I. 1945 bis 1948: „Stunde Null“ — erlebte „reeducation“
Wenn Jubiläen oder auch andere, weniger zum Jubeln Anlaß bietende Gedenktage „begangen“ werden, hat es irgendwann einen Anfang gegeben — ein Jahr, einen Tag oder eine Stunde Null. Seit es mich persönlich betrifft, fällt mir auf, daß 40 Jahre offenbar (neuerdings?) ein besonders (ge-) denkwürdiger Zeitraum sind; und manchmal, wenn zur amtlichen Ermittlung des Datums alle möglichen Zeiten aus-und angerechnet werden, kommen verblüffende Ergebnisse dabei heraus. So war ich denn überrascht und vermutete zunächst einen Irrtum, als ich vor einigen Jahren aus der Hand unseres Universitätspräsidenten eine Urkunde erhielt, durch die mir der Niedersächsische Minister für Wissenschaft und Kunst „für 40jährige gewissenhafte Pflichterfüllung im öffentlichen Dienst zum Wohle der Allgemeinheit den Dank des niedersächsischen Landesministeriums“ aussprach. Sie trug das Datum „ 5. Juni 1985“ — und ich dachte 40 Jahre zurück, zuerst eher amüsiert, dann zunehmend betroffen:
Gerade eben 19 Jahre alt geworden und doch seit einigen Monaten Offiziersanwärter mit „Tapferkeitsauszeichnungen“, befand ich mich mit Tausenden und Abertausenden von „Kameraden“ auf alte Lastwagen gepfercht auf dem Wege in britische Internierung, verdreckt, verlaust, ruhrkrank und von Hunger gequält — doch froh, daß es nicht die russische Kriegsgefangenschaft war. Es war zugleich das Ende einer zwölf Jahre währenden Herrschaft, die unsere ganze Schul-und Jugendzeit ausgefüllt hatte und uns daher wie hundertprozentige Produkte ihrer Erziehung erscheinen ließ: nichts gelernt, außer „Soldat“, kein gültiges Abitur, keine Zukunftsperspektive — wie all die anderen auch.
Klingt es nicht wie Ironie, wenn mir die Regierung eines Landes, das es im Juni 1945 nicht einmal als Idee gab, vorrechnet, genau an diesem Tage mit der gewissenhaften Erfüllung meiner Pflichten im öffentlichen Dienst zum Wohle der Allgemeinheit begonnen zu haben? Und doch wurde mir gerade durch das Nach-Denken über diese „Stunde Null“ erst bewußt, daß nicht nur mein persönlicher Lebensweg, sondern auch das Schicksal meiner Generation, d. h.derer, die 1933 zwischen fünf und zehn Jahre alt waren, auf eine ganz besondere, typische Weise mit der Geschichte der Bundesrepublik verflochten und mithin ein Stück politischer Bildung ist: von der „reeducation“ über die kritischen spät-sechziger Jahre bis zum gegenwärtigen 40jährigen Jubiläum der Bundesrepublik Deutschland eben nicht ganz zufällig zusammenfallend mit den Zäsuren und Wendepunkten ihrer Geschichte.
Es ist, glaube ich, weder Verdrängung noch Verklärung, wenn mir die ersten Nachkriegsjahre bis zur (fast) alles verändernden Währungsreform trotz (oder vielleicht wegen) der oft beschriebenen materiellen Not als eine Zeit der Zuversicht, Zielstrebigkeit und eines neuen Freiheitsgefühls in Erinnerung ist. Es resultierte nicht nur aus der Gewißheit, daß keine Menschen mehr durch „Kriegshandlungen“ starben, daß eine neue Fensterscheibe nicht durch den nächsten Bombenangriff wieder zerstört wurde oder beim Erzählen eines politischen Witzes keine Verhaftung mehr drohte. Es beruhte vielmehr auf der langsam wachsenden Sicherheit, daß die Millionen von Heimatvertriebenen, die außer den Millionen von Ausgebombten ein Dach über dem Kopf suchten und Nahrung wie Bekleidung brauchten, letztlich ohne die durchaus möglichen und von vielen befürchteten Spannungen und Konflikte integriert wurden. Dieses Flüchtlingswunder, nicht das sogenannte Wirtschaftswunder, ist die größte Leistung der Nachkriegsgesellschaft, weil es die Leistung aller war, nicht nur einiger Politiker, und zum wenigsten das Resultat von Schulunterricht oder gelenkter politischer Bildung.
Diese konzentrierten derweil ihre Bemühungen auf die Bewältigung der Vergangenheit, die nach Maßgabe der Alliierten mit dem pädagogischen Konzept der „reeducation“ und der juristisch-administrativen „Entnazifizierung“ mehr und mehr den Deutschen selbst überantwortet wurde. Zwar schien meine Generation, die sämtliche Institutionen der nationalsozialistischen Erziehung vom Jungvolk bis zur Wehrmacht durchlaufen hatte, in erster Linie betroffen zu sein, aber die meisten von uns brauchten weder amnestiert noch entnazifiziert zu werden; die Nazis hatten die wirksamste Entnazifizierung selbst betrieben durch ihre permanente und penetrante Indoktrination, die schließlich unter dem Eindruck der Wirklichkeit des Krieges ins Gegenteil umgeschlagen war. Aber in ähnlicher Weise wirkte auch die Aufklärungs-und Umerziehungspropaganda der Siegermächte besonders im Zusammenhang mit den Nürnberger Prozessen zumindest ambivalent, weil sie den Eindruck von Unverständnis und auch Rachegefühlen eher verstärkte als minderte. Um so überraschender war die Feststellung, daß es, abgesehen von einigen prominenten „Goldfasanen“, offenbar überhaupt keine „Nazis“ gegeben hatte. Und dabei haben wir sie doch alle gekannt, unsere Nachbarn, unsere Lehrer, die Politischen Leiter (PO = „P Null“) vom Blockwart über den Ortsgruppen-bis zum Kreisleiter, die Kaufleute, die schon vor 1938 keine Juden mehr in ihr Geschäft ließen, die Pfarrer, die das „Amen“ mit „Heil Hitler“ verbanden und auch jene, die ihre hohen Stellungen in der Justiz, in der Stadtverwaltung, in den Wirtschaftskammern oder im Bildungswesen durch heuchlerischen Opportunismus bewahrt hatten. Aber wir wußten auch genau, wer sich auch unter der Tarnung des Parteiabzeichens nicht hatte korrumpieren lassen und ein „Antinazi“ geblieben war.
Während die praktische Entnazifizierung durch Spruchkammerverfahren mit „Persilscheinen“ allmählich, dann, Anfang der fünfziger Jahre, ziemlich plötzlich damit endete, daß fast alle als „Mitläufer“ oder gar Nichtbetroffene wieder auf ihren alten Platz zurückkehrten oder neue einnahmen, bemühten sich die Schulverwaltungen in den Bundesländern darum, „Nationalsozialismus“ in irgendeiner Form in der Schule bearbeiten zu lassen. Damit wurde oft der Bock zum Gärtner gemacht, denn zumindest an den Gymnasien gab es Absolventen der Universitäten bis etwa 1950 so gut wie gar nicht, und wenn, dann waren ihre Professoren oft dieselben gewesen, die vor und nach 1933 die Lehrer ihrer Lehrer gewesen waren und nun ihre eigene Vergangenheit „bewältigen“ sollten. Man muß sich die — damals sehr häufige — Situation noch einmal verdeutlichen: Eine Schulklasse, die 1942 im Alter von zehn Jahren in das Gymnasium eingetreten war und fast drei Jahre lang Durchhalteparolen und Treuebekenntnisse so viel wie Bomben über sich ergehen lassen mußte, trat im Jahre der Währungsreform in die Oberstufe des Gymnasiums ein, um sich auf das Abitur im Jahre 1951 vorzubereiten — und das mit denselben Lehrern! Überdies hatten die Alliierten vorsichtshalber den Geschichtsunterricht zunächst einmal ganz ausgesetzt.
II. 1948 bis 1952: Anfänge einer politischen Didaktik
Die Währungsreform machte auch dies möglich: Überraschend, buchstäblich über Nacht, wurde mir mitten im Semester ein Studienplatz an der Universität Göttingen angeboten, den ich annehmen konnte, weil mein Vater ein festes Gehalt bezog, nunmehr in harter D-Mark. Mein Ziel stand längst fest: Lehrer an einem Gymnasium mit den Hauptfächern Deutsch und Geschichte; Fächer, die in Göttingen mit den Trägem bekannter Namen vertreten waren, Hermann Heimpel und Percy Ernst Schramm zum Beispiel; aber auch der Pädagoge Erich Weniger gehörte zu denen, die ich zu meinen Lehrern wählte.
Im Wintersemester 1948/49, während in Bonn der Parlamentarische Rat seinen Auftrag erfüllte, für den westlichen deutschen Staat eine Verfassung zu entwerfen, erarbeitete ich die Grundlagen meiner wissenschaftlichen Arbeit u. a. in einer Vorlesung über „Höfische Epik“, die der junge Privatdozent Hans Neumann hielt. Im Mittelpunkt stand das Nibelungenlied, und das Auditorium vernahm mit Verwunderung, dieses allen deutschen Gymnasiasten als größtes literarisches Kunstwerk bekannte Epos sei von den Alliierten auf den Index der für den Schulunterricht verbotenen Literatur gesetzt, dürfe als gefährlicher Ausdruck deutscher Helden-und Untergangsideologie folglich künftigen Generationen nicht mehr vermittelt werden. Dagegen sei es ihm, dem Forscher und Lehrer an der Universität (der im übrigen nachweislich eher Verfolgter als Sympathisant des NS-Regimes gewesen war, dies freilich nicht zu äußern pflegte), nicht zu verwehren, sich mit Literatur wissenschaftlich auseinanderzusetzen.
Die Art und Weise, wie hier ein Germanist die Methoden der Textkritik und Hermeneutik demonstrierte, setzte jeden Mitdenkenden in die Lage, sich am Ende ein eigenes Urteil über den Wert des Werkes als „Bildungsgut“ zu bilden, so daß der Dozent seine Konsequenz nur anzudeuten brauchte: Wer aufgrund seiner wissenschaftlichen Erkenntnis zu der Überzeugung gelangt, daß Dichtungen von hohem künstlerischen Wert wie das Nibelungenlied zur Bildungstradition gehören, möge auch den Mut beweisen, unsinnigen Lehrverboten und obrigkeitlichen Zensuren entgegenzutreten. Wissenschaftliche versus politische Legitimation — erste Ansätze zu einer politischen Didaktik: Was als Bildungsgut in die Schule Eingang findet, darüber wird zwar politisch, d. h. unter Anwendung von Macht, entschieden; aber es ist der Kem des Selbst Verständnissen von Wissenschaftlern, ob und in welcher Weisesie mit ihrer Kompetenz in diese Entscheidungsprozesse eingreifen wollen oder glauben eingreifen zu müssen.
Daß aber eine Fachwissenschaft als solche nicht in der Lage ist, von sich aus über Inhalte von Schulunterricht zu bestimmen, hat in diesen entscheidenden Jahren der Konstituierung der Bundesrepublik niemand mit so großem Nachdruck geäußert wie Erich Weniger, der seine geisteswissenschaftliche Theorie der Bildungsgüter, besonders die „Grundlagen des Geschichtsunterrichts“, schon seit der Mitte der zwanziger Jahre, auch während der NS-Zeit, entwickelt hatte und nun als Berater die bildungspolitischen Konzeptionen des neuen Staates wesentlich beeinflußte. Was heute allen Didaktikern selbstverständlich und geläufig ist. war damals selbst für die — relativ wenigen — künftigen Philologen, die außer ihrem Fachstudium auch eine pädagogische Qualifikation für sinnvoll hielten, nur schwer zu verstehen: Wissenschaft und Unterricht (in der Schule) stehen nicht im Verhältnis von Begründung und Anwendung zueinander; denn die Schule ist kein Transformator, der wissenschaftlichen Stark-in pädagogischen Schwachstrom verwandelt, wie Her-man Nohl, Wenigers ebenfalls noch in Göttingen aktiver Lehrer, es ausgedrückt hat.
Für den — im Rahmen einer Allgemeinbildung (nach Weniger) zentralen — Geschichtsunterricht bedeutet das: Die Forschung stellt Tatsachen fest. und zwar aufgrund von Anforderungen, die an sie gestellt, und Erwartungen, die an sie gerichtet werden. Im Unterricht dagegen wirken a priori Bildungsmächte, von denen, zumindest in der Neuzeit, der Staat der wichtigste ist. Die Geschichte des Geschichtsunterrichts lehre, daß er immer denjenigen gedient habe, die Verantwortung vor der Geschichte übernehmen, indem sie selbst geschichtsbildend, d. h. in die Zukunft hinein handeln: im Mittelalter die Ritter, später der höfische Adel, in der Neuzeit das Bürgertum und nun, im Zeitalter der Demokratie, alle Staatsbürger.
Wenigers überspitzt formulierte Prämisse — „Geschichtsunterricht ist nur da, wo ein Staat ist“ — veranlaßte ihn zum Umkehrschluß, daß jeder Staat den Geschichtsunterricht brauche, weil sich in ihm, d. h. im Bewußtsein der Adressaten als den künftig handelnden Subjekten, Vergangenheit und Zukunft begegnen. Wenigers These, daß Geschichtsbewußtsein politisches Handeln legitimiert, ist nun wahrhaftig nicht originell und wurde in brilliant modifizierter Form zur selben Zeit u. a. von Hermann Heimpel („Der Mensch in seiner Gegenwart“) wiederholt; aber dieses originär politikwissenschaftliche Dogma gerade jetzt, wo zwei neue deutsche Staaten das frühere „Deutsche Reich“ beerbten, in das Bewußtsein der politischen Entscheidungsträger zu rufen, war eine bildungspolitische Tat, vor allem wenn man bedenkt, daß es das Fach Politikwissenschaft zu dieser Zeit an deutschen Universitäten (noch) nicht (wieder) gab.
III. Gemeinschaftskunde versus Politikunterricht
Die Politikwissenschaft wurde, wie hinreichend bekannt ist, Anfang der fünfziger Jahre als Instrument der „reeducation“ (Demokratie-Wissenschaft) an den Universitäten eingerichtet, um Studierende aller Fakultäten, d. h. die künftige akademische Führungsschicht, im Sinne eines Studium generale politisch zu bilden. Aus diesen Erwartungen heraus entwickelten die ersten Inhaber der Lehrstühle ihre Ansprüche an Wissenschaftlichkeit, u. a. Dolf Sternberger, Franz Neumann, O. H. von der Gablentz, Ossip K. Flechtheim, Arnold Bergsträsser, Ernst Fraenkel, Wolfgang Abendroth. Es waren Wissenschaftler unterschiedlicher Herkunft — Juristen, Historiker, Volkswirtschaftler, Philosophen — und deshalb empfahlen die Kultusminister in den am 15. Juni 1950 verkündeten „Vorläufige(n) Grundsätze(n) zur politischen Bildung an den Schulen und Hochschulen“ den Universitäten u. a.: „Der Lehrstuhl (also nur einer pro Universität! E. -A. R.) wird derjenigen Fakultät zugeordnet, die der bisherigen wissenschaftlichen Arbeit des Inhabers am nächsten steht.“ Oft war das die Philosophische, manchmal auch die Rechts-und Staatswis-senschaftliche Fakultät, z. B. in Göttingen (Gerhard Leibholz).
Während an den Universitäten vorläufig an die Ausbildung von Fachlehrern für politischen Unterricht an Gymnasien nicht gedacht wurde, hatte sich an den damals überall noch eigenständigen Ausbildungsstätten für Volks-und Mittelschullehrer inzwischen aus der Pädagogik und der Allgemeinen Didaktik eine Didaktik der politischen Bildung entwickelt, die zwar auch nicht auf die Ausbildung von Fachlehrern zielte, aber immerhin voraussetzte, daß es an den Schulen ein Fach gibt, das in besonderer Weise der politischen Bildung dienen soll. Es hieß meist „Gemeinschafts-“, „Sozial-“ oder auch „Gegenwartskunde“; es zu unterrichten, wurde den traditionell nicht fachspezifisch ausgebildeten Lehrkräften ebenso zugemutet wie der Unterricht in Musik, Sport und allen anderen Elementarfächern. Die Konzeption dieser Didaktik entwickelten namhafte Pädagogen wie Theodor Litt, Wilhelm Flitner, Eduard Spranger, Adalbert Weinstock oder, etwas später, Wolfgang Klafki; ihnen folgten die Fachdidaktiker, von denen die Hessen Wolfgang Billigen (Volks-und Realschulen), Kurt Gerhard Fischer (Berufsschulen) und Rudolf Engelhardt (Lehrerfortbildung) wegweisend und mangels eigener Konzeptionen auch an Gymnasien rezipiert wurden.
Es bleibt als Fazit die Feststellung, daß die Universitätsdisziplin Politikwissenschaft und die als Fach-didaktik eingerichtete politische Bildung ihrer Herkunft und ihren Zielen nach grundverschieden waren und sich auch nicht aufeinander zubewegten, als später, in den sechziger Jahren, auch an den Pädagogischen Hochschulen Lehrstühle für Politikwissenschaft eingerichtet wurden. Eher trat das Gegenteil ein, weil die Inhaber, meist an den Universitäten in Politikwissenschaft Habilitierte, nicht Fachlehrer ausbilden, sondern Politik als Grundlagenwissenschaft für Pädagogen lehren sollten.
Ich muß gestehen, daß ich während meines Studiums bis zum Eintritt in den Vorbereitungsdienst im Frühjahr 1952 von dieser Entwicklung wenig wahr-nahm, obwohl ich durch Erich Weniger, dessen außeruniversitäre politische Aktivitäten uns nicht verborgen blieben, mehr als andere auf die Probleme eines politischen Geschichtsunterrichts und der politischen Bildung vorbereitet war. Es überraschte mich daher nicht, daß an den Gymnasien statt der in der Weimarer Republik bekannten „Staatsbürgerkunde“ nun „Gegenwartskunde“ gelehrt und dieser Unterricht den Geschichtslehrern aufgetragen wurde. Zwar wußten auch die Fachleiter am Studienseminar nicht, welche Inhalte gelehrt werden sollten, aber dafür war ihnen rechtzeitig das Ziel offenbart worden: „Erziehung zur Partnerschaft“, und Friedrich Oetinger hieß ihr Prophet. Toleranz, Fairneß, Achtung vor den Mitmenschen und Menschenrechten waren die erstrebten Tugenden; vom Leben in der Gemeinschaft war viel, von
Staat und Politik nur insoweit die Rede, als die Nazis und die Kommunisten diese Werte korrumpiert, pervertiert und geschmäht hatten. Sogar für die diesbezügliche Gemeinsamkeit der roten und der braunen Verbrecher gab es einen wissenschaftlichen Begriff: Totalitarismus. Im übrigen enthielten die Lehrbücher, die ersatzweise aus den Volks-und Realschulen in die Unter-und Mittelstufe des Gymnasiums übertragen wurden, das, was ihre Titel versprachen: „Miteinander — Füreinander“, „Einer für alle — alle für einen“ oder auch „Du und die Gemeinschaft“.
Daß die Bilanz dieser fünfziger Jahre trotzdem nicht völlig negativ ausfällt, liegt daran, daß einerseits die meisten Lehrkräfte durchaus guten Willens waren, politische Bildung zu leisten, andererseits mehr und mehr Hilfen von außen angeboten wurden. Dabei ist an erster Stelle die Bundeszentrale für Heimatdienst zu nennen, deren Namenswechsel 1963 (Bundeszentrale für Politische Bildung) den sich abzeichnenden Bewußtseinswandel bei Lehremund Politikern programmatisch ausdrückte. In den Schulen etablierte sich ein wie auch immer benanntes Fach in Form von Stunden-und Lehrplänen, Richtlinien und vor allem durch verstärkte Berücksichtigung in der Lehrerfortbildung, wobei auch die inzwischen überall entstehenden Landes-zentralen für politische Bildung durch Veranstaltungen und Publikationen für die Hand von Schülern und Lehrern erfolgreich mitwirkten. Hier begegneten sich auch zuerst die Politikwissenschaftler der Universitäten und die Didaktiker der lehrerausbildenden Hochschulen. Und so begann, etwa Anfang der sechziger Jahre, das, was aus heutiger Sicht auch bedenkliche Tendenzen aufwies und vielleicht sogar zu einer Fehlentwicklung geriet; ich meine die Verwissenschaftlichung der politischen Bildung.
IV. Die Verwissenschaftlichung der politischen Bildung
Auch hierfür scheint mir mein persönlicher Werdegang typisch oder zumindest symptomatisch zu sein: Durch die Saarbrückener Rahmenvereinbarung (1961) wurde an den Oberstufen der Gymnasien unter der Bezeichnung „Gemeinschaftskunde“ ein fächerübergreifender Unterricht eingerichtet, der Geschichte, Erdkunde und Sozialkunde problem-bzw. themenorientiert zusammenfassen sollte. Indessen gab es noch immer keine sozial-oder politikwissenschaftlichen Fachlehrer, so daß die damit in der Regel betrauten Erdkunde-und/oder Geschichtslehrer vor allem hinsichtlich der politischen Relevanz der Themen dilettieren bzw. auf wissenschaftlichen Anspruch verzichten mußten. Um diesem Mangel abzuhelfen, bemühte ich mich um ein politikwissenschaftliches Kontaktstudium, als an der Technischen Hochschule meiner Heimat-und Arbeitsstadt (Braunschweig) endlich auch ein Lehrstuhl für Politikwissenschaft eingerichtet wurde.
Abgesehen davon, daß die Schulverwaltung für ein solches Kontaktstudium keine Notwendigkeit sah und daher nicht einmal einer Stundenverlagerung zustimmte, sah sich auch der Lehrstuhl nicht in der Lage, sein Angebot auf Bedürfnisse von Fachlehrern einzustellen, zumal es in Niedersachsen noch nirgendwo eine facultas docendi für ein entsprechendes Unterrichtsfach an Gymnasien gab. Bestenfalls mit einer Promotion zum Dr. phil. hätte ich ein solches Studium abschließen können, wurde mir bedeutet. Da ich diesen Grad bereits hatte, klingt es heute fast wie Ironie, daß mir schließlich der Politikwissenschaftler einer hessischen Universität den verblüftenden Rat gab, meine behauptete Kompetenz für Politikwissenschaft durch eine Habilitation in diesem Fach, am besten bei Leibholz in Göttingen, nachzuweisen. Ein Stipendium der DFG erlaubte mir, mich zu diesem Zwecke vom Schuldienst beurlauben zu lassen.
Das Jahr 1965 hatte die nächste entscheidende Wende eingeleitet, die ihren Scheitelpunkt Ende 1968 erreichte. Es begann mit der Aufsehen erregenden Veröffentlichung der „Didaktik der politischen Bildung“ von Hermann Giesecke, der — bemerkenswert genug — als Pädagoge zum ersten Male „Kategorien der Begegnung mit dem Politischen“ einer didaktischen Konzeption zugrunde legte: neben Macht, Recht, Interesse, Geschichtlichkeit u. a. vor allem und zuerst den Konflikt, weshalb für die nächsten Jahre allen Didaktikern, die hierin eine originäre Kategorie des Politischen anerkannten, von ihren Gegnern das diffamierende Etikett „Konfliktdidaktik“ angeheftet wurde. Als dann, 1967/68, tatsächlich der politische Konflikt ausbrach, der die bisher tiefste Zäsur in der Geschichte der Bundesrepublik und der politischen Bildung bedeutete, schien es für ihre Kritiker erwiesen, daß dies das Resultat der Konfliktdidaktik war. Als ihr Urheber galt die Frankfurter Schule (mit der Hermann Giesecke wirklich nichts zu tun hatte), die allerdings in ganz anderer Hinsicht die Diskussion um die Wirksamkeit, besser: die bisherige Unwirksamkeit der politischen Bildung angefacht hat durch eine Reihe empirischer Untersuchungen von Sebastian Herkommer, Manfred Teschner und anderen Schülern von Th. W. Adorno und Max Horkheimer.
Die niederschmetternden Resultate alarmierten nun endlich die verantwortlichen Bildungspolitiker, die zwar nicht so panikartig reagierten wie auf Georg Pichts Beschwörung einer „Bildungskatastrophe“, aber immerhin darauf drängten, daß künftig auch an Gymnasien der politische Unterricht von wissenschaftlich qualifizierten Fachkräften erteilt werde. 1965 wurde daher in die Prüfungsordnung für das Lehramt an Gymnasien in Niedersachsen das Fach „Wissenschaft von der Politik“ aufgenommen und gleichzeitig die Federführung für den neuen Studiengang den politikwissenschaftlichen Lehrstühlen an den Universitäten übertragen. Durch diese Entscheidung erhielt das Fach zwar formal seine wissenschaftliche Gleichberechtigung, aber sie löste auch tiefgreifende Veränderungen und eine Entwicklung aus, die mehr Probleme schuf als löste.
Das erste Problem bestand darin, daß an kaum einer Universität die Politikwissenschaft personell und inhaltlich, weder qualitativ noch quantitativ, auf die schlagartig einsetzende Nachfrage vorbereitet war. In den langfristigen Folgen gravierender aber war die administrativ erfolgte Zuordnung des Schulfaches zur Politikwissenschaft als ihrer Bezugswissenschaft. Erst als nach etwa fünf Jahren die ersten Absolventen des neuen Studienganges in die Schule eintraten, stellte sich heraus, daß Schulfach und Universitätdisziplin nur zu einem Teil dekkungsgleich sind: Einerseits umfaßt das Schulfach auch andere als politikwissenschaftliche Inhalte, z. B. Wirtschafts-und Rechtskunde, soziale (soziologische) und sozialpsychologische Probleme, z. B. Bekämpfung von Vorurteilen, die im Studium nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt waren, andererseits bietet und verlangt die Politikwissenschaft an der Universität infolge ihrer rasch fortschreitenden „Professionalisierung“ und inneren Differenzierung vieles, was für die Schulpraxis irrelevant oder unbrauchbar ist.
Einstweilen aber waren die minimal ausgestatteten Lehrstühle froh, wenn sie ihr Lehrangebot durch Dozenten ergänzen konnten, die wissenschaftliche Qualifikation mit Kenntnissen und Erfahrungen aus der Schulpraxis verbanden.
V. 1968: Bilanz nach 20 Jahren
Das waren die Umstände, denen ich meinen Wechsel vom Schuldienst an die Universität verdanke: Aus einem Lehrauftrag für „Didaktik und Methodik des politischen Unterrichts“ wurde nach kontinuierlicher Ausweitung schließlich (1975) ein Lehrstuhl für „Didaktik der Sozialwissenschaften“. Aber noch bevor Anfang der siebziger Jahre der erste größere „Output“ an wissenschaftlich qualifizierten Lehrkräften an die Schulen erfolgte und die ausbildenden Hochschulen in aller Eile personell und materiell der rasch ansteigenden Zahl der Studierenden Herr werden konnten, hatte die politische Wirklichkeit nicht nur die Universitäten und Schulen längst überrollt. Die Flutwelle der „Studentenbewegung“ erreichte sogar das Bundeshaus in Bonn, schreckte die politischen Parteien auf und bewirkte etwas bis dahin Einmaliges: Der Bundestag debattierte über die Situation der Politischen Bildung, am 15. November 1968, einem Freitag, vor leerem „Plenum“ zwar, aber immerhin . . .
Vorausgegangen waren Große Anfragen der damaligen Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD sowie der oppositionellen FDP vom Dezember 1967. Daß die Bundesregierung fast ein Jahr zur Beantwortung brauchte, lag u. a. daran, daß sie eine Expertenkommission „zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der politischen Bildung zur Verbesserung der Wirksamkeit der politisch bildenden Tagungsarbeit“ mit der Ausarbeitung einer Empfehlung beauftragte. Der Vorsitzende war Felix Messerschmid, als Leiter der Akademie für politische Bildung in Tutzing damals anerkannter Wortführer der „Zunft“. Die Beschränkung des Auftrages ergab sich aus der begrenzten Kompetenz des Bundes für Fragen der Bildungspolitik, zu der die politische Bildung formal gerechnet wird.
Fast wörtlich übernahm die Bundesregierung, was die Sachverständigenkommission über die Ziele der politischen Bildung postulierte: Sie hat — möglichst objektive Informationen über „Faktoren und Funktionszusammenhänge politischer Prozesse“ zu vermitteln;
— politisches „Problembewußtsein“, die politische Urteilsfähigkeit und Urteilsbereitschaft auszubilden;
— die Erkenntnis des eigenen Standortes im Rahmen der Gesamtgesellschaft zu fördern;
— zur „Bejahung der Grundwerte der freiheitlichen Demokratie zu führen“;
— die „Fähigkeit zu politischem Handeln“ zu entwickeln;
— das „Wesen demokratischer Spielregeln“ bewußt zu machen und demokratische Verfahrensweisen einzuüben.
So sehr Politiker aller Fraktionen in diesen hehren Zielen mit den Experten übereinstimmten, so wenig plagten sie in der Debatte Zweifel, ob damit nicht Schule und Institutionen der Erwachsenenbildung hoffnungslos überfordert sein könnten. Die Erwartungen an Wissen, Bewußtsein, Gesinnung, Urteilsfähigkeit und schließlich Verhalten (Engagement) nicht zu hoch zu schrauben, warnte eigentlich nur der Abgeordnete Huys (CDU) mit dem Hinweis, daß auch Staaten mit langer demokratischer Tradition allerhöchstens einen Anteil von zehn Prozent politisch Aktiver aufweisen. Die überwältigende Mehrheit der Parlamentarier glaubte mit diesem Programm den gravierenden Mängeln der bisherigen politischen Bildung abhelfen zu können:
1. Weniger vergangenheits-als zukunftsorientiert, d. h. es sollten künftig nicht nur Nationalsozialismus und Kommunismus, sondern verstärkt die Fragen der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zukunftssicherung und die Stabilität des demokratischen Staates behandelt werden.
2. Weg von der harmonisierenden Gemeinschaftsideologie — hin zur politischen Realität mit ihren Konflikten!
3. Nicht nur intellektuelle Wissensvermittlung, sondern verstärkt Erziehung zu Werthaltungen und Verhaltensweisen.
4. Stärkere Berücksichtigung von Erfahrungen und Erwartungen der Adressaten.
Mit heute naiv erscheinender Selbstverständlichkeit waren fast alle Sprecher überzeugt, die Schule lege „die elementaren Grundlagen für jede politische Bildung“ und habe damit eine „Schlüsselstellung“, jedoch müsse sie „noch glaubwürdiger und überzeugender gestaltet werden“, damit sich „demokratische Verhaltensweisen“ vom Kindesalter an „in selbstverständlicher Form entwickeln“. Die Regierung und der zuständige Ressortchef, Bundesinnenminister Benda, erwarteten freilich von den Fachleuten dabei noch etwas mehr Hilfen; z. B. sollten Sozialwissenschaftler untersuchen, wie „die Bereitschaft, die demokratische Grundordnung unseres Staates zu bejahen, noch wirksamer geweckt“ werden könne. Ferner müßten „vor allem die noch unzureichend geklärten didaktischen und methodischen Probleme der politischen Bildung in den verschiedenen Schulformen und -arten beschleunigt untersucht werden“.
Heute, nach 20 Jahren und im Vorfeld einer weiteren Bestandsaufnahme durch den Deutschen Bundestag, ergibt sich für mich folgende Bewertung der damaligen Debatte:
Die geforderten sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wurden in einem Umfange durchgeführt, der auch für die Sozialisationsforscher selbst un-überschaubar geworden ist. Es erscheint mir als sehr zweifelhaft, ob sie von der Masse der „Praktiker“ rezipiert wurden, und ich bin sicher, daß sie für das Insgesamt der politischen Bildung weitgehend folgen-und wirkungslos geblieben sind. Das liegt aber nur zu einem Teil an diesen Untersuchungen selbst, sondern vielmehr daran, daß weder in der Wirklichkeit der Schulen mit ihrer traditionellen Lernorganisation noch in Kurzzeitseminaren der außerschulischen Jugendarbeit die Chance besteht, die Dimension des Verhaltens oder gar der Gesinnung ohne Indoktrination zu erreichen.
Auch die gewünschte Klärung didaktischer und methodischer Probleme ist sehr bald erfolgt und hat in den siebziger Jahren eine unübersehbare Flut von didaktischer Literatur, Handreichungen, Unterrichts„modellen“ und -materialien, Lehrbüchern und AV-Medien hervorgebracht, die zwar die Praxis erreichten, aber nicht selten auch Verwirrung, Unsicherheit und Übersättigung oder aber Resignation verursachten. Dabei entsprach dieser steigenden Flut in dieser Zeit auch die ansteigende Zahl von qualifizierten Lehrkräften, die in der Lage gewesen wären, ein Minimum an politischer Bildung mit einiger Hoffnung auf „Wirksamkeit“ zu vermitteln, wenn nicht genau zu dem Zeitpunkt, als diese subjektiven Voraussetzungen gegeben waren, die objektiven dies konterkariert hätten.
So wurden in den Schulen a) die Stundenanteile für SoziaL/Gemeinschaftskunde auf eine, maximal zwei Wochenstunden „eingefroren“ oder reduziert, und entsprechend b) immer weniger qualifizierte Lehrkräfte, schließlich gar keine mehr eingestellt.
Mit einem Stundenanteil vonfünfbis höchstens zehn Prozent am gesamten Fächerkanon beteiligt, kann politische Bildung in der Schule weder inhaltlich fächerübergreifend noch methodisch so arbeiten, daß die Dimension des Verhaltens überhaupt erreicht, geschweige denn wirksam beeinflußt werden kann.
Nicht die Schule oder die Lehrer hatten also die erwiesene Unwirksamkeit der politischen Bildung zu verantworten, sondern die politischen Rahmenbedingungen, unter denen Schule und politische Bildung im Grunde heute noch stehen; sie haben auch die besten pädagogischen Absichten konterkariert. Nur ein Bundestagsabgeordneter, der spätere Finanzminister Matthöfer, hat in der Debatte vom 15. November 1968 den Zusammenhang erkannt: Während die Schulen auf dem „Niveau einer überholten Postulatspädagogik“ verharren, habe der von der Bundesregierung selbst zugegebene Entfremdungsprozeß breite Schichten des Volkes und nicht nur die junge Generation mehr und mehr von einer unmittelbaren Einwirkung auf politische Entscheidungen femgehalten. Deswegen „ist es erforderlich, überall dort, wo dies wegen der Überschaubarkeit der zu regelnden Probleme oder wegen des besonderen Sachverstandes der Gruppe, die von diesen Entscheidungen betroffen ist, möglich ist. Formen direkter Demokratie einzuführen, die es der betreffenden Gruppe erlauben, Entscheidungen, die sie selbst treffen kann, tatsächlich auch selbst zu treffen“.
Aber genau diese Erweiterung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie durch mehr unmittelbare Partizipation hielt die überwältigende Mehrheit der Repräsentanten für höchst bedenklich. Einer hatte den Mund gespitzt, aber niemand hat gepfiffen! Auch Matthöfers Kollege J. Raffert, Parlamentarischer Staatssekretär des zuständigen Ministeriums, beschränkte sich darauf, Reformen anzumahnen, „wie sie z. B. in den Schulen (autoritäre Formen der Wissensvermittlung), in den Hochschulen, in der Eigentumsstruktur, in der Betriebs-und Wirtschaftsverfassung überfällig sind“. Willy Brandts Motiv „Mehr Demokratie wagen!“ klingt an, aber auch die sozialliberale Koalition griff die Melodie nicht auf.
VI. 1988: „Die Ehe wird geschieden“
So sicher, wie die unruhigen Jahre 1967 ff. mit der Ära der Großen Koalition zusammenhingen und diese mit der Unruhe in der Weltpolitik, darf auch angenommen werden, daß die Stagnation, um nicht zu sagen Resignation in der politischen Bildung die allgemeine politische Stimmung und Lage am Ende der siebziger Jahre widerspiegelte. Je differenzierter, geregelter und kontrollierter die wissenschaftliche Ausbildung von qualifizierten Fachlehrern an den Universitäten wurde, desto größer wurden die Probleme der Einsetzbarkeit in der Schulpraxis, auch solange noch Aussicht auf Einstellung bestand. Die Gründe dafür sind m. E.:
1. Viele dieser Fachkräfte waren, wie bereits erwähnt, durch das dominierende Studium der Politikwissenschaft unvollkommen auf die z. T. gänzlich anderen Inhalte des Schulfaches vorbereitet. 2. Schulleiter bevorzugten nach wie vor erfahrene Historiker oder Geographen, auch wenn sie nicht dem Vorurteil unterlagen, Politologen seien grundsätzlich „linke Ideologen“, sprich: marxistische Systemveränderer (womit nicht bestritten werden soll, daß auch solche darunter waren).
3. Der Fächerkanon mit Zielen und Inhalten, die für die politische Bildung relevant sind, erweiterte sich, ohne daß diese Fachkräfte ihre Kompetenz dafür beweisen konnten, z. B. „Werte und Normen“, Rechtskunde, Welt-und Umweltkunde, Ökologie usw. 4. Andere Fächer, z. B. Biologie, Chemie und Physik, erweiterten sich selbst auf politisch relevante Probleme wie Umweltschutz, Atomenergie, Genetik u. ä., ohne daß es, von seltenen Ausnahmen abgesehen, zur Zusammenarbeit der Fachlehrer mit Sozialwissenschaftlern oder gar zur Zusammenlegung der Unterrichtsstunden kam. 5. Infolgedessen erweiterte und differenzierte sich der Studiengang so, daß nicht einmal die in immer speziellere Teilbereiche zerfallende Politikwissenschaft gleichermaßen weit wie tief studiert werden konnte, geschweige Nachbardisziplinen wie Soziologie, Rechts-oder Wirtschaftswissenschaften. Anstelle der vor allem in den sechziger Jahren erhobenen Forderung „politische Bildung als Erziehungsund Unterrichtsprinzip“ ist inzwischen die Professionalisierung der Politikwissenschaft getreten, d. h. Studiengänge mit spezifischen Qualifikationsprofilen, die für viele Berufs-und Tätigkeitsfelder verwendbar erscheinen, befinden sich nicht mehr ausschließlich oder auch gar nicht mehr im Bereich der politischen Bildung.
Das Fazit lautet: Politikwissenschaft und politische Bildung haben sich so weit voneinander entfernt, daß beide Seiten von „Abkoppelung“ sprechen und sich gegenseitig dafür die Schuld zuweisen. H. H. Hartwich hat den „Kindern“ der Verbindung zwischen Politikwissenschaft und Politischer Bildung — den Didaktikern — während des Kon9 grosses der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im September 1988 in Darmstadt noch einmal mündlich sein schon früher verkündetes Urteil begründet: Die Ehe wird geschieden.
Sitzt damit die Fachdidaktik, die fast 15 Jahre lang die Diskussion bestimmt hatte, zwischen den Stühlen der „reinen“ Wissenschaft und der täglichen Praxis? Hat sie als selbständige Wissenschaftsdisziplin überhaupt Zukunftschancen? Daß es nur noch eine didaktische Zeitschrift („Gegenwartskunde“) mit sinkender Abonnentenzahl gibt, die relativ kurze Lebensdauer der Vierteljahresschrift „Politische Didaktik“ und die schlagartig abgeebbte Flut von didaktischer Literatur scheinen bestätigende Symptome zu sein. Der Ruf nach Methodik statt Didaktik, d. h. nach praktisch anwendbaren Rezepten statt theoretischen Konzepten, verhallt im Labyrinth des universitären Lehrbetriebes. Wie sollte er auch Studierende berühren, die ohnehin wissen, daß sie keine Chance haben, ihm zu folgen?! Das Fiasko der Verwissenschaftlichung der politischen Bildung ist aber nichts anderes als die Tragik der Aufklärung: Überforderte Rationalitätschlägt in Apathie um, wenn sich Verstand und Gefühl trennen. Daß „Einsicht“ nicht notwendig zu entsprechendem Verhalten führt, Menschen keineswegs immer ihren tatsächlichen Interessen gemäß handeln, ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis; erstaunlich ist nur, daß trotzdem immer wieder die Heilung von der Erziehung und die Heilung der Erziehung von der Wissenschaft erwartet wird. In der politischen Bildung aber scheuen sich Wissenschaftler immer noch, die determinierende Rolle affektiver Prozesse als Tatsache zu akzeptieren. Zu den Motiven des politischen Engagements in den sechziger Jahren gehörten nun einmal Empörung, z. B. über Kriegsverbrechen in Vietnam, Menschenrechtsverletzungen in der Ersten, Zweiten und Dritten Welt, Volksverdummungs-und Manipulationsversuche der Massenmedien, Ohnmacht gegenüber der elitären Arroganz der etablierten Politiker, die, wie 1968 Helmut Schmidt, gerade diese den rebellierenden Studenten vorwarfen. Ohnmachtsgefühle brachten Bürgerinitiativen auf die Straßen und die „GRÜNEN“ in die Parlamente, wo ihr unkonventionelles Auftreten zuerst Empörung, dann nachsichtige Toleranz und schließlich sogar Nachahmung bewirkte.
Ist damit die Wissenschaft, besonders die Politikwissenschaft als Fundament der politischen Bildung, als ungeeignet disqualifiziert? Warum bewirkte die Fernsehserie „Holocaust“ mehr Erschütterung als die jahrzehntelange Vermittlung von wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen? Und warum verflog diese Wirkung ebenso schnell wieder, wie das Wissen über die Wirklichkeit von Auschwitz aggressive Vorurteile gegen Ausländer nicht verhindert? Die Politikwissenschaft untersucht die Zusammenhänge zwischen kollektiven Einstellungen, Meinungen und Wertungen einerseits und objektiven politischen Strukturen (Institutionen und Personen) andererseits unter dem Stichwort „Politische Kultur“, das von der bundesdeutschen Politikwissenschaft als ein theoretisches und methodisches Analysekonzept seit etwa 15 Jahren rezipiert und angewandt wird, während es in der politischen Tagesdiskussion fälschlich meist im Sinne von politischem Anstand, Fairneß u. ä. normativ gebraucht wird.
VII. Trotzdem Fachlehrerausbildung . . .
Beginnend mit dem eigenen Wirkungs-und Erfahrungsbereich sind, nicht nur an der Universität Göttingen, einige Konsequenzen bereits gezogen worden. Einen Prozeß der „Abkoppelung“ der Didaktik der politischen Bildung von der Politikwissenschaft hat es hier nicht gegeben, weil beide Bereiche niemals als deckungsgleich verstanden wurden. Die politische Bildung entwickelte sich vielmehr — in enger Orientierung an neuere Teildisziplinen wie Political Culture-und Policy-Forschung oder Politische Psychologie — zu einem eigenen Schwerpunkt innerhalb der Politikwissenschaft, der mit Teildisziplinen aus anderen Sozialwissenschaften, z. B. Soziologie/Sozialisationsforschung oder Wirtschaftswissenschaften/Bildungsökonomie, eine bestimmte „Schnittmenge“ umfaßt und damit an die Politikwissenschaft ankoppelt (oder auch umgekehrt).
Der Vorteil dieser Konzeption, der das Göttinger Modell des Diplom-Sozialwirtes zugrunde liegt, ist, daß die „Didaktik der Sozialwissenschaften“ nicht nur einer von mehreren obligatorischen Schwerpunkten in lehrerbildenden Studiengängen ist, sondern auch Wahlbereich für andere sozialwissenschaftliche Profile. Diplom-Sozialwirte studieren nämlich zwei sozialwissenschaftliche Fächer (von denen eines Politikwissenschaft oder Soziologie sein muß) und je ein wirtschafts-und rechtswissenschaftliches Fach. Diese sozialwissenschaftlichen Bereiche können bzw. müssen durch verschiedene Schwerpunkte in den Wirtschafts-und Rechtswissenschaften sinnvoll ergänzt werden, z. B. Arbeitsrecht, Verfassungsrecht, Familienrecht, Kriminologie in Verbindung mit Jugendstrafrecht sowie Schwerpunkte aus der Makro-oder Mikroökonomie. Wer z. B. als Sozialwissenschaftler mit der Möglichkeit rechnet, im Bildungsbereich tätig zu werden, z. B. an einer Heimvolkshochschule, in der kommunalen oder kirchlichen Jugendarbeit o. ä., dem wird es vielleicht nützlich erscheinen. Didaktik der Sozialwissenschaften als Schweipunkt in der Soziologie oder Politikwissenschaft zu wählen, wie es für Lehramtsstudiengänge obligatorisch ist. Der Anteil der Politikwissenschaft an den Inhalten des Faches Sozial-/Gemeinschaftskunde beträgt nur etwa 50 Prozent, die andere Hälfte verteilt sich zu etwa gleichen Teilen auf Soziologie und Wirtschaftswissenschaften.
Diese Konstruktion läßt bis zur Zwischenprüfung die Entscheidung der Studierenden für einen der sozialwissenschaftlichen Studiengänge bzw. Abschlüsse offen. Die Erfahrungen zeigen, daß nicht wenige nach der Diplom-Prüfung das Staatsexamen ablegen und vice versa; in jedem Falle erhöht dieser Doppelabschluß die Berufschancen. Daß im Unterschied zum Diplom-Examen für den Lehramtsstudiengang keine rechtswissenschaftlichen Anteile obligatorisch sind, ist zweifellos ein, allerdings durchaus ausgleichbares, Defizit. Vor einer bloßen Kopie dieses Studienkonzeptes muß dennoch gewarnt werden, weil es in nunmehr fast 30 Jahren unter den besonderen personellen, räumlichen und institutionellen Bedingungen in Göttingen gewachsen ist.
VIII. . . . und Fachunterricht?
Unter der Voraussetzung, daß Lehrkräfte mit einer über die Politikwissenschaft hinausreichenden sozialwissenschaftlichen Qualifikation und Kompetenz nicht nur zur Verfügung stehen, sondern auch tatsächlich im Unterricht eingesetzt werden, kann ein Verzicht auf Fachunterricht, der der politischen Bildung dient, nicht plausibel begründet werden. Ich wage die Behauptung, daß politische Bildung in diesem umfassenden Sinne, d. h. unter Einschluß von Kenntnissen über geschichtliche, wirtschaftliche und soziale Zusammenhänge, in einer demokratisch verfaßten Gesellschaft ein Synonym für Allgemeinbildung ist oder sein sollte. Wenn man freilich „Bildung“ als eine habituelle Einheit von Wissen und (einem entsprechenden) Verhalten versteht, muß man einräumen, daß Schulunterricht allein niemals wirklich „Bildung“ vermittelt hat, sondern in der Regel Wissen und bestenfalls die Fähigkeit, dieses Wissen zu sichern, zu erweitern und außerhalb des Unterrichts mehr oder weniger nützlich anzuwenden. Das aber muß er leisten, auch und gerade im gesellschaftlichen und politischen Bereich.
Das aber heißt, die Ansprüche und Erwartungen an den Unterricht erheblich zu reduzieren; denn Engagement (Mitarbeit in einer politischen Partei), Gesinnung („Bejahung der Grundwerte unserer freiheitlichen Verfassung“), Toleranz und Fairneß oder andere soziale Tugenden kann man unter den gegebenen Bedingungen in der Schule nicht durch „organisierte Lernprozesse“ erzielen. Aber man wird überhaupt nichts erreichen, wenn nicht die objektiven wie subjektiven Bedingungen für eigenes Urteilen und Handeln bewußt und systematisch erarbeitet werden — also Kenntnis der Institutionen ebenso wie der Entscheidungs-und Willensbildungsprozesse und Politikfelder, die den Erfahrungsraum der Adressaten früher oder später berühren.
Demokratie als Partizipationschance für alle bedeutet eine politische Grundbildung für alle. Wissenschaftlichkeit des Unterrichts heißt vor allem Indoktrinationsverbot und zugleich das Bewußtsein, daß Sachlichkeit nicht gleichbedeutend ist mit absoluter Wertfreiheit — eine Unterscheidung, die verstanden zu haben zu den elementaren Voraussetzungen sozialwissenschaftlicher Qualifikation gehört. Wenn diese wissenschaftstheoretische Prämisse überall anerkannt ist, was heute in der Schulpraxis bei weitem nicht der Fall sein dürfte, kann politische Bildung den Anspruch einlösen, als Fach gleichrangig neben den anderen, traditionell obligatorischen Schulfächern wissenschaftlich legitimierte Leistungen zu erbringen.
Aus meinen Erfahrungen in der Schule, der Lehrer-bildung und in der Forschung habe ich gelernt: Die Methoden der politischen Bildung in der Schule und anderen Institutionen sind dieselben wie die der Erkenntnisgewinnung in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Sie reichen von der empirischen Datenerhebung und -Verarbeitung über heuristische Beobachtung und Gesprächsführung bis zu den hermeneutischen Methoden, wie sie auch in der Philosophie, Literaturwissenschaft oder Theologie (Dogmenlehre) üblich sind. Von besonderer Bedeutung sind hier jedoch audio-visuelle Medien, weil fast alles, was für den „normalen“ Staatsbürger heute „Politik“ ist, in irgendeiner Form durch sie vermittelt wird. Der Umgang mit AV-Medien in der Forschung wie in der Lehre erfordert allerdings spezifische Kenntnisse und Fertigkeiten. Wenn diese gewährleistet sind, bieten sie eine, wenn auch geringe, Chance, die Dimension des Verhaltens zu erreichen und Lernprozesse auch im emotionalen und affektiven Bereich zu motivieren und zu beeinflussen. Im Schulunterricht ist aber von sozialwissenschaftlichen Methoden nur dann Wirksamkeit zu erwar11 ten, wenn die zeitlichen, räumlichen und materiellen Bedingungen dafür gegeben sind, z. B.
— flexibel und variabel ausgestattete Fachräume, wie sie für den naturwissenschaftlichen oder auch Kunstunterricht längst selbstverständlich sind;
— Konzentration der zur Verfügung stehenden Wochenstunden auf Blockstunden sowie — zeitliche und räumliche Angleichung an verwandte Fächer wie Geschichte, Erdkunde, aber auch Kunst, Deutsch u. a., um fächerübergreifende Projektarbeit auch außerhalb der Schule zu ermöglichen. Wenn das Fach, das „in besonderer Weise der politischen Bildung dienen“ soll, in der Schule mit höchstens 2 x 45 Minuten, womöglich zwischen Sport und Mathematik, eine Aschenputtelrolle spielt, wird man auch in den nächsten 20 Jahren keine wirksame politische Bildung erwarten dürfen, vermutlich aber erneute Klagen, daß trotz verbesserter Lehrerbildung und anderer zeit-und geldaufwendiger Maßnahmen der Zustand eher schlechter als besser geworden sei.
Was die außerschulische Jugend-und Erwachsenenbildung betrifft, so hat sie sich, meiner Erfahrung nach, aus der jahrzehntelangen Vernachlässigung durch die akademische Didaktik befreit und eigene Formen und Methoden der politischen Bildung entwickelt, die inzwischen bisweilen schon zum beneideten Vor-Bild für die begrenzten Möglichkeiten der Schule geworden sind. Aber auch hier sind die wegweisenden Ansätze ein Opfer der allgemeinen Entwicklung besonders in finanzieller und arbeitsmarktpolitischer Hinsicht geworden.
Kaum waren Seminarkonzepte, personelle, räumliche und gesetzliche Voraussetzungen für wirksame Veranstaltungen geschaffen, wurde das Geld knapp, die Gewährung von Bildungsurlaub restriktiv eingeschränkt, der Kostenaufwand jedoch z. T.
drastisch höher.
Diesen bedenklichen Trend zu stoppen, ist um so notwendiger, als die Sozialisationsforschung in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher ergeben hat, daß bisher — die Bedeutung der frühen Kindheit für die Ausprägung von Einstellungs-und Verhaltensdispositionen und daher auch — die Einflußmöglichkeiten der Schule ganz erheblich überschätzt worden sind.
Wir wissen zwar, daß z. B. Vorurteile und Vorurteilsdispositionen durch rationale „Aufklärung“ und kognitive Lernprozesse nicht entscheidend beeinflußt oder gar „bekämpft“ werden können; aber wir haben inzwischen auch erkannt, daß Einstellungen und Verhaltensdispositionen in jedem Lebensalter, besonders in Zeiten, in denen persönliche Lebenskrisen mit allgemeinen Krisen korrespondieren (Stichworte: Jugendarbeitslosigkeit, politischer Radikalismus), beeinflußbar sind. Die Schule legt eben nicht ein für allemal „die elementaren Grundlagen für jede politische Bildung“ und hat deshalb nicht, wie die Bundesregierung 1968 irrtümlich den Experten abnahm, eine Schlüsselstellung, weil sich „demokratische Verhaltensweisen“ nicht vom Kindesalter „in selbstverständlicher Form entwickeln“.
Das Paradoxe an der Situation ist, daß politische Bildung im Kindesalter und durch die Schule ihre (geringe) Wirksamkeit nur dann gewinnen kann, wenn Lehrer und Erzieher, trotz gegenteiliger Einsicht, in der Selbsttäuschung handeln, als hinge von ihrem Tun allein das Schicksal der Demokratie ab. Man sollte daher zuvörderst den Theoretikern und Praktikern der politischen Bildung verstärkt das Recht und die Möglichkeit einräumen, im Sinne demokratischer Selbstbestimmung auf die politischen Strukturen und Entscheidungen Einfluß zu nehmen, d. h. Forderungen z. B. nach mehr direkter Demokratie, wie sie Matthöfer 1968 erhob, nicht als verfassungswidrigen Angriff auf das Bestehende diskriminieren. Erscheinungen berechtigter und verständlicher Proteste sollten durch die institutionalisierte politische Bildung nicht grundsätzlich „bekämpft“, sondern als herausforderndes Konfliktpotential konstruktiv genutzt werden.
Die Grundstimmung meines bewußt subjektiv gehaltenen Rück-und Ausblicks drückt heute noch das aus, was der Abgeordnete Huys (CDU) in jener denkwürdigen Debatte am 15. November 1968, offenbar unerhört (im doppelten Wortsinne) dem fast leeren Hohen Hause ins Stammbuch schreiben wollte: „Bleiben wir bescheiden in der Vorstellung von der Breitenwirkung der politischen Bildung! Die erste Forderung für uns alle muß bleiben, selbst ein gutes Vorbild für politisches Verhalten zu geben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen; ich fürchte, auch nach weiteren 20 Jahren nicht.