Die erworbene Immunschwächekrankheit Aids hält heute die Welt in Atem. Kaum ein anderes Thema wurde in den letzten Jahren so häufig auf Vorträgen und von den Medien aufgegriffen. Aids hat Tabus aufgebrochen und verlangt heute von uns eine veränderte Einstellung zu Sexualität, Sterben und Tod. Neue Strategien im Umgang mit Infizierten und Kranken werden erforderlich. Die medizinische Forschung sucht inzwischen fieberhaft nach Mitteln, dieser Krankheit Herr zu werden und Impfstoffe für eine Prophylaxe zu finden. Doch bislang zeichnet sich am Horizont noch kein Hoffnungsschimmer ab. Und dies alles in einer Zeit, in der wir uns auf dem Gipfel sexueller Befreiung wähnen. In einem medizinischen Allmächtigkeitswahn glaubten wir, alle auftretenden Seuchen sofort in
Griff zu bekommen. Aids fordert heraus, diese unsere Ohnmacht wahrzunehmen und Fragen des Menschseins und menschlicher Solidarität neu, vielleicht vertiefter als bisher zu beantworten. Was bislang geschehen ist, kann nur als Symptombekämpfung gewertet werden. Aids wird zunehmend zu einem Problem, das alle Menschen zu einer tiefer reichenden Fragestellung herausfordert, die sicherlich auch unbequem werden kann, insofern sie uns selbst zu entscheidenden Verhaltensänderungen aufruft. Die intensive Diskussion über die Ursachen, Ansteckungswege, über medizinische und gesellschaftlich notwendig erscheinende Maßnahmen — wie etwa eine Meldepflicht — kann leicht ethische Fragen verdrängen und zum Ausdruck einer Immunisierungsstrategie werden.
I. Stand der Erkrankungen
Die ersten Reaktionen auf Meldungen von Aids-Erkrankungen und HIV-Infizierungen waren eher abwehrend und beruhigend; schien sich doch diese Krankheit nur auf Mitglieder bestimmter Gruppen zu beschränken. Der verschleiernde Begriff „Risikogruppe“ führte zujener trügerischen Meinung, es handle sich hierbei nur um eine Krankheit drogen-abhängiger Frauen und homosexueller Männer. Mit der Einstellung „mich wird’s schon nicht treffen“ ließen die meisten das Thema Aids zunächst nicht wirklich an sich herankommen. Das Stigma befallener Randgruppen förderte die Verdrängung, zugleich aber auch die Diskriminierung dieser Menschen. Erst die Meldungen, daß auch Hämophile (Bluter) und Empfänger von Bluttransfusionen und Plasmaderivaten, ja sogar Kinder von infizierten Eltern sowie Partner mit heterosexuellen Beziehungen von der Krankheit nicht verschont wurden, führten dazu, daß die Bevölkerung zunehmend auf diese todbringende Krankheit aufmerksam wurde.
Die inzwischen weltweit bekannt gewordenen Zahlen über die immer noch steigende Tendenz der Erkrankungen haben heute Aids zu einem Thema gemacht, dem sich kein Land mehr entziehen kann. Dreißig europäische Länder haben ihre Daten über die Erkrankungen an Aids und über die inzwischen eingetretenen Todesfälle gemeldet. Nach dem Stand vom 31. März 1988 gab es in diesen Ländern insgesamt 12 221 Kranke. Über die Dunkelziffer’ der tatsächlich an Aids Erkrankten und der HIV-Positiven gibt es nur Spekulationen. Für die Bundesrepublik Deutschland und für den Bereich von West-Berlin besteht für Aids bislang keine Meldepflicht. Die vom Bundesgesundheitsamt vorgelegten Statistiken dürften nach ernstzunehmenden Schätzungen höchstens 50 Prozent der tatsächlich Erkrankten enthalten. Darüber hinaus liegen für unser Land die Zahlen der angenommenen HIVinfizierten derzeit zwischen 55 000 und 143 000 — eine Annahme, die auf verschiedenen Vergleichen mit Dunkelziffern in den USA basiert.
Mit Stand vom 30. September 1988 wurden für die Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin insgesamt 2 488 Aids-Kranke gemeldet; davon sind bereits 1 045 verstorben. Nach dem Infektionsrisiko verteilen sich die Kranken zu 71, 5 Prozent auf homo-oder bisexuelle Männer, 11, 2 Prozent auf Fixer, 7, 7 Prozent auf Hämophile und Empfänger von Bluttransfusionen, 3, 1 Prozent auf Partner mit heterosexuellen Kontakten und 1 Prozent auf prä-oder perinatale Infektionen; bei 5, 4 Prozent der Erkrankten liegen keine Angaben über die Infektionsquellen vor. Von den insgesamt 2 488 Erkrankungen entfallen allein 1 088 auf die letzten zwölfMonate (30. September 1987 bis 30. September 1988). Dabei bezieht sich die Erstmanifestation von Aids zum größten Teil auf die Altersstufen 20 bis 59 Jahre (= 94, 6 Prozent). Diese Zahlen beruhen auf den freiwilligen Meldungen an das Aids-Zentrum im Bundesgesundheitsamt in Berlin.
Es wird verständlich, daß diese Tatsachen panische Reaktionen, Fluchtimpulse und aggressive Reak-tionen hervorriefen. Aids hat tiefliegende menschliche Ängste und Triebkonflikte hochsteigen lassen. Es sind Berührungsängste gegenüber den Erkrankten. aber auch das Gefühl der Isolierung bis hin zur Ächtung der von dieser Krankheit Befallenen. Die Gesellschaft ist aufgerufen zu entsprechenden Hilfsmaßnahmen.
II. Aufklärungsmaßnahmen
Seit 1986 wurden nun von Seiten des Bundesgesundheitsministeriums und der Deutschen Aids-Hilfe verschiedene Aktionen gestartet, die zunächst der Aufklärung dienen sollten. Die erste Aufklärungskampagne hinterließ mehr den Eindruck einer Kondomwerbung. Man kann sie jedoch nur dann gerecht beurteilen, wenn man um ihre Zielsetzung weiß. Als erstes sollten vorhandene Infektionsketten durchbrochen und Ansteckungsmöglichkeiten vermieden werden. Angesprochen waren zunächst die hauptsächlich Betroffenen und vorrangig Gefährdeten. Auffallend für diese Aufklärungsaktion aber war es, daß man zwar jene Sexualpraktiken unmittelbar benannte, die konkret die Anstekkungsgefahr vergrößerten — so etwa der Analverkehr —. daß man es aber weithin vermied, den eigentlichen Lebensstil zu hinterfragen und damit einen Nachdenkprozeß in Gang zu bringen. Eros und personale Liebe blieben weithin ausgeblendet. Einziges Kriterium war: es sollte weiterhin Spaß machen, aber ungefährlich sein. Bei der Werbung von Kondomen ging man dabei noch mit einem gewissen Optimismus vor.der nicht um die Fehlerquoten weiß, die im Zusammenhang mit der Benutzung von Kondomen möglich sind. Der gängige Slogan war: Kondome schützen vor sexuell übertragbaren Krankheiten, sie haben früher geschützt, sie schützen auch in Zukunft. Überall sollte der Zugang zum Erhalt von Kondomen eröffnet werden — möglichst auch noch kostenlos.
Im folgenden sollen nur einige Beispiele dieser Werbeaktion, die in Anzeigen, auf Postern und Plakaten verbreitet wurde, genannt werden. „Um die Liebe zu retten, empfiehlt es sich daher, Kondome zu benutzen“. — „Die Übertragungswege sind klar. Deshalb Pariser“. — „Sicher besser: Safer Sex“. — „Wir reden Klartext: auf jeden Fall Safer Sex“. — „Kondome sind für Männer Pflicht, an AIDS zu sterben braucht man nicht. Kondome schützen“. — „An AIDS zu sterben ist entsetzlich — Kondome sind unersetzlich. Vertrauen ist gut, Kondome sind besser“. „Es besteht allerdings ein — wenn auch heute noch geringes — Risiko, sich zu infizieren, ohne einer dieser Gruppen anzugehören. Dies betrifft Männer und Frauen mit wechselnden Sexualpartnern. Kondome bieten einen guten Schutz . . . Eine Infektion läßt sich verhindern, wenn man vermeidet, daß infiziertes Sperma oder Blut in den Körper des Partners gelangt. Sicherer Sex (Safer Sex) kann das Risiko einer Infektion auf ein Minimum verringern.“ Oder in einem Faltblatt „wenn ein Freund AIDS hat ..." (Berlin 1987) heißt es: „Laß nicht zu. daß er sich selbst die Schuld für seine Krankheit gibt. Schwulsein hat ihm nicht AIDS verpaßt. Erinnere ihn daran, daß ein Lebensstil keine Krankheiten verursacht, sondern ein Erreger. Hilf ihm da hindurch. Es mag ihm besonders schwerfallen. Wenn ihr Sex haben wollt, dann sei über die Vorsichtsmaßnahmen informiert, die Sex für beide von euch sicherer machen. Halte sie ein! Laß dir etwas einfallen. Fasse ihn an, streichle ihn, massiere ihn. Sex muß nicht immer genital bezogen sein, um Spaß zu machen.“
In dem Faltblatt „Ich mach’s mit . . .“ (Berlin 1987) wird die Kondomwerbung mit folgenden Worten umschrieben: „Mit Kondom ist völlig okay. Da lacht keiner mehr darüber, denn jeder kann sich und andere davor schützen, an Tripper, Syphilis oder AIDS zu erkranken. Und daß es , mit‘ keinen Spaß macht, ist vor allem ein Vorurteil . . . Für viele ist der Gummi nicht nur ein lästiges . technisches Hilfsmittel 4. Sie wissen, daß man auch eine ganze Menge Lust erleben kann.“
Auffallend ist, daß in diesen und ähnlichen Werbesprüchen Sexualität einfach mit Liebe gleichgesetzt wird. Es war verständlich, daß angesichts einer solchen Aufklärungskampagne Kritik laut wurde: auf diese Weise verstärke man nur die Verdrängung ethischer Fragen, fördere eine Lethargie und bewahre die Gefährdeten vor der Anstrengung, das eigene Verhalten in Frage zu stellen. Eine Verhaltensänderung werde — so meinte man — nur im Sinne der Anwendung von Kondomen in Erwägung gezogen. Eine solche Aufklärung sei Spiegelbild der Erwartungshaltung einer Gesellschaft, die ihren Besitzstand wahren möchte und vom Staat jede Form von Hilfe erwartet, selbst aber möglichst wenig zur Vermeidung einer Ansteckung und zur Veränderung des eigenen Verhaltens beitragen möchte.
Wäre diese Aufklärungskampagne die einzige geblieben, so wäre die laut gewordene Kritik berechtigt. Gerade die negative Reaktion von Seiten der katholischen Kirche setzte auch bei dieser ersten Aufklärungsaktion an. So reagierten die katholischen deutschen Bischöfe auf die Anzeigenkampagne mit dem Hinweis, daß Sexualität doch mit menschlicher Würde Zusammenhänge. Der Mensch dürfe eben nicht alles tun, wonach der Trieb ihn dränge: „Wir können jedoch die von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit gestartete AIDS-Anzeigenaktion nicht unwidersprochen hinnehmen. Dort wird zur Verhütung der AIDS-Ansteckung vorgeschlagen, beim Intimverkehr mit unbekannten und wechselnden Partnern Kondome zu benutzen. Auf diese Weise läßt sich die AIDS-Gefahr nicht bannen. Wir weisen auf den Zusammenhang von Sexualität und menschlicher Würde hin. Im sexuellen Bereich darf der Mensch nicht alles tun, wonach der Trieb ihn drängt. Zur menschlichen Sexualität gehören Zucht und Maß. damit nicht der Trieb den Menschen, sondern der Mensch den Trieb beherrscht. Die AIDS-Gefahr wird eher durch ein geschlechtliches Verhalten vermieden, das sich an verbindlichen sittlichen Maßstäben orientiert und die Menschenwürde respektiert. Der Geschlechtsverkehr mit unbekannten oder wechselnden Partnern ist menschenunwürdig. Eheliche Treue und auch sexuelle Enthaltsamkeit sind die geeigneten und menschenwürdigen Wege, um die Ausbreitung dieser Krankheit zu vermeiden.“
Auch Bischof Lehmann von Mainz betonte in einem Interview: „Es scheint uns nicht zwingend und nicht angemessen zu sein, in sehr verbreiteten Anzeigen nur Kondome als , Schutz 1 zu empfehlen. Sollte man nicht zuerst und vor allem die eigenen Lebensgewohnheiten überdenken? Dies wäre ganz bestimmt der einfachste, naheliegendste und wirkungsvollste Weg. Ihn darf man nicht verschweigen. Wo sonst nichts mehr hilft, mag die staatliche Gesundheitspolitik auch an Kondome denken (darin steckt keine sittliche Rechtfertigung).“ Nicht das Schicksal der Kranken und Infizierten, sondern das Sexualverhalten und der Streit um die Kondome stand in dieser kirchlichen Verlautbarung im Vordergrund.
Nun zeigte sich aber sehr bald, daß diese erste Aufklärungskampagne durch eine zweite abgelöst bzw. weitergeführt wurde. Sie bedeutete einen wesentlichen Schritt in Richtung einer Vertiefung der ethischen Fragestellung und der Verantwortung. So hieß es auf Plakattexten zu Beginn der Urlaubssaison 1987: „Ungeschützter Sexualkontakt mit Urlaubsbekanntschaften ist gefährlich. Zufallsbekanntschaften könnten zufällig AIDS haben. Ganz sicher ist nur der Verzicht auf solche Kontakte. Vermindern kann man die Ansteckungsgefahr durch die Benutzung von Kondomen.“ — Und weiter: „Deshalb gilt im Urlaub wie überall: Partnerschaftliche Treue ist der beste Schutz vor AIDS.“
Zunehmend wurde in der neuen Aufklärungswelle auch die Solidarität mit den Aids-Kranken und die Verantwortung gegenüber Menschen, die man gern hat, angesprochen: „AIDS macht nicht halt vor Menschen, die einem nahe stehen. Es darf nicht dazu kommen, daß Sie die infizieren, die Sie am meisten lieben. Fragen Sie sich, ob Sie ein Risiko eingegangen sind . . . Wenn Sie nicht sicher sind, lassen Sie sich beraten und testen. Handeln Sie verantwortlich — das sind Sie Ihem Partner schuldig!“ Sogar der Hinweis auf Treue findet sich in der neuen Aufklärungswelle: „Die Möglichkeit, AIDS zu bekommen, wächst mit jedem neuen Partner. Besonders wer jung ist, sollte sich der Ansteckungsgefahr bewußt sein. Sprechen Sie oft mit Ihrem Partner über Treue und wie Sie bei Sexualkontakten AIDS verhüten können.“
In den hier vorliegenden Texten kommt ein altruistischer Zug menschlichen Verhaltens zum Ausdruck. Rückschauend läßt sich von den beiden Aufklärungsaktionen sagen, daß sie nach einer wohl bedachten Stufung vorgingen: Zunächst sollten die besonders Gefährdeten auf jenen notwendigen Selbstschutz und auf ihre Selbstliebe hin angesprochen und zu einer Änderung ihres Verhaltens motiviert werden. Erst in einem zweiten Schritt richtete sich verstärkt der Blick auf den Partner. Hätte man sofort diesen altruistischen Schritt in die erste Aufklärung einbezogen, hätten sich sicherlich viele Betroffene überhaupt nicht angesprochen gefühlt. Man kann also diese Aufklärungskampagne nur dann richtig beurteilen, wenn man die jeweiligen Adressaten berücksichtigt.
Die kirchlichen Stellungnahmen jedoch, in denen sofort hochethische Ziele und verbindliche Normen proklamiert wurden, blieben weithin unbeachtet. Ja, man argwöhnte sogar, die Kirche wolle diese neue Notsituation nur dazu benutzen, ihre eigenen sittlichen Wertvorstellungen wieder an den Mann oder die Frau zu bringen. Die Angst vor Aids diene zum Moralisieren; gewisse „Moralapostel“ wollten zu einer inzwischen überholten rigorosen und repressiven Sexualmoral zurückführen. Formulierun31 gen wie „die Hexenjäger sind wieder unterwegs“ und andere böse Unterstellungen waren die Folge. Den kirchlichen Stellungnahmen fehlten eben die notwendigen Zwischentöne. So erweckten sie den Eindruck eines „Alles oder Nichts“. Jene aber, die angesprochen werden sollten, fühlten sich über-haupt nicht betroffen, geschweige denn verstanden, da sie geistig nicht dort abgeholt wurden, wo sie sich ihrem Verhalten nach befanden. Trotzdem haben jedoch gerade diese beiden Aufklärungskampagnen zunehmend den Weg für die Erörterung weiterer ethischer Probleme vorbereitet.
III. „Die Wahrheit wird euch frei machen“
Nach den Erfahrungsberichten Betroffener wirkte zunächst die Erkenntnis, HIV-positiv zu sein, wie ein Schock. Erstmals sahen sie plötzlich vor ihren Augen den Tod, an den sie bislang normalerweise nicht gedacht hatten. Ihre erste Reaktion bestand meistens darin, diese Wirklichkeit nicht wahrnehmen zu wollen, sondern zu verdrängen. Bald aber brachen ungeheuere existentielle Ängste auf und als Folge davon Suizidversuche oder aber eine fatale Gleichgültigkeit. Schließlich veranlaßte das Wissen um ihre Infizierung und Erkrankung und eine Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit so manche zu einer entscheidenden Änderung ihres Denkens und Verhaltens. So schreibt eine ehemalige Drogenabhängige (Gabi), die inzwischen clean, aber HIV-infiziert ist: „In der Zeit meiner Drogen-abhängigkeit habe ich wirklich an nichts geglaubt, weder an Gott noch an sonst irgendwas. Ich habe irgendwo dadurch auch den Glauben wiedergefunden. Ich glaube, daß das Leben nicht zu Ende ist nach dem Tod. Ich glaube, daß es weitergeht. Deswegen habe ich wahrscheinlich nicht so viel Angst vor dem Tod. Seitdem ich weiß, daß ich positiv bin, lebe ich sehr bewußt.“ Und sie fügt hinzu: „Neue Beziehungen gehe ich nicht mehr so leichtfertig ein. Ich überlege, ob dies wirklich etwas werden kann oder nicht. Wenn ich der Meinung bin, eine Beziehung hat Zukunft, dann denke ich auch, daß ich es dem Partner sagen muß . . . Ich denke, es ist auch besser, ihm dies gleich zu sagen, und dann sehe ich, wie er reagiert. Dann tut es mir auch nicht so weh, wenn eine Beziehung kaputtgeht.“
Ein Homosexueller berichtet über seine Reaktion auf die Feststellung, daß er HIV-positiv ist: „Ich dachte immer: das gibt’s nicht, das kann nicht sein, mit mir nicht! Nachdem ich mich eine Zeitlang mit mir selbst innerlich beschäftigte, kam ich zu der Einstellung, daß ich da nicht einfach davonlaufen kann und mich der Situation stellen muß. Nach langem Überlegen bin ich zur AIDS-Hilfe nach München gegangen und habe mich beraten lassen. Das hat mir sehr viel Kraft gegeben . . . Generell habe ich die Erfahrung gemacht, daß alle Leute, die ich kenne, irgendwie positiv reagiert haben. Je nachdem, wie man auf die Leute zugeht, kommt auch etwas auf einen selbst zurück.“
Derartigen positiven Erfahrungen stehen natürlich auch negative gegenüber. Aus solchen Reaktionen aber wird deutlich, daß ein Wissen um die reale Situation besser ist als in Ungewißheit zu verbleiben oder das Wissen zu verdrängen versuchen. Auf diese Weise kann dann auch das Leben weitaus bewußter gelebt werden. Hierin zeigt sich die Lebensnähe des biblischen Satzes „die Wahrheit wird euch frei machen“ (Jo 8, 32), selbst wenn es zunächst schmerzvoll ist, die Wahrheit zu erfahren. Infizierte, bei denen die Krankheit noch nicht ausgebrochen ist, wollen kein Mitleid; sie möchten wie normale Menschen behandelt werden. Durch gesellschaftlich proklamierte „Maßnahmenkataloge“ jedoch fühlen sie sich'diskriminiert und öffentlich verfolgt. Ihnen ist auch nicht gedient mit Menschen, die ein ausgeprägtes Helfersyndrom haben, die also ihre eigenen vielfältigen Probleme verdrängen bzw. durch Hilfsbereitschaft zu kompensieren versuchen. Bei aller geforderten Vor-und Umsicht sollten sie wie die übrigen Menschen so lange wie möglich in ihren Arbeitsprozeß eingebunden bleiben und nicht durch Berührungsängste aus ihrer Umwelt und ihrem Lebensbereich ausgegliedert werden. Dies wird auch umso besser gelingen, je wahrhaftiger das Verhalten ist und je weniger Parolen wie „Sich ja nicht einer HIV-Untersuchung stellen!“ verbreitet werden.
IV. Angst — ein schlechter Berater
Eine vor einigen Monaten vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsminister veröffentlichte repräsentative Umfrage über Verhaltensänderungen durch Aids ergab, daß die Angst der Bundesbürger vor einer Ansteckung durch Aids gestiegen ist. Über 70 Prozent der Befragten befürchten Infektionen in Arztpraxen oder Krankenhäusern, bei Bluttransfusionen, durch Spritzen oder durch nicht ausreichend desinfizierte Geräte. Besonders auf Seiten junger Mädchen sei die Angst vor Aids enorm gestiegen. Darüber hinaus sehe nahezu ein Drittel der Bevölkerung in der Aids-Gefahr etwas Gutes, daß nämlich das freie Sexualleben vieler Leute nunmehr ein Ende habe.
Nun mag es durchaus sein, daß im gesellschaftlichen wie im politischen Bereich Angst häufig zu Verhaltensänderungen geführt hat. Für die persönliche Verantwortung und das sittliche Verhalten jedoch ist Angst ein schlechter Berater. Sie führt weithin nur zu äußeren Verhaltensänderungen, die Einstellung bleibt die gleiche. Zudem dürfte eine solche Verhaltensänderung nur so lange anhalten, als die Gefahr konkret unmittelbar vorhanden ist. Wenn jedoch sittliches Verhalten wesentlich aus einer freien Entscheidung heraus erfolgen soll, reicht Angst für eine Verhaltensänderung nicht aus. Wenn die Angst steigt, suchen Menschen nach Sündenböcken oder rufen nach dem starken Staat.
Angst ist keine hinreichende Voraussetzung für dauerhafte Verhaltensänderungen; sie erreicht eher das Gegenteil, löst Abwehr und Verleugnung aus, lähmt das Verantwortungsgefühl und zerstört menschliche Solidarität. Christliche Moral wird nicht von Angst und Schuldgefühlen getragen sein, sondern nach hoffnungsvollen und lebbaren Möglichkeiten Ausschau halten, wobei weder die Gefahr der Krankheit verleugnet, noch eine Panikmache ausgelöst werden darf. Wenn Christen an Gottes bedingungslose Liebe zum Menschen glauben, dann müßten sie auch gegenüber den Mitmenschen in den christlichen Gemeinden und Kirchen etwas von dieser unbedingten Liebe erfahrbar werden lassen: eine Zuwendung, die Grenzen überschreitet, Ängste überwindet und gerade im Umgang mit von Aids Betroffenen ein Zeichen der Liebe und der von Gott geschenkten Versöhnung setzt. So kann Aids auch Chance und Herausforderung sein an Kirche und Gesellschaft.
V. Aids — „Rache der Natur“ oder „Strafe Gottes“?
Im Zusammenhang mit der Aids-Diskussion erscheint es auch problematisch, von einer „Rache der Natur“ oder von einer „Strafe Gottes“ zu sprechen. Gerade in volkstümlichen Äußerungen wird immer wieder der Vorwurf erhoben, nunmehr bekämen wir die Quittung für zügelloses und verantwortungsloses Verhalten im Bereich der Sexualität. Wir hätten eben über unsere Verhältnisse gelebt. Im Sprichwort „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis daß er bricht“ kommt solche Erfahrung zum Ausdruck. Im übrigen neigen wir Menschen schnell dazu, Unheil, Böses und Übel in der Welt als Folge für nicht zu verantwortendes Verhalten, als Rache der Natur oder aus religiöser Sicht als Strafe Gottes zu werten. Solches Ausgleichsdenken liegt im Menschen verankert. Es findet sich bisweilen auch in Texten des Alten Testamentes. Doch im Neuen Testament wird dieser Gedanke überboten von der Verkündung der Barmherzigkeit und Versöhnung Gottes. Nun wird zwar niemand bestreiten, daß es durchaus einen Kausalzusammenhang zwischen konkretem Verhalten und Krankheit geben kann. Drogenkonsum wie sexuelle Freizügigkeit und Promiskuität werden auf lange Sicht hin ebenso negative Auswirkungen haben wie starker Alkohol-und Nikotinkonsum. Dennoch ist es verhängnisvoll, Unheil, Krankheit und Übel oder Leid, das einem einzelnen widerfährt, schlechthin als Folge für sein zügelloses und nicht mehr zu verantwortendes Verhalten, als Rache der Natur oder als Strafe Gottes auszugeben. Hinter solcher Rede verbirgt sich leicht ein selbstgerechter Pharisäismus, der zu Schuldvorwürfen und Diskriminierungen Anlaß geben kann. Im übrigen sind Christen offensichtlich schnell bereit, negative Folgen, die sich auf Grund eines Sexualverhaltens ergeben, als „Strafe Gottes“ zu deklarieren. Liegt dahinter nicht doch noch eine inzwischen überholte Engführung der Moral auf das Sexualverhalten (wie dies bis heute ja noch in dem Begriff „Sittlichkeitsverbrecher“ zum Ausdruck kommt, der ja einen Sexualtäter meint). So sehr im Einzelfall der Leidende seine Krankheit als Heimsuchung Gottes und gegebenenfalls auch als Folge seines schuldhaften Verhaltens verstehen mag und entsprechend einer Hilfe für die Aufarbeitung eventuell vorhandener Schuld bedarf, so ist doch Krankheit Ausdruck der Gefährdung unseres Lebens, der Gebrechlichkeit und Hin-33 fälligkeit unseres Daseins. Die Rede von Aids als Strafe Gottes aber wirkt — erst recht, wenn sie aus kirchlichem Munde kommt — wenig überzeugend und kontraproduktiv. Wer Aids als „Strafe Gottes“ ausgibt, bekundet damit seinerseits, was für ein grausames Gottesbild er besitzt. Er sagt mehr über sich selbst als über den christlich verkündeten Gott aus.
VI. Herausforderung an die Gesellschaft und Anfragen an Leitbilder
Welche Belastungen die Krankheit Aids für die Gesellschaft darstellt, wird sich erst in kommenden Jahren angesichts der noch ständig steigenden Zahl der Erkrankungen zeigen — zunächst finanziell; denn die Betreuung und Begleitung der Kranken erfordert einen entsprechend größeren Aufwand an Pflege und an Begleitpersonal als bei anderen Krankheiten. Dann aber auch psychologisch. Es ist für Pfleger keineswegs einfach zu wissen, daß jene, die zunächst ambulant oder kurzfristig behandelt werden, nach einem bestimmten Zeitintervall mit Sicherheit schwerer erkrankt wiederkommen, bis sie schließlich nicht mehr in der Lage sind, das Krankenhaus zu verlassen. Weder eine Bagatellisierung der vorliegenden Situation, noch eine Panikmache erscheinen angezeigt. Die mit Aids gegebene Gefährdung aller Menschen, die Situation der HIV-infizierten, die zwar noch nicht unmittelbar als krank erscheinen, bei denen sich aber doch zuinnerst bereits ein Erkrankungsprozeß abzeichnet oder zumindest vorbereitet, und vor allem die Situation der an Aids Erkrankten muß ernst genommen werden. Sie stellt ein Aufruf zur Überprüfung unserer Verhaltensweisen dar.
Sicherlich müßten wir hierbei zunächst einige gesellschaftliche Leitbilder und Wertvorstellungen einmal kritisch überprüfen. Gerade an der Aids-Problematik wird deutlich, wie sehr wir alle in ein weites soziales Geflecht eingebunden sind und wie weitgehend dadurch unser Verhalten bestimmt oder begrenzt wird. Persönliche Aufrufe zur Eigenverantwortung bleiben wirkungslos, wenn nicht der entsprechende Freiraum hierfür gegeben ist. Insofern werden Christen stets auch eine kritische Einstellung einnehmen müssen gegenüber gesellschaftlichen Strömungen, die die Übernahme sittlicher Verantwortung erschweren. Leitbilder und Wertvorstellungen, oft unbewußt von Medien verbreitet, können inhumanem Verhalten Vorschub leisten. Es erscheint stets einfacher, nach rechtlichen Regelungen oder Zwangsmaßnahmen zu greifen, um von diesen her eine Lösung zu erwarten, als „gegen den Strom zu schwimmen“ und hierfür eine Bewußtseinsänderung zu erreichen oder zumindest für eine Entlarvung fragwürdiger gesellschaftlicher Tendenzen einzutreten. In so manchen Medien wird bisweilen der Eindruck erweckt, als herrsche in unserer Gesellschaft, vor allem unter Jugendlichen, eine Vielfalt sexueller Praktiken vor.
Vor-und außereheliche sexuelle Beziehungen und sexuelle Freizügigkeiten mit ständig wechselnden, bisweilen auch mit unbekannten Partnern erscheinen als „Normalverhalten“ weiter Kreise der Bevölkerung, vor allem der Jugendlichen. Dies dürfte so wohl nicht der Fall sein. Solche Nachrichten verstärken aber Leitbilder, die einen gewissen sozialen Druck für Jugendliche darstellen. Die positive Wertschätzung personaler menschlicher Sexualität kommt hierbei jedoch nicht hinreichend in den Blick. Man darf sich dann auch nicht wundern, wenn sich die Meinung verbreitet, das Sexualverhalten des Volkes lasse sich überhaupt nicht steuern, sondern sei schlechterdings festgelegt. Leitbilder der Ichhaftigkeit und des Habenmüssens, ein überzogenes Anspruchsdenken und die Durchsetzung eigener Wünsche ohne Rücksicht auf die Spät-folgen fördern ein oberflächliches kurzatmiges Glücksverständnis, das zwar dem Angebot und der Nachfrage eines auf Leistung und Absatz ausgerichteten Wirtschaftsgefüges dient, den Menschen aber zum Spielball solcher gesellschaftlichen Strömungen degradiert.
Wir begegnen heute auch einer Ideologisierung der an sich positiven Forderung einer Selbstverwirklichung: Egozentrik, narzißtischer Selbstgenuß und die Befriedigung eigener sexueller Bedürfnisse werden als „Freiheit“ und Recht herausgestellt. Wenn sie jedoch nicht weitergeführt werden zu einem Überschritt auf das Du und auf die Gemeinschaft hin, führen solche Verhaltensweisen eher zu Süchtigkeit, zu Enthemmung und erweisen sich dann in der zwischenmenschlichen Begegnung als verhängnisvoll, lassen auch hier tiefergehende personale Beziehungen nicht zustande kommen. Die Folgen sind dann Frustration, Lebensverdrossenheit, aber auch Aggressivität und Brutalität. Ist eigentlich im Bewußtsein breiter Schichten des Volkes noch die Vorstellung vorhanden, daß es für den Menschen in einer Partnerschaft nicht nur lohnend, sondern auch glückbringend sein kann, wenn sie ihrem Partner die Treue halten? Kann nicht gerade hier ein quantitatives „Weniger“ zu einem qualitativen „Mehr“ führen? Gilt sexuelle eheliche Treue und ebenso auch ein richtig motivierter Verzicht nur als Ausdruck einer veralteten Moral — oder müssen wir nicht auch hier wieder neue Leitbilder und Wertvorstellungen in dieser Gesellschaft wie auch für die persönlichen Zielsetzungen bewußt machen?
Erst recht bildet Aids eine Herausforderung für die Kirchen und für alle Christen. Ist doch die bedingungslose Annahme gerade eines kranken, zugleich isolierten und geängstigten Menschen eine Forderung, die durch das Verhalten Jesu jeden Christen angeht. Die Annahme des Mitmenschen ist auch und gerade dann gefordert, wenn wir dessen Verhalten nicht billigen oder seine Wertvorstellungen nicht teilen. Drogenkonsum, sexuelle Promiskuität oder ein allgemeinhin ungeordneter Lebenswandel blockieren oftmals die uns aufgetragene Annahme des Mitmenschen und lassen Aggressionen und Ängste hochsteigen, die schließlich zu Projektionen und zu Sündenbockvorstellungen führen.
Aber auch für die erzieherische Arbeit stellt Aids eine Herausforderung dar. Bloße Aufklärung über Schutzmaßnahmen bleiben unzureichend. Richtiges Verhalten muß eingeübt werden. Hier gilt es, Übungsfelder zu finden, innerhalb deren eine neue Form von Askese — „Askesis" hier im ursprünglichen Sinne als „Einübung von Freiheit“ — vermittelt wird, die den Willen stärkt, aber auch die Kraft zu einem Verzicht auf Drogenkonsum oder Verzicht auf mit Risiko beladene sexuelle Beziehungen verleiht. Dies verlangt jedoch einen ganzheitlichen Lern-und Erziehungsprozeß. In einer Gesellschaft, in der sexuelle Freizügigkeit in Form von Beziehungen mit wechselnden oder gar unbekannten Partnern oft als selbstverständlich hingestellt wird, bedeutet eine solche erzieherische Tätigkeit oft ein „Schwimmen gegen den Strom“. Doch wird nur auf diesem Wege eine humane Gestaltung menschlicher Sexualität und eine Erziehung zu verantwortlichem Verhalten möglich sein. Hierfür bedarf es eines Lernprozesses. Beziehungen, die auf wechselseitiger Liebe beruhen, wollen gepflegt werden. Sie verlangen gegenseitige Rücksichtnahme, gegebenenfalls aber auch Distanz und eine Bereitschaft zum Verzicht. Dabei kann sittliche Verantwortung nicht mit Gesetzen erzwungen werden. Sie beruht auf der freien Annahme von Seiten des Einzelnen. Auch im persönlichen Bereich und Verhalten wird unser Leben von Grenzen und Beschränkungen begleitet. Wir akzeptieren heute in zunehmender Weise, daß um des Umweltschutzes willen bestimmte Verzichte gefordert werden. Auch bei der Wertvermittlung im Rahmen einer ganzheitlichen sexuellen Erziehung dürfen wesentliche ethische Zielsetzungen, die einer partnerschaftlichen und ehelichen Beziehung dienen, nicht unterschlagen werden.
VII. Homosexuelle — diskriminiert?
Bisher liegen an der Spitze der an Aids Erkrankten zahlenmäßig noch die homo-und bisexuellen Männer. Gerade bei ihnen aber haben sich, wie Berichte aus den USA verlauten lassen, bereits etliche Verhaltensänderungen eingestellt. Die ethische Problematik liegt vor allem darin, daß sich Homosexuelle schon dadurch diskriminiert fühlen, daß in den offiziellen kirchlichen Stellungnahmen — besonders katholischerseits — als Grundstruktur menschlichen Sexualverhaltens die Heterösexualität herausgestellt wird; homosexuelle Verhaltensweisen werden grundsätzlich abgelehnt. Doch beziehen sich diese kirchlichen Aussagen nicht auf die Schuldfrage, sondern darauf, ob homosexuelles Verhalten grundsätzlich als richtig und damit auch für den Erziehungsbereich als empfehlenswert zu bezeichnen ist oder nicht. Die Schuldfrage jedoch bleibt offen. Ausdrücklich wird auch in den kirchlichen Texten betont, daß es bei homosexuellem Verhalten durchaus Schuldminderungs-und Schuldausschließungsgründe geben kann. Insofern dürfen Menschen, die eine homosexuelle Neigung besitzen — ob aufgrund einer Prägung, wegen genetischer Anomalien, hormoneller Störungen oder aufgrund anderer nicht zu ändernder Faktoren — in keiner Weise diskriminiert und als Außenseiter abgestempelt werden. Gerade in der abendländischen Geschichte wurde durch die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller eine Gruppe von Außenseitern geschaffen, denen grundlegende menschliche Rechte verwehrt blieben.
Im übrigen nehmen wir Christen für die sittliche Bewertung des Verhaltens anderer oftmals nur äußere Kriterien zur Norm. So bildet häufig allein schon der bloße rechtliche Abschluß einer Ehe für die betreffenden Partner gewissermaßen die einzige Norm zur Rechtfertigung ihrer vielfältigen sexuellen Verhaltensweisen. Wieviel jedoch an Inhumanität sich auch hinter der Fassade einer rechtlich geschlossenen Ehe verbergen kann, wird heute bei der Diskussion um „Gewalt in der Ehe“ besonders bewußt. Eine stärkere Sensibilisierung für die zentrale Bedeutung personaler Beziehungen, für gegenseitige Rücksichtnahme und für mögliche, tief-greifende menschliche Verletzungen gerade in die-35 sem zwischenmenschlichen Intimbereich zeichnet sich heute zunehmend ab.
Umgekehrt kann auch hinter einem Verhalten, das zunächst — wie dies bei einer homosexuellen Verbindung der Fall ist — als normabweichend deklariert wird, ein hohes Maß an Rücksichtnahme, Menschlichkeit und personaler Verantwortung vorhanden sein. Insofern erscheint für die konkrete Beurteilung homosexuellen Verhaltens eine größere Differenzierung notwendig. Homosexuelle sind bezüglich der ethischen Bewertung ihres Status äußerst sensibel und fühlen sich schnell „abgeurteilt“. Wenn gerade von ihnen bisher eine verhältnismäßig große Zahl mit Aids infiziert wurde und daran erkrankt ist, sollte man in besonderer Weise auf der Hut sein, damit nicht neue Diskriminierungen erfolgen oder alte noch vorhandene Vorurteile verstärkt werden.
VIII. Konkrete Hilfsmaßnahmen
Wenn es um konkrete Hilfsmaßnahmen geht, denkt zunächst jeder an medizinische Hilfen für die Kranken, an Vorsorgemaßnahmen wie Impfung oder an staatliche Maßnahmen zum Schutz der Gesunden vor Ansteckung durch eine Ausweitung des Bundesseuchengesetzes und einer Meldepflicht.
Für den Ethikerjedoch erscheint es wichtiger, jenes Verantwortungsbewußtsein zu wecken, das die Solidarität mit den HIV-infizierten und mit den Erkrankten verstärkt und jede Form einer Diskriminierung und Isolierung der Betreffenden zu vermeiden sucht. Solche Aufrufe erwecken jedoch den Eindruck leerer Proklamationen, solange sie nicht Hand in Hand gehen mit konkreten Vorschlägen von Hilfsmaßnahmen. Einige solche Schritte sollen im folgenden angedeutet und zur Diskussion gestellt werden.
Zur ethischen Verpflichtung zählt die Bereitschaft, sich mit der Realität auseinanderzusetzen und auch eine unangenehme Wirklichkeit nicht zu verdrängen. Bezogen auf die Krankheit Aids bedeutet dies: Wer befürchtet, infolge einer Blutübertragung, aufgrund sexuell-genitaler Kontakte oder wegen anderer Verhaltensweisen mit HIV infiziert zu sein, sollte sich einer inzwischen kostenlosen und anonym bleibenden Untersuchung stellen. Ein Aids-Test kann zumindest eine relative Sicherheit über den konkreten Zustand vermitteln. Eine solche Kenntnis ist für den Betroffenen auch insofern bedeutsam, da im Falle einer Infizierung für ihn auch eine „Bagatell-Erkrankung“ lebensgefährlich werden könnte und eine entsprechende Vorsorge getroffen werden müßte. Auch die Verantwortung gegenüber dem Mitmenschen verlangt, daß wir andere nicht gefährden und dort, wo wir für sie ein Ansteckungsrisiko darstellen (etwa beim Zahnarzt), dies auch angeben. Wer in einem solchen Test für den Betreffenden die Gefahr einer Diskriminierung sieht, sollte bedenken, daß gerade die Gefährdung des Mitmenschen schwerer wiegt als die persönliche Anonymität. Im übrigen könnte auch hier eine Solidarität gerade darin bestehen, daß sich möglichst viele, wenn nicht gar alle Menschen freiwillig einem solchen Aids-Test stellen und diesen, so es angezeigt erscheint, von Zeit zu Zeit erneuern. Was jedoch den Umgang mit jenen betrifft, die durch ihr Verhalten — sei es im Drogenkonsum oder in promisken sexuellen Beziehungen — besonders gefährdet erscheinen, so bleibt hier zu prüfen, ob und inwieweit im Rahmen einer Güterabwägung auch Verhaltensweisen als Übergang oder Kompromiß hingenommen werden können, die im Normalfall nicht als gerechtfertigt erscheinen. So könnte etwa bei Heroinsüchtigen die Verabreichung der Ersatzdroge Methadon, so dies ärztlicherseits streng kontrolliert erfolgt, oder die kostenlose (ebenfalls aber kontrollierte) Verabreichung von Einwegspritzen als geringeres Übel toleriert werden; denn Drogensüchtige bedienen sich oft der Prostitution, um jenes Geld für die Mittel zu einem neuen „Trip“ zu erhalten. Gerade hier aber droht eine besonders große Ansteckungsgefahr. Vielleicht ließe sich auf diese Weise der Teufelskreis von Drogenkonsum, Prostitution und einer erneuten HIV-Infizierung durchbrechen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß solche konkreten Schritte für anfällige Menschen einen gewissen Aufforderungscharakter besitzen und keine Lösung bieten, sondern höchstens vorübergehend als „geringeres Übel“ toleriert werden könnten.
Wo es aber darum geht, bezüglich des Sexualverhaltens entsprechende Vorsorgemaßnahmen zu treffen, wird man im Rahmen einer sexualethischen Diskussion nicht sofort mit einem christlichen Hochethos argumentieren, sondern zunächst in Form von Teilschritten versuchen, Menschen eine Hilfestellung zu geben. Je nach Zielgruppe mag bereits der Hinweis auf die geforderte Fairneß oder auf das Gebot der Nächstenliebe einen Anstoß zu Verhaltensänderungen geben. Dabei kann unter Umständen auch die Benutzung von Kondomen zur Vermeidung von Ansteckung zwar nicht als letztlich sichere, wohl aber als erste notwendige Hilfe dort sinnvoll erscheinen, wo es darum geht, sozialschädliches Verhalten zu verringern und schließlich ganz zu vermeiden.
Die heute vielfach gegebene Empfehlung von „Safer Sex“ („sicherer Sex“) bietet noch keineswegs die Lösung, sondern wirft eher den einzelnen auf sich selbst zurück und wird auch von einigen Sexologen mit einem Fragezeichen versehen. Die eigentlichen Folgen einer solchen Praxis dürften darin zu sehen sein, daß hierdurch die Beziehungsverarmung und eine Anonymisierung des Sexualverhaltens gefördert wird. Letztlich rückt dann wieder eine sehr vordergründige narzißtische Sicht der Sexualität als genitale Selbstbefriedigung in den Blick; der Partner, der nurmehr als möglicher Todesbote erscheint, und der bloße Kontakt zur gegenseitigen Befriedigung der Sexualität führen eher zu neuen Frustrationen und bieten keine Lösung für ein Gehngen menschlichen Zusammenlebens. Hinzu kommt, daß gerade durch eine pragmatische Propagierung von Safer Sex ethische Fragestellungen, die sich durchaus nicht einengend auf den personalen Bereich der Begegnung zwischen den Geschlechtern und auf das erotische Verhalten beziehen, in den Hintergrund gedrängt werden können.
Wenn es in einer ethischen Diskussion um konkrete sittliche Handlungsnormen für „richtiges“, menschenwürdiges Sexualverhalten geht, so sollte dies möglichst unabhängig von den mit Aids zusammenhängenden Problemen und Gefahren geschehen. Wo immer eine christliche Erziehung und Moral ihre eigenen hochethischen Prinzipien nicht aufgibt, gleichzeitig aber den Menschen in seiner konkreten Situation emstnimmt, ihn dort abholt und positiv ermutigend Teilziele aufzuzeigen vermag, wird sie unter Christen wie auch unter Nichtchristen ihre Glaubwürdigkeit wieder zurückgewinnen.
IX. Solidarität mit den Erkrankten
Für alle Menschen, erst recht aber für Christen, dürfte gerade mit den HIV-infizierten, noch mehr mit den an Aids Erkrankten eine entsprechende Solidarität gefordert sein. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um staatlich geforderte Maßnahmen, sondern um jene Verantwortung, die den einzelnen Bürger betrifft.
Im Unterschied zu anderen epidemisch verlaufenden Krankheiten verfügen wir zur Zeit noch nicht über eine therapeutische Strategie, auch nicht über eine Impfung gegen die HIV-Viren. Da die Anstekkungswege weithin bekannt sind, dürfte es zunächst um eine Vermeidung weiterer Infektionen gehen. Auslöser der Krankheit ist ein Virus (LAV-HTLV3) aus der Gruppe der Retroviren. Die wichtigsten Ansteckungsviren sind bekannt: durch Blut-und Körperflüssigkeiten eines Infizierten, vor allem beim Geschlechtsverkehr durch Sperma, aber auch durch die gemeinsame Benutzung eines Fixerbestecks. Keine Gefahr der Übertragung besteht durch den normalen sozialen Umgang, Händeschütteln, Anhusten, gemeinsames Eßbesteck, Kleidungsstücke usw. Hier darf also beim normalen Umgang mit Aids-Kranken keine übertriebene Vorsicht oder gar Hysterie ausbrechen.
Erst recht bedürfen die an Aids Erkrankten unserer persönlichen Hilfe und Begleitung. Leben mit Aids-Kranken heißt auch, das eigene Sterbenmüssen in der Angst der Betreffenden mitzuerleben, ins eigene Bewußtsein zu heben und damit einer gesellschaftlichen Tabuisierung des Sterbens und des eigenen Todes entgegenzuarbeiten. Aids-Kranke erleben oft schon lange vor ihrem Tode eine Behandlung wie Tote. Sie bedürfen darum auch in besonderer Weise der psychischen, religiösen und allgemeinmenschlichen Begleitung. Es wird wesentlich davon abhängen, ob und inwieweit wir diese Betroffenen in unserer Gemeinschaft zu integrieren vermögen.
Bei Infizierten darf es nicht zu Kurzschlußreaktionen kommen in der Weise, daß sie — in einer Torschlußpanik — schließlich auch andere Menschen mit in ihr Unheil reißen und ohne Rücksicht auf Ansteckung ihren bisherigen Lebensstil beibehalten. Solche Menschen müssen von Selbsthilfegruppen der Gemeinde aufgefangen werden und bedürfen persönlicher Begleitung. Nur mitmenschliche Haltung kann hier Schlimmeres verhindern und Verzweifelte vor dem Suizid bewahren. Hier kann dann auch im kirchlichen Bereich eine Telefonseelsorge, eine Beratungsstelle oder eine Sozialstation Hilfe anbieten. Inwieweit für jene Patienten, die keinerlei Bleibe mehr haben und auch von ihren Angehörigen verstoßen wurden, eigene Hospize zu errichten sind, muß wohl bedacht werden. Eine solche Hilfe kann sehr leicht zu einer Getto-Mentalität und zu einer verstärkten Ausgliederung und Diskriminierung der Betreffenden führen. Gerade die Geschichte christlicher Krankenpflege weiß, wie sich in Zeiten der Pest, der Cholera und anderer verheerender Seuchen einzelne Gläu37 bige ohne Rücksicht auf ihre persönliche Gefährdung in den Dienst der Kranken gestellt haben. Heute sind wir alle, in besonderer Weise aber die Christen, aufgerufen, den an Aids Erkrankten ein Zeugnis des Erbarmens und der tätigen Hilfe zu geben. Je stärker unsere Solidarität und Kooperation mit diesen Menschen sein wird, desto mehr entsprechen wir auch dem originären Auf-trag der Kirche. Aids kann so zu Herausforderung werden, mehr Humanität, Solidarität und Liebe in unserem Leben und Zusammenleben zu realisieren. Nicht allein medizinische Maßnahmen und politische Strategien, sondern diese menschliche Hilfe wird uns befähigen, auch mit der Krankheit Aids und den damit zusammenhängenden Problemen fertig zu werden.