Annäherungen an ein komplexes Thema
Wir kennen es alle: Ein Seminartag geht in einer politischen Akademie zur Neige. Referate und anschließende Diskussionen mit Experten aus Wissenschaft, Journalistik und Politik sind längst abgelöst worden von zwanglosen Gesprächen der Teilnehmer untereinander. Da und dort streift man dabei den politischen Alltag. Stichworte zu solchen Gesprächen liefern die Nachrichtensendungen der beiden großen Fernsehanstalten. Angebote aus Politik und politischer Bildung werden miteinander verschnitten.
Wie korrespondieren sie aktuell miteinander — Politik und politische Bildung? Sind die Beiträge zur politischen Kultur, die der politischen Bildung abverlangt werden, angesichts aktueller politischer Verhältnisse in der Bundesrepublik realistisch? Und wenn ja, wie kann man auf eine überlebensfähige, menschenwürdige Gesellschaftsordnung hin erziehen, wenn der politische Alltag und die politisehe Kultur defizitär sind?
Die in Rundfunk und Fernsehen einem Massenpublikum übermittelten Mixturen aus Bildern und Texten zum politischen Alltagsgeschäft der weiten Welt und der nahen bundesrepublikanischen Provinz sind Beiträge zur politischen Kultur unserer Gesellschaft — zu ihren Verkürzungen und Verzerrungen ebenso wie zu ihrer Innovationsbereitschaft. Sie hinterlassen beim Zuschauer über „djvu“ -Gefühle den Eindruck, er sei soweit informiert, daß er sich gegebenenfalls auch mit anderen über Politik unterhalten könnte: „Bei ZDF und ARD sitzen sie in der ersten Reihe.“ Doch entspricht die auf dem Bildschirm gegebene Inszenierung von Politik der Wirklichkeit des politischen Alltags? Und: Was bedeutet diese Inszenierung für die politische Bildung?
Da werden oft in rascher Folge bekannte Darsteller gezeigt, deren wiederholter Auftritt ein Gefühl von Bekanntsein auslöst. Akteure und Darsteller von Politik werden in der Regel vor einer Kulisse und in szenischen Arrangements vorgestellt, deren Ausstattung nicht gerade von Einfallsreichtum zeugt. Einige wenige Situationen aus der „Tagespolitik“ werden zu Standardsituationen stilisiert; dazu zählen bevorzugt Interviews mit „Entscheidungsträgern“. Gewiß: In solchen Interviews geben Akteure einem breiten Publikum Stichwörter und liefern Kommentare zu mehr oder weniger bedeutsamen Ereignissen ab. Diese Stichwörter lassen sich vom Zuschauer bzw. Zuhörer leicht als Chiffren identifizieren, die für bestimmte Wertvorstellungen stehen. Und wenn sie einander konfrontiert werden, erfährt man, daß es in der politischen Auseinandersetzung zwischen Parteien, Interessenverbänden und Bürgerinitiativen auch um die Macht zur Durchsetzung bestimmter Ziele geht. Doch wo fallen heute politische Entscheidungen innerhalb und/oder außerhalb des parlamentarisch-repräsentativen politischen Systems? Wie werden Problemlösungen in der Politik gefunden, und wie verhalten sich Anspruch und Wirklichkeit von Politik zueinander? Politische Nachrichten in den Medien geben vor, Tagespolitik zeitnah zu porträtieren. Es gibt aber Themen, die so oft wiederkehren, daß man ihnen schon „permanente Aktualität“ zuschreiben kann. Dazu zählen beispielsweise die Folgen der technologischen Entwicklung u. a. im Sinne von Umwelt-Vernichtung oder gesetzwidrige Übergriffe von Einrichtungen des politischen Systems. Ebenso gehört die Erfahrung dazu, daß Entscheidungen auch in unserer Republik von wenigen und oftmals mit Ignoranz gegenüber den geltenden Verfahrensordnungen getroffen werden.
Wilhelm Hennis hat vor ungefähr 30 Jahren den Begriff der „Zuschauerdemokratie“ geprägt. Doch können in ihr Voraussetzungen für eine menschenwürdige und überlebensfähige Gesellschaft überhaupt geschaffen werden? Welche Rolle kommt der politischen Bildung bei der notwendigen Umorientierung der Gesellschaft zu? Sicherlich lassen sich mit Manfred Hättich unbestrittene Ziele von Politik formulieren wie:
„— die Verhinderung des nuklearen Krieges, — die Überwindung des Hungers in der Welt, — die Verhinderung des Zusammenbruchs der ökologischen Lebensbedingungen, — die Verhinderung einer totalen Technokratie, — die Sicherstellung der für das Weiterleben nötigen Ressourcen“
Betrachten wir aber die aktuelle Politik in der Bundesrepublik, so ist die Frage erlaubt, ob und in welchem Umfang die einzelnen Zieldimensionen Gegenstand alltäglichen Handelns von Politikern und Bürgern sind. Oder anders gefragt: Stellt sich derzeit die Politik ihrer originären Aufgabe, das Gemeinwohl zu verwirklichen, das durch Begriffe wie Freiheit und Demokratie näher gekennzeichnet wird? Kann im politischen Alltag der Bundesrepublik die Vorstellung real Gestalt gewinnen, Politik sei als gesellschaftliches Handeln zu verstehen, „welches darauf gerichtet ist, gesellschaftliche Konflikte über Werte (einschließlich materieller Güter) verbindlich zu regeln“ Findet der kritische, teilnehmende Beobachter aktueller Politik in ihr Belegstücke, daß Entscheidungen auf dem Fundament einer politischen Ethik getroffen werden, die die Überlebensfähigkeit unserer Gesellschaft in menschenwürdigen Verhältnissen sichert „in der nüchternen Einschätzung der situativ gegebenen Möglichkeiten und Grenzen und im verantwortlichen Blick auf die Folgen“ (Bernhard Sutor)?
An den Einstellungen der Bevölkerung zur Politik und der Art und Weise, wie sie betrieben wird, sowie am Bild von der Zukunft unseres Gemeinwesens wirken Medien, Politiker und auch die politische Bildung mit. Sie tut dies in dem Sinne, daß sie Kinder, Jugendliche und Erwachsene politisch zu interessieren, umfassend zu informieren und zu Entscheidungen zu befähigen versucht, so daß sie sich aktiv an der Politik als einem Prozeß gesellschaftlichen Handelns beteiligen können. Dabei ist — so ein Konsens in der Zieldiskussion der politischen Bildung — „die Erfahrungsdimension des sich beschleunigenden Wandels zu thematisieren . . . Diese Dimension muß vom Menschen in irgendeiner Weise verarbeitet werden, wenn er nichLvöllig orientierungslos werden soll.“
Ist das überhaupt mit Aussicht auf Erfolg möglich angesichts von Verhältnissen, die nicht nur Jugendliche veranlassen, sich von staatlichen Institutionen abzuwenden? Wie kann politische Bildung sich mit der Vorstellung in Bevölkerung und Politik auseinandersetzen, Soll und Ist einer funktionsfähigen, repräsentativen Demokratie seien bei uns bereits deckungsgleich? Oder: Bedarf es nicht einer politischen Bildung, die sich einer existentiellen Didaktik (Hilligen) verpflichtet? Wie wäre sie möglich angesichts einer politischen Kultur, in der die meisten der derzeitigen opinion leaders das „juste milieu“ sehen, an dem sich die Zukunftsentwicklung Europas zu orientieren habe? Liegt die Perspektive politischer Bildung vielmehr nicht eher darin, wieder einmal zu einer Gesinnungskunde zu degenerieren, die sich auf Beiträge zu einer normativen Ethik begrenzt, weil ein entsprechendes Politikverständnis vorherrscht und ihr eine solche Aufgabe auferlegt? Wer sind schließlich die Zielgruppen solcher politischen Bildung: die Endverbraucher’ von Politik und/oder Multiplikatoren, Bürgerinitiativen und/oder Parteien, Verwaltungsfachleute und/oder Politiker?
Die Perspektiven politischer Bildung in der Bundesrepublik sind im Kontext einer Bestandsaufnahme zu den aktuell gegebenen Verhältnissen in der Politik zu diskutieren. Ebenso sind Anforderungen an die Politik aus den weitreichenden Folgen der Umwälzungen in Technik, Wirtschaft und Gesellschaft im weltweiten Maßstab zu betrachten. Nach meinem Verständnis ist politische Bildung nicht nur als eine Funktion gegebener Politik zu betrachten, sondern sie sollte sich — wie Wolfgang Hilligen einmal formuliert hat — in einem kritisch-konstruktiven Verhältnis zur aktuellen Politik, ihren Leistungen und Defiziten sowie ihren zukünftigen Aufgaben definieren. Im Lichte einer solchen Bestandsaufnahme werden relevante Aufgabenfelder, Formen und Inhalte politischer Bildung Kontur gewinnen können; im Kontext einer solchen Betrachtung sind aber auch ihre Realisierungschancen zu diskutieren.
Politik in den achtziger Jahren (I): Von Interessenkonflikten, Strukturmängeln und dem Bedarf an einer neuen politischen Ethik
Politik ist in der Bundesrepublik in den achtziger Jahren wesentlich von zwei Phänomenen mitgeprägt: Erstens nehmen sich am Rande des politischen Systems in kritischem Verhältnis zu ihm Bürgerinitiativen Problemfeldern der Politik an. Und zweitens greift neben den seit Jahrzehnten etablierten Parteien eine weitere politische Kraft in den politischen Meinungs-und Willenbildungsprozeß ein. Ihrem Selbstverständnis nach wollen die GRÜNEN Katalysator bei politischen Entscheidungen in dem Sinne sein, daß sie als Verstärker der Überlebensinteressen ihrer Wähler die Kritik am Ausbau militärischer, technischer und bürokratischer Groß-projekte im Entscheidungsprozeß forcieren. Den etablierten Parteien halten die GRÜNEN unter Bezug auf Erscheinungen einer „strukturellen Korruption“ (Narr) vor, im Interesse eines einflußreichen militärisch-industriellen Komplexes in einem anderen Sinne als Katalysator tätig zu werden: Sie filterten die negativen Folgen großtechnischer Konzepte aus der öffentlichen Diskussion heraus, um am Bild vom fortschreitenden Erfolg durch Wirtschaftswachstum festhalten zu können. Die Angegriffenen reagieren in der Regel im Rekurs auf ihr — bewährtes — Wertekonzept und sehen ihr Handeln als alltägliche Umsetzung der Anforderungen des Grundgesetzes. Genüßlich fügt man hinzu, daß die grünen Puristen mittlerweile auch mit Versäumnissen, fehlerhaftem Verhalten, ja mit Affären behaftet seien.
Doch auch wenn man die Kritik des politischen Systems der Bundesrepublik nicht auf in allen Parteien vorkommende Versäumnisse, Fehlverhalten, Affären und Skandale reduziert, so sticht nicht nur für den professionellen Begleiter des politischen Alltagsgeschäfts, sondern auch für weite Teile der Bevölkerung im Bild von der Politik der achtziger Jahre der Widerspruch hervor zwischen einer anspruchsverantwortlichen Präsentation und den tatsächlichen Formen und Ergebnissen politischen Handelns. Was das bedeutet, welche Folgen es für politische Bildung hat, sollten wir nun exemplarisch betrachten.
Dazu eignet sich beispielsweise die Bilanz des Umgangs von Regierung und Opposition mit Fragen des Natur-und Umweltschutzes sowie mit Reaktionen der Bevölkerung, wie sie in Meinungsumfragen, aber auch im konkreten Handeln von Interessenverbänden und Bürgerinitiativen zum Ausdruck kommen. Dabei — so meine Annahme — porträtieren wir Politikhandeln in einem Feld der Politik, dem angesichts globaler Entwicklungen höchste Priorität zukommt. Gleichzeitig wird die Frage zu diskutieren sein, die Politik und politische Bildung gleichermaßen herausfordert: Wie können nationale und supranationale Institutionen in den Dienst einer auf das Überleben unter menschenwürdigen Bedingungen gerichteten Politik gestellt werden? Wie sich etwa am Beispiel der Enquete-Kommission zur Parlamentsreform zeigen läßt, können wir davon ausgehen, daß die politischen Institutionen der Bundesrepublik sehr wohl zur Selbstreflexion und zur Annahme konstruktiver Kritik fähig sind. Aus der politikwissenschaftlichen Diskussion über Ursachen und Folgen defizitären Handelns in der Politik sind drei grundsätzliche Betrachtungen den Einzelfallanalysen voranzustellen, damit die Folgen für politische Bildung bemessen werden können: 1. Politik wird nicht bürgemah, sondern bürokratisch-technisch betrieben. Eine Interessenverflechtung zwischen öffentlichen und privaten Bürokratien bestimmt den Verlauf der Entscheidungsprozesse nachhaltig: „Auch eingeschränkt repräsentativ-demokratische Prozesse werden so notwendigerweise zu einem randständigen Phänomen.“ 2. Politisches Handeln erscheint vielen Bürgern in zentralen Lebensfragen abgehoben von ihren Bedürfnissen und den Bedürfnissen der nachwachsenden Generationen. „Politik dieser Art kann bestenfalls anspruchsverantwortlich sein. Sie, die Spitzenpolitiker, tun so als ob. In einer Zeit, da angesichts der nicht mehr kleinräumig faßbaren Probleme das . Prinzip Verantwortung (Jonas) mehr denn je installiert werden müßte, wirksam rundum, fehlt jeder angemessene Unterbau. Denn Verantwortung ohne fest institutionalisierte Kontrollprozesse und dauernd aufgedeckte Kontrollkriterien tönt hohl. bleibt bloße Attitüde.“
3. Angesichts weitreichender Herausforderungen zeigt sich das politische System der Bundesrepublik überfordert. Es gibt eine Kluft zwischen Aufgaben und Leistungsvermögen, die damit zusammenhängt, „daß den neuen Aufgaben keine zusätzlichen Institutionen und Verfahrensformen entsprechen“
Politik angesichts eines sich zuspitzenden Zielkonflikts zwischen Ökologie und Ökonomie Die Reihe der Umweltkatastrophen ist nach Tschernobyl und dem Ozonloch in diesem Jahr durch eine Algenpest in der Nord-und Ostsee fortgesetzt worden. Sie gilt unter Ökologen als Alarmzeichen, daß hier die Umweltbedingungen extrem verändert wurden; die Fakten sprechen eine ein-deutige Sprache: Jahr für Jahr ergießt sich eine Flut von Schadstoffen in die Nord-und Ostsee, darunter lebensbedrohliche Chemiegifte. Millionen Tonnen Dünnsäure werden per Abflußrohr und Spezial-schiffen ins Meer geleitet und rund 100 000 Tonnen Giftmüll Jahr für Jahr auf See verbrannt.
Nur bei spektakulären Anlässen nimmt sich die Politik bei uns dieser Mißstände an. Allenfalls Bürgerinitiativen und die GRÜNEN warnten kontinuierlich unter Hinweis auf Biologen und Meereskundler vor den Folgen einer „Müllkippe Nord-und Ostsee“. Das zuständige Ministerium trat erst an die Öffentlichkeit, als sich die Schadensmeldungen überschlugen. Der Minister erklärte: „Wir haben immer darauf hingewiesen, daß die Nordsee und die Ostsee außerordentlich belastet sind und daß es nötig ist, in einer internationalen konzertierten Aktion diese Belastungen so schnell wie möglich zurückzuführen. Und wir haben diese Zielsetzung national auch verfolgt. Wir sind nicht erst jetzt auf diese Belastungen aufmerksam geworden und fangen nicht erstjetzt zu handeln an, sondern haben das auch in der Vergangenheit bereits getan.“
Die Exekutive gibt sich also kompetent und handlungsfähig. Sie sei sich der internationalen Dimensionen des Problems bewußt gewesen und habe gehandelt. Allein, Adressaten ihres Handelns bzw. weitergehende Interventionen bleiben ungenannt. Aber man erhebt den Anspruch, im stillen gearbeitet. gehandelt zu haben. Doch wie erklärt sich dann die jeweils durchaus scharfe Form situationsgebundener Reaktionen durch das Ministerium?: „ . Scharf begrenzen will er (der Minister, H. -J. L.) schon ab Anfang nächsten Jahres Stickstoffe und Phosphate, die Industriebetriebe und kommunale Kläranlagen in die Flüsse leiten. Doch es wird Jahre dauern, bis nach den Verwaltungsvorschriften, die erst noch ausgearbeitet werden müssen, das Wasser tatsächlich besser gereinigt wird. . Nachdrücklich ist er auch für sogenannte Gewässerrandstreifen, die weder gedüngt noch gespritzt werden sollen. Doch können solche Gebiete nur von den Ländern ausgewiesen werden . . . . Erstmalig einführen will Töpfer eine . Abwasserabgabe für Stickstoff und Phosphate: Wer zu viel davon abläßt, soll zahlen — freilich erst ab 1991. Schlimme Chlor-Verbindungen dürfen weiter fast kostenfrei eingeleitet werden, weil griffige Grenzwerte fehlen. Die . gefährlichen Stoffe sollen von den Industriebetrieben künftig besser zurückgehalten werden — um wie-viel besser jedoch, das sagte der Umweltminister nicht so genau. Noch ist völlig unklar, was als technisch machbar vorgeschrieben werden soll.“ Versuche, die Belastung der Umwelt durch internatio-nale Rechtsvorschriften einzudämmen, sind nach Expertenmeinung bislang gescheitert
Was beim Leser und Fernsehzuschauer bleibt, ist der Eindruck, daß bei den politisch Agierenden zwar guter Wille vorhanden ist, daß Handlungskonzepte aber bereits kurz nach ihrer öffentlichen Ankündigung auf Grenzen stoßen, die zumeist mit „Sachzwängen“ begründet werden. Hinzu kommt die Erfahrung, daß die politische Administration das von Experten ausgebreitete Zusammenhangs-wissen über die Ursachen und Folgen der Umwelt-katastrophen nicht zur Kenntnis nimmt. Offensichtlich entfaltet hier neben anderen Momenten ein Attribut der technikbedingten Umwälzungen in Natur und Umwelt Wirkung, auf das Wolfgang Hilligen aufmerksam gemacht hat: „Weil das alles nur sekundär, schleichend, ungleichzeitig erfahren wird, wirkt es sich auf Bewußtsein und Einstellung, Verhalten und Handeln von einzelnen, aber auch leider der meisten verantwortlichen Politiker, noch kaum, spät, vielleicht zu spät aus.“ Halbherzige Vorgaben von Verwaltung und Politik für die notwendigen Verhaltensänderungen sind aber offensichtlich auch Ausdruck des Dilemmas, in dem sich die Mehrheit der Bevölkerung sieht: Sie schwankt unentschlossen zwischen der Angst vor Umwelt-schäden und dem Wunsch nach einem möglichst ungestörten Leben im Wohlstand.
So weisen die Umweltkatastrophen der letzten Jahre auf einen Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie hin. Er macht im politischen System der Bundesrepublik vor allem den beiden großen „Volksparteien“ zu schaffen. Das geht so weit, daß die niedersächsische Finanzministerin vor kurzem die Regierungsarbeit ihrer Parteifreunde in Bonn auf dem Feld der Umweltpolitik zum Anlaß genommen hat, grundsätzliche Kritik anzumelden: Frau Breuel monierte, daß politisch initiierte Verordnungen wirtschaftlich-technische Möglichkeiten außer acht lassen. So schreibe man den Betrieben zur Emissionsminderung Anlagen auf dem „Stand der Technik“ vor. Doch diejenigen, die durchaus zu einer weiteren Emissionsminderung in der Lage wären, erhielten keinen wirtschaftlichen Anreiz, die damit verbundenen Kosten auf sich zu nehmen. Es fehle an „weitsichtigen Lösungen“, die die Politik anbieten müsse. „Gefragt seien Überschaubarkeit, Schlüssigkeit, Solidität in der Politik, die nicht Taktik, sondern Überzeugung ausstrahlen müsse.“ Als Anwalt von weiterreichenden Interessen „an der Erhaltung des organischen Lebens“ (C. F. von Weizsäcker) hat sich der Bundespräsident bereits in seiner Antrittsrede 1985 mit der Formulierung zu erkennen gegeben: „Fragen wir uns unerbittlich genug, ob aus dem, was wir heute tun, keinem Nachgeborenem ein Schaden entsteht?“ Kritische Beobachter der politischen Szene in der Bundesrepublik kommen angesichts des sich zuspitzenden Konflikts allerdings immer wieder zu dem Schluß, daß sich trotz des gestiegenen Problembewußtseins der Bevölkerung beim Natur-und Umweltschutz im Zweifel Wirtschaftsinteressen durchsetzen
Wie soll politische Bildung damit umgehen? Zum einen ist sie in dieser Sachlage zu Beiträgen zu einer neuen Werteerziehung gefordert, die die Bedeutung solcher Phänomene, ihre Ursachen und Folgen für gesellschaftliches Handeln richtig einschätzen lassen: „Wir haben in unserer geschichtlichen Entwicklung einen Punkt erreicht, von dem an das Moralische und das Überlebensnotwendige schon mittelfristig, zumindest aber langfristig konvergieren; Amoralität ist nicht mehr nur parasitär, sie kann existenzgefährdend werden, wenn die Hungernden aufstehen, wenn die Natur zurückschlägt. Ethik muß auf die Gattung — und nicht nur auf Gruppen — bezogen praktiziert werden.“
Zum anderen hat sich politische Bildung auch mit Lernmustern auseinanderzusetzen, die offensichtlich in Teilen des politischen Systems der Bundesrepublik zu beobachten sind. Unsere freiheitlich-demokratische Ordnung wird nicht allein dadurch bedroht, daß die Grundlage für die Freiheit zur Entfaltung der Person und die Möglichkeit, in politischen Alternativen zu denken und sie zu vertreten, zu Zeiten von Katastrophen gefährdet sind. Vielmehr bedürfen die Entscheidungs-und Verwaltungsinstanzen in der Bundesrepublik kritisch-konstruktiver Anstöße, gegebene „Sachzwänge“ zu hinterfragen, um sich neue Entscheidungs-und Handlungsspielräume erschließen zu können. Hier ist politische Bildung gefordert. Sie sollte Verwaltung, Politik und Bürger miteinander , vernetzen 4. In einem solchen Lernprozeß spielen Bürgerinitiativen und Aktionsgruppen, die eher am Rande des politischen Systems angesiedelt sind, eine bedeutende Rolle. Sie zeigen — indem sie Problemsituationen durch Betroffene . dramatisieren — wachsende Sensibilität für neue Politikfelder, insbesondere im Bereich Umwelt, und thematisieren Probleme lange bevor sie Nachrichtenwert haben bzw.
von parlamentarischen und administrativen Institutionen erfaßt werden. In einer Bilanz zur Entwicklung der Bürgerinitiativen seit Beginn der siebziger Jahre stellt Lutz Metz fest: „Die neuen sozialen Bewegungen haben das Feld der . Neuen Politik bestellt, die traditionellen Klischees von rechts und links aufgebrochen, Etikettierungen wie „fortschrittlich und . reaktionär ins Wanken gebracht.
Nicht die GRÜNEN sind die Vorboten der neuen politischen Landschaft in der Bundesrepublik Deutschland, sondern die neuen sozialen Bewegungen.“ Andererseits zeigt eine steigende Akzeptanz in der Öffentlichkeit und in den Parteien für Forderungen nach einer Verbesserung des Umweltschutzes an, daß das politische System der Bundesrepublik adaptionsfähig ist.
Konturen einer neuen handlungsorientierten Werteerziehung In der politischen Bildung gibt es Vorbehalte gegenüber Formen der Dramatisierung von Problem-situationen. Politisches Handeln als lernende Betätigung steht bei Vertretern einer philosophisch normativen ebenso wie bei Vertretern einer dem kritischen Rationalismus verpflichteten Didaktik unter dem Verdacht, die Befähigung zum rationalen Urteil als Grundlage einer Beteiligung an Politik zu behindern.
Es ist jedoch unstrittig, daß politische Bildung vor der Aufgabe steht, elementare Kenntnisse über die genannten großen Veränderungen und verborgenen Nebenwirkungen des Fortschritts bereitzustellen. Dabei geht es um eine Handvoll Begriffe und damit verbundene neue Zusammenhänge. Zu solchen Schlüsselbegriffen politischer Bildung zählt der der „Vernetzung“: „Anders als der politologisehe Begriff Interdependenz enthält er die Aussage, daß nicht nur politische Entwicklungen zwischen Staaten in Außenpolitik und Innenpolitik miteinander Zusammenhängen, sondern heute alle lebenswichtigen Probleme und Bedingungen für Leben und Überleben, und das häufig in Gestalt des Widerspruchs von Überfluß und Mangel.“ Weitere Schlüsselbegriffe sind die der „externen Kosten“ von Politik für Natur und Gesundheit sowie der Begriff der „sozialen Verträglichkeit“.
Folglich liegt ein Schwerpunkt politischer Bildung, die sich kritisch-konstruktiv mit den aktuellen politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik beschäftigt, in der Befähigung zur Entwicklung und Beurteilung von Problemlösungen. Des weiteren zielt sie auf die Ermutigung zu sozialem Engagement und politischem Handeln. Dazu sollte sie mögliche Optionen anbieten, die politische Grundentscheidungen sichtbar werden lassen. Des weiteren gehört ein Angebot zum Lernen von Methoden dazu, die mit solchen Optionen korrespondieren und rationales politisches Handeln möglich machen. Zu einem solchen Handlungsrepertoire zählt die Fähigkeit, Fragen wie diesen nachzugehen: — Welche Handlungsweisen sind möglich, welche Problemlösungen sind bekannt? Mit welchen Kosten und Folgen sind sie verbunden?
— Wie lassen sich die in der Diskussion befindlichen Lösungswege begründen?
— Wie kann ihnen Zustimmung verschafft werden? Wie können sie in der gegebenen Situation konkret realisiert werden?
— Welche Konsequenzen haben sie für unterschiedlich Betroffene?
— Welche Konsequenzen hat ihr Unterlassen?
Der Aufbau eines Zusammenhangwissens, von politischen Orientierungen und Handlungsbereitschaft bedingt einen ausgeprägten Sinnbezug zwischen den Betroffenen und der Problemsituation. Beispielhaft zeigt das die systematische Auseinandersetzung mit den Anlässen und Formen von Bürgerinitiativen zu politischem Handeln. Sie liefern ein Paradigma, wie eine neue politische Ethik verhaltensrelevant vermittelt werden kann: politisches Lernen im problembezogenen Handeln. Das aber bedeutet, daß Defizite im politischen Alltag der Bundesrepublik nicht nur eine erneute Debatte um die Werteerziehung provozieren, sondern auch eine Debatte um das Verhältnis von politischer Bildung und politischer Aktion.
Charakteristisch für das pädagogische Prinzip handelnden Lernens und das der politischen Partizipation sind beispielsweise die sogenannten Planungszellen. Planungszellen sind Gruppen von ca. 25 im Zufallsverfahren ausgewählten, auf Zeit freigestellten und vergüteten Personen, die gemeinsam mit Experten Empfehlungen zu bestimmten Planungsproblemen einer Region erarbeiten und als „Bürgergutachten“ in den Entscheidungsprozessen einführen. Die bisher erstellten Bürgergutachten und ihre Bedeutung für politische Entscheidungsprozesse belegen, daß die Planungszelle konstruktiv-kritisch das institutionalisierte Verfahren erweitert und Berührungsflächen von politischer Bildung und Politik sichtbar werden läßt. Nicht unwesentlich ist auch, daß Jugendliche und Erwachsene sich in dem gesellschaftlichen Kräftespiel erfahren, „das hinter der Oberfläche seinen Ort hat“ Ein Stück weit setzt dieses Konzept das Plädoyer Adornos in eine pädagogisch-politische Realität um, daß sich politischer Unterricht in Soziologie verwandeln müsse
Politik in den achtziger Jahren (II): Politik im Spiegel von Jugendkulturen
Will man die Herausforderungen der aktuellen Politik an die politische Bildung bemessen, so erscheint es sinnvoll, die bisher gewonnenen Einsichten u. a. am Beispiel der Spuren zu überprüfen, die sie in der politischen Sozialisation junger Menschen hinterläßt. Wenn etwa heute in einer Befragung von Jugendlichen zu wesentlichen Merkmalen des Nationalsozialismus die Arbeitsmarktpolitik des NS-Systems als „einzig wirklich positiv zählender Gesichtspunkt“ Beachtung findet, dann verweist das nicht nur auf ein von der Groß-und Elterngeneration „ererbtes“ Klischee, sondern auch darauf, daß Jugendliche diese Epoche nicht zuletzt aus der Perspektive von Jugendarbeitslosigkeit beurteilen. Der Mangel an Ausbildungsplätzen und an Arbeit ist für viele Jugendliche von existentieller Bedeutung und bestimmt ihre Orientierungen mit. Dies bringen sie in Verbindung mit Handlungen bzw. Unterlassungen der Regierung, wenn sie nach Gebieten gefragt werden, auf denen diese mehr für sie tun könnte
Gewiß — nur die Politik kann hier Veränderungen schaffen. Doch auch mit Unterlassungen gibt sie der politischen Bildung Bedingungen für ihre Arbeit vor: So verneinen 71 Prozent der 15— 24jährigen die Frage: „Tut die Regierung genügend für die Jugend?“ Und auf die Frage nach Parteipräferenzen meldet ein Drittel von ihnen Vorbehalte gegenüber dem Parteienspektrum — einschließlich der GRÜNEN — an. Auch die Opposition schneidet hier nicht viel besser ab: „Die SPD, kaum ist sie in der Opposition, gebe sich gleich wieder ganz progressiv. Sie kämpfe gegen Gesetze und Entscheidungen, die sie selbst in der Zeit der Regierung ins Werk gesetzt hat.“ Unterschiede zwischen der Politik der großen Parteien werden von den Jugendlichen praktisch nicht gesehen: „Egal ob da nun die CDU, die SPD oder die FDP an der Regierung ist, sie machen sowieso alle dasselbe.“ Auf den ersten Blick haben solche Antworten die gleiche Form und denselben Inhalt wie bekannte politische Klischees mit langer Tradition in unserem Land. Doch bei näherem Hinsehen zeigen sich Differenzen, die mir bedeutsam erscheinen: „An dem Ganzen kann man nur sehr schwer was ändern, selbst wenn außerparlamentarisch etwas passiert.
Nehmen wir eine Kraft wie die GRÜNEN. Ich bin 100 Prozent sicher, auch sie werden sich als Bürokratie etablieren. Im politischen Alltagsgeschäft werden sie genauso träge und genauso wenig Impulse aufnehmen und abgeben wie die anderen Parteien . . . Bei Problemen, die dich brennend interessieren, mußt du selbst versuchen, aktiv zu werden.“ Gerhard Kirsch, ein profunder Kenner der Jugendszene, kam Mitte der achtziger Jahre zu folgendem Fazit: „Die Parteien werden den moralischen Ansprüchen der Jugend nicht gerecht . . .
Die heutige Generation fühlt sich von den großen bundesdeutschen Parteien und Politikern nicht ernst genommen. Niemals war die Kluft zwischen ihnen und den Jugendlichen so groß wie in der Gegenwart.“
Dennoch: Politik hat — gegebenenfalls im Zusammenspiel mit der politischen Bildung — auch positive Spuren hinterlassen, an denen Bildungsarbeit ansetzen kann. So zeigt sich, daß „sich die westdeutsche Jugend in den achtziger Jahren zu einer Generation toleranter, liberal gestimmter Demokraten — mit einem Spektrum hin zu radikal-und basisdemokratischen Werten — entwickelt . . . Charakteristisch für die Jugend der achtziger Jahre ist . . ., daß sie sich — teilweise in handgreiflicher Form — mit dem traditionalistisch-autoritativen Stilrichtungen auseinandersetzt und einen jugend-spezifischen Diskurs führt. Dieser Diskurs wird teilweise nicht im Medium der politischen Sprache, sondern in der , Sprache* jugendkultureller Diskurse geführt: Durch soziokulturelle Distinktion in Kleidung, Körperhabitus, Musikvorlieben, Freizeitinteressen.“
Für viele der Jugendliche, für die diese Zuschreibung zutrifft, kann angenommen werden, daß sie sich ein zentrales Lernziel politischer Bildung zu eigen gemacht haben: Als Forderungen an die derzeitige Regierung nennen sie nach der Arbeitsmarktpolitik nahezu gleichwertig: „Mehr für die Freizeit der Jugend tun“ und „Bildungsmöglichkeiten verbessern; damit mehr Chancengleichheit schaffen“ Die Herstellung von sozialer Gerech-tigkeit in Freiheit wird von ihnen als politische Aufgabe ernstgenommen.
/Politische Bildung hat aber gleichzeitig folgende Veränderungen im Bewußtsein junger Menschen zu berücksichtigen, wenn sie mit ihnen diese Zukunftsaufgabe erfolgreich bearbeiten will: Vorherrschend in ihrem Bild von Politik ist, daß es nicht auf staatliche Institutionen fixiert ist, sondern auch privaten Handlungen eine gesellschaftspolitische Bedeutung zumißt: „Gekämpft und gedacht wird in der jüngeren Generation heute zunehmend von einer , Lebensweise — Orientierung*, weniger von einem . Verteilungs-Paradigma* her . . . Die Politik der Lebensweise beginnt weit im Vorfeld des institutionell verstandenen und offiziell als solches geregelten politischen Handelns. Ohne Zweifel birgt ein derart gefaßter Begriff von Politik die Gefahr in sich, lediglich eine modernisierte Neuauflage des unpolitisch im Abseits Stehens darzustellen. Auf der anderen Seite ist es offenkundig ein Mißverständnis, hier nichts anderes als eine privatistische Tendenz heutiger Jugend zu diagnostizieren. Dagegen spricht, daß auf diese Weise (kritische) Ansprüche auch Veränderungen an verschiedene gesellschaftliche Institutionen herangetragen werden . . .“
Fassen wir die Ergebnisse der Jugendstudien der letzten Jahre zusammen, so ergibt sich zwar ein widersprüchliches Bild, dennoch dominiert ein für die politische Bildung bedeutsamer Sachverhält: Im Vergleich zu Entscheidungsträgern aus der Eltern-und Großelterngeneration sind weite Teile der Jugend von heute stärker bereit, sich am politischen Willensbildungsprozesses zu beteiligen. „Nehmen wir beides. Diskurs-und Partizipationsanspruch zusammen. können wir den Unterschied gegenüber den fünfziger Jahren ermessen. Der Jugendliche damals, der sich für Politik interessierte, tat dies mehr als ein interessierter, stummer Zuschauer des Geschehens am Ort, in Deutschland oder in der Welt. Der Aspekt des Zuschauens ist teilweise so geblieben — allerdings handelt es sich um keine stummen Zuschauer mehr. Ansonsten aber hat sich unter Jugendlichen und Erwachsenen eine qualifizierte Minderheit herausgebildet, die offensiv zwei Formen des Handlungsbezugs geltend macht, die miteinander Zusammenhängen: Man möchte Diskursfähigkeit in Sachen Politik, und man möchte — darauf aufbauend — an den Entscheidungen mit partizipieren.“ Das aber bedeutet für die politische Bildung, von der Jugend als Anwalt — gegebenenfalls im Widerspruch zu den bisherigen Hauptklienten Staat und Parteien — in Anspruch genommen zu sein.
Jugendkulturen heute, Politik und politische Bildung: Anstöße zum Demokratie-Lemen
Wie die kritische Jugendforschung hat die politische Bildung in der öffentlichen Diskussion gegenüber der Politik dafür zu plädieren, daß sie die Bekundungen des Verständnisses für die Lage und Interessen Jugendlicher durch Eingehen auf deren Forderungen ergänzt. Die Politik hat der Daseinsvorsorge für junge Menschen, d. h. zugleich den Zukunftsaufgaben der Gesellschaft Priorität einzuräumen. Nach dem Politikverständnis der Jugendlichen, die an der Weiterentwicklung unseres freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens interessiert sind, geht es nicht nur darum, ihre Interessen an Bildungs-und Freizeitangeboten gegen Partikularinteressen anderer Gruppen durchzusetzen; vielmehr sehen sie in Initiativen beispielsweise zur Entgiftung und zur Renaturierung der Umwelt einen Beitrag zu ihrer eigenen und zur Daseinsvorsorge unserer Gesellschaft insgesamt.
Politische Bildung ist im wohlverstandenen Interesse aller Bürger in erster Linie Anwalt einer freiheitlich-demokratischen Ordnung — und dies auch angesichts eines fehlenden Verständnisses für die Schwierigkeiten des demokratischen Prozesses nicht nur in der Jugend, sondern auch in der erwachsenen Bevölkerung. Entsprechend hat sie bei Staat, Politik, Wirtschaft, Massenmedien und Bürgern kommunikative Bedingungen zu erstreiten, so daß im Blick auf eine menschenwürdige und über-lebensfähige Gesellschaft ein Arbeitsbündnis gestaltet werden kann. Das aber rückt die Entwicklung der Bereitschaft und der Fähigkeit zum Dialog in das didaktische Zentrum pädagogischer Angebote. Der Dialog ist die grundlegende Form des Demokratie-Lernens. Um ihn realisieren zu können. bedarf es veränderter Formen der Kommunikation in unserer Republik, wie Manfred Hättich zutreffend festgestellt hat Ein bewußtes Zusammenwirken von Politik und politischer Bildung, Wissenschaften und Massenmedien sei gefordert, damit sich Politikvermittlung als Kommunikationsprozeß den grundgesetzlich vorgegebenen Aufgaben stellen kann.
Wir wollen diese Forderung einlösen und lassen uns dabei vom jüngst verstorbenen Nestor der politischen Wissenschaften und der politischen Bildung, Eugen Kogon, anregen. Er hat in einem Gespräch, das ich vor seinem Tode mit ihm führen konnte, darauf verwiesen, daß Demokratie und die ihr eigenen Formen und Methoden der Partizipation in einem permanenten Lernprozeß von der Kindheit an positiv verstärkt erfahren werden müssen, um handlungsrelevant werden zu können. Für den politischen Alltag hat er als komplementär-kritische Instanz gegebener Institutionen die Einrichtung von „Republikanischen Clubs“ vorgeschlagen, zu denen alle Bürger Zugang haben sollten. Sie stellen eine Plattform dar, auf der alle möglichen Beteiligten am politischen Willensbildungsprozeß Tagespolitik evaluieren können. Auch die Entwicklung der neuen Medien eröffnet — wie Experimente mit dem Bürgerfernsehen und dem „Offenen Kanal“ zeigen — in diesem Sinne interessante Organisationsformen und Handlungsperspektiven für die politische Bildung. Das oben erwähnte Konzept der „Bürgergutachten“, die in den politischen Willensbildungs-und Planungsprozeß eingegeben werden, stellt ein weiteres Beispiel dafür dar, wie Demokratie-Lernen realisiert werden kann.
In solchen kommunikativen Kontexten wird es möglich sein, auf konkrete Vorhaben aus dem Erfahrungsfeld der Beteiligten hin Politikhandeln argumentativ zu überprüfen. Dabei sind Ambivalenzen im politischen Alltagsgeschäft von allen Beteiligten auszuhalten, alternative Szenarien für die „Tagespolitik“ unter Bezug auf die Zukunftsaufgaben der Gesellschaft zu entwickeln und zu überprüfen. Insbesondere wird zu klären sein, welche Eingriffe in Entscheidungsprozesse politische Teilhabe ermöglichen. Damit wird der politische Lernprozeß selbst zum Gegenstand von Analyse und Weiterentwicklung. Wer glaubt. Jugendliche seien von dieser Aufgabe überfordert, täuscht sich. Vielmehr ist — nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse von Jugend-studien — anzunehmen, daß die Jugend das notwendige Innovationspotential bereit hält, damit unsere freiheitlich-demokratische Ordnung weiterentwickelt werden kann: „Gegenüber Erwachsenen sind die Jugendlichen im Durchschnitt sensibler in der Wahrnehmung zukünftiger Gefahren; über die Wege, diesen Gefahren zu begegnen, herrscht allerdings ebenso Uneinigkeit bei ihnen wie bei den Erwachsenen. Es erscheint wenig sinnvoll. Jugendliche auszugrenzen, weil sie andere Wege der Gefahrenbewältigung für wichtig halten als dies die Mehrheit der Erwachsenen tut. Das offenbar gestiegene Interesse der Mädchen an Politik und die Erweiterung des politischen Handlungsspektrums sind hoffnungsvolle Anzeichen dafür, daß die Zukunft der Gesellschaft bei den Jugendlichen in guten Händen liegt.“
Auswirkungen von „Tagespolitik“ auf die politische Bildung und deren Aufgabe des „Demokratie-Lernens"
Skandale und Affären in der Politik liefern täglich neuen Stoff, anhand dessen sich das Vorurteil bekräftigen ließe, Politik sei ein schmutziges Geschäft. Die Rückwirkungen auf das politische Bewußtsein der Bevölkerung äußern sich in Parteiverdrossenheit und politischer Apathie. Insbesondere die etablierten Parteien stehen im Verdacht, sich den Staat zur Beute gemacht zu haben. Auch die politische Bildung als institutionalisiertes Angebot ist tangiert, ihre Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit sind beeinträchtigt. Was ist zu tun?
Als Profession hat politische Bildung vermehrt Gelegenheiten zu bieten, daß Bürger sich (wieder) an der Tagespolitik beteiligen. Tendenzen zu einem Beuteverhalten von Parteienvertretern, ja zu einem „neuen Feudalismus“ sind zum Gegenstand politischer Bildung zu machen. Dabei sind die Parteien einzubeziehen und zu mahnen, um einer Sicherung der freiheitlich-demokratischen Ordnung im Bewußtsein der Bürger willen an ihrem Erscheinungsbild, d. h. an ihren Defiziten zu arbeiten. Anstelle der Überbetonung anspruchsethischer Formeln sollte die politische Bildung dabei das Verständnis für die Schwierigkeiten des demokratischen Prozesses angesichts der Zukunftsaufgaben unserer Gesellschaft in den Mittelpunkt stellen. Das setzt voraus, daß politische Bildung als Profession von Bürgern und Parteien respektiert wird. Im Interesse einer Steigerung der Anerkennung und der Wirksamkeit stünde es der politischen Bildung gut an, ihre Professionalität weiterzuentwickeln und Prinzipien wie die der Meinungsvielfalt und des kontroversen Denkens sowie das Überwältigungsverbot als objektivierbare Kriterien öffentlich auszuweisen. Vielleicht sollte sie sich zu diesem Zweck ein plural besetztes Sachverständigengremium — analog dem Presserat — geben.
Im politischen Leben der Bundesrepublik wird es 1989 des öfteren Rückblicke auf 40 Jahre Geschichte seit der Staatsgründung geben. Aus der Sicht der politischen Bildung wären die Politik und die Parteien gut beraten, bei allen Leistungen, die ohne Zweifel beim Aufbau und der Entwicklung eines freiheitlich-demokratischen Staatswesens erzielt wurden, sich daran zu erinnern, daß viele Hoffnungen der „Väter und Mütter des Grundgesetzes“ auf Bürgerbeteiligung und innerer Parteienentwicklung noch nicht erfüllt worden sind. Sie können nach wie vor als Richtschnur dienen, unsere Gesellschaft angesichts der vor ihr liegenden Zukunftsaufgaben menschenwürdig zu gestalten. Erinnern für die Zukunft könnte Nachdenklichkeit und Bereitschaft zu mehr verantwortlicher Partizipation nach sich ziehen. Der politischen Bildung kann dabei — in relativer Autonomie von Staat und Parteien — eine wichtige Mittler-Funktion zukommen.
Korrekturhinweis: In dem Beitrag von H. Kubicek/B. Mettler-Meibom: „Alternative Entwicklungspfade der Telekommunikationspolitik“ (B 46-47/88) muß auf S. 31 die Reihenfolge der zu den abgebddeten Graphiken gehörenden Legenden lauten. 1. Breitband-Verteilnetze, 2. Fernsprechnetz, 3. Integriertes Text-und Datennetz (1DN).