kein Weg vorbei. Dennoch eröffnete diese Sonderbedingung einzigartige Durchsetzungschancen, allerdings auch — was oft vergessen wird — genauso große persönliche Risiken im Fall eines außenpolitischen Scheiterns.
Dies alles haben die Zeitgenossen schon genau erkannt. Stichwort: Arkanpolitik als Zentralelement des Regierens in der Kanzlerdemokratie. Arnulf Baring war dann der erste Wissenschaftler, der dies in seiner bedeutenden Darstellung der außenpolitischen Dimension Adenauerscher Kanzlerdemokratie in den Jahren 1949 bis 1954 detailliert beschrieben hat.
Weniger bekannt — in unserem Zusammenhang aber erwähnenswert — ist, wie Adenauer sich vor der Ernennung von Brentanos zum Bundesaußenminister im Juni 1955 alle wesentlichen Prärogativen vorbehalten hat. Per eingeschriebenem Brief hat er diesem vor der Ernennung mitgeteilt, daß er sich selbst, gestützt auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers, bis aufweiteres die Führung der europäischen Angelegenheiten, der Angelegenheiten der USA und der Sowjetunion sowie die Konferenzangelegenheiten im Binnenverhältnis in der Weise vorbehalte, daß er über alles informiert werde und daß von Brentano seine Schritte rechtzeitig mit ihm abstimme. Nicht genug damit, unterrichtete er auch den Bundespräsidenten gewissermaßen als eine Art höchsten Staatsnotar über diese Richtlinie und erbat dessen Zustimmung, die von Heuss zusammen mit einigen guten Ratschlägen erteilt wurde.
Wie unbarmherzig und wachsam Adenauer in der Folge das von ihm qua Richtlinienkompetenz beanspruchte Informations-und Zustimmungsrecht wahrgenommen hat, kann jeder Leser des eindrucksvollen Briefwechsels Adenauer — von Brentano studieren, den Arnulf Baring ediert hat. Der Hagelschauer von Vorwürfen, Verdächtigungen und Zurechtweisungen, der auf den neuen Außenminister herabprasselte, kaum daß er seine ersten außenpolitischen Gehversuche unternommen hatte, ist nur vor dem Hintergrund dieser Kanzlerprärogative voll verständlich.
Bis zum Amtsantritt Gerhard Schröders hat somit Adenauer die Außenpolitik faktisch zu seinem Reservat gemacht. Dies war möglich, weil von Brentano ein gehorsamer Mann war und auch vom Naturell her nicht dazu neigte, Konflikte mit dem Kanzler auf die Spitze zu treiben. Die Zurückhaltung mag längere Zeit auch in der Erwartung begründet gewesen sein, auf diese Weise den eigenen Weg ins Bundeskanzleramt nicht zu verbauen. Adenauer, dem von Brentanos Treue ihm gegenüber sehr gelegen kam, wertete dessen Nachgiebigkeit allerdings als Zeichen schädlicher Weichheit und zog daraus den Schluß, daß sich der Außenminister nicht als sein Nachfolger eigne.
Jedenfalls ist dieses besondere und — wie die Zukunft zeigte — bislang durchaus einzigartige Verhältnis von Bundeskanzler und Außenminister in den Jahren 1955 bis 1961 ein Hauptmerkmal Adenauerscher Kanzlerdemokratie gewesen. Der unbedingt loyale, letztlich zum Nachgeben bereite Außenminister war gewissermaßen ein Zentralelement seiner autoritativen Regierungstechnik.
Auch in dieser Hinsicht stellt das Jahr 1961 eine Zäsur dar. Gerhard Schröder, darin dem Kanzler selbst durchaus ähnlich, erwies sich ungeachtet der auch bei ihm ausgeprägten Kabinettsdisziplin und einer Bewunderung für Adenauer, der er häufig Ausdruck gab, doch als kühler, durchweg eigenwilliger Amtschef, der die Prärogativen des eigenen Amtes ebenso unnachgiebig wahrte wie Adenauer die des Bundeskanzlers. So ergab sich auf verschiedenen Problemfeldem eine Art Parallel-und Konkurrenzdiplomatie — am spektakulärsten im Hinblick auf die Tätigkeit Botschafter Krolls in Moskau, der vom Auswärtigen Amt und vom Bundeskanzler unterschiedliche Direktiven erhielt.
Die zuvor so gut geölt erscheinende Regierungsmaschinerie begann nun hörbar zu knirschen. Wir wissen aber inzwischen, wie Adenauer schon Jahre zuvor von unablässigem Verdruß darüber geplagt wurde, daß ihm das Auswärtige Amt entgleite. Viele Diplomaten meinten, er habe überhaupt nie ein inneres Verhältnis zum Auswärtigen Amt gehabt, sondern darin zumeist nur einen Störfaktor seiner Absichten gesehen, alle wesentlichen Hebel der außenpolitischen Entscheidungsmaschinerie im Bundeskanzleramt zu installieren.
VI, Von der Kanzlerdemokratie zur Koalitionsdemokratie
Wir schließen diesen sowohl gerafften wie unvollständigen Überblick mit einer Überlegung zum Phasenablauf der Adenauerschen Kanzlerdemokratie. Wenn unter „Kanzlerdemokratie“ ein Zustand der Machtverteilung zwischen den Institutionen verstanden werden soll, bei dem die Gewichte ganz eindeutig im Bundeskanzleramt liegen, so wird man die Jahre 1949 bis 1961 als Kanzlerdemokratie im Wortsinn verstehen müssen.
Zwischen 1961 und 1963 kündigt sich bereits jener Gleichgewichtszustand an, der nicht allein für die Regierungen Erhard und Kiesinger, sondern auch für deren Nachfolger charakteristisch ist. Auch die Flügel des anscheinend so starken Kanzlers Schmidt waren ja doch ziemlich gestutzt. Er mußte nicht nur auf den selbstbewußten Koalitionspartner FDP Rücksicht nehmen, so daß schon viele Zeitgenossen von der Regierung Schmidt/Genscher sprachen, sondern er hatte zu allem hin noch zwischen 1976 und 1982 mit einer Unionsmehrheit im Bundesrat zu leben, zeitweilig sorgsam austariert durch die Regierung des Saarlands mit der dortigen Schlüssel-rolle der FDP.
Sucht man nach einem Stichwort zur Bezeichnung der Regierung Adenauers in den Jahren 1961 bis 1963, so erscheint der Terminus „Koalitionsdemokratie“ angebrachter als der Terminus „Kanzlerdemokratie“. Und als Koalitionsdemokratie ist es dann weitergegangen! Die eigentlichen Jahre der Kanzler-demokratie — 1949 bis 1961 — weisen eine deutliche Zäsur auf: das Jahr 1953. Zwar ist das vom Grundgesetz vorgesehene Gleichgewicht zwischen den Institutionen aus den hier geschilderten Gründen schon zur Zeit des ersten Kabinetts Adenauer zugunsten des Kanzlers verschoben. Aber das Wahlergebnis vom 6. September 1953 und dann nochmals das vom 15. September 1957 machte ihn, wenn auch nicht allmächtig, so doch sehr, sehr mächtig. Die Periode von 1953 bis 1961 muß somit als voll ausgereifte Kanzler-demokratie verstanden werden. In bezug auf diese Jahre macht der Terminus Sinn. Vielleicht täte die Politische Wissenschaft aber gut daran, ihn auch auf diese Phase zu beschränken.