I. Einleitung
Den Anstoß für die moderne Friedens-und Konfliktforschung gab die anhaltende Gefahr eines Nuklearkrieges zwischen Ost und West. Ausgangspunkt war also eine potentiell virulente kollektive Gewalt — Ausdruck einer im Grenzfall zwischen Staaten geltenden Handlungslogik. In der Analyse dieser Situation haben von Anbeginn an zwei verschiedene Zugangsweisen eine herausragende Rolle gespielt:
Strukturanalysen, die sich aus der Makroperspektive auf Konfliktkonstellationen beziehen und hermeneutisch verfahrende Analysen, die aus der Mikroperspektive am subjektiven Handlungssinn von Akteuren orientiert sind.
Der Fokus der ersten Zugangsweise liegt in der vorgegebenen „äußeren Realität“; der Fokus der zweiten Zugangsweise in der „inneren Realität“ oder dem. was Ralph White „psychologische Welten“ nennt 1) -In der klassischen Politikwissenschaft idealiter noch vereint, hat die moderne arbeitsteilige Entwicklung der Wissenschaftsdisziplinen die makroanalytische Fragestellung eher bei der Politikwissenschaft, die mikroanalytische eher bei der Psychologie angesiedelt. So sind zwar von anthropologischer und psychologischer Seite 2) seit Beginn der neueren Friedens-und Konfliktforschung entscheidende Beiträge zur Aufklärung und Überwindung kollektiver Gewaltbereitschaft gekommen, aber im Rahmen der Forschung in der Bundesrepublik gab es kaum einen wissenschaftlichen Austausch über die Grenzen der einzelnen beteiligten Disziplinen hinaus.
Erst in den achtziger Jahren lassen sich — auch durch die Impulse von Seiten der internationalen Ärztebewegung gegen den Atomtod — neue psychoanalytisch, psychologisch und psychiatrisch argumentierende Beiträge ausmachen, die ihrerseits eine interdisziplinäre Auseinandersetzung provozierten. Damit begann hier — wie auch in den USA — ein neuer Streit über die angemessene Analyseebene, auf der Krieg, Kriegsvorbereitung und Abschreckungspolitik begriffen werden können. Dieser Streit gewinnt dadurch zusätzliche Brisanz, daß er zugleich als Auseinandersetzung über eine angemessene friedenspolitische Praxis verstanden wird.
Auf zwei Beispiele sei verwiesen, in denen jüngst diese wissenschaftliche Auseinandersetzung um den richtigen Ansatz zum Ausdruck kam: zum einen das 13. wissenschaftliche Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft für Friedens-und Konfliktforschung (AFK) im Herbst 1985, zum anderen den Kongreß der International Society of Political Psychology (ISPP) im Juni desselben Jahres. Während der AFK-Tagung sahen sich die Vertreterinnen und Vertreter der Sozialpsychologie genötigt, sich gegen einen umfassenden politikwissenschaftlichen Analyseanspruch zu verteidigen. Komplementär dazu ist der Vorgang, auf den ich mich im Zusammenhang mit der Tagung der International Society of Political Psychology in Washington beziehe, und der sich in der Einführungsrede ihres damaligen Präsidenten, des Politikwissenschaftlers Stanley Hoffmann, ausdrückte
Hoffmann verstand seinen Beitrag als Verteidigung eines von ihm selbst als „traditionell“ bezeichneten politikwissenschaftlichen Ansatzes zum Verständnis internationaler Beziehungen bzw. Konflikte und als Plädoyer für eine genuine „psychology of politics“ Für Hoffmann ist zwar Politik ihrem Wesen nach „ganz und gar psychologisch“. Sein Monitum wendet sich aber dagegen, daß man der Psychologie der Politik keinen eigenen analytischen Ort einräume, sondern die Politik, insbesondere die internationale Politik, mit Begriffen der psychoanalytischen und psychiatrischen Klinik aufschlüsseln wolle. Dem setzt er die „Logik der zwischenstaatlichen Beziehungen“ als einer eigenständigen Realitätsebene entgegen. Dieser Logik entspreche eine interessenbezogene Rationalität, die das Handeln anleite. Daher sei dieses Handeln nicht irrational zu nennen bzw. mit Begriffen der Psychopathologie angemessen zu analysieren; irrational zu nennen seien erst seine möglichen destruktiven Ergebnisse, die ebenso von Vertretern des traditionellen politikwissenschaftlichen wie des von Hoffmann als radikal bezeichneten psychologisierenden Ansatzeszu verhindern gesucht würden. Der Unterschied liege in der „Lesart“ der gegebenen Realitäten, und daher in den vorgeschlagenen Mitteln zur Friedens-und Sicherheitspolitik. Traditionalisten suchten Auswege im Rahmen der gegebenen Interessenlogik; eine solche Interessenlogik würde aber von Anhängern des radikalen Ansatzes von vornherein nicht mehr anerkannt.
Auch während der AFK-Tagung gab es den Vorwurf, die psychologische Analyse verfehle die eigentlich entscheidende Analyseebene, wenn sie sich, beispielsweise beim Thema „Stereotype“, hermeneutisch auf die subjektive Bedeutung, anstelle ideologiekritisch und bedingungsanalytisch auf das manipulativ eingesetzte Herrschaftsinteresse beziehe. Als unangemessen und unmaßgeblich wurde deshalb von politikwissenschaftlicher und historischer Seite eine sozialpsychologisch-hermeneutische Analyse kritisiert. Entscheidend sei allein die Zweck-und Interessenbestimmung hinter manipulativ eingesetzten Feindbildern und Stereotypen, nicht aber deren Verankerung in der Art und Weise, wie in einer Gesellschaft alltägliche Konflikte subjektiv bewältigt würden.
Obgleich sich die Positionen in beiden Debatten in bestimmten Bewertungen unterscheiden, ist der zentrale Streitpunkt in beiden Fällen die Frage nach dem Stellenwert menschlich-persönlicher Bedürfnisse und Leidenschaften im Verhältnis zu machtpolitischen Interessen in internationalen Beziehungen, also nach der Relevanz von affektgeleitetem gegenüber instrumentellem Handeln.
Die folgenden Überlegungen handeln von der Art und Weise, in der Subjektivität in internationalen Konflikten im Unterschied zu innergesellschaftlichen Konflikten zum Ausdruck kommt; davon also, von welcher Art die situationstypischen Strukturmerkmale und die entsprechenden Konflikterfahrungen in den zwei Situationen sind, und wie diese typischerweise verarbeitet werden. Diesen Versuch einer systematischen Analyse verstehe ich zugleich als einen Beitrag zur aktuellen Diskussion zwischen bereichsspezifischen Ansätzen und Disziplinen in der Friedens-und Konfliktforschung, hier also der Politikwissenschaft und der Psychologie.
II. Zur Bedeutung und zum Alltagsgebrauch psychologischer Termini im Kontext internationaler Beziehungen
Man braucht nicht weit um sich zu schauen, um zu entdecken, daß kaum eine politikwissenschaftliche Analyse ohne explizite oder implizite Annahmen über psychologische Wirkungen auskommt — nicht selten in Gestalt individualpsychologischer Annahmen — und daß politische Entscheidungsträger sich häufig genug psychologischer Alltagstheorien bedienen. Umgekehrt finden sich — und das wird ja unter anderem von Hoffmann beklagt — in psychologischen Abhandlungen und Bewertungen Annahmen über die analysierten politischen Prozesse, denen nur selten systematische politikwissenschaftliche Erkenntnisse zugrunde liegen. Für unser Thema ist wichtig, daß für die alltagspsychologische Individualisierung oder Personifizierung politischer Prozesse der Bereich internationaler Politik sehr viel anfälliger zu sein scheint als der innergesellschaftliche, oder genauer gesagt, als der Binnenbereich von Industriestaaten, vor deren Hintergrund die meisten einschlägigen Analysen entstanden sind.
Psychologisch bedeutsame Unterschiede der beiden Bereiche scheinen auch Politikern nicht fremd zu sein. So hat im Februar 1987 der Generalsekretär der KPdSU. Michail Gorbatschow, in seiner Ansprache vor den Teilnehmern am internationalen »Forum für eine Welt ohne Kernwaffen, für das Überleben der Menschheit« bezeichnenderweise einen Vergleich zu alltäglichen Umgangsweisen zwischen Menschen gewählt, um die in der internationalen Politik noch geltenden . unzivilisierten’ Verhaltensweisen zu brandmarken: Jene Politiker und Strategen, die sich auch nach seinem Zusammentreffen mit Ronald Reagan in Reykjavik noch an die Doktrin der Abschreckung „klammerten“, seien — so meinte Gorbatschow — offenbar davon überzeugt, daß Gewalt und Drohung mit Gewalt die Grundlage seien, „auf der man mit anderen reden und korrespondieren kann und muß“. Gorbatschow fuhr hier mit einer rhetorischen Frage fort: „Wie würden wir uns zu einem derartigen Menschen verhalten, falls wir ihm auf der Straße begegneten? Warum halten denn scheinbar zivilisierte Politiker derartige Standards, die seit langem schon als Unsinn gelten, wenn es sich um die Beziehungen zwischen einzelnen Menschen handelt, nach wie vor für eine beinahe selbstverständliche Norm in den Beziehungen zwischen den Staaten?“
In der Tat können die nukleare Drohpolitik und die Doktrin(en) der Abschreckung besonders gut die Wirksamkeit einer auch von Hoffmann hervorgehobenen Roheit („crudeness“) der Gefühlslagen und psychologischen Mechanismen, die in den internationalen Beziehungen am Werk sind, exemplifizieren. Die Kritik der Abschreckung hat daher seit langem sowohl in makroanalytischer als auch in mikroanalytischer Perspektive auf lernpathologische Interaktionsprozesse der im Ost-West-Kon-flikt geltenden nuklearen Drohpolitik hingewiesen. In ihnen kommt eine Konfliktdynamik zum Ausdruck, vor der reale Problemlagen, um die in realistischer Weise gerungen werden könnte, in den Hintergrund gedrängt werden Dabei wird in der Regel auf ein spezifisches Situationsmerkmal hingewiesen, nämlich die unterstellte Anarchie in den internationalen Beziehungen
Denn diese internationalen Beziehungen als Beziehungen zwischen den mehr als 160 nationalstaatlichen Einheiten erscheinen — im Vergleich zu den innergesellschaftlichen Beziehungen in den Industriestaaten — als weitgehend normenlos bzw. als von solcher Art, daß sich im Grenzfall das Recht des Stärkeren durchsetzen kann. Eigene Bestrebungen und Interessen werden nur in geringem Maße durch normativ vorgegebene und verinnerlichte Beschränkungen gebremst bzw. geformt. Es ist zu vermuten, daß in diesem situativen Unterschied auch die eigentümliche Ungehemmtheit begründet ist, die die internationale Politik allgemein, vor allem aber die Sicherheitspolitik, kennzeichnet. Solche Ungehemmtheit hat Hoffmann veranlaßt, von der Notwendigkeit zu sprechen, „das Biest zu zähmen“, soweit Struktur und Logik der internationalen Beziehungen eine solche Zähmung zulassen.
Wenn man Gorbatschows Stichwort vom zivilisierten Verhalten und vom Mangel entsprechenden Verhaltens zwischen Staaten aufgreift, so erweist es sich als hilfreich, Norbert Elias Erkenntnisse über den »Prozeß der Zivilisation« heranzuziehen
III. Struktur, Erfahrungsbezug und subjektive Orientierungsweisen innergesellschaftlicher im Vergleich mit internationalen Beziehungen
Die innergesellschaftliche Struktur innerhalb der Industriestaaten ist durch eine starke Arbeits-und Funktionsteilung sowie wechselseitige Abhängigkeiten gekennzeichnet. Man kann deshalb von einem Interdependenzgeflecht sprechen. Diese Interdependenz hat territorial festgelegte Grenzen, innerhalb derer eine Zentralgewalt, der Staatsapparat, sowohl die gemeinschaftlichen Hilfsmittel in Form von Steuern als auch die physischen Gewaltmittel (Polizei. Militär) monopolisiert. Die Erfahrungsbezüge in dieser Struktur sind durch dichte, direkte und indirekte, sowie vielfältige Interaktionen gekennzeichnet. Entsprechend sind die persönlichen Orientierungsweisen durch stark differenzierte Rollenerwartungen, durch persönliche Rückund Voraussicht und eine entsprechende Dämpfung spontaner menschlicher Leidenschaften und Affekte gekennzeichnet. Die Potentiale persönlicher Gewalttätigkeit sind — wie Elias sagt — kaserniert, d. h. zum einen im sozialen Habitus der Menschen umgeformt und zurückgedrängt, zum anderen in dafür explizit oder implizit vorgesehenen gesellschaftlichen Orten und Institutionen gespeichert
Es ist einleuchtend, daß sich vergleichsweise erfahrungsträchtige Beziehungen und eine hohe Affekt-beherrschung der Menschen einstellen. Die Chance einer wirklichkeitsgetreuen Realitätsprüfung ist also relativ groß. Aufdas in diesem Zusammenhang vorhandene, teils offene, in der Regel aber latente Unbehagen in der Kultur, von dem Freud sprach soll an dieser Stelle nur hingewiesen werden. Hier geht es zunächst einmal darum, die eben beschriebene Szene mit der der internationalen Beziehungen zu vergleichen.
Die Struktur internationaler Beziehungen — wenn man diese insgesamt betrachtet — läßt eine relativ undifferenzierte, gering ausgeprägte und oft asymmetrische Funktionsteilung erkennen. Mit Ausnahme der Beziehungen zwischen westlichen Industriegesellschaften ist nicht ein auf wechselseitiger Abhängigkeit basierendes Interdependenzgeflecht kennzeichnend, sondern in der Regel eine mangelnde Dichte oder nur einseitige Abhängigkeit. Zwar haben sich seit Ende des letzten Jahrhunderts grenzüberschreitende Institutionen mit einem politischen oder einem funktionalistischen Selbstverständnis gebildet, um wechselseitige Vorteile von Kooperation auch im Kontext internationaler Beziehungen zu realisieren. Aber Strukturen und Erfahrungen dieser Art sind bisher nicht zum allgemein gültigen Organisationsprinzip geworden. Angesichts asymmetrischer struktureller Abhängigkeiten wurde die Idee der kooperativen Interdependenz sogar als bloß herrschaftsstabilisierende Ideologie der jeweils mächtigsten Akteure denunziert. Das Wettbewerbsprinzip wirkt daher im internationalen Kontext nach wie vor eher so, daß Gewinne der einen Seite tendenziell als Verlust der anderen begriffen werden.
Im Kontext der internationalen Beziehungen sind persönliche Erfahrungsbezüge entsprechend selten und sporadisch. Es gibt mit Ausnahme der erwähnten Ländergruppe vergleichsweise wenig Interaktionen direkter oder vermittelter Art. Das zeigt sich besonders auffällig im Bereich der zwischenstaatlichen Kommunikation. Insbesondere dort, wo Drohpolitik herrscht, wird der im innergesellschaftlichen Raum vorrangigen Kommunikationsform, dem direkten Gespräch bzw.der menschlichen Sprache, nur geringer Wert beigemessen. Wichtige Voraussetzungen, die in innergesellschaftlichen Beziehungen normalerweise eine Kommunikation zwischen den Menschen auch im ernsten Konfliktfall ermöglichen, fehlen auf der internationalen Ebene: die Annahme der Wahrhaftigkeit der Rede, das Vertrauen, mit der Sprache auch Mißverständnisse erkennbar und ausräumbar machen zu können, und schließlich das Vertrauen auf ungefähr den gleichen Bedeutungsgehalt von Wörtern.
Das Problem liegt nicht nur darin, daß ein internationaler Kontext in der Regel ein interkultureller ist; was bedeutet, daß eine meta-sprachliche Verständigung darüber, an welchem Punkt man sich in der Kommunikation gerade befindet, außerordentlich schwer ist. Darüber hinaus ist vielmehr sichtbar, daß Sprache hier überhaupt in einem viel geringeren Maße als Medium wechselseitiger Verständigung über Probleme und auch Konfliktinhalte und -Strategien genutzt wird als im innergesellschaftlichen Leben.
Zwar sagt das Bild der sprichwörtlichen diplomatischen Sprache etwas darüber aus, daß gerade auf dieser Ebene sorgfältig auf die Verbindlichkeit der Rede und die Dämpfung der zum Ausdruck kommenden Motive geachtet wird. Genau diese Förmlichkeit hat aber zur Kehrseite, daß nicht nur große Mühe auf die Auslegung sprachlicher Botschaften verwandt wird, sondern auch, daß je nicht-sprachliche Signale und Indikatoren für unterstellte Absichten und Verhaltensweisen aufgespürt werden müssen Diese haben im Unterschied zur lebendigen Sprache den Nachteil, daß vor allem in zugespitzten Konfliktbeziehungen ihre Richtigkeit nicht pragmatisch mit der anderen Seite geklärt werden kann, sondern auf einer a-dialogischen, quasi-dedektivisehen Erkenntnissuche beruht. Ob das, was man verstanden hat, auch so gemeint war, bleibt ein anhaltendes Problem. Ganze Forschungsinstitute dienen seiner Aufklärung ohne Ende. Dieses institutionalisierte Verhalten, in allen möglichen Handlungen neben den expliziten sprachlichen Botschaften nach Signalen zu suchen bzw. Indikatoren darüber aufzuspüren, ob die andere Seite tatsächlich das beabsichtigt oder vorhat, was man ihr hypothetisch unterstellt, hat tiefes Mißtrauen zur Grundlage. Ihm entspricht ein Mangel an gemeinsamen positiven Erfahrungen.
In einem solchen Kontext kann es kaum differenzierte Rollen oder Verhaltenserwartungen geben. Typisch sind dagegen Images (Vorstellungsbilder) und Weltsichten, die relativ einfach strukturiert sind und wenig Differenzierungen zulassen. Sie beherrschen die politische Praxis, nicht selten jedoch auch wissenschaftliche Abhandlungen. Einen Sonderfall bilden dabei die sogenannten Feindbilder (übrigens auch Freundbilder). Sie sind weniger aufgrund ihres kognitiven Gehalts interessant als aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Affekte Sie machen augenfällig, daß im internationalen Kontext — mit Ausnahme der diplomatischen Sprache — potentiell eine sehr viel geringere Kultivierung der Affekte zu beobachten ist als im normalen industriegesellschaftlichen Kontext. Anders als innerhalb von Gesellschaften wird wirklichkeitsgerechte Realitätsprüfung in den internationalen Beziehungen zum chronischen Problem.
Die Skizze der beiden Kontexte oder Situationen, in denen sich internationales und innergesellschaftliches bzw. innerstaatliches Handeln bewegt, hat bisher eine wichtige Unterscheidung noch nicht erwähnt. Es geht um die zwei Situationen, innerhalb derer Menschen Erfahrungen mit internationalen Sachverhalten machen können: — einmal um die bei weitem überwiegende Gruppe von Menschen ohne staatliche Vertretungskompetenz, — zum anderen um die eher kleine Gruppe von Menschen, die auf der außenpolitischen Ebene Entscheidungsträger sind bzw. die Außenpolitik maßgeblich mitbestimmen.
Diese Unterscheidung ist wichtig, wenn wir die sozialen Interaktionen und subjektiven Orientierungen im internationalen Geschehen näher betrachten wollen, um zu erkennen, wie institutioneile und individuelle Prozesse Zusammenwirken Betrachten wir zunächst die Situation staatlicher Repräsentanten.
IV. Staatliche Repräsentanten — der subjektive Faktor
Zur Veranschaulichung der Situation von politischen Entscheidungsträgern und staatlichen Repräsentanten möchte ich eine Selbstdarstellung aus der Akteursperspektive zitieren. Es handelt sich um eine Äußerung von Egon Bahr. Aufgrund eigener Erfahrungen formulierte er: „Ich kann mich als Individuum mit einem sowjetischen Individuum schnell auf der menschlichen Ebene verständigen. In dem Augenblick, indem ich am Verhandlungstisch sitze und gewissermaßen die Last des Interesses meines Staates mit einbringe, ist das eine völlig andere Sache. Das heißt, ich komme dort in Korsetts hinein — der andere übrigens auch —. die zu durchbrechen, Mut verlangt. Eine Gipfelbegegnung zwischen dem ersten Mann aus Washington und aus Moskau bedeuten die stärksten Korsetts, die man Individuen auferlegen kann, zugleich mit den stärksten Möglichkeiten, sie zu durchbrechen.“
In der persönlichen Perspektive macht es also Sinn, den Streit zum beiderseitigen Vorteil unmittelbar zu beenden. Eine solche Perspektive kam z. B. auch in den Kinderbriefen an Reagan und Gorbatschow zum Ausdruck. Eine 13jährige Hamburger Schülerin fragte zum Beispiel Mitte der achtziger Jahre in ihrem Brief: „Was nützen die Raketen überhaupt? Warum haben Sie eigentlich Streit miteinander? . . . Warum können Sie nicht mal sagen: . Entschuldigung, ja. vergessen wir alles und geht klar; wir versichern abzurüsten*. Jeder lebt in seinem Land, friedlich, und kein Mensch muß sich mehr fürchten? Oder sehen Sie gar keinen Menschen in sich?“
In der Perspektive des Staatsvertreters gilt es dagegen, zuerst das Interesse des Staates als des hinter der Person stehenden Kollektivs einzubringen. Bei der Definition dieses Interesses und auch dem Umgang damit ist die Prägung durch den institutionellen Kontext von großer Bedeutung. Hoheitliche Institutionen wie z. B. das Militär und politische Ämter, wie die des Verteidigungsministeriums oder des Staatsoberhaupts, richten innenpolitisch sehr eng definierte Erwartungen an amtierende Personen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, daß gelegentlich Politiker und Militärs (in Ost und West), sobald sie nicht mehr im Amt sind, von Anhängern der Nuklearstrategie zu ausgesprochenen Abrüstungsbefürwortern werden.
Der Politikbereich in den erwähnten Beispielen ist nicht zufällig. Es ist vornehmlich der Bereich der militärischen Sicherheitspolitik, der für die eingangs erwähnte Roheit von Gefühlslagen und psychologischen Mechanismen einen besonderen
Nährboden liefert. Internationale Wirtschaftsbeziehungen bleiben davon eher verschont, wenngleich es auch hier Ausnahmesituationen gibt. Sicherheitspolitik ist besonders für solche Mechanismen anfällig, weil sie der institutionalisierte Ausdruck einer kollektiven Identitätsbildung durch Abgrenzung ist. Hier liegt ein besonderes, massenpsychologisch bestimmtes Zusammenspiel von Regierung und Bevölkerung vor.
Psychologisch aufklärungsbedürftige Tatbestände, wie übertriebene Bedrohungswahrnehmungen, selektive Wahrnehmungen und der Mangel, sich in die Gedanken-und Empfindungswelt der anderen hineinzuversetzen, also ein Mangel an Empathie (im Unterschied zur gefühlsmäßig basierten Sympathie). sind vor allem hinsichtlich sicherheitspolitisch relevanter Vorgänge zu beobachten. Von politik-wissenschaftlicher Seite ist auf die Fehlleitung kognitiver Prozesse in politischen Entscheidungssituationen. insbesondere in Krisen-und Kriegssituationen viel Aufmerksamkeit gerichtet worden Das hat damit zu tun. daß in internationalen Krisen aufgrund des subjektiven Faktors Chancen und Gefahren verdichtet sind.
In diesem Zusammenhang sind die psychologischen Prozesse von besonderer Bedeutung, die aus einer sich selbst erweiternden Spirale von Selbstbindungen resultieren. Sie wurden jüngst in einer politisch-psychologischen Untersuchung der deutschen Entscheidungsträger im Juli 1914 minutiös nachgezeichnet und in folgenden Haltungen verankert gesehen: in der Überbewertung früherer Erfolge mit einer Politik der Stärke, in übertriebener Zuversicht für die Erfolgschancen eines einmal festgelegten Vorgehens und in mangelnder Aufnahmebereitschaft für warnende Hinweise und dissonante Informationen. Solche Haltungen sind als subjektive Faktoren in Entscheidungsprozessen besonders bedeutsam, wenn sie institutionalisiert sind. Eine Analyse der letzten 14 Tage vor Kriegsbeginn im Jahre 1914 unter dieser Perspektive wirkt deshalb auch heute noch so aufrührend, weil ein institutionalisiertes Ausblenden relevanter Informationen, also ein Nicht-Wissen-Wollen, die Informationspolitik des deutschen Auswärtigen Amtes bestimmte. Dabei geht es dann nicht mehr um individuelle Selbsttäuschung, sondern um deren politische und administrative Institutionalisierung mit der Folge einer Lernunfähigkeit von Organisationen und Amtsinhabern.
Die vielfache Verstärkung von Lernunfähigkeit hat nicht nur etwas mit geringer realer Interaktions-dichte und eingeschränkten Erfahrungsmöglichkeiten zu tun. Vielmehr tragen auch innenpolitisch begründete Rollenerwartungen dazu bei. Würden sie öffentlich diskutiert, wären sie prinzipiell revidierbar. Eine solche Revisionsmöglichkeit wiederum ist erheblich von einem weiteren psychologischen Faktor abhängig, nämlich dem, was man als Klima oder Stimmung in den relevanten Institutionen und in der Bevölkerung bezeichnen könnte. Klima und Stimmung unterstützen die Tendenz des Gruppendenkens („groupthink“)
Diese Tendenz zum Gruppendenken ist eine Erscheinung, die auch innenpolitisch hinsichtlich innergesellschaftlicher Konflikte allgegenwärtig ist. Ihre besondere Relevanz bekommt sie jedoch in internationalen Krisen, weil die Bereitschaft zur Gewaltanwendung zwischen Staaten im überkommenen System internationaler Beziehungen, von wenigen Bereichen abgesehen, institutionalisiert ist. Kollektive Gewaltbereitschaft ist immer noch die Regel — sie ist systemisch. Obwohl es schon schwache Gegeninstitutionen, wie das allgemeine Gewaltverzichtsprinzip im Rahmen der Vereinten Nationen, gibt, findet eine allgemeine Veränderung der normativen Handlungsorientierungen hier nur langsam statt. Nach wie vor muß internationale Politik, insbesondere Sicherheitspolitik, als der Kontext angesehen werden, in dem es keinen allgemein geltenden Grundkonsens über die Grenzen gibt, innerhalb derer gegensätzliche Interessen verfolgt werden dürfen. So mangelt es insbesondere an Normen, die einer Politik gemeinsamer Sicherheit zugrunde liegen müßten.
Auf welche Weise persönliche und institutioneile Faktoren auf dem Hintergrund solchen Mangels an einer Konzeption gemeinsamer Sicherheit im Nuklearzeitalter Zusammenwirken, kann exemplarisch an der Kuba-(oder Karibik-) Krise im Herbst 1962 gezeigt werden Diese Krise gewöhnlicher Machtrivalität hat nach eigener Einschätzung der Hauptakteure die Welt an den Rand eines thermonuklearen Kriegs geführt. Der amerikanische Präsident und mit ihm seine Beratergruppe empfanden sich durch die Sowjetunion dazu herausgefordert, an der vom Präsidenten früher abgegebenen Selbst-verpflichtung, keinerlei offensive Raketen auf Kuba zuzulassen, unbedingt festzuhalten. Den Hintergrund bildete eine innenpolitische Situation, in der von der Opposition die Frage von Raketen auf Kuba zu einer nationalen Lebensfrage gemacht worden war. Obwohl sich die Beratergruppe des Präsidenten über die Berechtigung dieser Einschät-zung nicht einig war, war die oppositionelle Definition der Lage eine wichtige politische Kontextbedingung für die Entscheidungsfindung. John F. Kennedy ging nach Aussagen seines Bruders Robert soweit, eine Amtsanklage gegen sich für den Fall für wahrscheinlich zu halten, daß er nicht seine Bereitschaft demonstriert hätte, für das Ziel des Abzugs der Raketen auch Krieg zu riskieren. Hier verschmolzen also institutionell abgesicherte Interessen an innen-und außenpolitischer Machterhaltung mit dem Faktor des innenpolitischen Klimas. Innerhalb des sehr kleinen Handlungsrahmens einer eng verstandenen Position der Unnachgiebigkeit war sich John F. Kennedy allerdings der Gefahr bewußt, daß wechselseitige Fehlwahrnehmungen zu Schritten verleiten könnten, die zu begrenzen, schließlich nicht mehr in der Kraft derer stehen würde, die die Entscheidungen getroffen haben. Sein Bruder Robert Kennedy berichtet, wie stark den Präsidenten eine damals soeben veröffentlichte Studie von Barbara Tuchman über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges beeindruckt habe -Kennedys Besorgnis, auf keinen Fall zu einer Situation wie im August 1914 beizutragen, ist gewiß nur eine Facette in seinem Handeln. Sie ist aber in unserem Zusammenhang besonders erwähnenswert, weil sie darauf hinweist, daß historische Erfahrungsbezüge Aufmerksamkeitsrichtungen und damit Handeln in institutioneilen Positionen beeinflussen. Kennedy hatte neben der Maxime der Entschlossenheit eine zweite Maxime: Er legte Wert darauf, daß der Herausforderer der Macht, der Generalsekretär der KPdSU, Chruschtschow, seine Herausforderung zurückziehen können sollte, ohne dabei das Gesicht zu verlieren, also ohne eine Demütigung. Diese zweite Maxime Kennedys unterstreicht die Bedeutung persönlicher Eigenschaften von Entscheidungsträgern, zumal in der Krise. Diese Bedeutung gilt auf der anderen Seite auch besonders für Chruschtschow, der sich als fähig erwies, kriegs-trächtige Fehleinschätzungen zu revidieren.
Was Chruschtschow bewogen hat, an der vermutlich im Frühsommer gefällten Entscheidung, Raketen auf Kuba zu errichten, auch noch festzuhalten, als im Frühherbst Kennedy seine Administration öffentlich verpflichtete, eine Installierung von Raketen auf Kuba nicht zu tolerieren, ist nach wie vor nicht aufgeklärt. Es spricht viel dafür, daß sein Verhalten und das seiner Mitverantwortlichen jedenfalls nicht von den Motiven beherrscht war, die von den Politikern und Interpreten der Abschreckung unterstellt werden: also einer nüchternen, rationalen Analyse der Entschlossenheit des Gegners. Wie sein späteres Verhalten zeigt, wollte Chruschtschow die Position der Sowjetunion verbessern, aber nicht um den Preis eines möglicherweise für alle vernichtend verlaufenden Krieges. Offenbar hat er zunächst diejenigen Informationen für unbedeutsam erachtet, die ihm das Kriegsrisiko seines Handelns hätten signalisieren können. Es war ihmaber möglich — und das war entscheidend —, solche Selbsttäuschungen in der zugespitzten Situation des amerikanischen Ultimatums zu erkennen und einer veränderten Lageeinschätzung Platz einzuräumen. Zwar hat der Generalsekretär der KPdSU seine Nachrüstungs-Initiative im Nachhinein doch als Erfolg bezeichnet. Er verwies darauf, daß sich die USA sowohl öffentlich bereit erklärt hätten, Kubas Integrität in Zukunft zu respektieren, als auch aus der Türkei die amerikanischen Raketen abzuziehen. Ob aber Chruschtschow hier im Nachhinein seine Politik rationalisierte oder schließlich von der Erfolgsbilanz überzeugt war, ist nicht vollends erhellt. Für den Ausgang der Krisensituation entscheidend war, daß die Kontrahenten Wege fanden, um den „Kriegsknoten“ (wie Chruschtschow — psychologisch sehr anschaulich — auf dem Höhepunkt der Krise an Kennedy geschrieben hat) zu lockern und schließlich zu lösen.
1962 konnte ein Weltkrieg vermieden werden, weil trotz Machtkampf und Fehlwahrnehmungen und trotz eines Mangels an solchen Strukturen, die die institutionalisierte Gewalt zwischen den Staaten hätte zähmen können, eine Reihe von bedrohlichen Vorfällen zufällig glücklich bewältigt werden konnte, und weil eine Empfindung für die gemeinsame Gefahr da war. Diese bewog schließlich den einen der beiden Kontrahenten zum Einlenken.
Allerdings ist hier auch die Nachgeschichte politisch-psychologisch bedeutsam. Zwar gehen viele Beobachter davon aus. daß die Krisenerfahrung in beiden Großmächten den Gedanken der Entspannung befördert und zur Beendigung des Kalten Krieges beigetragen hat. Aber sowohl in der amerikanischen Strategiediskussion wurden die Krisen-entscheidungen der Kennedy-Administration als Bestätigung für die nukleare Abschreckungspolitik angesehen als auch auf sowjetischer Seite paradoxerweise entsprechende Schlußfolgerungen gezogen: Mit dem Sturz Chruschtschows setzte ungeachtet der weitergeführten Entspannungspolitik eine erhebliche Aufrüstung ein. An militärischen Mitteln für eine politische Entschlossenheit sollte es in Zukunft nicht noch einmal mangeln. So betrachtet. haben sich verletzte Bedürfnisse nach anerkannter Gleichrangigkeit. also eben krude psychologische Faktoren, durchgesetzt.
V. Individuen und die internationalen Beziehungen — der subjektive Faktor
Für das Problem von Krieg und Frieden, für die Bedeutung kollektiv organisierter direkter Gewalt in internationalen Beziehungen sind allerdings nicht nur die Handlungsweisen staatlicher Repräsentanten wichtig, auch wenn diese ausschlaggebend sind. Gerade weil es sich um kollektive Gewalt handelt, bedarf jede Regierung, unabhängig vom politischen System und der Regierungsform, einer gewissen Zustimmung zu ihrer Politik im eigenen staatlichen Kollektiv. Diese These heißt nicht, die Herrschaftsdimension innerhalb und zwischen Staaten verkennen, sondern sie politisch-psychologisch begreifen. Eine Kriegsführung der nationalen Führungseliten hängt auf Seiten der Bevölkerung davon ab, daß die Gefühlslagen, die sich auf das Kollektiv beziehen, und die privaten Enttäuschungen und Konflikte der Individuen sich wechselseitig stärken. Damit werden sie zu einem kollektiven emotionalen Faktor in der internationalen Politik.
Das Selbstgefühl ist in drei Bereichen unmittelbar mit den Erfahrungen kollektiver, z. B. nationaler Identität verbunden: im Streben nach Zugehörigkeit. also sozialer Identität, nach Sicherheit und nach der Selbstachtung
Im Zusammenhang mit dem Ost-West-Konflikt ist augenscheinlich das Sicherheitsbedürfnis die bestimmende gefühlsmäßige Bestrebung. Schon die frühe Studie Bronfenbrenners aus dem Jahre 1961 über die spiegelbildlichen Images in den USA und der Sowjetunion bringt das später immer wieder thematisierte Grundgefühl der Bevölkerungen in beiden Militärblöcken zum Ausdruck: das Gefühl einer von der anderen Seite aufgezwungenen Verteidigungshaltung.
Die beispiellosen Rüstungsanstrengungen innerhalb der NATO-und Warschauer-Pakt-Staaten werden sowohl von den politischen Entscheidungsorganen als notwendige, nur defensiv zu verstehende Sicherheitsvorkehrungen deklariert als auch in der informierten Öffentlichkeit und der breiten Bevölkerung lange Zeit als solche akzeptiert und legitimiert.
Die Frage, warum die geltende nukleare Abschrekkungspolitik als Verteidigungs-und Sicherheitspolitik mehrheitlich akzeptiert wird, hat besonders seit dem Ende der ersten Entspannungsperiode psychoanalytisch orientierte Untersuchungen angeregt. Die Bedeutung subjektiver Sicherheitsbestrebungen und deren Verflechtung mit der regierungsamtlichen Abschreckungspolitik wurde auf drei analytischen Ebenen diskutiert:
— auf der Ebene der psychischen Selbsterhaltungsstrategien in der Triebabwehr-Konstellation. — auf der Ebene psychischer Selbsterhaltungsstrategien in rollentypischen Situationsanforderungen und — auf der Ebene der psychischen Selbsterhaltungsstrategien gegenüber gesamtgesellschaftlicher Marginalisierung der sinnlichen und expressiven Seite der Menschen.
Analytische Versuche, die Struktur und Dynamik der Abschreckungspolitik auf dem Hintergrund von Triebabwehrmechanismen zu begreifen, stellen eine Verbindung zwischen entwicklungspsychologisch bedeutsamen Konflikten (sowie ihrer Bearbeitung) und Konflikten zwischen Kollektiven und Staaten her Solche analytischen Versuche, in frühkindlichen Konflikten begründete unbewußte Antriebskräfte für eine destruktiv wirkende Außen-und Sicherheitspolitik aufzudecken, unterstellen in der Regel, daß die kindlichen Erlebnisvorlagen, die zur Produktion und Unterstützung der Abschreckungspolitik beitragen, sich in den gegnerischen Staaten entsprechen. Es käme aber darauf an, die kulturellen Unterschiede auch entwicklungspsychologisch herauszuarbeiten. Statt sich allein auf die psychoanalytischen Erfahrungen der eigenen Gesellschaft zu beziehen, wären interkulturell die Erfahrungs-und Erlebniswelten zu untersuchen. Analysen, die von Ähnlichkeiten zwischen den individuellen Triebabwehr-Konstellationen und den in der internationalen Politik sichtbaren Beziehungsstörungen ausgehen, scheinen dann fruchtbarer, wenn sie sich auf den Sozialisationsprozeß beziehen, in dem die einzelnen „einen Sinn von sich selbst als Mitglied einer nationalen Gruppe“ bzw. eines Großkollektivs internalisieren Von kritischen Politikern und Politikwissenschaftlern wird besonders häufig die Neigung zur moralischen Überhöhung der Nation, der die Menschen jeweils angehören, diskutiert. 1966 schrieb der amerikani-° sehe Senator Fulbright, es sei ein offenbar bedeutsames psychologisches Bedürfnis, die eigene Nation im Wettbewerb mit anderen um Größe, Wert und Stärke zu sehen. Die moralische Überhöhung, der als Stolz angesehene Hochmut, wenn es um die Zugehörigkeit zu einem nationalstaatlichen Kollektiv geht, ist von Erich Fromm mit dem Begriff des Gruppen-Narzißmus gefaßt worden. Verletzter Narzißmus ist gemäß psychoanalytischer Erkenntnis eine der wichtigsten Quellen für Furcht und Aggression
Eine analytische direkte Verbindung von frühkindlichen Erlebnisvorlagen zu internationalen Beziehungen entbehrt jedoch der Bezüge, in denen sich erwachsene Menschen zu bewegen gezwungen sehen, also vor allem der rollentypischen Anforderungen und Normen, die in einer Gesellschaft Geltung haben. Berücksichtigt man diese Anforderungen, so wird erkenntlich, daß die Autonomiekonflikte, die die (erwachsenen) Individuen im Alltags-leben, vornehmlich im Arbeitsleben, zu bewältigen haben, nachdrücklichen Einfluß auf die Vorstellungswelt von Konflikten und ihrer Bewältigungsformen in der nur selektiv erfahrbaren Realität internationaler Beziehungen haben. Manager z. B. tendieren gemäß einschlägiger Untersuchungen dazu, mit Bedrohung und Unsicherheit anders umzugehen als Lehrer; Schülerinnen anders als Hausfrauen, usf. Alle Gruppen neigen dazu, ihre innergesellschaftlich vorgezeichneten Rollenkonstellationen auf die Ebene der internationalen Beziehungen zu übertragen.
Die Aufmerksamkeit liegt bei dieser analytischenHerangehensweise auf situativ typisch erlebten Anpassungszwängen. Dies ist auch die Richtung, in die die Aufmerksamkeit auf der dritten der genannten analytischen Ebenen gerichtet ist. Bei dieser geht es um den Versuch einer gesellschaftstheoretisch ausgerichteten Rekonstruktion sozialpsychologischer Mechanismen, aufgrund derer sich die marginalisierten menschlichen Bedürfnisse nur noch in herrschaftskonformer Art Ausdruck verschaffen können Wenn also nachweislich ausgerechnet in Militär und im Krieg Abenteuerlust und Gemeinschaftsgefühl sowie Anerkennung oder gar geschlechtliche Gleichrangigkeit gesucht werden, so werfen diese illusionären Vorstellungen und Erlebnisbilder Schlaglichter auf die mangelhaften zivilen Möglichkeiten zur Erfüllung dieser grundlegenden Bedürfnisse
Gemäß der Befunde in den genannten Forschungsrichtungen ist die innergesellschaftliche Disziplinierung der Menschen und die fortschreitende Entsinnlichung ihrer Lebenswelt — individuell und sozial — überaus kostenträchtig. Denn aufgrund gesellschaftlicher Funktionsverflechtung entwickelt sich ein Prozeß der Unterdrückung, Verfeinerung und Sublimierung menschlicher Affekte und produziert eine Unbewußtheit, die sich in verschiedenen Formen äußern kann: in psychosomatischem Leiden der einzelnen ebenso wie in einer latenten Gewaltbereitschaft von Kollektiven.
VI. Schlußbemerkung
In der prozeßsoziologischen Perspektive von Norbert Elias wird Licht auf den langwierigen Prozeß der Verfeinerung der Konventionen, d. h.der Erwartungen geworfen, die die Menschen im Umgang miteinander hegen. Demgegenüber wird in der hier behandelten sozialpsychologischen Gegenwartsanalyse die nicht-konventionelle Seite, das dem Menschen Unbewußte der menschlichen Interaktionen, betrachtet. In der ersten Perspektive wird das historische Zurückdrängen offener, direkter Gewaltanwendung zwischen Menschen beobchtbar, in der zweiten Perspektive die nach wie vor vorhandene, zumindest latente Bereitschaft zur kollektiven Gewaltanwendung in Konflikten. Geht es der einen Betrachtung um die Historizität von Subjektivität, um das Nachzeichnen der sozialen Prozesse, in denen das moderne Verhältnis von Individuum und Gruppe, von Subjektivität und sozialer Umwelt (Wir-Ich-Balance) herausgebildet wird so geht es in der anderen Betrachtungsweise um das Schicksal der in der Natur der Menschen angelegten Triebbedürfnisse und Leidenschaften.
Beide Betrachtungsweisen beziehen sich allerdings ausschließlich auf einen Typ gesellschaftlicher Entwicklung und nur auf eine der gegenwärtig vorfindbaren Gesellschaftsformationen. Gemeint sind hochindustrialisierte Gesellschaften mit aufgefächerten internen Marktverflechtungen. Erweitert man den Blickhorizont auf die neuere Geschichte der Kriege, so zeigt sich, daß die alten Vorstellungen der sozialistischen Theorie und Ideologie, der-zufolge Kriege mit der Überwindung bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften ein Ende finden, unzureichend sind. Staaten mit sozialistischem oder kommunistischem Selbstverständnis haben mehrfach gegeneinander konventionelle Grenzkriege geführt oder sind in Anti-Regime-Kriege verwikkelt. Sowjetunion — Volksrepublik China; Volksrepublik China — Vietnam; Vietnam — Kamputschea sind Beispiele, abgesehen von den militärischen Aktionen, die im europäischen Hegemonialbereich der Sowjetunion stattfanden Auf der anderen Seite gibt es bürgerlich-kapitalistische Staaten, die — wie die Schweiz und Schweden — in der internationalen Kriegsstatistik gar nicht auftauchen. Liegt die Gewaltträchtigkeit also nicht in der Gesellschaftsformation, sondern, wie jüngst von Ekkehard Krippendorffbehauptet, in der Staatlichkeit an sich begründet
Nun haben quantitative Kriegsursachenforschungen in der Tat den Befund erbracht, daß mit der Zahl der Staaten nicht nur die zwischenstaatlichen Kriege, sondern auch die innerstaatlichen Kriege zunehmen, und daraus wurde die Schlußfolgerung gezogen, daß damit der Nimbus des staatlichen Gewaltmonopols als Friedensstifter verblaßt sei, wie es z. B. Jürgen Gantzel ausdrückte Eine solche Schlußfolgerung ist aber nur gerechtfertigt, wenn formale Souveränität und völkerrechtliche Anerkennung schon als zureichender Ausdruck für vergleichbare Nationalstaatlichkeit im Hinblick auf das staatliche Gewaltmonopol und seine Wirksamkeit unterstellt werden. Vergleichende Sozialforschungen und psychoanalytisch-sozialpsychologische Analysen haben jedoch gezeigt, daß es ganz bestimmte Gesellschaftsstrukturen sind, die eine kollektive Gewaltbereitschaft erzeugen. Nimmt man die entsprechenden Ergebnisse ernst, so bedürfte es sorgfältiger Untersuchungen aus der Binnenperspektive der verschiedenen Gesellschaftsformationen und Staatsformen, um auch für diese das Verhältnis von innergesellschaftlichem zu internationalem Konflikterleben, aber auch die Genese der nationalen Interessendefinition auf der Ebene der Staatsbürger und der staatlichen Hoheitsträger zu klären.
Kriege werden gegenwärtig unter sehr verschiedenen Vorzeichen, Zielsetzungen und auch Feindbildern geführt. Dabei wird schnell deutlich, daß ein paradoxes Problem der Ungleichzeitigkeit existiert: Unter der Drohung der menschheitsvernichtenden Nuklearwaffen werden auf der öffentlich-deklaratorischen, politisch-willentlichen Ebene Kriege auf den Kernterritorien der Blöcke des Ost-West-Konflikts als historisch überholt betrachtet, aber dessenungeachtet beispiellose Aufrüstungen betrieben. Anderenorts wiederum werden Kriege für altbekannte Ziele geführt und auch offen legitimiert: Kriege um Territorien mit Rohstoffen, Kriege für nationale Selbstbestimmung, Kriege für Werte, die höher erachtet werden als Frieden. Es ist dieses Bild der Vielfalt, der Auffassung von unvermeidlichen Kriegen und der Absage an Krieg bei gleichzeitiger Hochrüstung, das einen Analytiker der internationalen Beziehungen wie z. B. Stanley Hoffmann so skeptisch gegen psychologische Aussagen macht, die ihren historisch-und regionalspezifischen Kontext nicht mitreflektieren.
Trotz aller Vielfalt ist allerdings nicht zu bestreiten, daß die Nuklearwaffen auch einen global wirkenden Herausforderungsdruck ausüben. Die Zerstörungspotenz der Nukleartechnologie hat Grundkategorien wie die der Souveränität und Selbstbestimmung in den internationalen Beziehungen brüchig gemacht. Zum einen macht eine einmal entfesselte Zerstörungsgewalt nicht an den staatlichen Grenzen halt, zum anderen spricht es offenbar jedem Menschenrecht hohn, wenn einzelne Menschen, durch die Staatsräson legitimiert oder nicht, einen Nuklearkrieg auslösen können. Robert Kennedy hat nach Aussage von Sorensen vorgehabt, seinem Buchmanuskript über die 13 Tage der Kuba-Krise, das nach seiner Ermordung erschien, folgende grundlegende ethische Frage anzufügen: „Welcher Umstand oder Anlaß — falls überhaupt einer denkbar ist — gibt unserer Regierung oder irgendeiner Regierung das moralische Recht, ihr Volk und möglicherweise alle Völker an den Rand der nuklearen Vernichtung zu bringen?“ Aus einem neueren Dokument, dem Brief des damaligen Außenministers Rusk an den Harvard-Professor James Blight wird ersichtlich, daß auch Präsident Kennedy sich diese Frage vorgelegt haben muß, denn insgeheim hat er sich einen Ausweg aus seinem moralischen Dilemma verschaffen wollen. Er hatte für den Fall, daß Chruschtschow nicht auf das amerikanische Ultimatum eingehen würde, also Krieg zu befürchten gewesen wäre, eine Erklärung vorbereiten lassen, die vom damaligen Generalsekretär der Vereinten Nationen, U-Thant, als Vermittlungsvorschlag hätte präsentiert werden können: einen parallelen Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba und der amerikanischen Raketen aus der Türkei (ein Kompromiß, dem der Präsident öffentlich nicht hatte zustimmen wollen, solange er nur auf einen sowjetischen Vorschlag zurückging
Dieser späte Hinweis von einem Zeitzeugen der Kuba-Krise deutet auf einen bisher noch unzulänglich entwickelten, aber entfaltbaren politischen Erfahrungs-und Gestaltungsbereich hin, in dem sicherheitspolitisches Handeln (und internationale Politik insgesamt) zivilisiert werden könnte: trans-und internationale Organisationen. Wir haben gesehen. daß eine dürftige Interaktionsstruktur sowie entsprechend geringe Erfahrungsträchtigkeit und wenig subjektive Orientierungsmöglichkeiten in den internationalen Beziehungen zur apostrophierten Logik und der entsprechenden Roheit hier wirksam werdender psychologischer Mechanismen beitragen. In einer Situation, die dem Machtstreben und dem Gruppennarzißmus vermeintlich keine Grenze setzt, kann man sich — wie im Fall Kennedys und auch Chruschtschows — oft nur insgeheim einer solchen Grenze verpflichtet wissen. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung transnationaler Kooperation und internationaler Organisationen von großer Bedeutung. Ihnen kommt nicht nur die Chance zu. eine schiedsrichterliche oder vermittelnde Rolle zu übernehmen; ihnen kommt vor allem die Bedeutung zu. Erfahrungsräume bereitzustellen in denen interkulturell über Konflikt-wahrnehmung und Konfliktverarbeitung gelernt werden kann. Sie können dabei die Chance bieten, emotional und kognitiv reife Haltungen in den internationalen Beziehungen zu fördern. So betrachtet, können internationale Organisationen auch die dargelegte Roheit psychologischer Mechanismen und deren Folgen in den internationalen Beziehungen überwinden helfen. Das setzt allerdings den Abbau der Souveränität im Sinne nationalstaatlicher Entscheidungskompetenz zur Kriegsführung voraus. Die Herausforderung besteht daher darin, den ideell vorhandenen Gedanken weltbürgerlicher Verantwortung so institutionell zu verankern, daß den menschlichen Bestrebungen -er mit zur Selbst bestimmung auf lokaler und regionaler Ebene in Einklang stehen kann.